Jocelyne Saucier

Was dir bleibt

Roman

Aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck und Frank Weigand

Insel Verlag

Die Autorin dankt dem
Conseil des arts et des lettres du Québec
für das fahrende Stipendium,
mit dem sie den Norden Ontarios erkunden konnte.

In Gedenken an Lise Pichette







Am 24. September 2012 bestieg Gladys Comeau den Northlander und ward fortan in Swastika – keine Stadt, nicht einmal ein Dorf, bloß eine kleine Siedlung an der Eisenbahnstrecke – nicht mehr gesehen.

Damit begann die Irrfahrt, jene von Gladys und meine eigene, denn dies ist die Erzählung von Gladys Comeaus Reise durch den Norden von Ontario und Québec, von ihrer großen Reise, die sie erst nach Süden führte, dann nach Westen, dann nach Osten und schließlich wieder nach Norden. Eine rätselhafte Zugreise, deren Anlass niemand so richtig verstand und die ab dem Augenblick, als sich die Meldung vom Verschwinden der alten Dame verbreitete, von unzähligen Menschen verfolgt wurde. Es gibt jede Menge Aussagen und ebenso viele Meinungen, manche kritisierten und verurteilten Gladys, andere bezeichneten ihr Verhalten sogar als verwerflich. Aber hier soll es nicht darum gehen, Gladys den Prozess zu machen, sondern darum, ihre überstürzte Flucht zu rekonstruieren, die Puzzleteile ihrer Odyssee in den Zügen des Nordens zusammenzusetzen und herauszufinden, was sie angetrieben haben mag. Denn die Irrfahrt derjenigen, die »die Frau aus Swastika« genannt wurde, ist nach wie vor Gegenstand verschiedenster Vermutungen, obwohl mittlerweile einige ihrer Schleifen und Umwege bekannt sind.

Die Schockwelle verbreitete sich über den Kreis ihrer Freunde und Bekannten hinaus, aber es gab keine Zeitungsmeldung und keine polizeiliche Ermittlung. Jedes Mal, wenn man in Swastika kurz davor war, die Polizei zu benachrichtigen, tauchte Gladys wieder auf irgendeiner Eisenbahnlinie auf, und man schickte eine neue Anfrage an einen weiteren Zugchef. Es blieb eine private Angelegenheit, ohne Widerhall in der Öffentlichkeit. Wer sollte sich auch für die Geschichte einer Frau interessieren, die aus ihrem Leben verschwindet, einer ganz gewöhnlichen Frau, die weder Groß- noch Untaten vollbracht hat, einer alten Frau obendrein? Die Antwort lautet: Ich. Auch wenn das dem gesunden Menschenverstand und eigentlich auch meinen Vorlieben widersprach.

Ich bin kein Hobbydetektiv, habe keine Veranlagung für Verfolgungsjagden und auch kein besonderes Interesse an Rätseln und Geheimnissen, trotzdem hielt mich die Geschichte über vier Jahre lang in ihrem Bann. Ich fuhr Gladys' Strecke ab, traf Menschen, die sie bereits vor ihrer Irrfahrt gekannt hatten oder ihr unterwegs begegnet waren, machte etliche Anrufe und schickte unzählige E-Mails und Nachrichten, um die Abfahrt- und Ankunftszeiten eines Zuges zu überprüfen, ein Detail zu erfragen oder einen unauffindbaren Namen zu ermitteln. Ich habe ganze Ordner und Festplatten mit einer Geschichte gefüllt, die sich mir nach wie vor entzieht.

Wie kam ein Mann, der für ein derartiges Abenteuer völlig ungeeignet schien, dazu, sich im Leben eines anderen Menschen zu verirren? Jetzt, wo ich hier sitze und diesen Bericht schreibe, frage ich mich immer noch, ob es daran liegt, dass ich der Sohn eines Eisenbahners bin. Ich hätte mich kaum auf die Spuren der alten Frau begeben, wenn nicht alles mit einem abgelegenen Bahnhof, dem Pfeifen eines Zuges und dem Rattern von Rädern begonnen hätte, diesen tröstenden Geräuschen, die mich und die alte Frau auf unseren jeweiligen Irrfahrten begleiten würden. Man macht sich keine Vorstellung von der Macht des rhythmischen Aufeinandertreffens von Stahl auf Stahl. Ein vertrauter Klang, der mich nicht loslässt. Ich bin, das gestehe ich gern, ein Zugliebhaber, ein Eisenbahnnarr, und das ist vermutlich der wichtigste Beweggrund für meine Suche. Doch es war nicht nur Gladys, es waren auch all die anderen Menschen, die mich zu dieser Abenteuerreise oder Ermittlung – ich weiß selbst nicht so recht, was es eigentlich ist –, von der ich hier berichten möchte, angespornt haben, die mich gerufen, gebannt, gefesselt haben.

Und auch meine eigenen Motive muss ich ergründen.

Ich werde diese Geschichte erzählen, ich werde sie aufschreiben, denn ich habe ein Versprechen abgegeben. Bernie, mein Freund, wirst du noch leben, wenn ich meine Erzählung beende?







Swastika entkommt man nicht so leicht. Die in Ontario gelegene Siedlung hat zweihundert Einwohner, jeder einzelne zählt, jeder hat Gewicht, da bleibt ein Aufbruch nicht unbemerkt.

Gladys Comeau, die hier seit fünfundfünfzig Jahren lebte, wusste das, und deshalb verließ sie den Ort heimlich, still und leise. Anders entkommt man Swastika nicht. Kein Koffer, keine neuen Kleider, nichts, was auf eine Reise oder eine Flucht hindeutete. Sie ging die Conroy Avenue hinab, bog links in die Nationalstraße ein, rechts in die Cameron Avenue und stieg dann die achtzehn Stufen zum Bahnhof hoch, der auf einer Anhöhe steht. Sie hätte weitergehen können, zum Ende des Bahnsteigs und an den Gleisen entlang bis zur Eisenbahnbrücke über der Nationalstraße, niemand hätte sich gewundert, sie dort zu sehen, ihr morgendlicher Spaziergang führte sie oft hierher.

Vom Bahnhof aus überblickt man den ganzen Ort. Das ins Tal geschmiegte Straßennetz, die dicht beisammenstehenden Häuser, all das lässt sich mit einem einzigen Rundblick erfassen, man sieht den rauschenden Fluss, kann seinem Lauf neben dem Park folgen, und kurz bevor man zum Ausgangspunkt zurückkehrt, entdeckt man auf einem Hügel die kleine hellblaue Kirche. Swastika hat seinen ganz eigenen Charme, eine unbewusste Anmut. Der Bahnhof trägt nichts zur Schönheit bei. Er ist ein unansehnlicher Backsteinklotz, der am Bahndamm klebt und schon bessere Tage gesehen hat. Früher trafen hier zu jeder Tages- und Nachtzeit Züge ein, Taxis, mit Goldbarren beladene Lastwagen, die nicht einmal gepanzert, mit keiner Plane verhüllt waren, ein stetiges Getümmel, und der Bahnhof thronte auf seiner Anhöhe, davor ein gepflegter Rasen, der sich bis hinunter zur Cameron Avenue erstreckte, und in der Mitte des Rasens Begonien, Stiefmütterchen und Studentenblumen, in Rot und Gelb, eine wahre Farbsymphonie, die ein riesiges Hakenkreuz bildeten.

Heute gibt es keinen Rasen mehr und auch keine anderen Bemühungen zu gefallen. Die Fenster sind zugenagelt, der Bahnhof ist geschlossen, mit Ausnahme eines Raums, der als Wartesaal dient, wobei er außer bei extremer Kälte menschenleer bleibt, denn es gibt dort keine Annehmlichkeiten, nicht einmal Toiletten, und so wartet man lieber draußen auf dem Bahnsteig.

Und auf genau diesem Bahnsteig standen an jenem kühlen Septembermorgen zwei Männer und eine Frau, über die sich der Zugchef freute, denn oft stand dort niemand und er musste ohne Halt weiterfahren. Gladys war Stammgast im Northlander. Der Zugchef, der Sydney Adams hieß, erkannte sie auf Anhieb.

Ich sage »Zugchef«, obwohl ich weiß, dass dieser Ausdruck bei der Eisenbahnbehörde nicht mehr gebräuchlich ist. In Ontario nennt man die Eisenbahnangestellten, die die Reisenden begrüßen, über ihren Komfort wachen, sich vergewissern, dass alle am richtigen Bahnhof aussteigen und dabei ihr Gepäck nicht vergessen, »conductor«, in Québec »directeur de service«. Aber meinem Verständnis nach sind sie wahrhaftige Chefs ihres Zugs, und so werden sie dies auch in dieser Erzählung sein.

Nach dieser Abschweifung kann ich nun also fortfahren.

Allerdings fürchte ich, dass die vorliegende Erzählung immer wieder von Abschweifungen unterbrochen werden wird, von Rückblenden, persönlichen Bemerkungen und anderen Exkursen. Ich verfüge über eine beträchtliche Menge an Informationen, und ich muss aus den im Laufe der Jahre angehäuften Zeugenaussagen die glaubhaftesten auswählen. Allesamt vage Äußerungen, zum Großteil fragwürdig und zwangsläufig bruchstückhaft, da es sich um eine kopflose Flucht handelt, die niemand von Anfang bis Ende hat verfolgen können. Manche Abschnitte sind besser dokumentiert als andere. Das trifft vor allem auf die Strecke Sudbury–White River zu, wo Gladys bei alten Bekannten Halt machte, langjährigen Freunden, den »Kindern des Waldes«, wie sie sie nannte. Es sind die Kinder des »school train«, glückliche Kinder einer glücklichen Zeit, Jugendfreunde, die wie sie einer vergangenen Epoche nachtrauern. Durch die Gespräche, die diese Bekannten bereitwillig mit mir geführt haben, wurde mir klar, woher Gladys' unerschütterlicher Optimismus stammte, ihre positive Einstellung trotz aller Schicksalsschläge, ihre Weigerung, dem Leben irgendetwas übel zu nehmen. »Wer einmal das Glück kennengelernt hat, weigert sich zu glauben, dass es nicht mehr wiederkommen kann.« Einer ihrer Lieblingssätze.

Die Aussagen ihrer Freunde aus der Nachbarschaft gehen in dieselbe Richtung: eine resolut optimistische Frau, entschlossen, das Glück mit beiden Händen zu packen, eine Frau, die nicht nachgab, wo viele zusammengebrochen wären. Viele von ihnen kannten sie seit ihrer Ankunft in Swastika, als junge, bis über beide Ohren verliebte Braut. Die befreundeten Nachbarn aus der Conroy Avenue, der Westinghouse Street und der Childs Avenue bilden eine Solidargemeinschaft von knapp zehn Personen, darunter Frank Smarz, einer meiner wichtigsten Verbündeten bei meinen Ermittlungen. Er gehörte zu den hartnäckigsten Verfolgern Gladys', sobald das Verschwinden der alten Dame gemeldet worden war.

Frank Smarz (fünfundfünfzig Jahre alt, seines Zeichens Schweißer und großer Liebhaber von Blaubeer- und Löwenzahnwein) ist der Ehemann von Brenda, Gladys' unmittelbarer Nachbarin und bester Freundin. Zumindest glaubte sie dies bis zu dem Septembermorgen, an dem die Freundin Swastika verließ, ohne Brenda etwas von ihrem Plan erzählt zu haben. Mehr als alle anderen war sie todunglücklich über Gladys' Verschwinden und, obwohl sie dies nicht zugeben will, zutiefst verletzt darüber, dass ihre Freundin sie nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Es waren mehrere Annäherungsversuche nötig, bis sie schließlich einwilligte, mir ihre Version der Ereignisse zu erzählen. Die anderen Mitglieder der Gemeinschaft machten keine Schwierigkeiten.

»Solidargemeinschaft« ist wirklich das passende Wort für das, was diese Nachbarn verband – höchstens zehn Personen, alle in bescheidenen Verhältnissen lebend –, die im Laufe der Jahre eine freie und lockere Freundschaft geschlossen haben, auf so selbstverständliche Weise, dass es sie selbst erstaunt. Sie laden sich gegenseitig zum Abendessen ein, helfen einander bei Reparaturen, Renovierungen, Garten- und Bauarbeiten, leihen sich Werkzeuge, Kleidungsstücke (nur die Frauen), aber niemals Geld – eine stillschweigende Regel, Geld wird nicht verliehen –, und falls es manchmal nicht so glatt läuft, falls Worte, Stimmungen, Verhaltensweisen Anstoß erregen, ärgern oder verletzen, dann wartet man einfach, bis das Gewitter weitergezogen ist. Die Zeit ist ihre zuverlässigste Verbündete – außer in dem Fall, der uns hier beschäftigt.

Gladys war diese Freundschaft eine große Stütze. Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Swastika wurde sie Witwe (ein Grubenunglück, damals keine Seltenheit) und zog allein eine Tochter groß, die ihre ganze Freude war, bis sie sie in einer Blutlache fand, ihr erster Selbstmordversuch. Lisana war damals zwanzig Jahre alt, ein hübsches Mädchen, sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester, war intelligent, fröhlich, gut gelaunt, alles, was man sich von einem Kind erhoffen konnte, das man sein Leben lang mit Aufmerksamkeit und Liebe verhätschelt und verwöhnt hatte. Gladys war am Boden zerstört. Trotzdem verzweifelte sie nie. Ihr optimistisches Wesen ließ sie an eine vorübergehende Krise glauben, ein kurzzeitiges Unglück. Sie hoffte immer auf bessere Tage. Selbst dann noch, als der Anruf von der Krankenpflegeschule kam. Selbst dann, wenn sie ihre Tochter in Toronto auflesen musste, in einem besetzten Haus, einer Notschlafstelle, einem Krankenhauszimmer, und sie zurück in die Conroy Avenue brachte, sie gesundpflegte, sie umsorgte, und wenn Lisana dann wieder loszog, hoffte Gladys, dass sie nie wieder eine fremde Stimme am Telefon hören musste, die ihr mitteilte, dass ihre Tochter es nicht geschafft hatte, der Todessehnsucht zu widerstehen. Ihre Freunde verzweifelten daran, dass Gladys sich derart abmühte. Lisana war ins Leben zurückgekehrt, aber für wie lange? Wie lange würde es bis zum nächsten Rückfall dauern? Wie lange würde Gladys brauchen, um zu begreifen, dass all dies nie ein Ende nehmen würde? Oder dass es nur ein mögliches Ende gäbe … Doch das wagte niemand zu denken, geschweige denn laut zu sagen.

Die befreundeten Nachbarn haben nur wohlwollende Worte für Gladys. Eine außergewöhnliche, mutige Frau, eine aufopferungsvolle Mutter, eine Löwenmutter, eine Mutter, die das Unmögliche möglich macht. Sie sind voller Bewunderung und Lob, aber wenn das Gespräch auf Lisana kommt, schütteln sie den Kopf, als hätten sie zu viel zu erzählen, und man kann nur mutmaßen, wie viel Erbitterung und Enttäuschung sich hinter den verschlossenen Gesichtern verbirgt. Sie erheben schwere Anschuldigungen gegen Lisana. Wenn es nach ihnen ginge, hätten sie sie schon vor langer Zeit ihrem Schicksal überlassen. Natürlich wird nichts dergleichen jemals ausgesprochen.

Es sind Menschen, die ihren Eindrücken und Empfindungen misstrauen. Außer Fakten vermochte ich ihnen nichts zu entlocken. Während der vier Jahre, die ich regelmäßig nach Swastika fuhr, fühlte ich mich bei ihnen wohl, niemals aber wie ein guter Freund. Wenn sie einen geheimen Garten haben – und jeder Mensch hat einen –, so pflegen sie ihn fernab aller Blicke, vielleicht sogar fernab ihres eigenen Bewusstseins. Wer so lange Zeit so eng zusammenwohnt, vergisst sich irgendwann selbst. Fakten hingegen sind zuverlässig. Man dreht und wendet sie, hübscht sie auf, behält sie im Gedächtnis, und wenn ein Fremder an die Tür klopft, dann holt man sie aus ihrem Schmuckkästchen und stellt sie stolz zur Schau. Ich erhielt also eine detaillierte und umfangreiche Erzählung von dem Tag, an dem Gladys verschwand und eine Lisana zurückließ, mit der die befreundeten Nachbarn nichts zu schaffen haben wollten.

Brenda Smarz war es, die Alarm schlug. In einer derartig kleinen Gemeinschaft sind die Häuser durchsichtig, man lebt unter den Augen der anderen, und als Brenda auffiel, dass die Vorhänge von Gladys' Schlafzimmer morgens nicht geöffnet wurden, machte sie sich Sorgen. Um Viertel nach elf hielt sie es nicht mehr aus und beschloss, nachzusehen. Sie klopfte vergeblich, betrat dann das Haus, schlich in die Küche, wo sie Lisana vorfand, am Tisch vor einer Kaffeetasse sitzend, sehr aufrecht, sehr starr auf ihrem Stuhl, hypnotisiert von einem unsichtbaren Punkt an der Wand. Brenda bekam es mit der Angst zu tun.

Lisana war schon lange keine junge Frau mehr. Sie war vierundfünfzig, sah aber viel älter aus, gebrochen von einem Leben, das sie beharrlich hatte beenden wollen. »Sie sah genauso alt aus wie ihre Mutter«, sagen die Nachbarn einer nach dem anderen zu mir. Sie erzählen von ihrem grauen Gesicht, dem leeren Blick, dem schleppenden Gang, »als würde ein tonnenschweres Gewicht auf ihren Schultern lasten«. Ein übertrieben negatives Porträt, geprägt von dem Groll, den sie ihr nach wie vor entgegenbringen. Wenn man ihnen so zuhört, könnte man meinen, Mutter und Tochter hätten nichts gemeinsam gehabt. Trotzdem, sagen die Nachbarn, wenn sie nebeneinander durch die Straßen von Swastika spazierten, beide hochgewachsen und kräftig gebaut, hätte man sie beinahe verwechseln können. Skandinavischer Typ, mit blondem Haar und Augen von einem äußerst sanften, fast milchigen Blau, in Lisanas Fall waren Haar und Augen allerdings glanzlos und aschgrau, während Gladys, wie sie schnell hinzufügen, stets auf ihr Äußeres bedacht gewesen war. Stufig geschnittenes Haar, das durch eine hausgemachte Tönung sein ursprüngliches Blond wiedererlangt hatte, der Teint durch ein dezentes Make-up betont. »Schönheit ist für alle da«, pflegte Gladys zu sagen, und obwohl sie mit Ende sechzig das Haarfärben und Schminken aufgegeben hatte, trug sie die Zeichen des Alters mit einer diskreten, eleganten Resignation. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Mitleid mit der alten Dame zu haben, wäre Lisana nicht auf Schritt und Tritt an ihrer Seite gewesen, Lisana, die einen Schatten auf das Paar aus Mutter und Tochter warf.

Doch an jenem Tag brennt in Lisana »ein schwarzes Feuer«, als Brenda sich ihr nähert, eine harte, grausame Kraft, die sie entstellt. »Ich dachte, sie hätte einen Anfall.«

Brenda hatte zuvor keinen der Anfälle mitbekommen. Auch das nimmt sie ihrer Freundin übel. Gladys beschützte ihre Tochter hingebungsvoll und entzog sie allen Blicken, sobald sich ein schlechter Moment ankündigte. So nannte sie das, ein schlechter Moment, eine schlechte Phase, das war alles, was sie zu sagen bereit war, nachdem sie sich mit ihrer Tochter im Haus verbarrikadiert hatte, tagelang, manchmal eine ganze Woche, damit niemand ihr die Spuren des Kampfes ansah, den sie ausfochten. Lisana hatte eine schlechte Phase, mehr sagte Gladys nicht. Dann wusste Brenda, dass sie nicht weiter nachfragen sollte. »Hinterher war sie erschöpft, als hätte sie Lisana ein zweites Mal zur Welt gebracht, aber gesprächig wie immer, sie erzählte von ihren Blumen, dem Braten, den sie im Ofen hatte, von ihrem Haushalt, als wäre sie gerade von einer Reise zurück und gewöhne sich nun wieder an ihren Tagesablauf, aber kein Wort über das, was sie mit ihrer Tochter durchgemacht hatte, nicht mal mir gegenüber, dabei habe ich ihr immer alles erzählt.« Und Brenda verfällt in ein schmollendes Schweigen.

In Lisana brennt also ein schwarzes Feuer, und Brenda bekommt es mit der Angst zu tun. Sie glaubt, dass Lisana kurz vor einem Anfall steht oder bereits mittendrin steckt. Sie läuft von Zimmer zu Zimmer, sucht nach Gladys, fürchtet das Schlimmste, findet sie nicht, kehrt in die Küche zurück. Sie fragt Lisana, wo ihre Mutter sei, Lisana löst langsam den Blick von dem Punkt an der Wand, in den sie sich zurückgezogen hat, antwortet: »Weg«, und schenkt Brenda dabei ein Lächeln, bei dem sich ihr die Nackenhaare aufstellen, ein Lächeln, das ebenso verängstigt ist wie Brenda beim Anblick dieser versteinerten Frau, und daraufhin tritt Brenda hektisch die Flucht an und überlässt Lisana, die sich nicht von ihrem Stuhl rührt, ganz vertieft in dieses grauenvolle Lächeln, ihrem Schicksal.

Es dauerte keine Viertelstunde, bis sich die Sache herumgesprochen hatte. »Wo ist Gladys?« Man suchte sie überall, die ganze Gemeinschaft beteiligte sich, man durchforstete jede Straße, durchkämmte den Park, lief am Fluss entlang, klopfte mehrmals an Gladys' Tür, befragte Lisana, die ihr grauenvolles Lächeln abgelegt hatte, jedoch von keinem Nutzen war und nur unablässig wiederholte: »Sie ist weg«, »Sie kommt nicht wieder«, »Sie ist weg«, in einer endlosen Litanei, der man schließlich wohl oder übel Glauben schenken musste, da Gladys nirgends zu finden war.

Bei den Smarz, wo sich die befreundeten Nachbarn versammelt hatten, erging man sich in Mutmaßungen. Ebenfalls bei den Smarz kam man in den nächsten Tagen zusammen, um bei allen erdenklichen Bahnhöfen und Eisenbahnbetreibern anzurufen, man wollte Gladys wiederfinden und sie in die Conroy Avenue zurückbringen. Ihr Haus war die Kommandozentrale der Operation »Rückführung« (das ist das Wort, das sie gebrauchten). Doch erst einmal standen sie unter Schock, waren völlig verwirrt und versuchten, die Situation zu begreifen. Das Unverständlichste, das Unfassbarste war, dass Gladys Lisana bei ihnen zurückgelassen hatte.

Sie wissen, dass sie kostbare Minuten mit dem Versuch vergeudet haben, Gladys' Tat zu deuten. Sie haben nachgerechnet und sind überzeugt, dass Frank Smarz, wären sie nicht in sinnlose Fragen verstrickt gewesen, noch am Vormittag beim Fahrdienstleiter von Englehart angerufen hätte, und dann wäre seine Anfrage rechtzeitig dem Zugchef übermittelt worden und dieser hätte Gladys abfangen können. Und das war nicht der einzige Fehler. Sie traten einen Wettlauf gegen die Zeit an, häufig ging es nur um Minuten, um eine falsche Weichenstellung oder schlechtes Timing, Gladys war gerade abgefahren oder in einen anderen Zug gestiegen als geplant, ihre Nachrichten gelangten nie zur rechten Zeit an den rechten Ort. Die Nachbarn hatten den Eindruck, dass Gladys ihnen immer eine Nasenlänge voraus war. »Und die ganze Zeit stand Gladys' Toyota da, vor unseren Augen, in ihrer Einfahrt. Deshalb wussten wir, dass sie den Zug genommen hatte.«

Um 13 Uhr 30 rief Frank Smarz beim Fahrdienstleiter von Englehart an. Der brauchte einige Zeit, bis er begriff, worum es ging (»wieder ein paar verlorene Minuten«), und übermittelte die Botschaft dann per Funk an den Zugchef des Northlander, Sydney Adams, der bestätigte, dass Gladys in Swastika eingestiegen war, aber nichts weiter dazu sagen konnte, da in North Bay das Personal gewechselt hatte. Der Zugchef, der ihn in North Bay ablöste, heißt Edward Murphy. Als Edward Murphy die Nachricht erreichte, war er gerade die Passagierliste durchgegangen und hatte festgestellt, dass ihm ein Fahrgast abhandengekommen war.

Die Nachricht wurde von Zug zu Zug weitergegeben, über eine Distanz von über 3000 Kilometern, kam aber immer zu spät. Gladys verwischte ihre Spuren. Absicht oder nicht – diese Frage wird wohl für immer unbeantwortet bleiben.







Die Zugchefs sind wichtige Zeugen. Sie legen Jahr für Jahr dieselbe Strecke zurück, kennen ihre Passagiere häufig beim Vornamen, ihre Stammgäste, die in einer Kleinstadt ein- oder aussteigen, einem Örtchen wie Swastika oder einer Lichtung im Wald. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte, Steine, die es umzudrehen gilt, wenn man Gladys' Fahrt verfolgen will.

Der erste Stein also: Sydney Adams, Zugchef des Northlander. In dieser Erzählung werden noch mehrere Zugchefs vorkommen, aber Sydney Adams ist der erste in der Chronologie der Ereignisse, obwohl ich ihn erst zwei Jahre nach den hier geschilderten Geschehnissen kennengelernt habe.

Als ich ihn traf, befand er sich im unfreiwilligen Ruhestand, da die Strecke Cochrane–Toronto am 28. September 2012 stillgelegt worden war, vier Tage, nachdem man Gladys in einem der Züge gesichtet hatte. Der Northlander und Gladys Comeau verschwanden beinahe gleichzeitig. Eine Niedertracht des Schicksals, wie manche glauben. In der Tat scheint es, als hätten sich die Schranken der Vorhersehung für einen Moment geöffnet und gleich wieder geschlossen, um Gladys durchzulassen und ihr so bei der Flucht zu helfen.

Sydney Adams' Frau genoss die Tatsache, dass ihr Ehemann nun in Rente war, und plante monatelange Aufenthalte in Florida, bis besagter Ehemann die Sonne, die goldenen Strände und die Daiquiris leid war und sich der Untätigkeit entzog, die auf ihm lastete. Er ist ein zupackender Mensch, wie er gerne sagt, ein Mann, für den das Leben aus Arbeit besteht, ganz gleich, wo er sich befindet. Seine Rente als Eisenbahner und das, was er als sein »Hobby« bezeichnet (er kauft und renoviert Häuser, die er auch bewohnt, und verkauft sie nach einer Weile mit Gewinn weiter – »Aber zu einem fairen Preis«, wie er sofort klarstellte, »ich bin schließlich kein Blutsauger«), erlauben ihm ein komfortables Leben.

Unsere Begegnung fand in seinem Haus in Cochrane statt, das noch eine Baustelle war: Er hatte die Zwischenwände herausgenommen, um einen offenen Küchen- und Wohnzimmerbereich zu schaffen (»So was mögen die Leute heutzutage«). Seine Frau, die offenbar nicht stillsitzen konnte, huschte während des ganzen Interviews zwischen der Baustelle, dem Tee und den Keksen hin und her.

Sydney Adams war überrascht, dass sich nach so langer Zeit jemand für die Sache interessierte und eher abgeneigt, das Wenige, was er darüber wusste, zu erzählen. Er machte sich Vorwürfe, weil er nicht mitbekommen hatte, was an Bord vor sich ging, und weil Gladys ihm entwischt war. Doch als er zwei Stunden lang dasaß, ohne Akkuschrauber oder Bohrmaschine in der Hand, als er nichts zu tun hatte, außer sich zu unterhalten, entpuppte er sich als unverhofft gesprächig. Ich kenne diese Männer, denen die eigenen Gedanken fremd sind, die in ihnen gefangen sind und von ihnen gequält werden, ohne dass sie es merken. Männer, die sich zu sehr um das Hier und Jetzt, die nächste Stunde, die unmittelbare Zukunft sorgen und es nicht zulassen, dass komplizierte Gedanken die anstehenden Arbeiten durcheinanderbringen. Ein arbeitsreiches Leben verleitet nicht gerade zur Innenschau oder zu intimen Geständnissen. Im Verlauf des Interviews ließ sich Sydney Adams nur selten zu persönlichen Bemerkungen hinreißen.

Er ist ein Mann wie ein Baum, nicht groß, aber stark, buschige Augenbrauen, durchdringender Blick, eine auf die Gegenwart gerichtete Energie. Er ähnelt meinem Vater, meinen Onkeln, all den Männern meiner Kindheit. Den »Eisenbahnnarren«, wie sie sich untereinander nennen. »Trainmen«, nannte Sydney Adams sie. In seiner Stimme roch ich das Schmierfett, hörte ich die Hammerschläge, sah ich die Riesen meiner Kindheit mit schweren Schritten an den Waggons auf unserem Bahnhof in Senneterre entlangstapfen. Ich befand mich auf vertrautem Terrain.

Als er begriff, dass ich ebenfalls ein Zugliebhaber war, taute er spürbar auf. Ich kam in den Genuss von Geschichten aus den glorreichen Jahren des Northlander, er nannte mich mit kräftiger Stimme »buddy«, und sicher hätte er mir genauso kräftig auf die Schulter geschlagen, wäre ich in meinem Sessel nicht außer Reichweite gewesen.

»Gladys liebte die Züge auch«, vertraute er mir an. Trotz des fehlenden Komforts, der Langsamkeit, der Unpünktlichkeit und obwohl fast niemand mehr der Eisenbahn vertraute. »Gladys wurde übrigens in einem Zug geboren, vor sehr langer Zeit. Sie war um die siebzig, aber noch rüstig, rüstig genug, um mit dem Zug zu reisen. Und immer in Begleitung ihrer Tochter Lisana, dem armen Ding.«

Er kannte die beiden seit einer halben Ewigkeit. In den glorreichen Jahren des Northlander stiegen sie oft in seinen Zug. Sie fuhren nach Toronto, nach Montréal, waren bis nach Nova Scotia gereist, bis nach Winnipeg, hatten fast ganz Kanada mit dem Zug durchquert. Lisana als kleines Kind, das sich mit seinem Malbuch beschäftigte, später als junges Mädchen, das Liebesromane las, während ihre Mutter von einem Sitz zum nächsten ging, plaudernd, lachend, scherzend. Und dann kam es zu dem wiederholten Drama, das Sydney Adams sich nicht erklären konnte (»So ein nettes, fröhliches Kind«), und Gladys brachte »das arme Ding« von Toronto zurück nach Hause. Lisana starrte aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, während ihre Mutter sich bemühte, gute Laune zu verbreiten, um ihr wenigstens einen kurzen Blick zu entlocken. Damals nahm sich Sydney Adams hin und wieder die Zeit für ein kleines Gespräch mit ihr, da ihre Tochter beharrlich schwieg.

Er fand es schön, wenn Gladys in seinem Zug mitfuhr. »Sie redete für ihr Leben gern und konnte einem stundenlang alles Mögliche erzählen.« Die Reise von Swastika nach Toronto war lang. Man musste sich auf ungefähr zehn Stunden einstellen, die Verspätungen nicht eingerechnet, die häufig vorkamen, da Güterzüge generell Vorfahrt vor dem Personenverkehr hatten, weshalb der Zug unterwegs mehrfach auf ein Abstellgleis ausweichen musste. Jemanden wie Gladys an Bord zu haben, die von einem Sitz zum nächsten ging, als schlendere sie eine Dorfstraße hinunter, die für Leben im Wagen sorgte, war ein Segen, für die Mitreisenden ebenso wie für den Zugchef.

Doch bei ihrer letzten Reise mit dem Northlander, kein Wort, keine Bewegung, »nicht mal zur Toilette gegangen ist sie«, stattdessen starrte sie die ganze Fahrt lang aus dem Fenster.

Ihr Verhalten hätte ihm Sorgen bereiten können, aber er hatte sich von dem »Mann mit dem Schal« ablenken lassen, wie er ihn nannte. Dabei warf er mir einen verschwörerischen Blick zu, denn er wusste, dass ich wie er aus dem Norden stammte. Wir waren sozusagen Landsleute.

»Allerdings hatte ich in meinem Zug schon ganz andere komische Vögel gesehen.«

Er nimmt sich das übel. Dass er sich von dem »komischen Vogel« ablenken ließ und darüber Gladys vergaß. Schon auf dem Bahnsteig, als der Mann mit Gladys und einem weiteren Fahrgast auf den Northlander gewartet hatte, war Sydney Adams neugierig geworden. Der Schal hatte ihn irritiert, dabei hatte der nichts Ungewöhnliches an sich, »ein Schal mit grauen Streifen«. Ich lachte, so wie Sydney Adams es von mir erwartete. Ein Mann aus dem Norden hält einen Schal für überflüssig. Daher fiel es natürlich auf, wenn jemand einen trug.

»Ein Fremder, dachte ich gleich, nicht von hier.« (Wieder nannte er mich mit Nachdruck »buddy«.)

An jenem Septembermorgen warteten also zwei Männer und eine Frau auf den Northlander. Der Unbekannte mit dem Schal, der seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchen würde, ein zweiter Reisender, der neben seinem Rucksack in die Hocke gegangen war, und Gladys. Den zweiten Reisenden erkannte Sydney Adams sofort. Er hatte ihn zwei Tage zuvor an Bord gehabt. »Ein Ukrainer, der nur Ukrainisch sprach. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, ohne ein Wort Englisch durch die Gegend zu reisen.« Auch Gladys erkannte er auf Anhieb und wunderte sich, dass sie ohne ihre Tochter unterwegs war.

Als ich Sydney Adams kennenlernte, beschränkten sich meine Ermittlungen längst nicht mehr auf eine Rekonstruktion der Fakten. Ich hatte genug herausgefunden, um die Strecke, die Gladys per Zug zurückgelegt hatte, in allen Einzelheiten nachvollziehen zu können. Ich forschte bereits nach ihren Beweggründen, nach dem, was sie selbst von ihren eigenen Absichten wusste, als sie den Northlander bestieg.

Wie war sie Sydney Adams vorgekommen? Wie eine Frau auf der Flucht oder eher auf einem Himmelfahrtskommando?

»Gladys war an diesem Morgen nicht in Plauderstimmung.«

Sie bedankte sich kurz bei ihm, als er ihr beim Einsteigen half. Dann ging sie zu ihrem Sitz, ohne die Mitreisenden zu begrüßen. Danach rührte sie sich nicht mehr von ihrem Platz, unbeweglich wie ein Fels. Ihn wunderte das nicht groß. Er nahm an, Lisana wäre wieder einmal ausgerissen und Gladys müsste sie in Toronto abholen. Wobei, wenn er sich die Zeit genommen hätte, über Gladys' Verhalten nachzudenken, hätte er stutzen müssen, denn sie hatte ihrer Tochter schon lange nicht mehr zur Rettung eilen müssen, schon seit Jahren nicht mehr, aber seine Aufmerksamkeit war bereits zu dem Mann mit dem Schal abgeschweift.

»Ein komischer Vogel … Erst glaubte ich, er wäre ein train buff

Der Begriff war mir nicht fremd. Ich kenne train buffs. Extreme Eisenbahnnarren. Zugfanatiker. Auf der Suche nach einer alten Lokomotive, die noch im Dienst ist, oder einer Strecke, die von Stilllegung bedroht ist, reisen sie bis ans Ende der Welt, nehmen gewaltige Risiken auf sich, um eine Eisenbahnbrücke von unten zu fotografieren, wagen sich dorthin, wo sie nicht erwünscht sind, um das Herstellungsdatum einer Lokomotive oder eines Schlusswagens zu ermitteln. Sie sind Amerikaner, Europäer, Australier – und immer Männer. Je nachdem, ob sie aufdringlich oder unterhaltsam sind, empfinden die Zugchefs sie als lästiges Pack oder willkommene Abwechslung.

Der Northlander hatte Anschluss an den Polar Bear Express, eine Strecke, die von Cochrane hoch in den Norden Ontarios führt, zum Ufer der James Bay, was Cree-Territorium ist, und aus diesem Grund zog der Northlander zahlreiche Neugierige an. Touristen, Journalisten, die einen Haufen Fragen stellten, Anthropologen, die manchmal von weit her kamen, und von Zeit zu Zeit einen train buff, der ebenfalls von weit her kam und ebenfalls viele Fragen stellte. Anfangs glaubte Sydney Adams also, der Mann mit dem Schal sei ein solcher train buff. Doch seine Kleidung war zu ausgesucht (der Schal, ein gutgeschnittenes Sakko und ein safrangelbes Hemd …, safrangelb!), und er stellte keine Frage über den Northlander oder den Polar Bear Express oder die Cree von der James Bay.

»Aber Fragen hat er schon gestellt, er war ein verdammter Fragensteller, der allen auf die Nerven fiel.«

Ich habe mehrere seiner Mitreisenden befragt und alle äußerten sich negativ über den Mann. Er sei unruhig gewesen, aufdringlich, lästig, nervtötend, und die ganze Fahrt lang sei er von einem Fahrgast zum nächsten gegangen. Es sei weniger seine Kleidung gewesen oder die Art und Weise, wie er sich über dich beugte, als wollte er dich mit Blumen überhäufen (»höflich bis zum Gehtnichtmehr«), als seine beharrlichen Fragen, die zwangsläufig unbeantwortet blieben, da niemand diesen Trotzki kannte, von dem er da redete.

Über Gladys konnten sie nichts sagen, außer dass sie sich die ganze Fahrt nicht von ihrem Platz rührte und kein Gepäck dabeihatte.

Es waren nicht viele Passagiere, ein knappes Dutzend höchstens, versammelt in einem einzigen Wagen – der Northlander hatte schon bessere Zeiten gesehen. Jetzt war er nur noch ein schnaufender Bummelzug mit gerade einmal drei Waggons (Passagiere/Gepäck/Snackbar), der entweder Reisende anzog, die seine Langsamkeit, sein Schlingern und Stampfen, das Wummern von Stahl auf Stahl, das wilde, tierische Schnauben zu schätzen wussten, oder Menschen, die keine andere Wahl hatten und sich mit seiner Behäbigkeit begnügen mussten.

Außer den drei Reisenden, die in Swastika zugestiegen waren, befanden sich eine Mutter mit drei Kleinkindern an Bord, ein junger Cree aus Moosonee, ein paar ältere Leute, hauptsächlich Frauen, ein Schweißer, der in North Bay eine Stelle antrat, und ein pensionierter Angestellter der Ontario Northland Railway, der kostenlos reiste. Auch wenn Sydney Adams nicht alle Fahrgäste mit Namen kannte, war er doch imstande, den Zweck einer Reise zu erraten. Im Falle der älteren Damen war es eindeutig, sie fuhren ihre Familien besuchen oder nach Toronto zum Arzt. Sie hatten eine Kühltasche dabei, aus Sparsamkeit oder weil sie dem Essen der Snackbar misstrauten. Auch die anderen Reisenden hatten Proviant mitgebracht und begannen gerade ihre Sandwiches auszupacken, als Sydney Adams den Fragensteller zum Sitz des jungen Cree gehen sah.

Kanadische Ureinwohner können sehr ruhig sein. Sie reisen, als liefen sie durch die Wälder, auf leisen Sohlen. Selbst wenn sie zu viert sind und einander gegenübersitzen, wechseln sie manchmal die ganze Fahrt lang kein Wort. Sydney Adams, der davon überzeugt war, dass sich der Fragensteller an der jahrtausendealten indigenen Schweigsamkeit die Zähne ausbeißen würde, beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

Und in diesem Moment war Gladys ihm entwischt. Zumindest nahm er das an.

»Wir näherten uns North Bay, und sie muss im Wagenübergang verschwunden sein, während ich damit beschäftigt war, mir anzuschauen, was da passierte.«

Und was da passierte, war nicht banal. Wie auch schon bei den anderen Reisenden beugte sich der Mann mit dem Schal über den jungen Cree (er war, nach Sydney Adams' Einschätzung, höchstens zwanzig Jahre alt) und redete lange auf ihn ein. Zur Überraschung des Zugchefs leuchtete das Gesicht des jungen Mannes auf, wurde lebhaft, beinahe verzog er die Lippen zu einem Lächeln. Der Fremde nahm das als Einladung, sich zu setzen, und sie begannen ein Gespräch. Leider konnte Sydney Adams, obwohl er die Ohren spitzte, nicht hören, was gesagt wurde.

»Ich war sehr erstaunt, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Normalerweise lassen sich die Indianer in unserer Gegend nicht von Schönrednern um den Finger wickeln.«

Das erklärt, warum er Gladys in North Bay nicht aus dem Zug steigen sah. Während er damit beschäftigt war, sich anzuschauen, was da passierte, vernachlässigte er seine Arbeit, und die Fahrgäste verließen bereits den Wagen, mit Hilfe seiner Kollegen, die auf dem Bahnsteig warteten und ihn ablösen würden.

»Ich hätte Gladys nicht einfach so ohne ein Wort gehen lassen, wäre da nicht dieser verdammte Fragensteller gewesen.«

Die Maschine stotterte, das Rad drehte sich in die falsche Richtung. Gladys war ihren Verfolgern entwischt, und irgendwo anders raufte sich jemand die Haare.