Johann Stockinger

Der große Verteidiger der Philippinen
Teil 2:

Biografische Skizzen zu Ferdinand Blumentritt (1853 – 1913)

Johann Stockinger

Der große Verteidiger der Philippinen

Teil 2:
Biografische Skizzen zu
Ferdinand Blumentritt (1853 – 1913)

Für meine Frau Letisma,
die mich bei meiner Arbeit
so liebevoll unterstützt hat.

Inhalt

Vorwort

Herkunft und Familienname

Frühe Kindheit und Volksschule

Die geheimnisvolle „spanische“ Großtante u. a. m

Ferdinand Blumentritts Gymnasialzeit

Studentenzeit in Prag

Die ersten Jahre in Leitmeritz

Erste Kontakte zu Filipinos

José Rizal und Maximo Viola zu Gast in Leitmeritz

Bewerbung an der Universität Leitmeritz

Blumentritt und das österreichische Kaiserhaus

Die geheimnisvolle Mission der philippinischen diplomatischen Gesandten Felipe Agoncillo und Juna Luna 1899 in Leitmeritz

Blumentritts Vereinsaktivitäten in Leitmeritz

Blumentritt als Lokalpolitiker

Blumentritts Privat- und Familienleben

Blumentritt als Lehrer und Schuldirektor in Leitmeritz

Ein britischer Spion besucht Leitmeritz

Ferdinand Blumentritts Ableben

Dr. Carl Czepelak: Ein enger Leitmeritzer von Blumentritt und Rizal

José Rizals Erinnerungen an Dolores „Loleng“ Blumentritt

Bibliografie

Personenverzeichnis

Vorwort

Die außergewöhnliche Freundschaft zwischen dem philippinischen Nationalhelden José Rizal und dem Schulprofessor aus dem böhmischen Leitmeritz, Ferdinand Blumentritt, ist zu einem wichtigen Bestandteil der historischen Philippinenforschung geworden.

Während es inzwischen bis zu 50 Rizal-Biografien gibt, besteht bei der Blumentritt-Forschung noch Nachholbedarf. Mit dem Werk Vida y obras de Ferdinand Blumentritt ist zwar in den Philippinen schon 1914 eine erste Blumentritt-Biografie erschienen, sie hat jedoch einen relativ geringen Umfang und ist in spanischer Sprache. In Europa dauerte es hingegen viele Jahrzehnte, bis eine Biografie über Blumentritt erschien. Pionierarbeit leistete dabei der österreichische Schriftsteller und Journalist Harry Sichrovsky mit seiner 1983 erschienen Blumentritt-Biografie. Ihm folgte 1986 Stefan Frühbeis mit einer ethnologischen Hausarbeit an der Universität München über Leben und Werk Ferdinand Blumentritts. Ein großer Teil von Stefan Rohde-Enslins Dissertation Östlich des Horizonts. Deutsche Philippinenforschung im 19. Jahrhundert (1992) war den Arbeiten Blumentritts gewidmet, ohne jedoch genauer auf dessen Biografie einzugehen. Die Stadt Leitmeritz publiziert seit 1998 in mehreren Auflagen das Werk José Rizal, Ferdinand Blumentritt and the Philippines in the New Age, verfasst vom Stadtarchivar Jindřich Tomas.

Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Philippinenforschung gab es 2010 durch die Aufarbeitung und Publikation der Blumentritt-Schuchardt Korrespondenz an der Universität Graz durch Veronika Mattes et al.

In den Philippinen dauerte es seit dem Erscheinen des Werkes Vida y obras ein knappes Jahrhundert, bis im Jahr 2013 F. P. A. Demeterio III, Professor an der De La Salle University in Manila, ein Buch über Blumentritt mit dem Titel Ferdinand Blumentritt and the Philippines. Insights and Lessons for Contemporary Philippine Studies verfasste.

In einer an der Universität Wien in spanischer Sprache 2014 geschriebenen Masterarbeit konzentrierte sich Nicole Limpahan auf die linguistischen Studien Blumentritts.

Wichtige Beiträge zur Blumentritt-Forschung leisten auch Lucien Spittael in Belgien und Karl-Heinz Wionzek in Deutschland.

Seit 1998 versuchte ich in mehreren Artikeln, Beiträge zur Blumentritt-Forschung zu leisten. Das mündete schließlich in dem Vorhaben, ein mehrbändiges Werk über Blumentritt zu verfassen und dabei die Biografie Blumentritts möglichst detailreich darzustellen.

Den Schwerpunkt des ersten Bandes bildete die erstmals in deutscher Sprache publizierte Version der von der philippinischen Versammlung 1914 herausgegebenen Blumentritt-Biografie Vida y obras de Ferdinand Blumentritt. Die darin erschienene Liste von 284 Publikationen Blumentritts wurde um über 120 annotierte Einträge erweitert. Ein Einleitungskapitel beleuchtet die historischen und aktuellen Beziehungen zu den Tiroler Nachkommen Blumentritts. In einem abschließenden Kapitel wurde detailliert beschrieben, was aus Ferdinand Blumentritts umfangreicher Philippinen-Bibliothek geworden ist.

Im nun vorliegenden zweiten Band wird versucht, das soziale Umfeld Ferdinand Blumentritts unter Rückgriff auf Originalquellen möglichst genau darzustellen. Dazu mussten Fragen nach der Lage der elterlichen Wohnung und zu seinen Pflegeeltern geklärt werden. Dabei wurde das Rätsel um die geheimnisvolle „spanische“ Großtante Ferdinand Blumentritts geklärt. Es bleibt aber immer noch die Frage offen, wo und wie der kleine Ferdinand sich die spanische Sprache aneignen konnte.

Neben seiner frühen Kindheit und Schulzeit wird versucht, belegbare Informationen über Blumentritts Universitätsleben darzustellen. Nach Abschluss seines Studiums übersiedelte der junge Mittelschullehrer für Geografie und Geschichte nach Leitmeritz und fügte sich rasch in das dortige gesellschaftliche Leben ein. Wenn er es zeitlich mit seinen philippinischen Studien vereinbaren konnte, beteiligte er sich so gut es ging am Leitmeritzer Vereinsleben.

1884 hatte Blumentritt die Möglichkeit, sich für eine Professur an der Universität Czernowitz zu bewerben. Da diese Bewerbung scheiterte, fügte sich Blumentritt in sein Lehrerschicksal. Erste persönliche Kontakte zu Filipinos eröffneten ihm neue Betätigungsfelder. Die spätere Freundschaft mit Rizal sollte sein Leben wesentlich prägen.

In den politischen Auseinandersetzungen zwischen Spanien, den USA und den Philippinen sah sich Blumentritt immer mehr in einer Vermittlerrolle. In diesem Zusammenhang gab es geheime Besuche der philippinischen Gesandten Felipe Agoncillo und Juan Luna in Leitmeritz.

In einem eigenen Kapitel wird der Hintergrund des Besuches des britischen Spions Hector Charles Bywater bei Blumentritt in Leitmeritz eingehend beleuchtet.

Blumentritt war nicht nur ein Wissenschaftler, der in der Ferne schweifte, er wirkte über Jahrzehnte als Stadtverordneter der Fortschrittspartei in der Lokalpolitik mit. Es wird versucht, diesen Tätigkeitsbereich möglichst detailreich zu beschreiben, da dieser Aspekt bis jetzt kaum beleuchtet wurde.

Der bedingungslosen Kaisertreue Blumentritts wird ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet.

Sein Lehrberuf hielt ihn immer wieder davon ab, sich seinen wissenschaftlichen Studien zu widmen. Um die damaligen Schulverhältnisse besser darstellen zu können, wird Blumentritts Schaffen als Lehrer und Schuldirektor ein eigenes Kapitel gewidmet.

Blumentritt war aber auch ein Familienmensch mit allen Freuden und Sorgen. Diesem Aspekt wird ebenfalls ein umfangreiches Kapitel gewidmet.

Den Abschluss dieses Bandes bildet ein bisher unbekannter Brief José Rizals, den er 1894 aus seiner Verbannung in Dapitan an Blumentritt gesandt hatte.

Mit diesem Band ist Blumentritts Biografie immer noch weit davon entfernt, vollständig zu sein. Deshalb wird hier nur von „biografischen Skizzen“ gesprochen. Weitere Themen warten noch auf eine Bearbeitung. Dazu gehört eine möglichst umfassende annotierte Transkription der für die Philippinenforschung sehr bedeutenden Blumentritt-Meyer-Korrespondenz.

Ein weiteres Thema wäre, das philippinische Netzwerk Blumentritts darzustellen, das über die Bekanntschaft mit Rizal hinausgeht und viele andere philippinische Freunde und Bekannte einschließt.

Mit diesem zweiten Band hoffe ich, für die Blumentritt-Forschung neue Informationen bereitgestellt und das Interesse für weitere Forschungen angestoßen zu haben.

Wien, im Februar 2020

Johann Stockinger

Herkunft und Familienname

Zu den Grundfragen der Menschheit zählten immer schon die Fragen „Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?“ Auch in der Familie des Ferdinand Blumentritt und seiner Nachkommen versuchte man über mehrere Generationen hinweg ihre Herkunft zu erforschen.

Heute besteht in der Forschung weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt. Die sogenannte „Out of Africa“-Theorie besagt, dass sich der moderne Mensch („Homo Sapiens“) während der letzten Kaltzeit1 von Afrika aus in mehreren Wanderungsbewegungen nach den anderen Kontinenten verbreitet hätte.

Nachdem ein direkter Nachfahre des Ferdinand Blumentritt einen DNATest zur Unterstützung der Ahnenforschung gemacht hatte, lässt sich die männliche Linie Ferdinand Blumentritts zurück verfolgen.

Bestimmten genetischen Theorien zufolge hätte es nur einen einzigen Mann gegeben, der seine Gene bis in die heutige Generation erfolgreich übertragen hätte können. Diesen Mann bezeichnet man als den „genetischen Adam“, der irgendwann im Zeitraum vor 170.000 und 320.000 Jahren gelebt haben könnte.2 Die großen Äste des Homo Sapiens werden als Haplogruppen bezeichnet. Die Wanderung von Blumentritts direkten männlichen Vorfahren führten von Kenia ausgehend in grober Richtung nach dem Südsudan, Äthiopien, Saudi-Arabien, dem Iran und Usbekistan in die Gegend von Kasachstan, wobei sich mehrere Haplogruppen („Stammbaumäste“) herausgebildet hatten.3 Es wird vermutet, dass sich dort – in Nordwestasien – vor etwa 30.000 bis 35.000 Jahren die Haplogruppe R abgespaltet hatte. Diese wurde in Europa zur häufigsten Haplogruppe, wobei die Mehrheit der Träger, wie auch Blumentritts männliche Linie, der Untergruppe R1 angehört.

Von R1 trennte sich nach derzeitigem Wissensstand vor weniger als 18.500 Jahren im zentralen oder westlichen Asien die Untergruppe R1b ab, die heute die wichtigste Haplogruppe in Westeuropa darstellt4. In Großbritannien erreicht die Verbreitung bis zu 90%, unter den West-Deutschen gehören 47% der Haplogruppe R1b an. In Mitteleuropa ist die Verbreitung bedeutend geringer.5 Etwas vor 3000 v. Chr. dürfte im Umkreis der Yamnaya-Kultur6 nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland die Untergruppe R1-U106 entstanden sein. Von der Haplogruppe R-U106 spaltete sich um Jahr 2200 v. Chr.7 die Untergruppe R-Z18 ab, die jedoch nur 5-10% von R-U106 ausmacht und deren stärkste Konzentration in den Niederlanden und Norddeutschland zu finden ist. Sie kommt aber auch im Norden Großbritanniens und Südschweden vor.8 Vieles deutet darauf hin, dass diese Menschen hauptsächlich im Nordseebereich lebten.

Die genetischen Ergebnisse deuten darauf hin, dass die direkten männlichen Blumentritt-Vorfahren im Zeitraum von 900 v. Chr. bis 900 n. Chr. dem „Urvolk“ der Germanen angehörten.9 Als „Ursprungsregion“ im Zeitraum 500 n. Chr. – 1500 n. Chr. konnte Mitteleuropa herausgearbeitet werden. Diese genetischen Ergebnisse betreffen jedoch nur die direkte männliche Linie (Y-DNA). Die menschliche DNA weist aber viele verschiedene Linien auf. Durch die ständige Durchmischung sind die Wurzeln sehr vielfältig.

Vorherrschende Haplogruppen in Europa.10

Zur Frage, „Wer bin ich?“ kann diese genetische Untersuchung nur einen kleinen Beitrag liefern. Bedeutend wichtiger sind das kulturelle und soziale Umfeld.

Zieht man die autosomale DNA11 zur genealogischen Untersuchung heran, so kann mittels statistischer Rückschlüsse die Zugehörigkeit zu verschiedenen ethnischen Gruppen geschätzt werden. Den Blumentritt-Nachkommen konnten sieben verschiedene Ethnien (Bevölkerungsgruppen) mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Demnach weist die Zugehörigkeit zu den Nord- und Westeuropäern mit über 50% den größten Anteil auf. Größere Anteile betreffen noch die Bevölkerungsgruppe der Iren, Schotten und Waliser, der Osteuropäer, sowie der Balkanbewohner. Mit sehr geringen Anteilen konnte noch eine Zugehörigkeit zu den Iberern12, den Nordafrikanern und den Nigerianern festgestellt werden. Die Nordafrikaner und Nigerianer weisen interessanterweise einen großen Auswanderungsanteil nach Costa Rica auf. Daher lassen diese DNA-Ergebnisse insgesamt die Möglichkeit offen, dass Ferdinand Blumentritt irgendwann auch spanisch sprechende Vorfahren gehabt haben könnte.13 Generell muss aber betont werden, dass die Verbreitungsstudien der einzelnen Haplogruppen in Europa Gegenstand intensiver Forschung sind und sich die detaillierten Ergebnisse laufend ändern können.

Betrachtet man nun neben den DNA-Ergebnissen die Herkunft des Familiennamens, so muss man auch hier eingestehen, dass die Entstehungszeit des Familiennamens „Blumentritt“ nicht genau festgelegt werden kann. Wie meistens bei Familiennamen, so existieren auch für die Herkunft des Familiennamens „Blumentritt“ verschiedene Deutungen. Schon um 1300 findet sich „Blumentritt“ – ähnlich wie „Rosentritt“ oder „Lilientritt“ als verbreiteter Familienname und dürfte auf den Beruf eines Blumengärtners hindeuten. Ein Nicolaus Plumentritt wird bereits 1342 in Brünn genannt.14

„Tritt“, für „Schritt“ könnte aber auch auf eine Fußspur hinweisen, wenn ein „Blumenzertreter“ seine von Blumen umgebene Wohnstatt betritt.15 Der Name könnte sich daher von Örtlichkeiten ableiten, wo sich ein blumengesäumter Weg oder blumengezierte Stufen befinden.16 „Tritt“ könnte aber auch als einmaliger „Schritt“ gedeutet werden und der Familienname an eine besondere einmalige Begebenheit erinnern.17

Auch Blumentritts Lehrerkollege an der Leitmeritzer Oberrealschule, Joseph Blumer, hatte sich in seinem Artikel Die Familiennamen von Leitmeritz und Umgebung mit dem Familiennamen „Blumentritt“ beschäftigt. Auch für Blumer war die Deutung für jemand, der müßig auf dem Rasen herumspaziert, plausibel. Blumer meint, die häufig gebrauchte Nebenform „Blumtritt“ könnte hingegen eine Entstellung von „Plumtritt“ für jemanden sein, „der schwer, plump auftritt“ im Gegensatz zu einem „Leisetritt“.

Skizze eines „Blumentritts“ aus dem Jahre 1888.18

Selbst im Zusammenhang mit Zimmerpflanzen wird der Begriff „Blumentritt“ in in der Literatur erwähnt. Der Kustos des Königlichen Botanischen Gartens zu Dahlem in Berlin, Prof. Udo Dammer, schrieb dazu 1908:

„Für den Erker sowohl als auch für das Zimmer am Fenster ist sodann der Blumentritt sehr zu empfehlen. Derselbe soll nicht zu schmale Stufen haben. Um das lästige Abtropfen beim Begießen zu vermeiden, werden auf die Stufen am besten flache Zinkkästen gesetzt. Blumentritte lassen sich mit Blattpflanzen sehr schön bestellen. Sie gewähren auf kleinem Raum einer großen Anzahl Pflanzen Platz.“19

In Tirol selbst ist der Familienname „Blumentritt“ bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgbar. Im Stadtarchiv Bozen (Südtirol, Italien) befinden sich mehrere Urkunden, die einen Konrad Blumentritt20 erwähnen. Erstmals wird er 1326 als Zeuge erwähnt, 1344 hatte er sein Testament verfasst. Er dürfte sehr wohlhabend gewesen sein und stammte aus Hall in Tirol.21 Dort könnte er so um 1280 geboren worden sein. In Hall finden sich jedoch keine Aufzeichnungen darüber.

In den Matriken der Universität Wien ist am 13. Oktober 1439 ein Lizenziat22 für Theologie namens „Caspar Plumentrit de Wienna“ aufgelistet.23 Der Nachweis einer verwandtschaftlichen Beziehung konnte aber bis jetzt nicht erbracht werden.

Ab den 1930er Jahren begannen sich die Nachkommen Ferdinand Blumentritts verstärkt für ihre Genealogie zu interessieren, wobei die Initiative von Blumentritts jüngstem Sohn Konrad ausgegangen sein dürfte. Wertvolle Beiträge leistete die Tochter Dolores, sowie ihr Sohn Harald Pickert. Später wurden diese Arbeiten von Blumentritts Enkel Ernst, dem Sohn seines ältesten Sohnes Friedrich, umfangreich ergänzt.24

Ernst F. Blumentritt vermutete, dass seine Vorfahren im 17. Jahrhundert von Sachsen aus – wahrscheinlich per Stocherkahn – die Elbe hinauf nach Raudnitz (Roudnice) eingewandert wären. Ab dem Jahr 1650 wären dort mehrere Blumentritts als Haus- und Grundbesitzer zu finden gewesen sein. Einer wäre sogar Burggraf des Schlosses Raudnitz gewesen und ein direkter Vorfahre Burggraf für den Fürsten Lobkowitz auf Schloss Hoch-Chlumetz (Vysoký Chlumec). Die Familie Blumentritt war vor der Vertreibung aus Böhmen und der Konfiskation des Familienbesitzes auch im Besitz einer Zeichnung eines Wappens mit der Aufschrift „Blumentrittein altes Geschlecht, das auf der Donau großen Handel trieb mit der Türkei im 16. Jahrhundert.“25

Ferdinand Blumentritts Urgroßvater, Ferdinand August Blumentritt (1752 – 1823) übersiedelte nach Prag und heiratete 1780 die dort geborene Maria Elisabetha Procepia Schönpflug von Gambsenberg. Blumentritts Enkel Ernst berichtete, dass das Mobilar vorwiegend aus alten Erbstücken bestand. So wäre ein alter barocker Sekretär-Schreibtisch mit einem Aufsatz versehen gewesen, in dem das Wappen der Vorfahren Schönpflug von Gambsenberg (bzw. Gamsenberg) intarsiert gewesen wäre. Auch wäre die Familie Blumentritts im Besitz alter geschliffener Gläser mit den Wappen der Vorfahren Maschek von Maasburg gewesen.26

In einem Brief27 nimmt Blumentritt auf seinen Großvater Bezug. Dieser hätte vom Fürsten Lobkowitz eine wertvolle Krawattennadel, eine sogenannte Busennadel, geschenkt bekommen. Sie hätte die Form einer Rosette gehabt mit Stiel und Blättern und wäre mit Brillanten besetzt gewesen. Diese Nadel war bis zum Jahre 1900 im Besitz Ferdinand Blumentritts, dann wurde sie ihm jedoch gestohlen. Da er selbst kein Foto davon für die polizeiliche Meldung zur Verfügung hatte, bat er seinen Freund A. B. Meyer, er möge ihm dasjenige Foto zurücksenden, das er ihm schon einmal gesandt hatte. Meyer kam dieser Bitte umgehend nach. Blumentritt befürchtete jedoch, dass er die Nadel nicht mehr zurückbekommen werde. Da keine weiteren Informationen darüber gefunden werden konnten, muss man annehmen, dass diese Krawattennadel tatsächlich nicht ausfindig gemacht werden konnte.

Alte Aufnahme: Raudnitz an der Elbe.28

Die französische Nationalbibliothek verwahrt eine frühe Fotografie Ferdinand Blumentritts (geb. 1853), worauf er offensichtlich mit dieser Busennadel zu sehen ist. Aus den Anmerkungen auf der Rückseite lässt sich schließen, dass diese Aufnahme aus dem Jahre 1882 oder auch kurz davor stammt. Blumentritt dürfte sie seiner Kontaktaufnahme mit der Socíeté Géographie in Paris beigelegt haben. Bis jetzt ist von Ferdinand Blumentritt keine frühere Fotografie bekannt.

Blumentritt in jüngeren Jahren mit der Krawattennadel.29

Vor ca. 115.000 – 10.000 Jahren. Siehe:
https://de.wikipedia.org/wiki/Letzte_Kaltzeit, [6.10.2018].

Es handelt sich dabei aber nicht um den ersten modernen Menschen überhaupt, sondern eben um den einzigen Mann, dessen genetische Linie bis heute ohne Unterbrechungen nachverfolgt werden kann. Siehe auch:
https://de.richarddawkins.net/articles/eine-studie-zeigt-dass-die-evolution-der-menschen-schneller-voranschreitet-als-gedacht, [10.10.2018].
Andere, frühere Untersuchungen kamen zu einem wesentlich jüngeren Alter dieses „genetischen Adams“.

Quelle: http://www.igenea.com.

Träger der Haplogruppe R1b sind mehrere amerikanische Präsidenten, Angehörige verschiedener europäischer Königshäuser, aber auch Che Guevara und Charles Darwin.

https://de.wikipedia.org/wiki/Haplogruppe_R1b_(Y-DNA), [7.10.2018].

Diese „Grubengrab – oder Ockergrab-Kultur“ wird in den Zeitraum 3600 bis 2500 v. Chr. datiert. Die Bestattung erfolgte in kegelförmigen Grabhügeln (Kurgane). Nach neuesten Theorien könnte die Yamnaya-Kultur mit der Entwicklung der indogermanischen Sprachgruppe im Zusammenhang stehen. Siehe:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jamnaja-Kultur, [8.10.2018].

Mit einem 90% Prozent Konfidenzintervall von 3000 bis 1400 v. Chr.

https://en.wikipedia.org/wiki/Haplogroup_R-Z18, [7.10.2018].

Zur Kritik am „Urvolk“-Konzept siehe z. B. Krause 2019, S. 33ff.

10 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Haplogroups_europe.png, [10.11.208].

11 Als „Autosome“ bezeichnet man die 22 Chromosomenpaare ohne die geschlechtsspezifischen X- und Y-Chromosomen. Siehe:
http://genwiki.genealogy.net/DNA-Genealogie, [8.10.2018].

12 Die Region „Iberien“ umfasst Spanien und Portugal.

13 In der Tat findet man in genealogischen Datenbanken Hinweise, dass auch schon im 19. Jahrhundert der Familienname „Blumentritt“ in Spanien vertreten war.

14 Siehe Bahlow, 1993, S. 70.

15 Naumann, 2007: S. 78.

16 Brechenmacher 1963, S. 166.

17 Kohlheim, 2008, S. 123.

18 Quelle: Barth und Niederley, S. 189.

19 Dammer, 1908, S. 13-14.
Auch die Zeitschrift „Blatt der Hausfrau“ erwähnt einen derartigen „Blumentritt“ (Heft 5, S. 150, Quelle: anno.onbac.at).

20 In der Schreibweise „Plumentrit“ bzw. „Pluomentrit“.

21 Obermair, 2005, S. 70, 236, 264, 300, 242, 365.

22 Inhaber einer Lehrbefugnis.

23 Persönliche Mitteilung von Ernst F. Blumentritt vom 19. Januar 2002.

24 Eine relativ umfangreiche Blumentritt-Genealogie findet sich bei Proházka (1928).

25 Persönliche Mitteilung von Ernst F. Blumentritt vom 15.10.1997.
Siehe auch: Blumentritt, Ernst F. Kurzbiographie von Ernst Ferd. Mar. Blumentritt. Manuskript, Second Version, o. J. Zur Verfügung gestellt von K.-H. Wionzek. Siehe dazu auch Tomas 2008, S. 11f.

26 Blumentritt, Ernst F.. Kurzbiographie von Friedrich (Fritz) Blumentritt. Manuskript, Second Version, o. J. Zur Verfügung gestellt von K.-H. Wionzek.

27 BMC, 1900-03-11, 1900-03-14.

28 Quelle: Sammlung Johann Stockinger.

29 Copyright: Mit freundlicher Genehmigung der Société de Géographie, Paris, www.socgeo.com.

Frühe Kindheit und Volksschule

Ferdinand Blumentritt wurde als erstes Kind des Ferdinand Blumentritt (* 12.3.1815)30 und der Amalia Schneider am 10. September 1853 im Prager Stadtteil Kleinseite (Malá Strana) in der Brückengasse (Mostecká) geboren.

Alte Ansicht: Blick auf die Kleinseite von der Karlskirche aus. Die Brückengasse beginnt unmittelbar nach dem Tor, das die beiden unterschiedlich großen Kleinseitner Brückentürme verbindet.31

Getauft wurde Ferdinand Blumentritt am 18. September 1853 in der Kirche des naheliegenden Klosters St. Thomas. Das Kloster braute seit 1358 auch ein eigenes, in erster Linie dunkles Bier und wie Blumentritt später einmal schrieb, hätte er das St. Thomas-Bier zu seiner Studentenzeit sehr gerne getrunken.

Die Barockkirche St. Thomas, in der Blumentritt getauft wurde, diente dem Augustinerorden als Stiftskirche. Ihr derzeitiges Aussehen hatte sie nur ein paar Jahrzehnte vor Blumentritts Taufe erhalten.32

Aber schon die Adresse der elterlichen Wohnung gibt einige Rätsel auf. In den Taufmatriken ist bei Ferdinand Blumentritt die Hausnummer 43/III33 eingetragen. Schon der ehemalige Stadtarchivar von Leitmeritz, Jindřich Tomas, wies darauf hin, dass in einem anderen Eintrag die Hausnummer 53 zu finden wäre, es sich dabei aber um einen Fehler handeln dürfte. Ferdinand Blumentritts Enkel Ernst, der mehrfach mit seinem Vater die Umgebung der Geburtsstätte seines Großvaters in Prag besucht hatte, war sich sicher, dass es sich um das Haus an der Ecke Brückengasse/Josefska handelt. Sein Vater Friedrich hätte es ihm gezeigt34.

Alte Ansicht der Brückengasse (Mostecká) mit St. Niklaskirche: Blumentritts vermeintliches Geburtshaus ist gelb eingefärbt.35

Moderne Ansicht der Brückengasse. Der Pfeil zeigt auf das vermeintliche Geburtshaus.36

Ernst Blumentritt konnte sich auch erinnern, dass ihm sein Vater Friedrich während eines Fronturlaubs im Jahre 1943 eine dickes Schulschreibheft zeigte, das Ferdinand Blumentritt als Tagebuch gedient hatte37. Darin war zu lesen, dass einmal Wallfahrer in die Stadt gekommen wären, die mit ihren Fuhrwerken am Kleinseitner Ring kampiert hätten. Der kleine Ferdinand wäre stundenlang am Fenster gelegen, um das bunte Treiben in der Brückengasse zu beobachten. Von den Eckzimmern hätte man von allen Stockwerken aus bequem bis zum Kleinseitner Ring mit der Niklaskirche als Wallfahrtsziel sehen können.

Alte Ansicht des Kleinseitner Rings.38

In der Tat beträgt die Distanz bis zum Kleinseitner Ring nur ca. 70 Meter. Allerdings weist dieses Eckhaus die Nummer 44/III auf, das Haus mit der Nummer 43/III befindet sich direkt anschließend, weiter drinnen in der Josefska und beherbergte den Konvent des Ordens der Englischen Fräulein.39 Von dort ist allerdings nur ein kurzer Abschnitt der Brückengasse, aber kein umfassender Blick bis zum Kleinseitner Ring möglich.40 Betrachtet man die ältesten Prager Straßenkarten mit eingezeichneten Hausnummern, so wird diese Tatsache bestätigt. Der erste wirklich genaue Plan von Prag stammt von Joseph Jüttner,41 einem altösterreichischen Kartographen und Armeegeneral, aus den Jahren 1811-1815. Bei ihm erhielt das Eckhaus Brückengasse/Josefsgasse allerdings die Hausnummer 45.

Blick von der Ecke Brückengasse/Josefska zum Kleinseitner Ring.42

Aber schon bei der Geburt von Ferdinands jüngerem Bruder Viktor am 13.3.1855 war in den Matriken nicht mehr die Nummer 43 eingetragen, sondern die Nummer 53. Das gleiche gilt für die weiteren Geschwister Emilie (geb. am 14.1.1858) und Arthur (geb. am 13.9.1859).

Brückengasse und Umgebung nach Joseph Jüttner (1811-1815).43

Brückengasse und Umgebung nach Alfred Hurtig (1891).44
Hier weist zwar das Eckhaus die Nummer 44 auf, aber die Nr. 43 gehört nach wie vor zum Kloster der Englischen Fräulein.

Haus Nr. 44/III: Eckhaus Brückengasse/Josefska.

Blick in die Josefska mit dem Haus Nr. 43/III als zweitem Haus auf der rechten Seite. Am Ende der Josefska sind Teile der St. Thomas-Kirche zu sehen.45

Dieses Haus mit der Nr. 53 ist gleich das zweite Haus rechts, wenn man von der Karlsbrücke kommend durch das Tor tritt, das die beiden Kleinseitner Brückentürme verbindet. Das Haus Nr. 53 bildet mit dem dahinterliegenden Haus Nr. 54 (Hausname: „Angesicht Gottes“) ein Doppelhaus.46 Die Entfernung bis zum Beginn des Kleinseitner Rings beträgt von diesem Haus aus zwar schon ca. 150 Meter, aber eine Sichtverbindung ist immer noch möglich. Die ersten beiden Häuser auf der rechten Seite der Brückengasse sind von den anderen etwas abgeschrägt, wodurch man auch von einem Eckzimmer sprechen könnte. Wie Ferdinand Blumentritt laut seinem Enkel Ernst in dem verschollenen Tagebuch geschrieben hatte, wäre die Sicht von allen Stockwerken möglich gewesen. Das könnte darauf hindeuten, dass sich die elterliche Wohnung über mehr als ein Stockwerk erstreckte, was auch bei den kleineren Beamtenwohnungen in diesem schmalen Häusern der Fall hätte sein können. In der Tat besteht heute das straßenseitige Zimmer im zweiten Stock nur aus einem einzigen größeren Raum mit drei Fenstern.

Blick vom Haus Brückengasse 53 zum Kleinseitner Ring.47

Haus Brückengasse 53/III.

Blick vom Brückenturm auf die Brückengasse und den Kleinseitner Ring. Rechts vorne das Haus Nr. 53 mit den geöffneten Fenstern.49

Wie eine Überprüfung vor Ort ergab, ist heute vom Fenster kaum mehr ein direkter Blick zum Kleinseitner Ring möglich, da die äußeren Fenster der Doppelfenster nach außen öffnen. Früher waren jedoch lange Zeit Einfachfenster Standard, die nach innen öffneten.50

Eine weitere Möglichkeit, die Frage des Geburtshauses zu klären, besteht in der Überprüfung der Meldedaten seines Vaters. Laut Meldebogen wird er im Jahre 1850 noch unter der Adresse 395/I angeführt, aber 1852 schon unter der Adresse 53/54/III. Die Adresse 43/III kommt dort nicht vor.51 Ferdinand Blumentritt senior (geb. 1815) hatte am 10. Juli 1852 Amalia Schneider in der Pfarre Maria von Siege geheiratet. Die Kirche Maria vom Siege gehört zum Kloster der Karmeliten und beherbergt mit dem „Prager Jesulein“ ein weltweit bekanntes wundertätiges Gnadenbild Jesu. Im Laufe der Jahre wurden diesem „Prager Jesulein“ ca. 100 verschiedene Gewänder aus der ganzen Welt geschenkt, darunter auch von den Philippinen.52 Viele Filipinos besuchen deshalb auch die Kirche Maria vom Siege, ohne zu wissen, dass in dieser Kirche auch Ferdinand Blumentritt, José Rizals enger Freund, geheiratet hatte. In den Heiratsmatriken ist als Geburtsadresse bei Ferdinand Blumentritt sen. die Adresse 395/I (=Altstadt)53 eingetragen und bei Amalia Schneider die Nummer 532/III (=Kleinseite). Das frisch vermählte Paar dürfte in das Doppelhaus Brückengasse Nr. 53/54/III umgezogen sein. Der Meldebogen gibt auch Auskunft über das damalige Gehalt des Vaters. Laut des in Prag ausgestellten Dekrets Nr. 10460 vom 22. Mai 1852 soll es 400 Gulden jährlich betragen haben.54

Wie aus dem Geburtseintrag von Ferdinand jun. ersichtlich ist, waren als Taufpaten der wohlhabende Großonkel und Jurist Ferdinand Wenzel Blumentritt, Besitzer des Hauses „Rothes Herz“ am Maria Schnee Platz 757/II55, sowie die Großmutter mütterlicherseits, Johanna Nepomuzena Schneider, geborene Weinbrenner eingetragen.56 Diese war zu diesem Zeitpunkt bereits Witwe, da ihr Mann, der k. k. Rentmeister57 Andreas Schneider, bereits am 22. Dezember 1852 verstorben war58. Laut Aussagen der Kufsteiner Blumentritt-Nachkommen wurde die Familie Schneider durchaus als wohlhabend angesehen. Der Großonkel und Taufpate war auch Landesadvokat und zeitweise Dekan der juridischen Fakultät der Universität Prag. Am 13. März 1855 wurde Blumentritts jüngerer Bruder Viktor geboren. Die Taufpaten blieben die gleichen wie bei Ferdinand.

Als der Großonkel am 18. August 1857 verstarb, war der kleine Ferdinand knappe vier Jahre alt. Möglicherweise blieben durch das Ableben des Taufpaten auch finanzielle Unterstützungen für die Familie aus. Ferdinands Mutter war auch bereits in Erwartung der Tochter Emilie. Der Platz in der Wohnung könnte knapp geworden sein. Ferdinand Blumentritt hatte ja in seinem Artikel Das bürgerliche Haus der Prager Kleinseite in den Jahren 1860-1870 und seine Gebräuche59die Beamtenwohnungen folgendermaßen beschrieben: „Die Beamtenwohnungen umfaßten zum mindesten 3 Zimmer (Wohn-, Schlaf- und Empfangszimmer), auch vier (‚das Kinderzimmer‘). Darüber ging man selten hinaus, fünf Zimmer galten als ,Hofratswohnung‘.“

Haus des Ferdinand Wenzel Blumentritt in Prag Neustadt Nr. 757/II.60

In dieser Phase übernahm das kinderlose Ehepaar Johann und Friederika Gregor (die Schwester von Blumentritts Mutter Amalia Schneider) für Ferdinand die Pflegeelternschaft und Johann Gregor für die jüngeren Geschwister die Taufpatenschaft. Der kleine Ferdinand wurde jedoch nicht adoptiert und dürfte auch weiterhin sehr viel Zeit in der elterlichen Umgebung verbracht haben. Die Entfernung zur Wohnung des Ehepaars Gregor in der Augezdergasse 426/III war mit ca. 700 Meter Fußweg nicht allzu groß. Das alte Haus existiert dort nicht mehr. Gleich direkt gegenüber beginnt der Aufgang zur Hasenburg.

Verwandtschaftliches Umfeld von Johann und Friederika Gregor (geb. Schneider).

Nun haben wir von Blumentritt selbst verschiedene Aussagen, die diese Pflegeelternschaft61 bestätigen. In einem Brief vom 14. Oktober 1884 an einen Kollegen schreibt Blumentritt, dass er im Sommer mit der Korrektur seiner ethnografische Karte der Philippinen stark beschäftigt gewesen wäre und dann wäre auch noch seine Pflegemutter gestorben, was seine ohnehin nervöse Konstitution so stark erschüttert hätte, dass er für den Rest der Sommerferien arbeitsunfähig gewesen wäre. Da Friederika (geb. Schneider, *19.3.1818), die Frau von Johann Gregor, am 11. August 1884 verstorben war, ist hier eindeutig sie gemeint. Blumentritts jüngerer Bruder, Viktor, wurde am 13. März 1855 geboren, seine einzige Schwester, Emilie, am 14. Januar 1858 und der jüngste Bruder Arthur am 13. September 1859. Der Kontakt zu seinen Geschwistern dürfte den Umständen entsprechend nicht sehr intensiv gewesen sein. Bis jetzt konnte im schriftlichen Nachlass Blumentritts kein Hinweis auf seine Geschwister gefunden werden. Die Geschwister hatten offensichtlich auch nicht die Möglichkeit einer akademischen Bildung.62

Johann Gregor, gemalt von Dr. Carl Czepelak für das Stammbuch von Blumentritts Sohn Friedrich (Fritz) am 3. Oktober 1887 in Leitmeritz.63

Der Beginn der Schulzeit

Über die ersten Schuljahre ist bis jetzt nur sehr wenig bekannt. Man weiß auch nicht, ob Blumentritt überhaupt regelmäßig die „Volksschule“64 besucht hat. Eine Verpflichtung dazu bestand nicht. In Österreich wurde von Maria Theresia 1774 nämlich nicht die Schulpflicht, sondern eine Unterrichtspflicht eingeführt. Diese Regelung gilt in Österreich immer noch. Kinder müssen nicht zur Schule gehen, sondern können privat zu Hause unterrichtet werden. Der Grund war der, dass man den „besseren“ und adeligen Kreisen nicht zumuten wollte, dass ihre Kinder mit den Kindern aus dem „normalen Volk“ in die Schule gehen mussten. Allerdings muss zum Ende eines Schuljahres eine kommissionelle Prüfung über den Lehrstoff abgelegt werden.65

Bis jetzt konnte bei den in Frage kommenden Schulen nur ein einziger Vermerk über einen Ferdinand Blumentritt gefunden werden. In der Schule St. Thomas ist für das Jahr 1863 ein 8-jähriger Ferdinand Blumentritt eingetragen. Da Blumentritt auch in der Kirche St. Thomas getauft wurde und kein anderer Blumentritt mit dem gleichen Vornamen in diesem Gebiet als geboren verzeichnet ist, kann nur er gemeint sein. Ob es bei der Eintragung zu einem Fehler kam – Blumentritt war 1863 schon 9-10 Jahre alt – oder er tatsächlich erst in diesem Alter die „Volksschule“ besucht hatte, kann nicht bestätigt werden.66 Zdenka Vasiljevová hat im Archiv der Karlsuniversität in Prag einen handgeschriebenen Lebenslauf von Ferdinand Blumentritt entdeckt, den er dort gegen Ende seines Studiums verfasst hatte. Darin ist zu lesen:

Gebäude der ehemaligen „Volksschule“ St. Thomas in der Josefská.67

„Ferdinand (Franz Josef Johann) Blumentritt geboren zu Prag d. 10. September 1853, katholisch, Sohn des Ferdinand Blumentritt, k. k. Finanzlandesdirectionsbeamten, trat im Jahre 1864 in das Sommersemester der IV. Klasse an der Kleinseitner Hauptschule ein.

Hierauf besuchte er das k. k. Kleinseitner Gymnasium vom 0ktober 1864, von wo er dann im Februar l869 an das k. k. Neustädter Piaristengymnasium ging, wo er auch im Juli 1872 die Maturitaetsprüfung ablegte.“68

Nun könnte es sein, dass Blumentritt auf die Erwähnung einer Trivialschule in den ersten drei Jahren verzichtet hatte, weil diese für alle Kinder verpflichtend war. Berücksichtigt man aber Blumentritts bekannte sehr genaue Arbeitsweise, so erscheint es plausibler, dass er wirklich erst mit der 4. Klasse Hauptschule in das Schulleben eingetreten ist. Die 4. Klasse könnte ihm vielleicht als Vorbereitung für das Gymnasium gedient haben und davor könnte er Privatunterricht erhalten haben.

Das damalige Leben im alten Prag beschrieb Blumentritt detailreich in seinem Artikel Das bürgerliche Haus der Prager Kleinseite in de Jahren 1860-1870 und seine Gebräuche.69 Laut Blumentritt wären um 1860 kaum neue Häuser erbaut worden, die älteren Häuser wären in der Regel mindestens hundert Jahre und manchmal bedeutend älter gewesen.70 Blumentritt schrieb, er hätte in einem dieser älteren Häuser gewohnt, die sehr verwunderlich gewesen waren, wo sich fast kein Zimmer auf gleichem Niveau befand und viele versteckte Winkel zu finden gewesen wären. Das Dienstpersonal hätte damals fast ausnahmslos in der sehr geräumigen Küche geschlafen.

In Blumentritts Kindheit war es üblich, dass die Knaben ein Schaukelpferd besaßen. Ebenso hätte beim Spielzeug niemals eine Arche Noah mit ihren paarigen Figuren gefehlt. Laut Blumentritt hätten die Kinder auch gerne mit Holzhäuschen gespielt, mit denen Städte und Festungen gebaut wurden. Als Garnison hätten Zinn- und Bleisoldaten gedient. Ebenso hätte zur Grundausstattung für Knaben ein Gewehr, eine Cazko oder Dragonerhelm, eine mit einem Doppeladler versehene Patronentasche, ein Säbel und eine kaiserliche Flagge gehört. Die Kinder versuchten damals mit Hilfe ihrer Phantasie die wenigen und einfachen Spielsachen kreativ einzusetzen. So hätten sich die Kinder auch mit dem Zusammenlegen von Bildern aus kleinen Bestandteilen beschäftigt sowie mit Bausteinen aus Holz. Auch das „urgermanische“ Spiel „Glocke und Hammer“ wäre gespielt worden.71

In seinem Artikel Alphabetisches Verzeichnis gebräuchlicher Aquarellfarben (1910) erzählt Blumentritt, dass er schon im Jahre 1860 damit begonnen hätte, Landkarten zu kolorieren. Im folgendem Jahr hätte er dann versucht, gedruckte Bilderbögen und seine von ihm selbst entworfenen Zeichnungen zu kolorieren.72 Der kleine Blumentritt begann sich immer intensiver damit zu beschäftigen, vor allem auch deshalb, weil damals die Knaben mit großem Vergnügen ganze Armeen von Papiersoldaten aufgestellt hätten.73 Diese wären dann mit Ladestockgewehren, Bolzen, Pulver und Vogeldunst74 aus kleinen Messingkanonen beschossen worden. Um die vielfältigen Aufschlagfarben der österreichischen Infanterieregimenter richtig kolorieren zu können, musste er sich intensiv mit Farbnuancierungen beschäftigen. Normalerweise wurden diese Papiersoldaten in Pappkästchen oder Holzkisten aufbewahrt. Wenn man viele davon hatte und protzen wollte, stellte man einen Teil in ein Fenster, das nur selten geöffnet wurde. Blumentritt hatte dort zwei Regimenter „kaserniert“, das Infanterieregiment Nr. 73 („Albrecht von Württemberg“) und das Infanterieregiment Nr. 35 („Freiherr von Sterneck“). Dabei machte der kleine Blumentritt seine ersten Entdeckungen über Farbveränderungen und Schimmelbildung. Bald schon hatte er ein erstes Gefühl für eine exakte wissenschaftliche Arbeitsweise entwickelt.

Aber bereits dem neunjährigen Blumentritt reichten die gewöhnlichen Farben nicht mehr und er wollte bessere haben. Wie Blumentritt selbst ausführt, hätte ihn ein im elterlichen Hause wohnender Techniker mit Chenalfarben75 bekannt gemacht. Zu seinem neunten Geburtstag schenkte ihm eine Tante die Reste ihrer englischen Farben76, mit denen sie in ihrer Jugendzeit gemalt hatte. Dabei lernte der junge Blumentritt auch gleich die englischen Farbbezeichnungen kennen. Zu Weihnachten bekam er dann noch einen Farbkasten der Wiener Firma Anreiter und ein Vetter brachte ihm aus London 24 englische Farben mit. Schließlich sparte er sich so viel Taschengeld zusammen, dass er sich 48 Chenalfarben kaufen konnte.77 Er hatte sich schließlich selbst ein so großes Wissen über die Farben angeeignet, das selbst andere Jungen nicht hatten, die einen speziellen Zeichen- und Malunterricht genossen. Er selbst hätte nicht die Möglichkeit eines derartigen Unterrichtes genossen, woran sein Onkel und Pflegevater Johann Gregor schuld gewesen wäre: „Er hatte nämlich, als er meine Passion für Zeichnen und malen sah, Angst, ich könnte Lust bekommen, Maler zu werden, nach seiner Ansicht die unglücklichste Berufswahl.“78

Um das Jahr 1862 hatte Blumentritt auch die ersten Abziehbilder kennengelernt. Wie er in seinem Artikel Das bürgerliche Haus … ausführt, wären diese vollkommen unsichtbaren Bilder, die meist mit Goldbronze verdeckt waren, mit Kopallack und Terpentin auf das Papier „gezaubert“ worden.79

30 In den Taufmatriken sind bei Ferdinand Blumentritt sen. noch die weiteren Vornamen Mattheus und Johann eingetragen. Es war üblich, mehrere Vornamen zu haben. In amtlichen Dokumenten wurde aber meist nur der erste Vorname verwendet.
Als Geburtsadresse für Ferdinand Blumentritt sen. ist das Haus Nr. 774/II am Maria-Schnee-Platz eingetragen.

31 Quelle: Sammlung Johann Stockinger.

32 Foto: Johann Stockinger, 2018.

33 Die alten Hausnummern aus der damaligen Zeit sind an ihrer weißen Schrift auf rotem Hintergrund erkennbar, während die moderneren Nummern einen blauen Hintergrund aufweisen. „III“ steht für den Stadtteil Kleinseite (Malá Strana).

34 Brief Ernst Blumentritts an Johann Stockinger vom 30. Juni 2010.

35 Quelle: Sammlung Johann Stockinger.

36 Foto: Johann Stockinger, 2012.

37 Dieses Tagebuch konnte bis heute nicht gefunden werden.

38 Quelle: Sammlung Johann Stockinger.

39 Der erste apostolische Frauenorden, gegründet 1609 von Maria Ward in Flandern. Siehe: http://www.kathpedia.com/index.php/Congregatio_Iesu, [3.5.2018].

40 Es gilt auch als gesichert, dass Blumentritt in der Brückengasse geboren wurde. Er selbst spricht von „mein Geburtshaus in der Brückengasse“ in seinem Artikel Das bürgerliche Haus der Prager Kleinseite in den Jahren 1860–1870 und seine Gebräuche (1923).

41 https://en.wikipedia.org/wiki/Josef_Jüttner, [03.04.2018].

42 Quelle: OpenStreetmap, Ergänzungen von Johann Stockinger.

43 Zeichnung: Johann Stockinger, 2018.
Quelle: http://mapy.vugtk.cz, [04.04.2018].

44 Zeichnung: Johann Stockinger, 2018.
Quelle: http://mapy.vugtk.cz, [4.4.2018].

45 Fotos: Johann Stockinger, 2012.

46 Heute ist auch das Haus links davon mit der ehemaligen Nummer 52 einverleibt.

47 Quelle: OpenStreetmap, Ergänzungen von Johann Stockinger.

48 Laut Prager Adressbuch aus dem Jahre 1859 gehörten die Häuser Nr. 53 und 54 einem gewissen Paul Mařik. Foto: Johann Stockinger, 2012.

49 Foto: Johann Stockinger, 2018.

50 Heute ist in diesem Haus eine Touristeninformation und ein Hostel untergebracht, sodass man auch eine Nacht in Blumentritts Geburtshaus verbringen könnte.

51 Sie ist auch in keinem anderen der bisher bekannten Dokumente – außer in Blumentritts Heiratsmatriken - zu finden. Es könnte sich daher um einen Schreibfehler des Priesters handeln, der die Geburtseinträge vorgenommen hatte. Jindřich Tomas hatte schon Ähnliches vermutet, nur umgekehrt. Er dachte, die Nr. 53 wäre ein Schreibfehler gewesen (Tomas 2008, S. 11). Bei Blumentritts Trauung könnte der Priester die Hausnummer von den Taufmatriken übernommen haben.

52 https://de.wikipedia.org/wiki/Prager_Jesulein, [05.04.2018].

53 Diese Haus befand sich in der damaligen Kolowratstrasse (heutiger Graben bzw. Napříkopě), an der Ecke zur Bergmanngasse (Havířská). Im Prager Adressbuch aus dem Jahre 1859 sind Anton und Antonia Hübel als Hausbesitzer eingetragen.

54 Das würde nach dem Inflationscockpit der Österreichischen Nationalbibliothek einem heutigen Wert (2018) von ca. € 6150.- entsprechen. Das Einkommen von Blumentritts Vater war daher wirklich sehr bescheiden.
Siehe: https://www.oenb.at/docroot/inflationscockpit/waehrungsrechner.html.

55 In unmittelbarer Nähe, im Haus Nr. 753 (Franziskanerkloster) befindet sich heute das Österreichische Kulturforum Prag.

56 Die Spur einiger Nachfahren der Familie Weinbrenner führt in das heutige Österreich. Es existiert sogar ein eigenes Weinbrenner-Genealogieprojekt.

57 „Ein Rentmeister“ war der Leiter eines Rentamtes, das als Teil der Finanzverwaltung für die Verwaltung von grundherrschaftlichen Einnahmen zuständig war. https://de.wikipedia.org/wiki/Rentamt, [5.5.2019].

58 Sichrovsky schreibt (1983, S. 5), dass Andreas Schneider aus Wien stammen würde. Tatsächlich stammte er aus Mähren.

59 Leitmeritzer Heimatbote, 1923.

60 Foto: Johann Stockinger, 2018. Im Adressbuch der Stadt Prag des Jahres 1859 finden sich als Besitzer des Hauses I eingetragen „J. U. D. F. Blumentritt‘s Erben“.

61 Als Pflegekind wird ein Kind bezeichnet, das vorübergehend oder dauerhaft nicht bei seinen Herkunftseltern, sondern bei einer anderen Familie lebt und von ihr betreut, aber nicht adoptiert wird.
https://de.wikipedia.org/Pflegekind, [6.5.2018].

62 Viktor dürfte von Beruf Pianospieler gewesen sein. Allerdings konnte Viktors gleichnamiger Sohn (geb. am 23. April 1881) ebenso wie Ferdinands Sohn Konrad ein Studium der Rechtswissenschaften absolvieren. Später war er auch in Wien berufstätig.

63 Quelle: Blumentritt-Archiv in Budweis.

64 Eine österreichische Volksschule entspricht der Grundschule in Deutschland. Allerdings gab es Volksschulen im heutigen Sinn erst ab dem Reichsvolksschulgesetz von 1869. Die von Maria Theresia geschaffenen Schultypen des niederen Schulwesens waren die Trivialschule, die Hauptschule und die Normalschule, die aber alle in etwa der späteren Volksschule entsprachen.
Diese Informationen verdanke ich Wilfried Göttlicher vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien.

65 Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Schulpflicht, [10.06.2016].

66 Bei diesen Nachforschung wurde ich vom tschechischen Genealogen Emanuel Slapak unterstützt.

67 Foto: Johann Stockinger, 2018.

68 Für die Übermittlung dieser Informationen bin ich K.-H. Wionzek dankbar.

69 Siehe dazu auch Stockinger, 2017, S. 212-213.

70 Blumentritt, Das bürgerliche Haus …, S. 51.

71 Blumentritt, Das bürgerliche Haus …, S. 53.
Es handelt sich um ein Würfelspiel, das angeblich vom Wiener Kunstsammler Heinrich Friedrich Müller erfunden wurde und ab dem Jahre 1850 in Europa weit verbreitet war. Allerdings war es wahrscheinlich kein germanisches Spiel, sondern wurde von Müller frei erfunden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Glocke_und_Hammer, [02.05.2018].

72 Blumentritt, 1910, S. 5.

73 Zu Weihnachten hätten die Knaben auch „Krippelbilder“ – Krippenbilder, die damals in Form von Papierbögen verkauft wurden – selbst erzeugt (Blumentritt, 1910, S. 6).

74 Sehr feines Schrot.

75 Französische Aquarellfarben, die günstiger waren als die englischen, aber trotzdem eine gute Qualität aufwiesen.

76 Eine Übersicht über die damals gebräuchlichen englischen Aquarellfarben bietet Jaennicke, 1875, S. 17.
Er empfiehlt vor allem die Farben von Winsor & Newton und von R. und A. Ackermann in London.

77 Ebenda.

78 Ebenda.

79 Blumentritt Das bürgerliche Haus …, S. 53.