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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-865-9
Silvester war’s. Nur noch drei Stunden waren dem alten Jahr beschieden, dann mußte es abtreten und dem neuen Platz machen. Nun, dann sollten ihm seine ungebärdigsten Trabanten wenigstens noch den Abschiedsmarsch blasen, was sie denn auch mit dem größten Vergnügen taten.
Huuuiii! orgelte der Nordost mit Hohngelächter. Sein starker Atem blies die Flocken durcheinander, die vom grauverhangenen Himmel kamen und ausgeschickt waren, um die Erde warm und weich zuzudecken mit ihrem schneeigen Weiß. Doch bevor sie noch die Erde erreichten, ließ der blanke Frost, ein Spießgeselle des Nordosts, sie zu Eisnadeln erstarren.
Wehe dem Menschen, der bei dem eisigen Wetter unterwegs war. Der irrte bei dem Schneegestöber bestimmt vom Weg ab und konnte Gott danken, wenn er irgendwo ein schützendes Dach erreichte, bevor er selbst zu Eis erstarrte.
Und die sich unter solch einem schützenden Dach befanden, wußten es bei dem Unwetter gar wohl zu schätzen. Wie zum Beispiel die Bewohner des Herrenhauses vom Hörgishof. Das Dach war stabil, die Stube warm, und die Polster waren weich, in denen man saß. Auf dem Tisch standen Gläser mit dampfendem Silvesterpunsch, ein bunter Knabberteller, und in der Röhre des vor Hitze fauchenden Kachelofens brutzelten Bratäpfel, gar lieblich ihren würzigen Duft verströmend.
Vier Menschen waren es, die auf dem bequemen Ecksofa saßen. Die Herrin des Hauses, Freiin Erdmuthe von Hörgisholm, eine stattliche Dame von zweiundfünfzig Jahren. Das dunkelblonde Haar, im Nacken zu einem weichen Knoten geformt, zeigte noch keinen grauen Faden. Aus dem rundlichen Gesicht mit den frischen Farben schauten zwei blaue Augen freundlich in die Welt. Eine gebietende Persönlichkeit, die Achtung erheischte, wohin sie auch kam.
Die zweite Dame, Ermenia von Hörgisholm, war klein und zierlich, flink und munter wie ein Wiesel. Unter dem mittelblonden, schlicht gescheitelten Haar lachten dunkelblaue Augen verschmitzt, das Gesicht der Endvierzigerin war rotwangig wie ein Äpfelchen.
Der ältere der beiden Herren, Rupert von Bärlitz, war groß und hager, das Gesicht wie gegerbtes Leder, das Augenpaar von intensiver Bläue. In dem rechten Auge klemmte das Monokel wie festgewachsen, beileibe nicht lächerlich wirkend, sondern die Persönlichkeit dieses Feudalherrn noch unterstreichend. Auf dem schmalen Kopf stand das leichtergraute Haar dicht wie eine Bürste.
Jedenfalls sah man auch heute noch dem vitalen Fünfziger den früheren Offizier sofort an, der er ja auch gewesen war in einem vornehmen Ulanenregiment. Genauso wie sein Schwager, Baron von Hörgisholm, der Gatte der Frau Erdmuthe. Als dann die Herrlichkeit nach dem Krieg zu Ende war, wurden sie beide Landwirte in fremden Diensten. Ein Schicksal, das sie mit tausenden andern teilten.
Leider starb Hilbrecht von Hörgisholm vor zwei Jahren und erlebte es somit nicht mehr, daß sein Sohn, gleichfalls ein Landwirt, von seinem Onkel zweiten Grades den Hörgishof erbte.
Dieser junge Erbe, Arvid von Hörgisholm, war der vierte in der gemütlichen Runde und unbestritten eine blendende Erscheinung. Wie Jung-Siegfried anzuschauen in seiner Blondheit, dem prächtigen Wuchs, dem rassigen, kühngeschnittenen Gesicht und den blitzblauen Augen mit dem scharfen Blick eines Falken. So die richtige Traumgestalt der schwärmerischen Frauenwelt.
Vor sieben Monaten hatte er das Erbe des Onkels angetreten – und zwar mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem lachenden, weil er nach jahrelanger Abhängigkeit in fremden Diensten sozusagen über Nacht zur eigenen Scholle kam, mit dem weinenden, weil das große Rittergut schon ziemlich heruntergewirtschaftet war. Denn Jasper Hörgisholm hatte damit Raubbau getrieben. Hatte immer nur Geld aus dem Besitz gepreßt, um seine kostspieligen Liebhabereien damit bezahlen zu können. Na was, leibliche Erben besaß er keine, und der andere bekam immer noch genug.
Doch der sollte nicht etwa denken, daß er das Gut so ohne weiteres verkaufen und sich das Geld dafür einstecken konnte. O nein, der sollte nur arbeiten, daß ihm die Schwarte knackte, wenn er Wert auf den Besitz legte. Wenn nicht, fiel er an eine Stiftung, so lautete das Testament.
Nun, der junge Freiherr hatte natürlich nicht verzichtet, er übernahm das verschuldete Gut.
Daß seine Mutter mit ihm ging, war selbstverständlich. Auch seine Tante Ermenia, die Schwester seines Vaters, die von jeher in dessen Haus gelebt hatte. Aber daß auch der vorzügliche Landwirt Rupert von Bärlitz sich anschloß, gleichfalls der tüchtige Kämmerer des Gutes, auf dem Arvid als Inspektor gearbeitet hatte, war für diesen ein außerordentlich großer Gewinn. Mit solchen Kräften zur Seite sollte es dem jungen Besitzer wohl gelingen, allmählich Ordnung in die Verwahrlosung zu bringen.
Übrigens gehörte noch jemand zu den Verschworenen. Und zwar der Diener des Verstorbenen, der laut Testament von dem Erben auf Lebenszeit zu übernehmen war. Jasper hatte ihn nämlich als verwaisten Knaben bei sich aufgenommen und sich in ihm einen vorbildlichen Diener herangezogen. Und so wie dieser dem einen Herrn gedient, so diente er auch dem andern. Und nicht nur als ausgesprochener Diener, sondern als Faktotum. Wenn irgendwo Not am Mann war, so war Franz zur Stelle – denn er hörte, sah, wußte und konnte alles.
Soeben trat er mit einem Tablett ein, auf dem Tassen und eine Kanne standen, aus der es aromatisch duftete. Ein Mann Anfang Dreißig, von mittelgroßer, geschmeidiger Gestalt. Tadellos rasiert und frisiert, mit der herablassenden Miene des herrschaftlichen Dieners. Peinlich saubere Hose und gestreifte Weste, ein Anzug, den Franz bei jeder Arbeit trug. Zu einer gröberen band er allerdings eine grüne Gärtnerschürze um.
Was da hinter ihm sichtbar wurde, war ein Wesen, das seinen Namen, Josepha Freundlich, zu Unrecht trug. Denn sie war eher mürrisch, die große, starkknochige Person, aber seit zwei Jahrzehnten ihrer Herrschaft treu ergeben, zuerst als Hausmädchen und jetzt als Mamsell. Überall fand sie sich zurecht und konnte arbeiten für zwei – genauso wie Franz.
»Sephchen, das stand doch gar nicht auf dem Tagesprogramm«, bemerkte die Hausherrin lachend, als ihre Getreue einen Teller mit knusprigbraunen Krapfen auf den Tisch stellte, und resolut erfolgte die Antwort:
»Ob Programm oder nicht, zu Silvester gehören diese Dinger nun mal. Guten Appetit.«
Weg war sie, gefolgt von Franz, und die anderen machten sich mit Vergnügen über die goldbraunen Bälle her.
Schön knusprig waren sie, der Zucker darauf glitzerte wie Christbaumschnee.
»Kinder, was geht es uns doch bloß gut«, stöhnte Ermenia vor Wohlbehagen beim Genuß des dritten Krapfens. »Wir haben bei diesem grausigen Wetter ein Dach überm Kopf, eine warme Stube und allerlei lukullische Genüsse. Ich muß schon sagen, daß für uns das alte Jahr einen guten Abschied nimmt.«
»Wenn auch mit Donnerwetter«, spann Rupert den Faden weiter. »Draußen muß ja Himmel und Erde zusammensein. Wehe den Ärmsten, die jetzt unterwegs sind.«
Kaum hatte er ausgesprochen, als die beiden Hunde anschlugen, die am warmen Ofen lagen. Jetzt schnellten sie auf, sprangen an der Tür hoch und vollführten einen Spektakel, der das Klopfen am Fenster übertönte. Erst als es sehr laut wurde, vernahmen es auch die vier Menschen.
»Gebt Ruhe, ihr Trabanten!« gebot Arvid, während er die Tür öffnete, durch die dann Spaniel und Langhaardackel kläffend sprangen und auf die Haustür zustürmten, gegen die von draußen jemand trommelte, und dann Sekunden später dem jungen Baron buchstäblich in die Arme sank.
»Hallo, hallo!« sagte er erschrocken, während er die Gestalt in die Halle zog, wo sich indes alle versammelt hatten, die zum Hause gehörten. Stumm sahen sie auf den späten Gast, von dem man zuerst nicht sagen konnte, ob er Männlein oder Weiblein war, weil er Skidreß trug. Erst als man die Haare bemerkte, die naß und strähnig unter der Kapuze hervorhingen, tippte man auf Femininum.
Und dieses bemühte sich nun, die klappernden Zähne auseinanderzukriegen.
»Draußen – auf dem Feld – liegt – meine – Verwandte. Sie konnte – nicht mit, sie ist – verletzt.«
Damit war das erschöpfte Menschenkind am Ende seiner Kraft und sackte zusammen. Doch schon packte Arvid es bei den Schultern und schüttelte es derb.
»Machen Sie gefälligst nicht schlapp, meine Gnädigste! Wir müssen wissen, wo die Verunglückte liegt, sonst geht sie bei dem Eissturm elendiglich zugrunde. Zum Kuckuck, so reißen Sie sich doch zusammen!«
»Ich – kann – doch – nicht mehr …«
»Sie müssen! Es geht hier um ein Menschenleben! Wo ließen Sie Ihre Verwandte zurück?«
»Weiß ich – doch nicht«, mühte sie sich verzweifelt ab. »Ich sah – schemenhaft – so ein langes – Gebäude, wahrscheinlich eine – Scheune. Darauf ging ich zu, dann sah ich – Licht.«
Das konnte sie gerade noch hervorstammeln, bevor Ohnmacht sie umfing. Da hob Arvid sie auf seine sehnigen Arme, trug sie ins Wohnzimmer, legte sie auf den Diwan und sagte kurz:
»Nehmt euch ihrer an, während wir drei Männer uns auf die Suche begeben. Bei diesem Höllenwetter wahrscheinlich kein Vergnügen.«
Damit eilte er dem Onkel und Franz nach, um sich zu dem schweren Weg zu rüsten. Zehn Minuten später trafen sie wieder in der Halle zusammen, im pelzgefütterten Skidreß, den Kragen hochgeschlagen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Augen durch eine große Schneebrille geschützt. Im Rucksack, den Franz trug, steckte außer anderen wichtigen Dingen auch eine Gurtentrage.
Draußen schlüpften sie in die Bretter und schlugen den Weg zur Scheune ein, die beiden Hunde zur Seite. Heulend umbrauste sie der Sturm, jagte ihnen den Eisschnee ins Gesicht, die Nadeln stachen wie spitze Messer. Im Nu waren Pelzkragen und Pelzmütze bereift.
Des ungeachtet strebten die drei Männer vorwärts, mit dem starken Schein ihrer Taschenlampen, die sie am Riemen um den Hals trugen, die weiße Fläche absuchend.
So mühsam der Weg auch war, sie mußten ihn gehen. Ein Mensch befand sich in Gefahr.
Und dann waren es die beiden Hunde, welche die Gesuchte aufspürten. Wie ein Häuflein Unglück kauerte sie am Boden, schon halb von Schnee bedeckt, über den sich bereits eine Eiskruste gebildet hatte. Als Arvid sie vorsichtig aufrichtete, stöhnte sie und griff mit der im dicken Fäustling steckenden Hand nach dem rechten Knie, worauf der Mann es behutsam abtastete.
»Etwa ausgeschlagen?« fragte Rupert kurz.
»Nein. Wahrscheinlich nur verrenkt oder durch Fall verletzt.«
Fünf Minuten später lag die Halberstarrte, fest in eine Decke gewickelt, auf der Bahre, die aus stabilen Gurten und zusammenlegbaren Stäben bestand. Arvid hatte dieses praktische Utensil im Nachlaß des Onkels gefunden, das nun gute Dienste leistete. Ohne es hätte man den Findling tragen müssen, was bei der Entfernung von gut zwei Kilometern und vor allen Dingen bei dem eisigen Schneesturm wohl kaum möglich gewesen wäre. So jedoch spürten der Baron und sein Diener die Last kaum, als sie auf den Skiern dahinglitten, zwischen sich die Trage. Günstig war noch, daß man jetzt den Wind im Rücken hatte und somit nicht gegen ihn anzukämpfen brauchte. Außerdem ließ das Schneegestöber nach, und man hatte bessere Sicht.
Wie dunkle Schemen wirkten die Gebäude des Gehöfts, auf das man Kurs nahm. Voran die beiden Hunde, hinterher die drei Samariter, so strebte man durch die weiße eisige Winternacht der warmen Stube zu.
Indes war man auch im Herrenhause nicht müßig gewesen. Hatte sich um die im wahrsten Sinne des Wortes Hereingeschneite emsig bemüht, ohne sie nach Nam’ und Art zu fragen. Hatte der völlig Erschöpften die nassen Kleider vom Körper gezogen, sie in ein warmes Flanellhemd aus Sephchens Bestand gehüllt, sie mit vereinten Kräften nach dem Fremdenzimmer getragen, wo das Hausmädchen indes den Kachelofen »eingeknallt« und das Bett mit warmen Krucken versehen hatte.
Kurz und gut, man hatte alles getan, was sich nur tun ließ, und wartete nun unten im Wohnzimmer bangklopfenden Herzens auf die zweite Fremde, während Grete oben bei der ersten Wache hielt. Und gerade, als die drei ersehnten Samariter mit der Trage über die Schwelle der Portaltür schritten, holte in der Halle die alte, behäbige Standuhr zu zwölf Schlägen aus.
»Prosit Neujahr«, sagte Rupert trocken. Und so mußte man lachen, obwohl das jetzt gar nicht angebracht war.
Oder doch? Denn sie lebten ja, die beiden hereingeschneiten Gäste, und das war wohl die Hauptsache.
»Wohin mit ihr?« fragte Arvid.
»Ins Fremdenzimmer«, gab die Mutter ebenso kurz Antwort, worauf man denn schweigend die breite, kunstvoll geschnitzte Treppe mit den recht abgewetzten Läufern erstieg, mit vollzähligem Gefolge.
Es war ein geräumiges Zimmer, in dem die beiden Träger die Bahre abstellten. Nicht gerade elegant wirkend mit seinem zusammengewürfelten Hausrat, aber urgemütlich. Noch war es kalt in dem Raum, weil ja der Kachelofen erst vor einer halben Stunde geheizt worden war, aber die prasselnden Holzscheite würden bald für Wärme sorgen.
»So, nun waltet ihr Weibsen weiter eures Amtes«, brummte Rupert, dabei einen scheuen Blick nach dem Bett werfend, wo nichts weiter als ein dunkler Schopf sichtbar ward, so tief war der erste Fremdling unter das wärmende Deckbett gekrochen. Schleunigst entfernten sich die beiden Herren nebst ihrem Diener, und als erstere eine Weile später das Wohnzimmer betraten, wo sich indes auch die beiden Damen eingefunden hatten, waren sie frisch gekleidet von Kopf bis Fuß.
»Nun, wie geht’s unserm Findling?« erkundigte sich Rupert. »Ist er schon aufgetaut?«
»Das schon«, gab die Schwester zögernd Antwort. »Nur hat sich die junge Dame das Knie verletzt. Zwar zeigt es keine Wunde, ist jedoch erheblich geschwollen. Sephchen meint wohl, daß ihre Wundersalbe helfen wird, aber wenn es nicht der Fall sein sollte, werden wir den Arzt zu Rate ziehen müssen.«
»Wie ist ihr Zustand sonst?«
»Sie ist völlig erschöpft, wie ihre Begleiterin auch. Kaum daß diese imstande war, Nam’ und Art zu nennen, da übermannte sie auch schon wieder der Schlaf.«
»Und wer sind die Damen?«
»Die jüngere ist die Tochter des Industriellen Wiederbach aus der Kreisstadt, die ältere, deren Verwandte, ein Fräulein Arnhöft.«
»Nanu, wie kommen solche Damen der ersten Gesellschaft um Mitternacht in unsere einsame Gegend, dazu noch bei dem Winterwetter?«
»Das konnte sie nicht mehr erklären, weil sie zu erschöpft war. Als ich sie fragte, ob man Herrn Wiederbach benachrichtigen müßte, meinte sie, daß es nicht erforderlich wäre.«
*
Am Neujahrsmorgen hatte wohl der Sturm nachgelassen, aber es schneite unentwegt weiter.
Auf dem riesengroßen Gutshof herrschte heute Feiertagsruhe. Selbst das Geflügel befand sich bei der Kälte von minus 16 Grad in dem warmen hellen Stall.
Erst kaum vernehmbar, dann immer lauter drang in diese feierliche Stille ein Geratter. Es rührte von der Kleinbahn her, die sich eilfertig die Schienen entlangschlängelte und dann zischend vor der Wellblechbude hielt, die auf Hörgishöfer Gelände stand und dessen Bewohnern, zu denen ja auch die Leute aus den Insthäusern zählten, eine bequeme Verbindung zur Stadt bot. Gleichfalls den Kleinbauern, die ihre Höfe in der Nähe hatten und über kein Auto verfügten.
Heute jedoch stieg kein Fahrgast weder aus noch ein. Denn erstens war Feiertag, wo es für die Landbewohner in der Stadt nichts zu besorgen gab, und dann war es, wie schon gesagt, bitter kalt. Da blieb man, wenn man nicht unbedingt hinaus mußte, in der warmen Stube, wohin auch die beiden Männer strebten, nachdem sie die Milchkannen eingeladen hatten. Eine tägliche Beschäftigung, die selbst an Sonn- und Feiertagen ausgeführt werden mußte.
Bevor die Lokomotive sich wieder schnaufend und zischend in Bewegung setzte, stieß sie einen grellen, langgezogenen Pfiff aus, der im Herrenhaus ein junges Mädchen aus tiefem Schlaf riß. Erschrocken fuhr es aus dem Kissen hoch, um gleich wieder mit einem Wehlaut zurückzusinken. Die Hand tastete zum rechten Knie, das mit einer Binde umwickelt war. Die Augen hasteten durchs Zimmer und blieben dann an dem gegenüberstehenden Bett hängen, unter dessen Zudecke es sich nun auch zu regen begann. Ein dunkelhaariger Kopf hob sich, zwei grüngraue Augen trafen sich mit zwei blauen.
»Guten Morgen, Gun«, sprach dann eine lachende Stimme. »Du machst ja ein Gesicht, als ob die Katz donnern hört.«
»Mach jetzt keine Witze«, kam es ungnädig zurück. »Sag mir lieber, wo wir uns befinden.«
»Im Hause unserer Retter.«
»Und wer sind die …?«
»Keine Ahnung. Als du stürztest und nicht wieder hochkommen konntest, bin ich losgetaumelt, immer dem Lichtschein zu, der von irgendwo blinkte und Rettung verhieß – die uns dann auch wurde, sonst lägen wir bestimmt nicht in so molligen Betten. Aber was das für Menschen sind, die sich unserer Not erbarmten, weiß ich nicht, ich war zu futsch und weg. Kein Wunder, nach dem entsetzlichen Weg durch den Eissturm, durch den ich mich mühsam Schritt für Schritt ringen mußte. Und alles nur wegen deiner verflixten Flirterei und der Feigheit, die Konsequenzen zu tragen.«
»Schilt jetzt nicht«, warf die andere kläglich ein. »Mein Knie tut mir so weh.«
»Geschieht dir ganz recht«, kam es brummend zurück. »Was man mit dir für Scherereien hat, steht wohl einzig da.«
»Willst du nicht mal nach meinem Bein sehen, liebes Karlchen?«
»Wollen bestimmt nicht, höchstens müssen, da ich Ärmste ja so eine Art Sklavin von dir bin.«
Also stand sie auf und stolperte mal erst über das Nachthemd, das für ihre zierliche Figur viel zu lang und zu breit war.
»Du meine Güte, wem mag der Talar wohl gehören?« beäugte sie neugierig das Kleidungsstück aus buntgemustertem Flanell, das lange Ärmel hatte und bis zum Hals geschlossen war. Dann hob sie das Gewand an beiden Seiten hoch und bekam so die Füße frei. Drei Schritte, dann stand sie vor dem anderen Bett und sagte lachend:
»Deine Umhüllung scheint das Pendant zu meiner zu sein, so richtig solide siehst du aus. Schade, daß deine Anbeter dich nicht so sehen können.«
»Ich wüßte nicht, daß ich mich jemals meinen Anbetern im Nachthemd gezeigt hätte.«
Es klopfte, und gleich drauf steckte sich ein Kopf durch den Türspalt.
»Ist’s erlaubt einzutreten?«
»Man immer zu«, ermunterte Karola, worauf denn Josepha sichtbar wurde. Sie bot einen guten Morgen und trat zu den beiden Mädchen, die ihr mit begreiflicher Neugier entgegensahen.
»Nun, wie geht’s denn den Damen?«
»Danke, Frau …?«
»Ich bin keine Frau, ich bin die Mamsell«, wurde Karola kurz belehrt. »Was macht denn Ihr Bein?«
»Es tut weh. Allerdings nur, wenn ich es bewege.«
»Dann halten Sie es still. Lassen Sie mal sehen.«
Nachdem Josepha das Knie kritisch betrachtet hatte, nickte sie zufrieden.
»Die Geschwulst ist erheblich zurückgegangen. Kein Wunder bei meiner Salbe.«
»Und doch sieht das Knie immer noch böse genug aus«, wagte Karola einzuwenden. »Könnten Sie vielleicht einen Arzt herkommen lassen?«
»Können schon. Aber warum den Mann bei so einem bißchen aus der warmen Stube jagen, dazu noch am Feiertag. Das da krieg ich mit meiner Salbe sehr gut hin.«
Sie zog aus der Schürzentasche ein Büchschen mit der Wundersalbe, die sie auf das verletzte Knie des Mädchens schmierte.
So grob die Hände auch aussahen, so behutsam gingen sie um. Dann wurde wieder die Binde umgetan, ein kleines Kissen unter die Kniekehle geschoben und Karola eingehend betrachtet.
»Na, Sie sehen ja ganz munter aus. Gehen Sie wieder ins Bett zurück, damit Sie sich nicht erkälten.«
»Die ist vielleicht kurz angebunden«, sagte Gun unbehaglich, nachdem sich die Tür hinter Josepha geschlossen hatte. »Die macht ja gar kein Hehl daraus, wie unerwünscht wir hier sind.«
»Wundert dich das etwa?« fragte Karola achselzuckend, während sie sich unter das wärmende Deckbett streckte. »Ich weiß nicht, ob wir sehr liebenswürdig wären, wenn zwei Wildfremde störend in unsere Silvesterfeier hineinplatzten und eine davon bei einem mörderischen Schneesturm auf der Bahre ins Haus geholt werden müßte, wie es ja bei dir der Fall war. Ich habe zwar so gut wie gar nichts von dem allen mitgekriegt, weil ich total fertig war, aber soviel immerhin, daß wir das Haus hier gewissermaßen auf Stützen stellten. Und das alles in der Silvesternacht – peinlich genug.«
Sie wurde durch den Eintritt Josephas unterbrochen, die ein besetztes Tablett trug, während das Hausmädchen Grete mit einem zweiten folgte, lachend über das ganze rotbackige Gesicht.
»Stell das Tablett auf das Tischchen, und dann hilf mir das Fräulein da aufsetzen«, gebot Josepha brummig. »Aber sei dabei bloß vorsichtig, das rate ich dir.«
»Ich werd’ schon«, versprach die dralle Maid und packte dann doch so herzhaft zu, daß es bestimmt blaue Flecken auf den zarten Mädchenarmen hinterließ. Aber Gun saß, und das war ja schließlich die Hauptsache. – Sie bekam ein Tablett vorgesetzt, Karola das zweite, und Sephchen knurrte:
»Jetzt essen Sie, alles Weitere wird sich finden.«
Gewichtigen Schrittes ging sie, von Grete gefolgt, hinaus, und die beiden Mädchen machten sich über das Frühstück her, obwohl es ihnen nicht gerade freundlich gereicht worden war. Sie hätten es gewiß abgelehnt, wenn sie nicht so hungrig gewesen wären; denn sie hatten seit gestern mittag nichts mehr gegessen. Also ging der Hunger über ihren Stolz, und sie ließen sich das ländliche Frühstück gut munden.
*
Bevor Karola nach unten ging, sah sie sich hier oben erst einmal um und bemerkte einen langen, breiten Korridor, der rechts eine Anzahl Flügeltüren und links Nischen mit Fenstern aufwies. Obwohl das alles dringender Reparatur bedurfte, machte es dennoch irgendwie einen feudalen Eindruck, wie man diesen nur in alten Herrenhäusern findet. Ein Duft umwehte sie wie von Rosen und Lavendel.
Langsam stieg Karola die breite, kunstvoll geschnitzte Treppe hinab, deren Läufer immer noch dick und weich war, obwohl er abgetretene Stellen aufwies.
Und dann die Halle mit ihrem Mosaikboden, den altertümlichen Truhen und Schränken, den wuchtigen Sesseln vor dem Marmorkamin, den nachgedunkelten Bildern in schweren Goldrahmen, den Fellen, altertümlichen Waffen – das alles machte Karola Arnhöft, die als Pflegekind der reichen Wiederbachs an allerlei Pracht gewöhnt war, nun doch beklommen. Wo war sie hier nur hingeraten!
Zögernd stand sie da, nicht wissend, welche der vielen hohen und reichgeschnitzten Türen sie öffnen sollte, bis sie hinter einer Stimmen hörte, da gab sie sich einen Ruck, klopfte.
Und stand gleich darauf in dem Wohngemach, wo Familie Hörgisholm vollzählig versammelt war. Mollig warm war es darin und ungemein traulich. An dem Sekretär, ein Prunkstück alter solider Wertarbeit, saß die Hausherrin und machte Eintragungen ins Wirtschaftsbuch. Ermenia strickte, und die beiden Herren lasen landwirtschaftliche Berichte. In einer Ecke tickte die Standuhr, auch ein altes Prachtstück mit gemütlichem Brummton, in der Ofenröhre summte das Wasser. Die einzigen Geräusche in dieser friedlichen Stille, die dann der Eintritt des Fremdlings unterbrach. Die beiden Herren sprangen auf, Rupert von Bärlitz trat auf sie zu – und als Karola in das hagere Aristokratengesicht mit dem Monokel sah, da festigte sich die Vermutung, die sie auf dem Weg hierher hatte.
»Oha, da haben wir ja schon eines unserer Schneevöglein, die uns die eisige Silvesternacht ins Haus wehte«, klang seine tiefe Stimme auf. »Darf ich nachholen, was wir angesichts Ihrer gestrigen Erschöpfung unterlassen mußten, und Sie willkommen heißen? Gestatten: Rupert Bärlitz, und die andern, meine Schwester mit ihrem Sohn und ihrer Schwägerin, nennen sich Hörgisholm.«
Nachdem die allgemeine Begrüßung erfolgt war, nahm man Platz, und Erdmuthe sagte nach einem prüfenden Blick in das Gesicht des Gastes:
»Angegriffen sehen Sie schon noch aus, Fräulein Arnhöft. Schließlich auch kein Wunder nach der entsetzlichen Strapaze.«
»Die ich jedoch ganz gut überstanden habe«, entgegnete Karola verlegen. »Es ist mir nur so schrecklich peinlich, daß ich Ihnen hier die Silvesterfeier störte.«
»Nun, nun«, wehrte die Hausherrin liebenswürdig ab. »Es braucht Ihnen gewiß nicht peinlich zu sein, was wir als Selbstverständlichkeit erachten. Wie geht es Fräulein Wiederbach?«
»Auch sie hat alles ganz gut überstanden – bis auf das Knie. Wohl ist die Geschwulst erheblich zurückgegangen, aber vielleicht ist es doch besser, wenn meine Verwandte in ärztliche Behandlung kommt. Daher werde ich zu Hause anrufen und den Wagen bestellen, ich müßte nur wissen, welchen Weg der Chauffeur einschlagen muß. Wollen Sie mir bitte den Weg erklären?«
»Gern«, gab Rupert Antwort. »Aber ich fürchte, daß der Wagen nicht durch die Schneemassen kommt, die vom scharfen Nordost stellenweise zu Schanzen aufgeweht sind. Wohl könnten wir Ihnen einen Schlitten zur Verfügung stellen, aber ob er es schafft, ist gleichfalls fraglich. Die einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen, wäre die Kleinbahn – wenn nicht auch sie wegen Schneeverwehungen die Fahrt einstellen muß.«
»Aber es gibt doch Schneepflüge, um die Straßen frei zu machen.«
»Was einer Danaidenarbeit gleichkäme«, warf Bärlitz trocken ein. »Schauen Sie doch mal nach draußen, wie es da lustig weiterschneit. Diese weißen Massen decken im Nu wieder zu, was die Pflüge wegschafften. Die müssen sowieso schon Tag und Nacht auf Tour sein, um wenigstens die Hauptstraßen einigermaßen befahrbar zu halten, wir jedoch liegen drei Kilometer von der Chaussee entfernt.
Und nun machen Sie nicht so ein unglückliches Gesicht, gnädiges Fräulein. Wenn Sie einige Tage hier ausharren müßten, wäre das denn so schlimm?«
»Ganz gewiß nicht, aber wir können Ihnen doch nicht noch länger zur Last fallen.«
»Na, so unleidlich werden Sie sich doch wohl nicht benehmen«, lachte Erdmuthe. »Am wichtigsten ist momentan, daß Sie sich zu Hause melden, wo man sich um Ihr und Fräulein Wiederbachs Ausbleiben Sorge machen wird, oder etwa nicht?«
»Nein, gnädige Frau. Man nimmt dort an, daß wir uns in der Schneeberger Skihütte befinden, wo wir mit anderen Mitgliedern des Skiklubs Silvester feiern wollten. Bei uns kann nämlich jeder nach seiner Fasson selig werden.«
»Auch die Tochter des Hauses?«
»Die ganz besonders, gnädige Frau. Gudrun bekam schon als Kind jeden Willen, weil die Eltern in sie vernarrt waren. Also kein Wunder, daß sie sich zu einer kleinen Tyrannin auswuchs, die nur einen Willen kennt: den eigenen.«
»Ach du liebes bißchen«, kratzte Rupert sich den Kopf. »Jetzt sagen Sie bloß noch, gnädiges Fräulein, daß die junge Dame schön und reich ist.«
»Stimmt«, lachte Karola. »Dazu verfügt sie noch über einen Charme, dem niemand sich entziehen kann – ich leider auch nicht immer. Damit macht sie mir meine Beschützerrolle bestimmt nicht leicht.
Ich habe nämlich ihrer Mutter, die vor vier Jahren an einer unheilbaren Krankheit langsam zugrundeging, versprechen müssen, Gudrun nie zu verlassen, was ich ohnehin nicht getan hätte. So kann ich wenigstens den Dank an die Tochter abstatten, zu dem ich der Mutter stets verpflichtet war. Denn sie nahm mich, als die meine starb und ich somit verwaiste – mein Vater war schon zwei Jahre früher gestorben – in ihr Haus, behandelte mich genauso liebevoll wie ihr eigenes Kind und hat mich im Testament auch noch mit einem guten Batzen bedacht. Und wenn ich nun noch sage, daß der Witwer nach Ablauf des Trauerjahres die Witwe seines Konkurrenten heiratete, dadurch die beiden Werke miteinander verschmelzend – und daß die Witwe einen Sohn mit in die Ehe brachte, so habe ich alles das gesagt, was Sie wissen müssen von Ihren Gästen – auch wenn es nur hereingeschneite sind.«
»Und wir danken Ihnen für Ihr Vertrauen, Fräulein Arnhöft«, sagte Erdmuthe herzlich. »Darf ich nun noch fragen, wie das Verhältnis zwischen Stieftochter und Stiefmutter ist?«
»Die vertragen sich gut, weil sich einer um den andern nicht kümmert.«
»Und was sagt Herr Wiederbach dazu?«
»Der ist zufrieden, daß es keinen Streit gibt. Er gehört nämlich zu den Menschen, denen persönliche Ruhe heilig ist.
Im übrigen lebt es sich gut in dem großzügigen Hause, wo Geld gewiß keine Rolle spielt. Und daß es immer noch mehr wird, dafür sorgt Wiederbach als vorzüglicher und sehr vorsichtiger Kaufmann. Zwar ist er wagemutig, Spekulationen jedoch verabscheut er.
Dem Hausstand ist seine Schwägerin eine vorzügliche Repräsentantin. Sie knausert keineswegs, hält aber Verschwendung für ein Laster.«
»Und wie verhält sich die Hausherrin zu alledem?« fragte Rupert interessiert.
»Die ist froh, daß sie mit dem ganzen Wirtschaftskram nicht behelligt wird, ist Gast im eigenen Hause.«
»Also eine Mondäne?«
»Kann man so nennen. Ihr Sohn, ein netter Bengel von zehn Jahren, hängt an seinem Stiefvater und an uns bedeutend mehr als an seiner Mutter.«
»Darf er vielleicht auch machen, was er will?« fragte der junge Baron trocken, und Karola lachte.
»Jawohl, da ja bei uns jeder nach seiner Fasson selig werden kann, wie ich vorhin schon bemerkte. Darf ich mal den Apparat benutzen?«
»Bitte sehr.«
Da die Verbindung auf sich warten ließ, wollte Karola schon den Hörer ablegen, als sich endlich am andern Ende der Diener meldete. Und was er da sagte, ließ sie überrascht aufhorchen.
»Wann sind denn die Herrschaften aufgebrochen? Gegen Abend? Nun, da war das Wetter ja noch manierlich. Hören Sie mal gut zu, Jan. Wenn Herr Wiederbach anruft, dann sagen Sie ihm, daß auch wir eingeschneit sind. Es ist absolut keine Veranlassung zur Beunruhigung, es geht uns gut. Sobald wie möglich kommen wir nach Hause. Haben Sie alles verstanden? Na schön. Ende.«
»So was nennt man Duplizität der Ereignisse«, legte sie lachend den Hörer auf. »Denn meine Verwandten sind genauso eingeschneit wie Gudrun und ich. Wie mir der Diener sagte, ist gestern gegen Abend ein Bekannter erschienen und hat die Gesellschaft, die sich bereits zur Silvesterfeier eingefunden hatte, in Bausch und Bogen nach seinem Jagdhaus entführt. Und da sich dieses mitten im Wald befindet, so liegt denn auch die ganze Gesellschaft mit ihren Wagen fest. Man soll aber recht fidel dabei sein, wie Wiederbach dem Diener sagte. Also sehe ich nicht ein, warum ich Trübsal blasen soll.«
»Recht so«, lachte die Hausherrin gleich den andern. »Was die dort können, das können wir hier auch. Und damit Fräulein Wiederbach da oben so allein nicht wirklich Trübsal blasen muß, holen wir sie nach unten. Wozu haben wir denn zwei Männer mit starken Armen.«
»Die hoffentlich nicht gebraucht werden!« fiel Karola hastig ein. »Zu leicht wollen wir es dem unnützen Ding denn doch nicht machen, es womöglich noch auf Händen tragen. Mag sie nur auslöffeln, was sie sich mit ihrer verflixten Flirterei wieder einmal einbrockte. Dadurch sind wir ja nur in so eine entsetzliche Notlage geraten, die für uns zum Verhängnis geworden wäre, hätten sich nicht Menschen gefunden, die uns in ihrer Hilfsbereitschaft davor bewahrten …
Das war nämlich so«, fuhr sie verlegen fort. »Zwei Klubmitglieder, mit denen das unverbesserliche Gör zu gleicher Zeit lustig drauflos flirtete, gerieten ihretwegen in Streit, worauf sie denn feige von der Bildfläche verschwand, um nach Hause zurückzukehren. Ich mußte natürlich mit, da ich doch nun mal ihr geplagtes Kindermädchen bin.
Zuerst ging auch alles ganz gut, bis der Schneesturm losbrach und wir dadurch Sicht und Richtung verloren. Zum Unglück stürzte Gudrun noch, schlug mit dem Knie auf die Kante des einen Ski, blieb hilflos liegen, und ich konnte zusehen, wo ich Hilfe aufstöberte. Man hat schon seine Not mit dem charmanten Flirt, wie ihr Vater sie schmunzelnd nennt«, schloß sie seufzend, und Erdmuthe sagte lachend:
»Es scheint aber eine liebe Not zu sein, nicht wahr, Fräulein Arnhöft?«
»Na ja, was soll man schon machen«, kam es gottergeben zurück. »Sie ist mir doch nun mal ans Herz gewachsen, trotz ihrer Unnützigkeit. Und wenn sich nicht ein Mann findet, der mich von meinem Beschützeramt erlöst, so kann ich das schwere Amt schleppen bis an mein seliges Ende.«
Es klang so kläglich, daß die andern amüsiert auflachten. Und mit ihnen die dralle Maid, die sich ins Zimmer schob.
»Nun, Grete, was gibt’s?« fragte die Hausherrin freundlich. »Du siehst mir so aus, als ob du etwas auf dem Herzen hättest.«
»Hab’ ich nicht, Frau Baronin«, wurde treuherzig behauptet. »Ich soll bloß das Fräulein da zu dem andern nach oben schicken, weil es ungeduldig ist und Launen hat. Das Knie tut nicht mehr weh, sie will man bloß Gesellschaft haben.«
»Für ihre Launen?« fragte Rupert dazwischen.
»Aber nein doch, Herr von Bärlitz, für sich. Und nun geh’ ich, weil ich alles bestellt habe.«
Damit trollte sie zufrieden ab, und Karola folgte ihr auf dem Fuß.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, brummte Gudrun, nachdem ihr Karola die Klemme, in der sie steckten, erklärt hatte. »Was sind das da unten eigentlich für Leute?«
»Du wirst lachen! Die ›Leute‹ sind die Frau Baronin von Hörgisholm mit Schwägerin, Sohn und Bruder, einem Herrn von Bärlitz, denen man ihre vornehme Abstammung sieben Meilen gegen den Wind ansieht.«
»Ach du lieber Gott«, sagte Gudrun erschrocken, fing sich dann aber rasch wieder und fragte neugierig:
»Wie alt sind die Herren denn ungefähr?«
»So um die Achtzig.«
Zuerst war Gudrun verblüfft, doch dann lachte sie hellauf.
»Na, dann muß die Mutter des Barons so um die Hundert sein. Wenn du schon schwindelst, Karlchen, dann tu es nächstens geschickter.«
»Und du tu mir den Gefallen und fang nicht womöglich mit den Herren an zu flirten nach beliebter Art. Damit würdest du uns höchstens blamieren.«
»Aber Karlchen, wer tut denn so was«, tat Gun entrüstet, während der Schelm ihr aus den Augen lachte.
»Wenn die Herren damit nicht anfangen, ich tu’ es bestimmt nicht.«
»Gott gäb’s«, seufzte Karola. »Was macht dein Knie? Wirst du aufstehen und nach unten kommen können?«
»Ich will es versuchen. Du mußt mir beim Ankleiden helfen.«
Zehn Minuten später humpelte sie denn am Arm Karolas davon, tapfer den Schmerz verbeißend, den ihr das geprellte Knie bei jedem Schritt verursachte. Trotzdem strahlte sie, als sie im Wohnzimmer stand, und strömte das Fluidum aus, das sie so unwiderstehlich machte.
So ein richtiges holdes Mädchenwunder, dachte Rupert, der dann auch die Vorstellung übernahm, worauf Gudrun auf die Hausherrin zuhumpelte und sich artig über ihre Hand neigte.
»Verzeihen Sie, Frau Baronin, daß ich Ihnen so viel Unruhe ins Haus brachte«, bettelte sie mit Augen und Lippen. »Und wie mir meine Verwandte eröffnete, sind wir durch den starken Schneefall gezwungen, Ihnen weiter zur Last zu fallen.«
»Darauf möchte ich Ihnen dieselbe Antwort geben wie vorhin Fräulein Arnhöft«, entgegnete die Dame trocken. »Nämlich: So unleidlich werden Sie sich doch wohl nicht betragen, um uns zur Last zu fallen. Und nun nehmen Sie rasch Platz; denn das Stehen tut Ihrem verletzten Knie bestimmt nicht gut. Haben Sie noch arge Schmerzen?«
»Nur wenn ich das Bein strecke und aufsetze, aber auch dann ist der Schmerz erträglich. Die Salbe der Mamsell hat tatsächlich Wunder gewirkt.«
»Für uns schon längst mehr kein Wunder, dieses Wunder. Hier kuriert alle und alles unser Sephchen mit der Salbe, vom Schnupfen angefangen bis zum …«
»Liebeskummer«, warf Rupert schmunzelnd ein. »Sephchens Elixier aufs Herzchen geschmiert, hokuspokus, hinweg ist der Liebe Zaubermacht. Wenn die Damen also Verwendung haben sollten, Josepha Freundlich steht gern zu Diensten.«
»Josepha Freundlich?« dehnte Gudrun. »Heißt etwa die Mamsell so?«
»So ist es.«
»Ach du lieber Gott«, sagte Karola nur, doch es sprach Bände und löste bei den andern herzliches Lachen aus.
Nachdem Gun auch die andern begrüßt hatte, wobei sie nicht unterlassen konnte, die beiden Herren mit ihrem »nichtsnutzigen« Blick zu bedenken nahm sie in dem Sessel Platz, den Arvid ihr zurechtschob. Ermenia schob ihr ein Sofakissen unter die Kniekehle und so saß sie denn da, alle der Reihe nach anlachend.
Ein Menschenkind, einfach bezaubernd in seiner Jugendmaienblüte. Rank und schlank gewachsen, mit feinem Gesicht, hellbraun glänzendem Gelock und Augen so leuchtend wie kostbare Saphire. Dazu aus gutem Hause, tadellos erzogen, dazu noch reich, was Wunder, wenn die Männer ihr da eifrig den Hof machten.
Gudrun, die natürlich über ein selbstsicheres Auftreten verfügte, fühlte sich hier irgendwie beklommen, obwohl die Umgebung nicht die Prachtentfaltung aufwies, wie sie sie allein schon von ihrem Zuhause gewohnt war und die daher gar keinen Eindruck mehr auf sie machte. Doch dieser große Raum strömte ein Fluidum aus, für das sie keine Bezeichnung finden konnte.
Das machte wahrscheinlich die ganze Einrichtung, die gewiß nicht »dem letzten Schrei« entsprang, sondern aus einer Zeit stammte, wo noch Wert auf vornehme Gediegenheit gelegt wurde, wo noch jedes Stück ein Kunstwerk darstellte. Die Flächen der Mahagonimöbel glänzten wie Spiegelglas, die Beschläge gleißten wie pures Gold. Der Flügel, der inmitten des Raumes unnahbar seinen Platz behauptete, zeigte wundervolle Intarsien. Echte Teppiche, bequeme Postermöbel, duftige Gardinen gaben dem Gemach die Wärme, die Topfblumen auf den breiten Fensterbrettern etwas Fröhliches und die alte, herrliche Standuhr, so hoch und breit, daß man ohne weiteres in sie hineinkriechen konnte, mit ihrem brummenden Ticktack die Traulichkeit.
Und dann war da ein großes Gemälde, das im schweren Goldrahmen an der einen Wand hing. Es zeigte eine Dame, die an die Königstöchter alter deutscher Sagen erinnerte – einen großen, schlanken Offizier in der Galauniform der Ulanen und einen vielleicht dreijährigen Knaben im grünen Samtanzug mit Spitzenkragen und Manschetten. Blonde Locken hingen diesem bildschönen Kind bis auf die Schultern, große Blauaugen strahlten aus dem weichen Gesichtchen.
Und dieses Bild gab dem Raum eine ganz besonders vornehme Note. Es raunte von Glanz und Pracht längst vergangener Zeiten. Wo es noch feudale Reiterregimenter gab und deren Offiziere stolz darauf waren, sich dazu zählen zu dürfen.
Wie gebannt schaute Gudrun Wiederbach auf das Gemälde, und als sie den Blick dann endlich von ihm losriß, ging er verstohlen zu der Hausherrin, die sich lebhaft mit Karola unterhielt, während die andern interessiert zuhörten.
Ja, das war unverkennbar die gleiche Dame wie auf dem Bild, nur um vielleicht ein Vierteljahrhundert älter geworden. Aber schön war sie auch heute noch – und vornehm.
Der kleine Knabe konnte wohl kein anderer als ihr Sohn sein, der mittlerweile ein Mann geworden war und daher keine Ähnlichkeit mit dem bildschönen Kind haben konnte.
Jetzt ging Gudruns Blick verstohlen zu ihm hin, der im Sessel saß und über etwas sprach, das sie nicht erfaßte. Sie lauschte nur der sonoren Stimme, der etwas Herrisches anhaftete, und stellte nachdenklich fest, daß ihr noch nie ein Mann begegnet war, der über ein so blendendes Aussehen verfügte. Keine Filmschönheit, bewahre, sondern durchaus männlich und rassig bis in die Fingerspitzen.
Jetzt lachte er, wobei die prachtvollen Zähne durch die hartgeschnittenen Lippen nur so blitzten. Die kräftige Linke, an der ein schwergoldener Ring blitzte, fuhr sich über das leichtgewellte Haar, das die Farbe reifen Korns hatte, die blauen Augen unter den dunklen Brauen blitzten.
»Kommt immer ganz auf das Wie an, mein gnädiges Fräulein«, bemerkte er neckend, und da Gudrun dem Gespräch nicht gefolgt war, wußte sie auch nicht, worum es ging. Aber da auch die andern lachten, mußte es schon etwas Amüsantes sein. Mal hinhören.
Doch bevor sie dazu kam, hallte der Gong, worauf die Hausherrin sich erhob und sich in ihrer liebenswürdigen Art, der jedoch eine gewisse Zurückhaltung anhaftete, an die beiden Mädchen wandte.
»Ich darf wohl die Damen bitten, an unserem Mittagsmahl teilzunehmen. Wird es mit dem Pfötchen gehen, Fräulein Wiederbach, oder soll mein Sohn Sie auf seine starken Arme nehmen? Er tut’s gern, nicht wahr, mein langer Schlingel?«
»Ehrensache, Muttchen«, entgegnete er schmunzelnd. »So lassen Sie sich denn von mir auf Händen tragen, mein gnädiges Fräulein.«
»Ach nein«, warf sie ihm einen ihrer nichtsnutzigen Blicke zu. »Ich spüre lieber Boden unter den Füßen. Aber Ihren Arm nehme ich gern.«