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Lucas Buchholz

Kogi

Wie ein Naturvolk
unsere moderne
Welt inspiriert

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Bücher haben feste Preise.

Lucas Buchholz

© Neue Erde GmbH 2019

Titelseite:

Lektorat: Andreas Lentz

Satz und Gestaltung:

eISBN 978-3-89060-340-7

Neue Erde GmbH

Widmung

Dieses Buch ist dem Volk der Kogi gewidmet, das bereit ist, uns an ihrer lebendigen Sicht auf die Welt teilhaben zu lassen. Ich danke allen Mamos dafür.

Danksagung

Von ganzem Herzen danke ich Gwendolin Kirchhoff, die mich mit vollem Engagement bei der Überarbeitung dieses Buches unterstützt hat. In vielen gemeinsamen Stunden hat sie ermöglicht, dass der Inhalt des Buches den Nährwert geistigen Vollkornbrots annehmen konnte.

Meinen Eltern möchte ich dafür danken, dass sie mir in jeglicher Hinsicht die Grundlage und den Rahmen geboten haben, ohne den ich weder hätte zu den Kogi fahren noch das Buch in dieser Art und Weise schreiben können. Ich bedanke mich für ihre Geduld und die vielen Mut machenden Worte.

Bei Larissa bedanke ich mich dafür, dass sie mich eine Zeit lang zu den Kogi begleitet, Stunden des Zweifels und der Krisen mit mir durchgestanden und mich vor dem Skorpion gerettet hat.

Isolde danke ich für die einfühlsamen Nachfragen und ausführlichen Kommentare zu den jeweiligen Kapiteln. Bei allen anderen Freundinnen und Freunden, Teilnehmerinnen und Teilnehmern an meinen Seminaren und Vorträgen bedanke ich mich für die vielen hilfreichen Anmerkungen und ihren Zuspruch, dieses Buch zu schreiben.

Inhalt

Geleitwort von Little Grandmother Kiesha

Einleitung

Kapitel 1 – Die Erstgeborenen

Die Kogi sind wertvoll

Was sehen die Kogi?

Das Prinzip des Einen Gedankens

Lebendigkeit

Kapitel 2 – Alltäglichkeit und Wirklichkeit

Gedankliche Uniformität

Zwischen den Welten

Außenansicht

Kapitel 3 – Geschichten

Mytho-Logik

Die vielleicht wichtigste Frage

Narrativ des Lebendigen

Der Ursprung ist immer

Spirituelle Forstwirtschaft

Kapitel 4 – Mama

Erinnerung an das Wesentliche

Achtzehn Jahre in der Dunkelheit

Das Prinzip des Ausgleichs

Nach Hause telefonieren

Kapitel 5 – Hähne krähen, Hühner gackern

Ley de Sé – Das Gesetz des Ursprungs

Genehmigungen einholen

Das Eigene

Kapitel 6 – Von hier – von dort

Senénulang – Territorium

Kagui agzain – Heilige Orte

Esuama – Ort der Macht und des Wissens

Landwirtschaft und Kaffee

Kapitel 7 – Dunkelheit

Aluna – Die Welt der Gedanken

Durch Denken erschaffen

Das Prinzip der Annahme

Kapitel 8 – Ich-Menschen, Wir-Menschen

Gemeinsam lebendig

Gerechtigkeit

Autonomie

Abstammung

Aussprache

Kapitel 9 – Noch 80.000 Jahre

Lebendige Technik – Biomimetik als Anfang

Lebendige Organisation

Die Akademie

Epilog

Glossar

Endnoten

Über den Autor

Geleitwort

von Little Grandmother Kiesha

Auf einer der Treppen in der uralten Stadt Machu Picchu hat Lucas mir davon berichtet, dass die Kogi ihn gebeten haben, ein Buch für sie zu schreiben. Ich war darüber sehr glücklich, denn ich wusste, dass viele Menschen sehr von ihren Worten und ihrer Botschaft profitieren würden.

Unter den verschiedenen Stämmen in Nord- und Südamerika erzählt man sich, dass die Kogi noch die innigste Beziehung zu unserer lebendigen Mutter Erde haben. Diese Menschen sind tief in ihrem Land und mit dem Planeten verwurzelt und erlaufen barfuß die schlammigen Wege des kolumbianischen Küstengebirges. Dabei nähren sie die Natur mit ihren Gedanken und Gebeten. Für die Kogi bedeutet laufen, sich zu erinnern, und die Erinnerung ist die Verbindung zu den eigenen Vorfahren, die uns lebendig hält. Sie gehen sogar soweit zu sagen, dass ein Volk ohne Erinnerung ein totes Volk sei. Die kleinen in weiß gekleideten Männer und Frauen leben gemeinsam, nicht nur als Gemeinschaft, sondern mit allem Leben. Die Weisen der Kogi, die Mamos, sind von einer Atmosphäre der Ruhe, großer Weisheit und kindlicher Freude umgeben, die so tiefgehend ist, dass sie einen sofort berührt.

Alles Lebendige ist verbunden, und nur wir Nicht-Indianer haben diese Verbindung unterbrochen, da wir unsere Wahrnehmung von ihr abgezogen haben. Wenn wir zu den indigenen Kulturen dieser Welt schauen, können wir wieder lernen, diese Verbindung zu allem Leben neu zuzulassen, die bei dem Versuch unserer Welt, zivilisiert zu sein, verlorengegangen ist. Diese Menschen haben das Verständnis davon erhalten, dass Gleichgewicht, Freude und sogar Lebendigkeit nur (wieder)hergestellt werden können, wenn sie in uns, zwischen uns und mit allem Leben auf dem Planeten vorhanden sind.

Die Kogi nennen uns die Jüngeren Brüder, und wie jüngere Brüder das manchmal tun, haben wir den Pfad verlassen und uns unseren eigenen erfunden. Deshalb bitten uns die Älteren Brüder, wie die Kogi sich selbst nennen, sanft wieder auf unseren Weg zu kommen. Die Kogi sagen dabei nicht, dass wir uns vollständig verändern müssen, da es unsere Aufgabe ist, mit Materie und Technologie zu arbeiten. Jedoch bitten sie uns, wieder anzufangen zu denken. Um wieder die Konsequenzen unseres Handelns zu bedenken, sollten wir uns stets eine Frage stellen: Ist das, was ich tue, dem Leben zugewandt? Wenn wir wieder in einer natürlichen Art und Weise zu denken beginnen, werden unsere Gedanken wieder unterstützt, sodass wir bessere Lösungen für viele unserer globalen Herausforderungen finden werden. Wir werden damit aufhören, nur Symptombehandlung zu betreiben und stattdessen Wege finden, die alles Leben stärken.

Ich bin in den letzten Jahren viel durch die Welt gereist und habe überall die Ältesten verschiedener Völker getroffen. Alle teilen uns die gleiche Botschaft mit, die wir auch von den Kogi hören. Es ist so einfach, aber wir sind es, die die Dinge oft viel zu sehr verkomplizieren. Und alles, was den Kogi etwas wert ist, ist ebenfalls einfach. Sie lieben das Leben und den Planeten wirklich. Spiritualität ist nichts, was sie an einem Freitagabend im Yoga machen, sondern Bestandteil ihres alltäglichen Lebens. Die Kogi beten und tanzen und fühlen und geben dabei ihr bestes, uns zu unterstützen. Sie geben uns so viel und das, obwohl wir es nicht wissen. Es ist also an der Zeit, etwas zurückzugeben und ihnen zuzuhören. Wir sind sehr gut darin zu reden, aber manchmal scheint es, als hätten wir vergessen, wie man wirklich zuhört. Die Kogi sagen »zuhören ist denken«. Also lasst uns den Ältesten zuhören, wie sie ihre Worte voller Weisheit sprechen, die sie an ihrem Rückzugsort, hoch oben in den Bergen, bewahrt haben, damit sie nun in diesen Zeiten wieder zu uns finden können. Sie wissen so viel, über jedes kleine Detail in der Natur, dass wir uns das gar nicht vorstellen können. Ihr Wissen kommt nicht davon, dass sie auf die Natur schauen, sondern davon, dass sie direkt mit ihr sprechen. In den nächsten Jahren werden unsere Wissenschaftler Dinge wiederentdecken, die die Kogi über Tausende von Jahren nicht vergessen haben und die sie nun beginnen, uns in diesem Buch mitzuteilen.

Die Kogi in diesem Buch

Mama José Gabriel Alimaku

Mama Bernardo Mascote-Zarabata

Mama Jacinto Zarabata

Mama José Zarabata

Mama Pedro Juan Noevita

Mama Luis Noevita

Mama Shibulata

Mama Ramon Gil Barros (Wiwa)

Mama Wintukua Kunchanawingumu (Arhuaco)

Mama Bernardo Simungama-Mamatacan

Juan Mamatacan

Santiago Mamatacan

Arregoces Conchacala

Arregoces Coronado-Zarabata

Juan Carlos Mamatacan (als Übersetzer seines Großvaters)

Einleitung

Das höchste, was man erwarten kann, ist,
Menschen an das zu erinnern,
was sie schon immer wussten
.

Platon

Ich werde nie den Ausdruck in den Augen des alten Indianers vergessen. Er stand da und sah mich einfach nur an. Seine Präsenz nahm den ganzen Raum ein. Nie zuvor hatte ich das Gefühl, so durchschaut und maskenlos vor jemandem zu stehen. Er sprach nicht, und doch sagte sein Blick alles: »Du bist unserer Einladung gefolgt und zu uns gekommen. Du wirst unsere Gedanken in die Welt bringen und darüber sprechen. Das ist gut.«

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Herzlich Willkommen liebe Leserinnen und Leser!

Die Kogi-Indianer,1 Hüter des Gebirges der Sierra Nevada de Santa Marta, laden uns ein. Bei diesem Besuch bei ihnen geht es jedoch weniger um die tropischen Berge der kolumbianischen Karibikküste mit ihrem dichten Dschungel und kristallklaren Flüssen, sondern vielmehr um ein Kennenlernen ihrer Weltsicht. Die Kogi geben dabei ihr Bestes, damit wir weitreichende Einsichten und Erkenntnisse aus unserem Aufenthalt in ihren Sphären ziehen. Ihr Bestes geben sie dabei im wortwörtlichen Sinne: ihre Gedanken.

Bei den Kogi handelt es sich nicht um ein farbenfrohes und zeitweise verschollenes Relikt der Geschichte, sondern um inspirierende Menschen des 21. Jahrhunderts. Diese kleine, vielleicht etwas banal anmutende Feststellung ist enorm wichtig, da dieses Buch zu einem Dialog zwischen Menschen einlädt, denen es letztendlich – genau wie uns auch – um ein gutes Leben geht. Daher danke ich Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie dieses Buch geöffnet haben und Ihr Privileg wahrnehmen, sich auf diese Bekanntschaft einzulassen.

Ein Privileg ist es wahrlich, denn das Volk der Kogi hat es als die vermutlich letzte indigene Gesellschaft Lateinamerikas geschafft, ihre ursprüngliche Hochkultur auf fast präkolumbianischem Niveau zu erhalten. Das Schicksal der Menschen der anderen großen Kulturen des Kontinentes, der Maya, der Inka, der Azteken, ist weithin bekannt: Sie sind fast vollständig kulturell und genetisch in den kreolischen Mehrheitsgesellschaften der jeweiligen Länder im doppelten Wortsinne eingegangen. Mit den Kogi liegt jedoch vor uns die einmalige Chance des Zugangs zu einem Mentalitätstresor. Dieser Mentalitätstresor besteht aus den Ideen, Gedanken und Sichtweisen der Kogi, die ihre Ursprünglichkeit abseits der globalisierten kolumbianischen Gesellschaft erhalten konnten. Ein Blick in diesen Tresor hält für uns nun einen ganzen Kosmos an Denkanstößen bereit.

Die Kogi haben sich entschieden, zu uns zu sprechen und uns ihre Botschaft zu übermitteln. Doch was bewegt sie zu dieser Kontaktaufnahme? Zwar haben die Kogi die letzten Jahrhunderte in ihren Bergen in Abgeschiedenheit gelebt, doch haben sie uns und unsere Entwicklung von ihren Gipfeln aus genau beobachtet. Der Grund für sie, zu uns zu sprechen, sind die enormen ökologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und individuellen Herausforderungen, vor denen wir alle derzeit stehen. Wir befinden uns in einer Zeit eines immer schnelleren Wandels voller Umwälzungen, der eine immer volatilere, störungsanfälligere Welt zur Folge hat. Regeln, die vor dreißig Jahren noch galten, und Lösungen, die vor zwanzig Jahren funktionierten, tun es heute nicht mehr.

Wir erleben derzeit ein ungeheures Artensterben. Die Umwelt verändert sich rasant und so auch Gesellschaft, Technologie und Arbeitsmarkt. Wir stoßen mit unserem klassischen Denken an Grenzen und stehen vor Herausforderungen in völlig neuen Dimensionen. Immer öfter wird die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von Prozessen, Regeln, Hierarchien und Aufgaben gestellt. Das schiere Ausmaß des Verschleißes und die teilweise starke Begrenztheit unserer bisherigen Lösungsansätze hat die Kogi dazu veranlasst, zu uns zu sprechen, denn sie sehen den Grund für die allermeisten Probleme in unserer Art zu denken, die unserem Handeln zugrunde liegt. Dabei ist der Kern ihrer Beobachtung, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Lebendiges von Nicht-Lebendigem zu unterscheiden. Vieles von dem, was wir für lebendig halten, ist es für die Kogi nicht. Von den Kogi lernen heißt, eine Zunahme an Lebendigkeit zuzulassen.

Die Kogi verstehen sich als die Hüter des Herzens der Welt, wie sie ihre Heimat, die Sierra Nevada de Santa Marta, nennen. Ihre Aufgabe sehen sie im Erhalt der subtilen Grundbedingungen des Lebens auf der Erde, dem ihre ganze Kultur gewidmet ist. Sie nennen sich selbst die Älteren Brüder und uns die Jüngeren Brüder. Lange Zeit haben sie den Kontakt mit uns weitestgehend vermieden. Um so dankbarer bin ich, dass mich die Kogi in den kleinen Kreis der Menschen aufgenommen haben, mit denen sie sprechen (wie zum Beispiel Gerardo Reichel-Dolmatoff, Éric Julien oder Alan Ereira). Sie möchten Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dieses Buch in der Zuversicht übermitteln, dass Sie mitdenken und sich erinnern.

Das, was die Kogi uns anbieten, ist ihr ungebrochenes kulturelles Gedächtnis. Es sind die ursprünglichen Gedanken ihres Volkes und die ihrer Vorfahren, der Tairona.2 Um uns zu verdeutlichen, was das bedeutet: Die hölzernen Zeremonialhäuser der Kogi stehen an Orten, an denen bereits seit über 4000 Jahren solche Bauten stehen. Ihre Weisheitskultur ist so tragend und nährend, dass sie seit Tausenden von Jahren das Leben der Kogi bestimmt, ohne sie zu langweilen oder zu ermüden. Menschen, die es geschafft haben, über derartige Zeiträume hinweg in einer in jeder Hinsicht nachhaltigen und friedlichen Zivilisation zu leben, haben offensichtlich etwas über das Leben verstanden.

Ganz gleich, ob Sie dieses Buch lesen, weil Sie an der Erweiterung Ihres Horizontes interessiert sind, Ihrem kulturellen Interesse an einem indigenen Volk nachgehen, nach Inspiration für Ihr Unternehmen suchen oder sich spirituell weiterentwickeln möchten: Die feine und durchaus humorvolle Art der Kogi wird Sie bereichern. Voraussetzung ist allein, sich auf die Erzählweise der Kogi einzustimmen und die dahinterliegenden Überlegungen und Prinzipien nachzuvollziehen. Wenn wir es schaffen, den Filter unserer Weltsicht – und sei es nur für einen Moment – durchlässig werden zu lassen, können wir uns von ihren Gedanken die blinden Flecken in unseren Sichtweisen zeigen lassen. Genau das ist es, was Sie von diesem Buch erwarten können: Einblicke in ein grundlegend anderes Denken.

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie spricht in ihrem berühmten Vortrag The danger of a single story* darüber, wie trügerisch und irreführend eine Geschichte sein kann, deren Ursprung und Zusammenhang vergessen worden ist. In unserem Fall geht es um die Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen, über das Leben und über die Welt. Diese Geschichte handelt von entgeltlicher Arbeit, von Wirtschaftswachstum, von »Wohlstand«, aber auch vom Strampeln vieler Unternehmen in überfüllten Märkten, von Deadlines, vollen U-Bahnen und langen Gesichtern am Montagmorgen, von auf das Smartphone gesenkten Blicken, vom Coffee to go… kurz: von der urbanen Moderne.

Ganz gleich, ob wir diese unsere Geschichte über das Leben mögen oder nicht, sie ist das, was den Platz des Realen vollständig eingenommen hat. Sie ist unsere einzige Geschichte, und wir halten sie für alternativlos. Nur durch eine wesenhaft andere Geschichte haben wir die Möglichkeit, die Ränder dieser Weltsicht zu ertasten, und zwar jenseits der internen Kategorien der Kritik an unserer Lebensweise. So mag einer die Umwelt schützen wollen, dem anderen ist ein wirtschaftliches Vorhaben wichtiger, doch für beide ist die Natur letztlich eine Umwelt, und damit bewegen sich beide in der gleichen Grundannahme. Durch die Meinungsverschiedenheit wird diese jedoch nicht in Frage gestellt.

Natürlich hat unsere Geschichte beachtliche technische Erfolge hervorgebracht, allerdings auch entsprechende Probleme. Jedenfalls empfinden wir uns in einem linearen Fortschritt begriffen, weit jenseits so konservativer Kulturen wie die der Kogi. Was soll uns ein Naturvolk angesichts der heutigen Herausforderungen denn allen ernstes noch zu sagen haben?

Die Kogi bieten uns keine fertigen Lösungen für unsere Probleme. Vielmehr eröffnen sie uns einen Blick auf die Welt, der nicht auf unseren Grundannahmen und Anschauungen beruht. Durch diesen Blick wird etwas sichtbar, das geeignet ist, einen Ausweg aus festgefahrenen Mustern zu weisen. Der Schleier der einzigen Geschichte, der Alternativlosigkeit auf Gedeih und Verderb, wird löchrig.

Die Worte der Kogi sind als Symptombekämpfung denkbar ungeeignet. Sie bieten keine Tools, Methoden, Techniken, 7-SchrittePläne oder smarte Zielerreichungsmodelle, sondern etwas viel Wertvolleres: wirklich durchdachte Prinzipien. Prinzipien sind das Fundament jedweden In-der-Welt-Seins. Sie zeigen verdeckte Potentiale, Chancen und Lösungen auf, ohne diese vorzugeben. Angesichts unseres inflationären Gebrauchs des Wortes Mindset könnte man meinen, wir hätten diesen zentralen Punkt verstanden. Doch die Kogi zeigen uns, dass die wirkliche Bedeutung und Reichweite dessen noch nicht ansatzweise erfasst ist – trotz Tausender Bücher und Workshops zu den Themen Umsetzung, Motivation und Innovation. Doch nicht nur Unternehmen sind von diesen Fragen betroffen. Jeder Mensch ist es, der in der Welt handelt.

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Dieses Buch ist aber noch weit mehr als ein Lernen von den Kogi. Es ist ihre Botschaft an uns, den Jüngeren Bruder. Die Kogi baten mich, diese Botschaft in unsere Sprache und unseren Kontext zu übersetzen und aus unserer Lebenswelt heraus verständlich zu machen. Es ist damit ihr Buch, und ich habe es für sie geschrieben. Konkret sah das so aus, dass mich die Kogi an ihren stundenlangen Gesprächen teilhaben ließen und ich aufschrieb, was ich gehört hatte. Was sie unter dem Avocadobaum, in ihren Hütten, beim Arbeiten auf den Feldern oder im nuhué, dem Zeremonial haus sagten, habe ich mit meinem Diktiergerät aufgenommen, transkribiert, übersetzt, geordnet, ausgewählt und mit Erläuterungen versehen.3 Da ich kein Buch über die Kogi, sondern eines mit ihnen geschrieben habe, kommen sie auch selbst zu Wort. Dies ist eine Besonderheit, denn die Zitate, Gespräche, Geschichten und Sagen der Kogi lassen Sie erahnen, wie es ist, nach Einbruch der Dunkelheit in der Hängematte liegend oder auf einem der niedrigen vierfüßigen hölzernen Hocker sitzend, unmittelbar den Worten der Ältesten zu lauschen. Lange Monologe wechseln sich mit Phasen der Reflektion und des Spürens ab, die nur vom Knistern des Feuers, den Grillen in der Nacht und dem rhythmischen Klacken der poporros4 unterbrochen wird.

Die Abschnitte, in denen die Kogi sprechen, sind nicht redigiert, die Sprache ist ursprünglich, manchmal sehr direkt. So können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, an meiner Erfahrung mit den Ältesten teilhaben. Die Reden der Kogi ziehen in ihre Welt hinein, sind authentisch und ganz unmittelbar. Sie werden von mir eingebettet durch einen Rückbezug auf unsere Welt. Vieles kann einfach für sich stehen, anderes benötigt Erklärungen, die erkunden, was das Gesagte für unsere Lebenswirklichkeit bedeutet. Meine Gedanken habe ich um die Kogi-Texte herum angeordnet.

Die Art der Kogi zu sprechen unterscheidet sich sehr von der unsrigen. Es werden große Bögen und weite Zusammenhänge aufgespannt. Das hat damit zu tun hat, dass sie als bewusst nicht verschriftlichte Kultur dadurch ihre Erinnerung kultivieren. Das Wort ist kostbar für die Kogi und wird durch Sprechen am Leben gehalten. Sie nehmen sich die Zeit, ihren Gedankenfaden mit dem Ursprung, mit den ersten Gedanken beginnen zu lassen. Sie wiederholen und verknüpfen Zusammenhänge, denn alle Dinge, sichtbar und unsichtbar, sind für die Kogi miteinander verbunden. Diese Verbindungen und Zusammenhänge sind so mannigfaltig, so vielschichtig und zuweilen auch so subtil, dass sie immer wieder neu aufgezeigt werden wollen. Dabei entsteht ein Gefühl von Gleichzeitigkeit und Offenheit.

Die Kogi sprechen nicht in unserem Sinne in linear aufgebauten Schlussfolgerungen oder Botschaften, sondern in größeren Zusammenhängen. Unsere Vorstellung des Auf-den-Punkt-Kommens existiert bei ihnen nicht. Das empfinden sie als unlebendig, denn es schließt den Raum und begrenzt den Fluss der Gedanken. Für die Kogi sind Worte und Gedanken lebendige Wirkgrößen, die im und durch das Gespräch leben; sie sind in diesem Sinne niemals rein zweckgebunden. Trotz dieser grundlegend anderen Herangehensweise sind die Worte der Kogi nicht beliebig assoziativ oder unorganisiert, sondern laden dazu ein, einem Gedanken wie einem Lebewesen in seiner Bewegung zu folgen. In diesem für uns ungewohnten Zugang liegt die Chance einer Kontaktaufnahme mit dem wirklich Anderen. Der webende Charakter der Ausführungen der Kogi bedingt, dass die darin anklingenden Grundthemen und Aspekte in verschiedenen Kapiteln und unterschiedlichen Zusammenhängen auftauchen. Es würde den Kogi nicht gerecht werden, ihre Worte in unsere Strukturen und Konzepte zu pressen, zumal es langweilig wäre. Anfangs erschien meinem ergebnisorientierten Verstand einiges langatmig, doch bald begriff ich: Hier verhält es sich wie beim Tauchen. Wir brauchen einen langen Atem, um in die Tiefe vorzudringen. Sonst bleibt man oft nur im Nichtschwimmerbereich.

Die Worte der Kogi sind durch zwei Übersetzungen gegangen. Vom kággaba ins Spanische und vom Spanischen ins Deutsche. Viele Kogi sprechen überhaupt kein Spanisch, so dass sie mir von anderen Kogi, die ein paar Brocken Spanisch sprechen, übersetzt wurden. Auch wenn ich nur wenige Worte kággaba verstehe, habe ich mit der Zeit ein Gefühl für das Gesagte entwickelt und in meinen Übersetzungen soweit wie möglich darauf geachtet, dieses Gefühl zu erhalten.

Die dritte Textart dieses Buches beschreibt meine lebendige Erfahrung. Deshalb gibt es neben den Worten der Kogi und meinen entsprechenden Ausführungen die Erlebnisberichte von meinen Eindrücken und Empfindungen in ihren Dörfern. Diese Berichte sind passend zu den Themen der Kapitel ausgewählt; sie folgen keiner zeitlichen Abfolge, sondern einer inhaltlichen.

Mit jedem Kapitel des Buches tauchen wir tiefer in die Welt der Kogi ein. Und im letzten Kapitel übertragen wir die Quintessenz dessen, was die Kogi uns sagen, auf unsere Welt. Obwohl es sich nicht um ein anthropologisches oder ethnologisches Buch handelt, sind an vielen Stellen Ausführungen über die Kultur der Kogi eingeflossen. Dies soll nicht dazu anregen, ihre Lebensweise nachzuahmen. Das würden sie nicht wollen, da das Eigene für sie einen hohen Stellenwert hat und sie uns in unserem Eigenen bestärken wollen. Nichtsdestotrotz sind die ihrer Kultur zugrundeliegenden Gedanken eine tiefe Quelle der Inspiration und geeignet, einen Erkenntnis- und Erinnerungsprozess in Gang zu setzen. So zumindest ist es für mich persönlich gewesen. Ihnen wird auffallen, dass ausschließlich die männlichen Weisheitsträger der Kogi, die Mamos, zu Wort kommen. Dies liegt schlicht und einfach daran, dass ich ein Mann bin und also nach Anbruch der Dunkelheit im Zeremonialhaus der Männer meine Abende und Nächte verbrachte. Bei den Kogi werden die Männer von den Männern und die Frauen von den Frauen unterrichtet.

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September, bei Berlin. Mama José Gabriel war wieder einmal nach Deutschland gekommen, um über sein Volk und den Kaffee, den es verkauft, zu sprechen.5

Es war das zweite Mal, dass wir uns sahen. Es war Mittagspause, und wir schritten gemeinsam einen Weg unter den Bäumen des Botanischen Gartens entlang. Wir unterhielten uns, und Mama José Gabriel erwähnte, dass er bemerkt habe, dass wir Jüngeren Brüder hauptsächlich durch Bücher und Filme lernen würden.

»Warum haben die Kogi selbst noch kein Buch in Auftrag gegeben?« wollte ich wissen.

»Wir haben es uns bereits überlegt, haben jedoch bisher davon Abstand genommen, da unsere Worte und unsere Sicht auf die Welt in der Vergangenheit oft verfälscht worden sind.«

Der Mamo schwieg kurz. Dann sagte er: »Jetzt, nachdem ich wieder gesehen habe, welche große Bedeutung Bücher für euch haben, glaube ich, dass ein Buch doch wichtig für die Kogi und für euch ist. Würdest du uns in Kolumbien in unseren Dörfern besuchen? Wir werden dort über ein Buch sprechen.«

Spontan sagte ich zu. Das war der Beginn meiner monatelangen Gespräche bei und mit den Kogi, die die Grundlage dieses Buches bilden sollten. Es liegt mir am Herzen, Ihnen meine Erfahrungen mit diesen wunderbaren und inspirierenden Menschen weiterzugeben und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in diesem Buch ihr geistiges Geschenk zur Verfügung zu stellen, denn: »Nicht von außen wird die Welt umgestaltet, sondern von innen.«6

* »Die Gefahr einer einzigen Geschichte«

Kapitel 1

Die Erstgeborenen

Tradition ist die Bewahrung des Feuers,
nicht die Anbetung der Asche
.

Gustav Mahler

Die Kogi sind wertvoll

Beginnen wir am Anfang. Die Gespräche im Saal verstummten. Der Mamo fing an zu sprechen:

Ich heiße Mama José Gabriel Alimaco, und ich komme aus der Sierra Nevada de Santa Marta. Die Sierra Nevada ist das Herz der Welt. Dort leben wir vier Stämme gemeinsam: wir Kogi, die Arhuaco, die Wiwa und die Kankuamo. Wir sind die Hüter der Sierra Nevada, des Herzens der Welt.

Am Anfang war alles dunkel, und es gab nur Gedanken. Es gab keine Erde, keine Bäume, keine Tiere und keine Steine. Alles war dunkel, und es gab nur Gedanken, nichts weiter. Dann hat Jaba Sé7 in Aluna, der Welt der Gedanken, Sezhankua8 geschaffen. Sie selbst konnte sich nicht bewegen. Sezhankua erschuf dann die Erde als kleinen schwarzen Stein. Am Anfang war die Erde sehr, sehr klein und bestand nur aus Stein, aus nichts weiter. Dann hat er das Wasser geschaffen und dann irgendwann die Sierra Nevada mit ihren Tieren, Bäumen, Bergen, Flüssen, Wäldern und ihren Menschen, zuerst die Kogi, dann die Arhuaco, dann die Wiwa und zuletzt die Kankuamo. Die vier Stämme der Sierra Nevada sind die Älteren Brüder, sie wurden zuerst geschaffen. Und Sezhankua hat ihnen die Sierra Nevada gegeben, damit sie sie hüten. Dann wurde die Erde immer größer, sie wuchs immer weiter und wurde irgendwann sehr groß. Sezhankua hat den Kogi ein kleines Territorium gegeben, damit wir auf es aufpassen. Er hat auch den Jüngeren Brüdern9 ein Territorium gegeben, damit sie dort leben können und es bewahren.

Als Sezhankua jedoch die Aufgaben an alle Völker verteilt hatte, was sie tun sollten, wofür sie zuständig sind und wie sie sich um die Erde kümmern sollten, sind die Jüngeren Brüder irgendwann nachts um drei oder vier eingeschlafen. Die Jüngeren Brüder können bis heute nicht sehr lange reden. Nach spätestens acht Stunden sind sie müde. Bei den Kogi sprechen wir manchmal neun Tage und neun Nächte ohne Pause.

Sezhankua hatte den Jüngeren Brüdern ihr Territorium zum Leben gegeben mit heiligen Orten, auf die es aufzupassen gilt. Uns hat er die Sierra Nevada gegeben, ein sehr kleines Territorium, damit wir das Herz der Erde hüten. Aber der Jüngere Bruder hat vergessen, was Sezhankua ihm aufgetragen hat. Christoph Kolumbus ist nach Kolumbien gekommen. Die Jüngeren Brüder hatten ihre Erde zum Leben, doch sie sind zu uns gekommen. Viele von uns wurden getötet. Sie haben viele Krankheiten mitgebracht und viele von uns sind gestorben. Sie wollten unser Gold und haben es sich genommen. Wir hatten kein Geld und keine Autos, aber wir hatten Gold in jedem Haus. In jedem Haus gab es Gold und es hing an den Bäumen. Es war lebendig, es war ein pagamiento10 an die Erde. Die Jüngeren Brüder haben es weggenommen, weil sie nicht verstanden haben. Nun ist das Gold tot und liegt nutzlos in euren Museen. Es hat keine Aufgabe mehr. Wir Älteren Brüder haben dennoch gesagt: »Gut, wir werden mit den Jüngeren Brüdern zusammenleben, denn es sind unsere Brüder, und sie sind zu uns gekommen.«

Dann haben die Jüngeren Brüder angefangen immer mehr Land zu nehmen. Wir sind also hoch in die Berge aufgestiegen und haben uns dort in Höhlen zurückgezogen. Die Jüngeren Brüder haben begonnen, auf dem Land am Fuß der Sierra zu leben, aber sie haben die Dinge nicht geachtet. Sie haben die Tiere nicht geachtet, sie haben die Bäume nicht geachtet, sie haben die Steine nicht geachtet, sie haben die Flüsse und die Quellen nicht geachtet und sie haben die heiligen Orte nicht geachtet und sich nicht um sie gekümmert und sie nicht genährt. Das hat sich in den letzten 500 Jahren nicht geändert.

Wir haben gewartet. Vor einiger Zeit haben wir Mamos11 jedoch gesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Sezhankua hat uns das Herz der Welt gegeben, damit wir uns darum kümmern. Aber wir haben uns gefragt, wie können wir uns darum kümmern, wenn wir zu vielen heiligen Orten gar keinen Zugang mehr haben? Wie können wir uns darum kümmern, wenn die Jüngeren Brüder unsere heiligen Orte missachten und wir hoch oben in den Bergen wohnen und gar nicht mehr an diese Orte gelangen?

Wenn wir uns nicht um die Sierra, das Herz der Welt kümmern, dann wird es sterben. Es wird sterben, und da es das Herz ist, wird die ganze Welt sterben. Vom Herz nach unten ist die Welt bereits tot, vom Herz nach oben ist die Welt noch lebendig. Die Sierra kann nur leben, wenn wir wieder an unsere heiligen Stätten gelangen und wenn wir uns durch sie mit dem Leben verbinden. Wenn wir an den heiligen Orten pagamiento machen, achten wir so die Erde. Wir geben etwas von uns für das, was wir erhalten, damit die Erde im Gleichgewicht bleibt. Wenn ihr im Laden etwas kauft, bezahlt ihr auch viel Geld, aber was die Erde euch gibt, dafür bezahlt ihr nichts. Wenn wir uns jedoch nicht um die Erde kümmern und sie nähren, kommt alles noch mehr aus dem Gleichgewicht, und sie wird sterben und wir dann auch…

Mama José Gabriel sprach immer weiter und nach etwa zwanzig Minuten wurde mir klar, dass ich mitschreiben musste, um nur ansatzweise in der Lage zu sein, das Gesagte zu behalten und es dann dem Publikum zu übersetzen. Ich hatte erwartet, dass er irgendwann einmal einen Punkt macht, aber so war es nicht. Ich begann fieberhaft, alles zu notieren. Der Veranstaltungssaal in Frankfurt war so voll, dass hinter den letzten Reihen noch manche standen, und alle warteten mit gespanntem Schweigen auf meine Übersetzung aus dem Spanischen.

Der Mamo sprach etwa 45 Minuten ununterbrochen. Ich hatte versucht, alles mitzuschreiben, und hatte auch das meiste erfasst. Viele Begriffe und Konzepte, die Mama José Gabriel erwähnte, nannte er auf kággaba, der Sprache der Kogi, und nicht auf Spanisch, und so hatte ich keine Vorstellung, was sie bedeuten könnten, da ich damals noch kein einziges Wort dieser Sprache verstand. Ich fragte des öfteren den Begleiter von Mama José: »Wer ist Sezhankua? Wer ist Jaba Sé? Was bedeutet pagamiento?« Ich bekam einige Antworten, notierte sie schnell und versuchte, meine Notizen im Kopf so zu ordnen, dass ich eine halbwegs zusammenhängende und strukturierte Übersetzung der langen Rede wiedergeben konnte. Sein Begleiter half mir über die ersten Verständnishürden hinweg. Nachdem ich dann gesprochen hatte, setzte der Mamo seine Rede fort. So ging es den ganzen Abend. In den nächsten zwei Wochen sollte ich diese oder ähnliche Worte noch sehr oft zu hören bekommen.

Mama José Gabriel war nach Deutschland gereist, um die Botschaft der Kogi an uns, die Jüngeren Brüder, zu übermitteln. Vor Wochen hatte ich irgendwo gelesen, dass ein Ältester der Kogi nach Frankfurt kommen würde, und sofort war mein Interesse geweckt. Ich konnte gar nicht genau sagen, warum, doch ich hatte dieses eigentümliche Gefühl, das mich nicht mehr losließ. Kurzerhand schrieb ich eine Email und bot an, die Vorträge und Seminare aus dem Spanischen zu übersetzen. Und falls die Kogi noch einen Schlafplatz in Frankfurt bräuchten, könnten sie gerne bei meiner Familie übernachten. Beides wurde dankend angenommen. Damit war der Grundstein für meinen Aufenthalt anderthalb Jahre später in der Sierra Nevada de Santa Marta gelegt.

Der alte Mamo und sein Begleiter fuhren durch Deutschland und sprachen in vielen großen Städten: München, Berlin, Frankfurt, Hamburg, Köln. Manchmal waren es Vorträge, manchmal ganze Seminartage. Jedes Mal begann der Mamo mit einer kleinen Vorstellung und erzählte, woher er kommt, zu welchem Volk er gehört und was die Aufgabe des Volkes der Kogi ist: die Erde zu hüten und die Welt in den Fugen zu halten. Dann folgte immer eine Kurzversion der Schöpfungsgeschichte. Er erzählte vom Anfang der Welt und vom Ursprung der Dinge. Er sprach darüber, was zuerst war und was dann folgte. Er erklärte, dass es unerlässlich sei, zum Ursprung zurückzukehren, wenn wir verstehen wollten, wer wir sind, was in der heutigen Zeit geschieht, wovon wir fort-schreiten und warum wir die Dinge so tun, wie wir sie tun. Auch sprach er immer darüber, wie die Geschichte des Jüngeren Bruders mit dem Älteren Bruder bis dato verlaufen war und dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, zusammenzuarbeiten und voneinander zu lernen. Seine aufrüttelnden, weisen, erkenntnisreichen und manchmal auch bedrückenden Worte sollte ich erst in Kolumbien und dann noch viel später beim Schreiben dieses Buches wirklich begreifen.

Mama José Gabriel war nach Deutschland gekommen, um uns zu einem Dialog einzuladen. Er kam als Vertreter seines Volkes, und für diese Aufgabe ist er von Kindesbeinen an ausgebildet worden. Die Kogi knüpfen mit ihrem Besuch an eine Tradition von Dialogangeboten an, die die Indianer des amerikanischen Doppelkontinents auf den Stränden der Insel Hispaniola Ende des 15. Jahrhunderts mit der Schiffsbesatzung der drei kleinen Karavellen des Mannes aus Genua begonnen hatten. Aufgegeben haben sie, trotz außerordentlich mäßigen Erfolges, seitdem nie, denn sie haben keine Wahl. Ihrem Gegenüber, uns, den Vertretern der Moderne, ist jedoch nicht klar, dass auch wir keine Wahl haben: Ein Dialog ist auch für uns notwendig. Der Fortbestand und das (kulturelle) Leben der Naturvölker ist mittelfristig untrennbar mit unserem Überleben verknüpft. Dieses Wissen ist seit Jahrhunderten die Grundlage der Dialogangebote.

Worauf fußt diese These? Inwieweit sollte die technische Moderne die Naturvölker jenseits einer anthropologischen, letztlich musealen Schonung als Relikt einer vergangenen Zeit brauchen? Schließlich kennt die Weltgeschichte viele Völker und Kulturen, die auf der Bildfläche erschienen und wieder verschwanden, ohne dass uns das zu beeinträchtigen scheint. Symptomatisch für diesen musealen Zugang ist etwa der kaffeetischgroße Bildband Before they pass away* des Fotografen Jimmy Nelson, in dem eine Sammlung von Fotoportraits verschiedenster Naturvölker präsentiert wird. Dieser Band dient, wie der Titel darlegt, als eine Art Vorab-Andenken für eine Zukunft, in der sie ausgestorben sein werden. Das wird als unausweichlich dargestellt, doch sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass dies durchaus unsere Entscheidung ist.

Diese Entscheidung ist letztlich eine Entscheidung über ihren Wert für uns, und zwar über ihren wirtschaftlichen Wert. Das mag hart und unmenschlich klingen, entspricht jedoch den Tatsachen. Zahlreiche Beispiele großer Infrastrukturprojekte in einem beliebigen Regenwald, bei dem nebenbei die angestammte Heimat irgendeines Naturvolks für immer überflutet, zugeschüttet, verseucht oder untergraben wird, zeigen dies eindrücklich. Ästhetische Bildbände oder humanitäre Unterschriftenaktionen sind das eine, den wirklichen Stellenwert des Gedankenguts der Naturvölker als Geheimtipp in der globalen Wissensökonomie zu erkennen das andere, wenn die Naturvölker nicht nur an bunten Taschen oder ihrem Tourismuspotential gemessen werden sollen. Dann erst begreifen wir ihren wahren Wert. Doch worin besteht dieser Wert? Auf welche unserer Fragen sind die Kogi die Antwort?

Die Moderne krankt vor allem an einem Problem des (menschlichen) Miteinanders, der psychischen Zerrüttung, ökologischen Zerstörung und einer zunehmenden globalen Sinnkrise, die nicht nur im Privatem, sondern gerade auch in vielen Unternehmen und ganzen Staaten schwächend zutage tritt. Trotz unseres großen technischen Fortschritts haben wir auf diese drängenden Missstände kaum mehr als oberflächliche Antworten. Gerade hier liegt die entscheidende Kernkompetenz der Kogi. Sie haben die Pflege, die Wachstumsbedingungen, Prinzipien und Grundlagen einer erfüllten Lebendigkeit erstaunlich intelligent und weitblickend erfasst. Die Anwendung dieser intelligenten Prinzipien ermöglicht nicht nur ein anderes In-der-Welt-Sein, sondern auch andere Technologien und Organisationsformen. Und genau darin liegt der enorme Wert der Kogi als Mentalitätstresor.

Was sehen die Kogi?

Die Kogi sprechen als Naturvolk hauptsächlich über ihren Bezugsrahmen: die Natur und ihre Zerstörung. Als ich dies zum ersten Mal hörte, öffnete sich in meinem Kopf eine Schublade. Es war die »Ich weiß, ich weiß, kenne ich schon, habe ich alles schon gehört«-Schublade mit dem Unterfach »Greenpeace, Hippies und Ökofreaks«. Wie oft haben wir irgendwo gehört oder gelesen oder in einer Arte-Dokumentation gesehen, dass wir die Natur zerstören, dass momentan das größte Artensterben seit Beginn der geschichtlichen Aufzeichnung geschieht, dass sich das Klima radikal verändert und dass der Mensch – und zwar konkret der moderne Mensch – mit seiner Art zu wirtschaften und zu leben daran schuld ist. Wir hören von Umweltkonferenzen, bei denen keine Einigung auf Minimalstandards geschieht und wo manche große Länder gar keine Vertreter hinschicken.

Dies ist alles sehr bedenklich, aber als moderner, urbaner Mensch kann man nicht viel tun; vielleicht Fahrrad fahren, Bio-Lebensmittel essen oder im Supermarkt auf die Plastiktüte verzichten. Es sei denn, man ist bereit, seinen Lebensstil vollständig zu ändern und als Selbstversorger aufs Land zu ziehen. Doch das wollen die wenigsten. Inwiefern sind die Lebenswirklichkeit der Kogi und die ihr zugrundeliegenden Ideen also überhaupt übertragbar?

Relativ schnell wurde mir bewusst, dass diese Frage eine sehr tiefgehende ist und viele Bereiche berührt. Um einer Antwort näherzukommen, ist es unumgänglich, in die Gedankenwelt der Kogi einzutauchen und ihre Prinzipien und Handlungsmaxime zu verstehen, um ihren Kern herauszuarbeiten und Schritt für Schritt auf eine Übertragbarkeit in unser Leben zu prüfen. Beginnen wir also, uns auf die Kogi und ihre Sicht auf uns und die Welt einzulassen.

Mama José Gabriel spricht:

Wir sind die Kogi, wir sind die Erstgeborenen und wir denken noch die ersten Gedanken. Ich spreche heute über Dinge, die wir in den Bergen, in den Flüssen, auf den Höhen und in den Wäldern in der Sierra erleben. Dieses ist jedoch nicht nur etwas, was in der Sierra Nevada de Santa Marta geschieht, sondern auf dem Planeten, ja sogar im ganzen Universum. Jaba Senekun, der Mutter Erde, geht es immer schlechter.

Sezhankua hat alles geordnet, ausnahmslos. Alles hat seine Ordnung. Die Linien auf meinem Hut zeigen genau, wo Schnee fallen kann, wo wir wohnen, wie alles zusammenhängt.12 In Kolumbien leben wir ganz oben, der Jüngere Bruder lebt weiter unten. Das Wasser fließt von oben nach unten, dann kommt es von unten wieder hoch. Die Leute unten verschmutzen das Wasser stark, obwohl es das Blut der Erde ist.13 Deswegen gibt es so viel Trockenheit. Die Mutter des Wassers Jaba Nikuitzi ist krank. Das Wasser kommt aus den Seen oben aus den Bergen. Mein Hut stellt das alles dar. Auf ihm sieht alles klein aus, wie Sezhankua die Dinge sieht, für uns ist es jedoch sehr groß. Wenn die Ältesten sagen, dass etwas geschehen wird, dann hören wir auf sie.

Krankheiten entstehen, weil etwas im Ungleichgewicht ist. Menschen werden krank, weil sie im Ungleichgewicht mit sich selbst und mit der Welt sind. Die Erde befindet sich in einem starken Ungleichgewicht, weil wir die Heiligen Orte misshandeln. Wir alle sind Kinder der Heiligen Orte der Erde. Wir alle sind Kinder des Wassers, des Windes, der Bäume, der Tiere, der Sonne und der Berge. Ohne sie könnten wir nicht leben. Was würden wir trinken, wenn es kein Wasser gäbe? Was würden wir essen, wenn die Sonne nicht die Pflanzen zum Wachsen bringen würde? Wie könnten die Pflanzen wachsen, wenn der Wind nicht die Samen verteilen würde? Woher kämen die Flüsse, wenn sie nicht in den schneebedeckten Gipfeln entsprängen? Alles ist verbunden und alles ist lebendig.

Die Große Mutter hat gesagt, dass wir nichts aus ihrem Bauch oder ihren Gedärmen entnehmen dürfen, aber wir Menschen halten uns nicht daran, wir fördern alles zutage, was wir finden. Wenn man einen Menschen operiert, wird er nie wieder genau so sein, wie er vorher war, es wird immer ein Unterschied bleiben. Die Unterschiede sind zuerst nur sehr klein, aber sie summieren sich. Und es kommen fremde Dinge zu uns. Was ist es, was die Menschen so zerstörerisch handeln lässt? Es sind künstliche Gedanken wie Habsucht oder Neid. Diese künstlichen Gedanken haben überhandgenommen, und wir nähren sie jeden Tag. Ihr sagt, dass alle Menschen so denken, aber das stimmt nicht. Früher gab es diese Gedanken und Gefühle nicht. Wir wussten immer, dass es genug für einen jeden gibt und dass für alle gesorgt ist. Das habt ihr vergessen, ihr denkt, dass ihr immer und immer mehr braucht.

Das sich vergrößernde Ungleichgewicht in der Natur zeigt, dass das Ungleichgewicht unserer Gedanken immer größer wird. Es kommen unbekannte Krankheiten. Der Natur ist es gleich, ob wir einen Doktortitel haben und sagen, dass wir Wissenschaftler seien und diese Dinge sehr genau kennen. Es ist ihr gleich. Statt sie zu erforschen, müssen wir mit ihr sprechen, denn ihr erforscht nur das Sichtbare! Das Leben funktioniert jedoch so gut, weil es unsichtbaren Gesetzen folgt. Alle Indianer, nicht nur wir Kogi, fragen um Erlaubnis, bevor wir ein Haus bauen. Aber wer von euch hat um Erlaubnis gebeten, die Eisenbahnstrecken und Straßen zu bauen?

Die Leute denken, dass es nur darum geht, sich technisch fortzuentwickeln. Sie denken, die Zukunft bestünde aus noch mehr Maschinen. Sie denken, dass man ein Feld nur richtig düngen müsse, damit alles gut wächst. Aber sie sagen das, weil sie nicht mit dem Herzen denken. Wenn sie das täten, dann wüssten sie, dass sie damit der Erde schaden. Aber alle, selbst manche von uns Indianern, die heute mit viel Künstlichem in Kontakt treten, werden immer schwächer. Die Lösung sind die ursprünglichen Prinzipien, das Wissen um den Ersten Gedanken wiederzufinden, wertzuschätzen und auszuüben.

Wenn die Kogi auf unsere Welt blicken, sehen sie zunächst einmal eine für sie unfassbare Naturzerstörung, die sie beendet sehen möchten. Sie sind darüber traurig und tief betroffen, jedoch geht ihre Sicht über Trauer und Betroffenheit hinaus zu einer Diagnose: Die Grundlage all dessen ist das darunterliegende Gedankengut. Die Kogi unterscheiden zwischen »Erstem« (ursprünglichem) Denken, beziehungsweise dem »Einen Gedanken« und »künstlichen Gedanken«. Während sie noch mit dem Einen Gedanken in Verbindung stehen, habe der Jüngere Bruder sich in künstlichen Gedanken verstrickt. Die Umweltzerstörung sei ein klares Symptom dafür. Ihnen ist jedoch wichtig, dass es sich dabei um ein Symptom handelt, nicht um ein eigenständiges Problem oder eine unausweichliche Nebenwirkung von wirtschaftlichem oder technologischem Fortschritt. Es ist das Ergebnis unserer Weltsicht. Das bedeutet, dass alle mit eingeschlossen sind, auch die, die vordergründig nicht im großen Stil am Werk der Zerstörung beteiligt sind.

Arregoces Coronado-Zarabata spricht:

Das Gleichgewicht der Natur und des Menschen ist gestört. Wir selbst sind es, die der Natur schaden. Wir Indianer, besonders hier aus der Sierra, sprechen so viel und immer wieder über dieses Thema, damit die Leute in der ganzen Welt begreifen. Heutzutage gibt es solche Mengen an fortgeschrittenen Technologien, bei deren Produktion oder Anwendung die Natur zerstört wird. Es gibt auch Technologien, die der Natur nichts rauben oder ihr schaden, sondern sanft und freundlich zu ihr sind. Es gibt ein Prinzip, nach dem die Natur und auch wir Menschen geschaffen wurden. Wenn wir Technologien erschaffen, müssen sie dem gleichen Prinzip folgen, dann sind sie lebendig, sonst können sie sehr schädlich sein. Das gleiche gilt für unsere Organisationen. Wenn die Regierung glaubt, dass sie eine gute Zukunft schaffen kann, indem sie Bodenschätze abbaut und exportiert, wenn sie glaubt, dass es allen damit besser ginge, dann irrt sie sich sehr. Denn sie schadet damit der Natur, und wir alle sind Teil der Natur. Bodenschätze sind die Lungen der Mutter, sie atmet durch sie. Diese Organe sind sehr wichtig.

Heutzutage ist eines der größten Probleme, dass wir Technologien benutzen, die der Natur schaden. Ich habe gehört, dass es Schiffe gibt, die unter dem Wasser fahren. Kein Wal und kein Delfin wird anfangen, bei uns auf dem Land zu leben. Warum nicht? Sie bewahren noch die Gesetze, die am Anfang von der Mutter aufgestellt wurden. Die ganze Umweltverschmutzung, der Abbau von Bodenschätzen, Grabräubereien führt zu Trockenheit. Im Moment denken wir, dass das nur hier geschieht, aber es wird sich auf die ganze Welt ausdehnen. Naturkatastrophen sind die Mutter, wenn sie Ungleichgewichte bereinigt. Andere Gedanken, der Eine Gedanke, kann diese Entwicklung umkehren. Wir werden gemeinsam der Mutter helfen, wir werden in harmonischer Weise mit ihr zusammenarbeiten, dann wird uns auch die Mutter wieder helfen. Die Mamos sind sehr besorgt wegen der ganzen Zerstörung. Die Veränderung des Klimas ist ein Zeichen der spirituellen Unterernährung der Mutter. Wenn die Erde gesund ist, sind auch wir Menschen gesund.

»Künstlich« sind für die Kogi all die Gedanken, die verschiedene Bereiche des Lebens voneinander isolieren und getrennt betrachten und somit aus dem Zusammenhang reißen. Ohne den Zusammenhang der Dinge gibt es keine Grundlage für einvernehmliches Handeln. Daher sehen die Kogi bereits in der bloßen Existenz von widerstreitenden Gedanken und Entscheidungskonflikten ein klares Zeichen für die Abwegigkeit einer Sichtweise. Eine andere Art dies auszudrücken wäre, dass sich aus der jeweiligen Sache selbst eine klare, für alle Beteiligten förderliche Herangehensweise ergibt, die in diesem Sinne keiner Entscheidung, keines Zweifels bedarf. Vorbedingung eines jeden Handelns bei den Kogi ist daher die Klärung von Verstrickungen in Bezug auf eine Situation, die sie als inneres Ordnen bezeichnen.

Merkmale künstlicher Gedanken hingegen sind die Abwesenheit vom Kontakt zur Ordnung des Lebendigen und die Systematisierung von sich selbst genügenden (ideologischen) Gedankengebäuden ohne Berücksichtigung des konkreten lebendigen Einzelfalls. Jede politische Ideologie fällt darunter, jedoch auch viele alltägliche Lebenssituationen, in denen wir automatisch handeln, können auf solchen Gedanken beruhen. Oft halten wir etwas für unsere Meinung, was eigentlich ein Ausdruck kollektiver Ansichten ist. Gedankengebäude, die auf anderen Wirkungsweisen und Grundannahmen beruhen als der Rest des Lebendigen, geraten mit der Wirklichkeit zwangsläufig früher oder später in Konflikt, so dass Zerstörungsvorgänge entstehen. Künstliche, abgeschlossene Systeme müssen von außen mit Energie versorgt werden, um sich aufrecht zu erhalten. Sie sind nicht an die universelle Energie des Lebens angebunden. Dies kann sich zum Beispiel in Beziehungskonzepten äußern, wird aber in unserer gesamten modernen Zivilisation sichtbar, die auf Elektrizität und ihrer Gewinnung durch größtenteils endliche Brennstoffe beruht. Ohne Strom würde alles in sich zusammenfallen. Aus Sicht der Kogi sind künstliche Gedanken nicht langfristig zu erhalten, da sie in einer auf Ausgleich beruhenden Welt ihren Tribut fordern.

Im übrigen sehen die Kogi unsere Gewohnheit, die Beine beim Sitzen zu überschlagen, als Anzeichen einer verqueren Verschaltung und inneren Verwirrung des Denkens.14

Das Prinzip des Einen Gedankens

»Zhigoneshi, es una palabra de nosotros«, sagte Mama José Gabriel, »zhigoneshi quiere decir un solo pensamiento. Así pensamos, en un solo pensamiento.«* Dass die Kogi ihr Denken als anders sehen als das unsere und dass sie es den Einen Gedanken nennen, war inzwischen offensichtlich. Doch nun wollte ich genau wissen, was denn dieser Eine Gedanke ist.

Arregoces Coronado-Zarabata spricht:

begrenzt unser Territorium. Sie ist wie ein Spinnennetz für uns. Deswegen spinnen die Spinnen übrigens ihre Netze, um zu zeigen, dass unser Planet eine Struktur hat