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Betty J. Viktoria

Stars von morgen


Für Snowman


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kalter Regen in Kentucky

„Du hättest mich ruhig mal vorwarnen können“, stöhnte Cassia vorwurfsvoll und sah aus dem Fenster.

„Wovon redest du?“, fragte ihr Vater irritiert, während er ein paar Cornflakes zum Frühstück auf den kleinen Esstisch stellte.

„Von diesem schrecklichen Wetter natürlich“, gab Cassia zurück und setzte sich. „Erst ist alles eingeschneit und jetzt ist regnet es.“

Bevor ihr Vater etwas erwidern konnte, fügte sie noch hinzu:

„Und eiskalt ist es dabei die ganze Zeit.“

„Gib dem Wetter eine Chance“, meinte ihr Vater grinsend. „Auch hier in Kentucky kommt irgendwann der Frühling. Und den Sommer hier wirst du lieben.“

„Ich bin gespannt“, murmelte Cassia wenig überzeugt.

Sie war erst vor kurzem mit ihrem Vater nach Kentucky gezogen und hatte sich noch nicht gänzlich eingelebt. Immerhin waren inzwischen ihre Habseligkeiten in einem Container geliefert worden. Damit fühlte sich das Cottage, das sie nun bewohnten, schon mal ein kleines bisschen mehr nach einem Zuhause an. Doch manchmal kam ihr das alles noch vor wie ein unwirklicher Traum. So auch jetzt, als sie beim Frühstück auf den Hof schaute, der noch ruhig und vor allem verregnet da lag. Obwohl es ein Sonntag war, hatte es Cassia nicht geschafft, lange zu schlafen. Sie war mit Ryan und Janice zu einer Springstunde bei Ryans Mutter verabredet. Zwar freute sie sich darauf, wieder im Sattel zu sitzen, doch noch immer überkam sie ein mulmiges Gefühl, wenn sie an Janice dachte. Immer wieder kam es ihr so vor, als wäre Janice noch nicht ganz einverstanden mit ihrer Anwesenheit. Dabei hatte sich das sogar schon ein bisschen gebessert, so dass Janice gelegentlich von Freundschaft sprach. Und trotzdem war Cassia auch davon noch nicht ganz überzeugt.

 

Cielo stand in seiner Box und war mit seinem Heu beschäftigt, als Cassia in die Stallgasse trat. Der kräftige graue Wallach hatte schnell gezeigt, dass er für die Galopprennbahn absolut kein Talent besaß. Deshalb hatte Ryans Mutter sich des Pferdes angenommen und in ihm ein exzellentes Springpferd entdeckt. Seit einiger Zeit durfte Cassia auf ihm reiten, wenn auch meist nur im Unterricht. Der unangenehme Beigeschmack lag darin, dass Cielo ein Verkaufspferd war, das nach ein paar hoffentlich erfolgreichen Turnieren vermutlich den Besitzer wechseln würde. Cassia verdrängte diese Tatsache so gut es ging.

 

Sanft sprach sie Cielo an und öffnete die Boxentür, als er sich ihr zuwandte. Solange Janice und Ryan noch nicht da waren, konnte sie sich ganz auf das Pferd konzentrieren. Doch es dauerte nicht lange, bis die beiden angelaufen kamen. Der Regen hatte sie auf dem kurzen Weg in den Stall einigermaßen durchnässt, was sie offensichtlich wahnsinnig lustig fanden. Cassia ahnte, dass Janice für Ryan irgendwie mehr empfand, als sie zugeben wollte, doch das hätte die wahrscheinlich nie zugegeben. Jedenfalls nicht Cassia gegenüber.

„Du bist ja schon da“, stellte Ryan mit einem Blick auf Cassia fest und sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

„Hallo ihr Beiden“, sagte sie deshalb etwas unbeholfen und putzte weiter Cielos graues Fell.

Janice schenkte ihr nur eine kurze Begrüßung, aber das war für sie üblich und hatte nicht unbedingt zu bedeuten, dass sie Cassia die Schuld daran gab, dass Ryan plötzlich wieder ernst geworden war. Dennoch gingen Janice und Ryan zusammen in die Sattelkammer, um ihr Putzzeug zu holen. Cassia stellte fest, dass sie noch nicht ganz schlau aus ihnen wurde.

 

Als sie ihre Pferde gesattelt hatten, sammelten sie sich hintereinander in der breiten Stallgasse. Auf Anweisung von Misses Newgard, Ryans Mutter, hatten sie ihnen Decken aufgelegt, die in erster Linie die Sättel vor dem Regen schützen sollten. In ihren teuren Klamotten sah die Frau immer aus, als wäre sie einem Katalog für Reitmode entsprungen. Daneben kam sich Cassia oft genug etwas schäbig vor, wenn sie ihre alte Reithose, die zerschlissenen Stiefel und dazu die ausrangierte Winterjacke betrachtete, die sie zum Reiten trug. Selbst Janice, die sonst nicht eben stilsicher war, hatte Besseres zu bieten. Nun stand Misses Newgard an der Stalltür und wartete, bis die drei mit ihren Pferden auf den Hof gegangen waren, um die Tür hinter ihnen wieder zu schließen. Zwar war der Weg bis zur Reithalle nicht besonders weit, doch er reichte tatsächlich aus, um vom Regen mächtig geärgert zu werden. Kaum standen sie endlich wieder im Trockenen, schüttelte sich Cielo ausgiebig.

Cassia wusste nicht, was schlimmer war. In der nassen Jacke zu reiten, oder ohne Jacke noch mehr zu frieren. Nach kurzem Überlegen zog sie die Jacke aus und schwang sich in den Sattel. Misses Newgard hatte ein paar Bodenstangen auf der Diagonalen bereitgelegt und ausgerechnet auf der kurzen Seite einen Steilsprung. Schon beim Warmreiten überlegte Cassia, wie sie diesen am besten anreiten konnte. Das Ziel dahinter war ihr schon klar. Sie sollte Cielo nach einer rasanten langen Seite rechtzeitig zurückholen, durch die Ecke reiten und dann möglichst ruhig springen. Wie das in der Praxis funktionieren sollte, würde sich zeigen.

 

Nach einer Weile trabten sie ihre Pferde locker durch die Halle. Cassia versuchte, Janice aus dem Weg zu gehen. Auf ihrer feinen Fuchsstute Finetta sah Janice vor allem in der Dressur fantastisch aus. Aber das Springen gehörte nicht unbedingt zu ihren Stärken. Ganz im Gegensatz zu Ryan und seinem riesigen braunen Vollblutwallach Teddington. Die beiden waren ein eingespieltes Team in jeder Hinsicht. Inzwischen wusste Cassia, dass Ryan besonders gerne Geländespringen ritt.

„Konzentriert euch, wenn ihr die Bodenstangen anreitet“, ordnete Misses Newgard an und verfolgte mit strengem Blick jeden von ihnen.

Cassia wusste, dass Cielo es ihr relativ einfach machte, gut auszusehen. Zumindest, solange es um einzelne Sprünge und Bodenstangen ging. In einem Parcours bestand die große Schwierigkeit darin, den Wallach ein bisschen unter Kontrolle zu halten. Angesichts seiner Kraft und Masse war das kein leichtes Unterfangen. Er brauchte schließlich einen gewissen Schwung, um über ein Hindernis zu kommen.

Finetta fand schon die Bodenstangen unangenehm und sprang einmal sogar zur Seite weg. Es beruhigte Cassia ein wenig, dass bei Janice auch nicht immer alles gut gelang. Dabei hatte das Mädchen das Glück, ein eigenes Pferd zu besitzen, mit dem es alles unternehmen konnte. Davon konnte Cassia nur träumen.

 

„Ryan fängt an!“, rief Misses Newgard schließlich und deutete auf den Steilsprung.

Ihr Sohn galoppierte aus dem Schritt an, richtete seinen Blick sofort auf das Hindernis und kam in einem beeindruckenden Tempo die lange Seite hinuntergeschossen. Trotzdem gelange es ihm scheinbar mühelos, Teddington vor der Ecke zu versammeln und dann sauber über das Hindernis zu springen. Selbst seine strenge Mutter konnte nichts daran aussetzen.

Kurz darauf gab Cassia die Galopphilfe und hoffte, dass ihr Plan aufging. Sie wollte Cielo gar nicht zu sehr vorwärts reiten, um leichte um die Ecke zu kommen. Als der Wallach auf der Gerade schön ruhig blieb, freute sie sich. Die Ecke wurde zugegebenermaßen etwas runder als sonst und sie traf den Steilsprung auch nicht genau in der Mitte, doch abgesehen davon war sie zufrieden. Misses Newgard grinste.

„Du hast aus meiner kurzen Seite eine gebogene Linie gemacht“, schimpfte sie im Spaß.

Cassia grinste zurück und blieb lieber still. Sie wollte nichts Falsches sagen und am Ende frech oder vorlaut wirken. Stattdessen ließ sie Cielo austraben und schaute gespannt auf Janice und Finetta. Doch ausgerechnet diese Übung stellte für die Beiden kein Problem dar. Janice konnte die kleine Stute perfekt kontrollieren und selbst im Galopp das Tempo in jeder Feinheit verändern. Natürlich kam sie perfekt um die Ecke und weil es sich um einen recht kleinen Steilsprung handelte, setzte Finetta mit Leichtigkeit hinüber. Misses Newgard freute sich mit Janice und betonte immer wieder, dass hier ganz deutlich wurde, wie wichtig die Dressurarbeit als unverzichtbare Grundlage für das Springen war. Cassia war das zwar durchaus bewusst, doch sie hörte es ungern, denn die Dressur war nicht gerade das, was ihr besonders gut lag. Aus unerfindlichen Gründen konnte sie ein Pferd im Springunterricht sehr wohl versammeln. Doch in den Dressurstunden scheiterte sie schon an ganz anderen Dingen.

 

„Das sah super bei euch aus“, lobte Misses Newgard Cassia am Ende der Stunde. „Gefällt er dir noch?“

„Und wie! Er ist großartig“, schwärmte Cassia sofort. Sie war schon viele Pferde geritten und konnte über Cielo nichts Schlechtes sagen. Er war bequem, unkompliziert und arbeitete gut mit. Inzwischen hatte sie ihn schon sehr ins Herz geschlossen.

„Könntest du dir vorstellen, das Training mit ihm zu intensivieren?“

„Wenn das bedeutet, dass ich ihn öfter reiten darf, sehr gern“, antwortete Cassia diplomatisch.

Misses Newgard lachte und erklärte:

„Ja, das bedeutet es. Außerdem beginnt die Turniersaison bald.“

Cassias Lächeln verrutschte ein wenig. Das bedeutete, dass sie Cielo vorstellen und er vermutlich verkauft werden sollte. Und was sollte das Wörtchen „bald“ nur heißen?

„Du würdest Cielo doch auch auf einem Turnier reiten, oder?“, hakte Misses Newgard nach.

Sie hatte schon einmal angedeutet, dass sie es begrüßen würde, wenn Cassia diese Aufgabe übernehmen könnte. Zuvor war auch Ryan recht häufig auf dem grauen Wallach geritten, und auch er hätte mit ihm auf einem Turnier starten können. Doch Ryan widmete sich gern Teddington und dem Geländespringen. Er brauchte nicht unbedingt ein weiteres Pferd, abgesehen davon, dass ihm in dem Fall nahezu der gesamte Stall zur Verfügung gestanden hätte.

„Natürlich reite ich Cielo gern auf dem Turnier“, nickte Cassia brav. Was hätte sie sagen sollen? Es war ihre einzige Chance, aufs Pferd zu kommen. Außerdem war sie Misses Newgard durchaus dankbar dafür, dass sie ihre Pferde reiten durfte. Das war schließlich alles andere als selbstverständlich.

 

Während Cassia Cielo absattelte, bohrte sich eine Frage immer tiefer in ihren Kopf: Wann war bald? Wann begann die Turniersaison? Es war ja nicht so, dass sie noch nie auf einem Turnier gestartet war. Doch das waren Ausnahmen gewesen, die sich eher zufällig so ergeben hatten. Schließlich war sie immer darauf angewiesen, dass irgendjemand ihr ein Pferd zur Verfügung stellte. Um nicht unwissend zu wirken, hatte Cassia diese Frage nach dem bald nicht an Misses Newgard gerichtet. Und ganz bestimmt würde sie auch Janice nicht danach fragen. Am liebsten hätte sie mit Ryan darüber geredet, weil sie die Hoffnung hatte, dass er sie dafür nicht auslachen oder bloßstellen würde. Doch Ryan gab es an diesem Tag nur in Kombination mit Janice, die keine Sekunde von seiner Seite wich. Immerhin besaß er soviel Anstand, sich von Cassia zu verabschieden.

„Wir gehen jetzt, was ist mit dir?“, wollte er an Cielos Boxentür von ihr wissen.

„Ich mache mich auch gleich auf den Weg“, versprach Cassia und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin noch nicht scharf darauf, schon wieder durch den Regen zu laufen.“

„Warte aber lieber nicht darauf, dass es aufhört zu regnen“, konterte Ryan. „Das könnte nämlich noch eine Weile dauern.“

„Na, das klingt ja wundervoll“, seufzte Cassia und winkte den Beiden noch, bevor sie sich davon machten.

Sie selbst blieb noch ein bisschen bei Cielo und schaute ihm beim Fressen zu. Er sah zufrieden aus und sie wusste, dass er ein so tolles Pferd war, dass er garantiert einen anderen Reiter sehr glücklich und erfolgreich machen würde. Trotzdem hasste sie den Gedanken, sich von ihm verabschieden zu müssen. Gerade erst hatte sie sich von einem Pferd trennen müssen. Contra, eine hellbraune Stute aus Misses Newgards Bestand, war das erste Pferd gewesen, das Cassia auf der Broard Brook Farm hatte reiten dürfen. Doch es hatte nicht lange gedauert und Contra war verkauft worden. Seit dem ritt Cassia auf Cielo. Und nun waren auch ihre gemeinsamen Tage unweigerlich gezählt.

 

Abgesehen davon lenkte der Fernseher sie von der Einsamkeit ab, die sie manchmal überkam. Zwar war das steinerne Cottage, das sie mit ihrem Vater bewohnte, für sie beide nur ein bisschen zu groß-und vor allem ein wenig zu vornehm eingerichtet-doch sobald ihr bewusst wurde, dass sie allein war, überkam sie ein unheimliches Gefühl. Cassia vermutete, dass es sich dabei um Heimweh handelte, allerdings war das schwer zu sagen, denn so etwas wie ein richtiges, dauerhaftes Heim kannte sie genau genommen gar nicht. Ihr Vater hatte ihr vor gar nicht allzu langer Zeit versprochen, dass sie nicht mehr umziehen würden. Mindestens so lange nicht, bis sie ihren Schulabschluss gemacht hätte. Doch dann hatte ihn der Ruf eines alten Bekannten aus den USA ereilt und schon waren sie nach Kentucky gezogen. Dieser Umzug war selbst für seine Verhältnisse erschreckend plötzlich gekommen. Cassia hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sich von all ihren Freunden zu verabschieden.

Als sie ein Geräusch hörte, glaubte sie, ihr Vater würde endlich nach Hause kommen. Doch dann entdeckte sie, dass es nur ihr Handy war, das sich bemerkbar machte. Cassia griff danach und warf einen flüchtigen Blick darauf. Ryan hatte ihr ein Foto geschickt. Nach genauerem Hinsehen erkannte Cassia, dass es sich um ein Foto von Mighty Valentino handelte. Das Fohlen war erst ein paar Tage alt und galt als besonders zerbrechlich, was viele Erwachsene enttäuschte, weil es einem exzellenten Stammbaum entsprang. Cassia lächelte und spürte, wie das Gefühl von Einsamkeit etwas schwächer wurde. Das Fohlen und die Tatsache, dass Ryan an sie gedacht hatten, erhellten ihre Stimmung. Sie schaltete den Fernseher aus und ging in die Küche, um aus dem, was sie in den Schränken fand, ein Abendessen zu kochen. Sie und ihr Vater bestellten häufig nur bei diversen Lieferdiensten, weil sie beide nicht gern kochten und auch nur wenig Zeit dazu hatten. Doch seit Cassia vor kurzem bei Ryan gewesen war und dort frisch gekochtes Essen genossen hatte, war ihr der Appetit auf Abgepacktes ein wenig vergangen.