Über das Buch

Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich proklamiert. Deutung und Erbe des damals gegründeten Nationalstaats sind heute umstritten. In welchem Verhältnis steht die Berliner Republik zum Reich Bismarcks und Wilhelms II.? Wie demokratisch war der nationale Staat? Hat sich Deutschland damals auf einen »Sonderweg« in die Moderne begeben? War in der Reichsgründung der Weg zum Ersten Weltkrieg bereits angelegt? Was verbindet 1871 und 1933, was Versailles und Auschwitz?

Die Debatten über »Die Schlafwandler« und die Hohenzollern zeigen, dass der Schatten des Kaiserreichs bis in die Gegenwart reicht. Ein neuer Nationalismus taucht das vergangene Reich in ein rosiges Licht und versucht, ein kritisches Bild seiner Geschichte zu entsorgen. Doch die Reichsgründung war eine Revolution von oben, das Kaiserreich ein autoritärer nationaler Machtstaat. Die Bundesrepublik steht nicht in seiner Tradition. 150 Jahre nach der Reichsgründung verbindet Eckart Conzes Buch Geschichte und Gegenwart, historische Analyse und geschichtspolitische Intervention.

Conzes scharf gedachte und brillant formulierte Darstellung gibt Antworten auf politisch virulente Fragen, leuchtet die Hintergründe geschichtspolitischer Debatten aus und bezieht engagiert Stellung: »Es gibt nichts zu feiern. Das Reich von 1871, es ist vergangen. Das Deutschland der Gegenwart steht nicht in seiner Tradition.«

Über Eckart Conze

Eckart Conze, geboren 1963, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg und zählt zu den profiliertesten deutschen Zeithistorikern. An den Universitäten Cambridge, Toronto, Utrecht und Jerusalem hatte er Gastprofessuren inne. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte von Adel und Eliten, die internationale Politik vom 18. bis ins 21. Jahrhundert, die Geschichte der Bundesrepublik sowie die Historische Sicherheitsforschung. Dass Eckart Conze keine Scheu vor großen Debatten hat, hat er als Mitautor von ›Das Amt und die Vergangenheit‹ bewiesen.

Den Freunden in Toronto
Helen Graham und James Retallack

Einleitung
Reichsgründung und Nationalstaat: In weiter Ferne, so nah

»Hohenzollernwetter« herrschte in Berlin, als am 2. September 1873 auf dem Königsplatz vor dem Palais Raczynski, das wenige Jahre später dem Reichstag weichen musste, die Siegessäule in Anwesenheit des Kaisers feierlich eingeweiht wurde. »Eine Sommersonne, so lachend und unverhüllt wie vor drei Jahren über dem weiten Blutfelde von Sedan, strahlte über dem Plan«, berichtete die Vossische Zeitung, »und ließ … die goldene, schöne Riesengestalt der Victoria-Borussia auf der Höhe der Säule in blendendem Glanze schimmern.«1 Die von dem Architekten und Oberhofbaurat Johann Heinrich Strack, einem Schinkel-Schüler, entworfene Säule war das erste Nationaldenkmal des am 18. Januar 1871 in Versailles proklamierten Deutschen Reiches. In der Säule selbst sowie dem Bildprogramm der monumentalen Reliefs am Denkmalsockel und des Glasmosaiks in der Säulenhalle spiegelte sich ein nationales Geschichtsbild. »In diesen Bildern«, so formulierte es die für das Denkmal zuständige Baukommission, »kann die Erinnerung an die Macht und den Glanz des ehemaligen Deutschen Reiches und zugleich die Notwendigkeit der gegenwärtigen staatlichen Entwicklung aus der Vergangenheit der deutschen Geschichte zur Anschauung gebracht werden.« Für Kaiser Wilhelm I. war das Monument, wie er in der Einweihungsansprache betonte, ein »Zeugnis der Taten der Armee«. Vergoldete Kanonen aus dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 schmückten die drei Trommeln der über fünfzig Meter hohen Säule. Auf ihr steht, fast neun Meter hoch, die von dem Berliner Bildhauer Friedrich Drake gegossene Siegesgöttin Viktoria mit dem Lorbeerkranz, die zugleich, am Adlerhelm und dem Feldzeichen mit dem Eisernen Kreuz unschwer zu erkennen, eine Borussia darstellt – die Kriegsgeburt des Deutschen Reiches als Triumph Preußens und seines Militärs.

»Das dankbare Vaterland dem siegreichen Heer« lautete 1873 die Inschrift am Sockel des Denkmals, nicht »König Wilhelm seinem siegreichen Volk«, wie ursprünglich vorgesehen. Auch dadurch brachte die Siegessäule den kleindeutsch-preußischen Bellizismus der Reichsgründungszeit zum Ausdruck. Soldaten aus den drei »Reichseinigungskriegen«, wie sie nun retrospektiv genannt wurden, gehörten zu den Ehrengästen bei der Einweihung und sogar einige greise Veteranen aus den Befreiungskriegen 1813/14. Auch der Kaiser erinnerte an die Kriege gegen das napoleonische Frankreich. Für das von Anton von Werner entworfene Mosaik in der Säulenhalle hatte er selbst das Thema vorgegeben, die »Rückwirkung des Kampfes gegen Frankreich auf die deutsche Einigung und die Schaffung des Deutschen Kaiserreiches«. Die Siegessäule feierte den deutschen Nationalstaat nicht als Werk der deutschen Nationalbewegung, sondern als militärischen Erfolg. Eine »monumentale Zeit« erfordere »monumentale Kunst«, hatte der Maler und Kunstkritiker Anton Teichlein 1871 geschrieben. Das »nationale Selbstgefühl« verlange ein Siegesdenkmal, und der Dank der Nation gebühre Krieg und Krieger: »Nicht auf der Tribüne, sondern auf dem Schlachtfelde ist die Einheit Deutschlands erfochten worden, … der Parlamentarismus hat, bei allen seinen Verdiensten, nicht das erste Anrecht auf monumentale Verherrlichung.«

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Säule von den Nationalsozialisten im Zuge der Umgestaltung Berlins zur Reichshauptstadt »Germania« von ihrem ursprünglichen Standort entfernt und weiter westlich, am Großen Stern im Tiergarten, wiederaufgebaut und dabei um eine Trommel erhöht. Im Krieg nur leicht beschädigt, entging sie Zerstörungsabsichten der Siegermächte, vor allem Frankreichs, nach 1945. Verkehrsumtost steht sie heute weder für die neue deutsche Einheit seit 1989/90 wie das Brandenburger Tor noch für die freiheitliche Demokratie und den Parlamentarismus der Bundesrepublik wie der Reichstag mit der Kuppel von Norman Foster. Aber sie ragt als Geschichtszeichen in den Himmel über Berlin und in unsere Gegenwart hinein. Sie erinnert an den 1871 begründeten ersten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, dessen Schatten bis in die Gegenwart reicht.

»Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.«2 Was Thomas Mann im amerikanischen Exil am 29. Mai 1945, wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, in seiner Rede über »Deutschland und die Deutschen« formulierte, gilt es nicht auch schon für das deutsche Kaiserreich? Die Kriegsgeburt von 1871, sie versank nach nicht einmal fünf Jahrzehnten im Ersten Weltkrieg. Kriegsniederlage und Revolution fegten sie hinweg. Doch der Schatten des Kaiserreichs lag über der Weimarer Republik, eine schwere Belastung, die zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie entscheidend beitrug und ihre Zerstörung sowie die Machtübernahme der Nationalsozialisten begünstigte. Zwölf Jahre später lag der 74 Jahre zuvor in Versailles gegründete deutsche Nationalstaat – und mit ihm weite Teile Europas – in Schutt und Asche, durch den von Deutschland begonnenen Krieg und die von Deutschen begangenen Verbrechen auch moralisch ruiniert.

Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete? War im Kaiserreich das »Dritte Reich« bereits angelegt? Generationen von Deutschen haben diese Fragen nach 1945 beschäftigt. Die Überwindung der deutschen Teilung im Jahr 1990 hat die Aufmerksamkeit erneut auf den ersten deutschen Nationalstaat gelenkt. Im Juni 1991 entschied der Deutsche Bundestag, den Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland von Bonn nach Berlin zu verlegen, in die Hauptstadt des Landes. In der Debatte, die der Abstimmung vorausging, spielten historische Argumente eine wichtige Rolle. Für die einen war Berlin als Hauptstadt des Deutschen Reiches durch dessen imperiale Ambitionen und Großmachtansprüche, vor allem aber durch den Nationalsozialismus und seine Verbrechen diskreditiert. Für die anderen ergab sich die Entscheidung für Berlin zwingend aus der deutschen Einheit und aus der durch sie gewonnenen neuen Nationalstaatlichkeit.

Drei Jahrzehnte später ringt die »Berliner Republik«, wie sie der Publizist Johannes Gross Anfang der 1990er Jahre nannte, mit einer Renationalisierung, ja einem neuen Nationalismus, der außenpolitische Bindungen, nicht zuletzt in Europa, infrage stellt und innenpolitisch und gesellschaftlich einer völkisch bestimmten nationalen Identität das Wort redet. Was verstehen die Deutschen der Gegenwart unter Nation? Und wie sehen sie damit sich selbst? Ein freiheitliches und demokratisches Nationsverständnis, wie es sich in den Jahrzehnten nach 1945 entfalten konnte, wird heute wieder herausgefordert. Es wird infrage gestellt von politischen Kräften, für die Nation nicht auf Freiheit, Demokratie und der Würde des Menschen beruht, sondern auf einer in erster Linie ethnisch begründeten Zusammengehörigkeit und auf einem Verständnis von Nation, das auf der Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft basiert. Das ist der Kern der neuen nationalen Frage, die sich vor diesem Hintergrund zwangsläufig auch darauf bezieht, welches Bild ihrer nationalen Geschichte die Deutschen haben, wie sie diese Geschichte deuten. Und dabei geht es auch um das Kaiserreich.

Anderthalb Jahrhunderte nach seiner Gründung und mehr als hundert Jahre nach seinem Untergang ist uns dieses ferne Reich wieder näher gerückt. 2014 stritten die Deutschen über den Beginn des Ersten Weltkriegs und die Verantwortung des Kaiserreichs. Mit seinem Buch Die Schlafwandler löste der Historiker Christopher Clark eine Debatte aus, die an die berühmte »Fischer-Kontroverse« der 1960er Jahre erinnerte. Aber es ging nicht nur um die Vergangenheit. Das Kaiserreich, so war 2014 zu vernehmen, werde in ein schlechtes Licht gerückt, es werde als autoritär und aggressiv charakterisiert, um das Deutschland des 21. Jahrhunderts zu treffen und es an einer selbstbewussten nationalen Politik zu hindern. Die 2017 erstmals in den Bundestag gewählte AfD plädiert für eine Außenpolitik, die sich an Bismarck orientiert, und beklagt in einem Parlamentsantrag, dass die »gewinnbringenden Seiten der deutschen Kolonialzeit erinnerungspolitisch keinen Niederschlag finden«. Zugleich wird darüber gestritten, ob der deutsche Völkermord an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 Entschädigungsleistungen rechtfertigt. Auch der Umgang mit Kunst und Kultur aus kolonialen Kontexten ist umstritten. Das zeigt nicht zuletzt die Diskussion über das im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss der Hohenzollern beheimatete Humboldt Forum und seine Ausstellung.

Auch durch solche Bauten rückt uns das preußisch-deutsche Kaiserreich wieder näher. Die historische Rekonstruktion prominenter Gebäude hat Debatten ausgelöst nicht nur über die symbolische und geschichtspolitische Botschaft, die von solchen Wiederaufbauten ausgeht, sondern auch über die selektive Aneignung von Architektur und Architekturgeschichte in der Berliner Republik. Warum musste der Palast der Republik, herausragendes Objekt politischer Architektur der späten DDR, abgerissen werden, um an seiner Stelle und am historischen Ort das alte Stadtschloss der Hohenzollern wiedererstehen zu lassen? Auch in Potsdam wurde die Fassade des im 18. Jahrhundert errichteten Stadtschlosses rekonstruiert. Es beherbergt heute den brandenburgischen Landtag. Und einen Steinwurf entfernt wächst der Turm der Garnisonkirche, im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und 1968 gesprengt, in die Höhe. Streit begleitet auch dieses Rekonstruktionsprojekt von Anfang an. Es geht dabei um die preußisch-deutsche Geschichte, denn weit über den »Tag von Potsdam« hinaus, als Nationalkonservative und Nationalsozialisten dort im März 1933 ihren Schulterschluss öffentlich inszenierten, steht die Garnisonkirche für den Militärstaat Preußen, den Militarismus des preußisch-deutschen Kaiserreichs, darüber hinaus steht sie als Versammlungsort des nationalen Lagers nach 1918 für Republik- und Demokratiefeindschaft. Das stellt den Wiederaufbau vor große Herausforderungen, die dadurch nicht geringer werden, dass auch heutige Gegner unserer liberalen Demokratie die Rekonstruktion begrüßen und – öffentlich – unterstützen.

Sogar über die Hohenzollern selbst, das preußische Königs- und deutsche Kaiserhaus, diskutiert die Öffentlichkeit. Den Anlass dafür bilden weitreichende Entschädigungsforderungen der Familie des letzten deutschen Kaisers. Vordergründig geht es dabei um den Anteil der früheren Herrscherdynastie und insbesondere des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm, des ältesten Sohns Wilhelms II., am Aufstieg und an der Machtübernahme des Nationalsozialismus. Haben die Hohenzollern, hat der Kronprinz der Diktatur Vorschub geleistet? Tatsächlich aber geht es um das Bild der Hohenzollern in der deutschen Geschichte, um das Bild Preußens und das Bild des Kaiserreichs. Warum, so fragt man sich, vertreten die Nachkommen des letzten Kaisers ihre Forderungen seit einiger Zeit mit so großem Selbstbewusstsein? Glauben sie die Öffentlichkeit auf ihrer Seite? Verspüren sie durch den Zeitgeist, das politische und gesellschaftliche Klima Rückenwind? Zu den Dynamiken einer Renationalisierung, die seit einiger Zeit in Europa und weltweit zu beobachten sind – und von denen sich die Bundesrepublik lange verschont glaubte – gehört in Deutschland fraglos ein veränderter Blick auf das Kaiserreich.

In diese Entwicklung fällt – am 18. Januar 2021 – der 150. Jahrestag der Reichsgründung von 1871. Jahrestage kommen ungerufen. Das hat Bundespräsident Gustav Heinemann 1971 festgestellt, als sich die Gründung des deutschen Kaiserreichs zum 100. Mal jährte. Weil die nationale Frage gerade jetzt wieder schärfer, zum Teil aggressiver gestellt und intensiver diskutiert wird und weil in dieser Auseinandersetzung Geschichtsbilder und Geschichtsdeutungen eine wichtige Rolle spielen, wird in diesem Buch der Versuch unternommen, die Reichsgründung von 1871 und den damals errichteten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, im Licht der Gegenwart zu betrachten. Es ist historische Darstellung und geschichtspolitische Intervention. »Das, was war«, so hat es der Historiker Johann Gustav Droysen einst formuliert, »interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinne noch ist und wirkt.«3 Wirkt das deutsche Kaiserreich anderthalb Jahrhunderte nach seiner Gründung noch auf die Bundesrepublik von heute nach? Wie blicken wir vom Beginn des 21. Jahrhunderts auf den deutschen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts? Wie verhalten sich der 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles begründete deutsche Nationalstaat und der Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland zueinander?

Es ist die Geschichte des 1871 gegründeten Nationalstaats selbst, jenes Reiches, das nach einem »Höllensturz« (Ian Kershaw) in Krieg und Gewalt versank, die das Deutschland der Gegenwart von der Reichsgründung des Jahres 1871 trennt – und das nicht nur staatsrechtlich. Das schließt historische Erinnerung nicht aus – im Gegenteil. Im Sinne kritischer Reflexion ist diese Erinnerung heute wichtiger denn je. Aber es verbieten sich simple nationalhistorische und nationalpolitische Kontinuitätspostulate und ein Jubiläumsgedenken, das den deutschen Nationalstaat der Gegenwart als Fortsetzung des Nationalstaats von 1871 ansieht und versucht, ihn in dessen Tradition zu stellen. Alles, was uns das Reich von 1871 heute noch zu sagen hat, unterstreicht Distanz und Diskontinuität, und das gilt nicht nur für den Nationalsozialismus, es gilt auch für das Kaiserreich. Allein die Weimarer Republik kann einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik beanspruchen. Die historische Vergegenwärtigung der Reichsgründung und ihrer Folgen wird durch diese Distanz erleichtert und erschwert zugleich. Erleichtert, weil Distanz einen weiteren Blick und klarere Urteile ermöglicht. Erschwert, weil Distanz und retrospektives Wissen oftmals zu einer Urteilsbildung führen, in der die Zukunft der Vergangenheit nicht als offen begriffen wird, sondern als geschlossen und determiniert. Für das Kaiserreich heißt das: Sosehr der Nationalsozialismus – implizit oder explizit – Fluchtpunkt und Frageperspektive jeder Auseinandersetzung mit der Geschichte des 1870/71 gegründeten Nationalstaats ist, ja sein muss, so wenig waren sein Aufstieg, seine Machtübernahme, seine Herrschaft und seine Verbrechen im Jahr 1871 vorherbestimmt.

Vor diesem Hintergrund liegt dem Buch ein doppeltes Verständnis der Reichsgründung zugrunde. Die Reichsgründung, das waren zum einen jene Ereignisse der Jahre um 1870, in denen sich unter preußischer Führung und vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges der deutsche Nationalstaat formierte, eine Abfolge von Ereignissen, die ihren symbolhaften Höhepunkt in der Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles am 18. Januar 1871 fand. Aber als Nationalstaatsbildung war die Reichsgründung ein längerer Prozess, der sich aus politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dynamiken speiste, die zum Teil viele Jahrzehnte zurückreichten: in die Zeit der Französischen Revolution, der napoleonischen Herrschaft, des Vormärz und der Revolution von 1848. Und diese Dynamiken, am mächtigsten die der Nationalisierung und des Nationalismus, endeten nicht mit der Ausrufung des Reiches, sondern setzten sich fort weit über 1871 hinaus. In den Jahrzehnten nach 1871 nahm der Nationalstaat Gestalt an, er entwickelte und veränderte sich. Ein autoritärer Nationalstaat ist das Kaiserreich freilich bis zu seinem Ende geblieben. Das bestimmte und begrenzte die Möglichkeiten des Wandels.

Von den Schatten des Kaiserreichs handelt dieses Buch. Es erhebt nicht den Anspruch einer Gesamtdarstellung. Politikgeschichtlich akzentuiert wird das Kaiserreich als ein autoritärer Nationalstaat charakterisiert, ausgestattet zwar mit liberalen und demokratischen Potentialen, aber doch bis zu seinem Ende beherrscht von einer politischen Ordnung und von politischen Interessen, die den Durchbruch zu einer parlamentarischen Demokratie verhinderten. Was immer möglich gewesen sein mag, es ist nicht geschehen. Das demokratische Wahlrecht der Männer wurde durch die Schwäche des Reichstags konterkariert, eine vitale Zivilgesellschaft und ein reiches kulturelles Leben blieben autokratisch gedeckelt. Das Kaiserreich war ein funktionierender Rechtsstaat, es verfügte über eine effiziente Verwaltung. Sein Sozialversicherungssystem war fortschrittlich und begründete ein bis in die Gegenwart wirksames Modell von Sozialstaatlichkeit. Doch Sozialstaat und Sozialistengesetze gehörten zusammen, waren zwei Seiten einer repressiven Politik der Bedrohungsabwehr. Dass die Reichsgründung als Revolution von oben erfolgte, überschattete das Kaiserreich bis zu seinem Untergang.

Zur Rechtfertigung und Stabilisierung des autoritären Staates, jenes »Machtstaats vor der Demokratie«,4 trug der Nationalismus entscheidend bei. Auch sein Schatten lag über dem Nationalstaat. Abgrenzung und Ausgrenzung waren konstitutive Elemente des deutschen Nationalismus lange vor 1871. Und das verstärkte sich nach der Reichsgründung noch. Feindbilder und Gegensatzkonstruktionen im Innern wie nach außen sollten nationale Zusammengehörigkeit und – ex negativo – nationale Identität stiften. Später wirkte auch eine aggressive Weltpolitik daran mit, eine imperiale Machtentfaltung, zu welcher der deutsche Kolonialismus gehörte, dessen Folgen bis heute spürbar sind. Angelegt schon in der Ära Bismarck, radikalisierte sich der Nationalismus in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Für den Weg in den Krieg und den Entschluss zum Krieg im Sommer 1914 war dieser radikale, völkisch aufgeladene Nationalismus von entscheidender Bedeutung. Antisemitismus charakterisierte ihn von Anfang an.

Im Vorfeld des 150. Jahrestags der Reichsgründung treten an die Stelle kritischer Distanz immer häufiger affirmative Bekenntnisse zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und zu einer nationalstaatlichen Kontinuität. Als sei mit der deutschen Vereinigung 1990, die politisch, rechtlich und historisch alles andere als eine Wieder-Vereinigung war, das 1945 untergegangene Deutsche Reich wieder erstanden. Historikerinnen und Historiker haben einen Anteil an dem als »normale« Nation weich gezeichneten Kaiserreich. Nicht alle verfolgen dabei eine neonationalistische Agenda. Aber auch ein Nationsverständnis, das mit Blick auf das Kaiserreich primär auf Demokratisierung und Egalisierung abhebt, übersieht die Schattenseiten des Nationalismus, das Ausgrenzende, die Exklusion derer, die nicht zur Nation gehören sollten, den Imperativ der politischen, kulturellen und nicht zuletzt ethnischen Homogenisierung. Geschichtsbilder, die die Modernität, die Fortschrittlichkeit und die kulturelle Dynamik des Kaiserreichs und seiner Gesellschaft betonen, überdecken die Persistenz autoritärer Strukturen, die anhaltende soziale Fragmentierung, den aggressiven Militarismus, einen brutalen, zum Teil völkermörderischen Kolonialismus und die sozialdarwinistisch unterfütterte Ideologie nationaler Machtstaatlichkeit.

Nach 1945 hat es lange gedauert, bis das Kaiserreich zur historisch abgeschlossenen Epoche werden konnte. In der frühen Nachkriegszeit zeichneten Historiker ein Bild des Kaiserreichs, das vor allem dem Zweck diente, angesichts der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Verbrechen sowie angesichts der deutschen Teilung die Idee der Nation und des deutschen Nationalstaats zu retten. Kritisch war dagegen das Kaiserreichbild deutscher Emigranten, aber auch das des Hamburger Historikers Fritz Fischer. Dieser sorgte mit seinen Thesen zur Entstehung des Ersten Weltkriegs und zur Verantwortung des Kaiserreichs und seiner Eliten in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit für scharfe Kontroversen, fand aber großen Widerhall gerade in einer jüngeren Generation. In der Denkfigur des deutschen »Sonderwegs« bündelte sich diese kritische Deutung. Weit über die Geschichte des Kaiserreichs hinaus lag die Bedeutung der Sonderwegsthese darin, dass sie Kontinuitätslinien über das Jahr 1918 hinaus postulierte und 1871 mit 1933 verband. Durchgesetzt hat sich die Sonderwegsthese am Ende nicht, auch weil sie die deutsche Geschichte am Standard einer westlichen Normalentwicklung maß und die Geschichte der westlichen Nationen idealisierte und verklärte. Aber das entwertet nicht die Ergebnisse der von der Sonderwegsthese ausgehenden Forschung, und vor allem macht es nicht die Frage nach den Verbindungen von Kaiserreich und Nationalsozialismus obsolet, nach jenen Schattenlinien, von denen der Historiker Thomas Nipperdey gesprochen hat.

Je stärker man das Kaiserreich vom »Dritten Reich« trennt, desto mehr erscheint der Nationalsozialismus wieder als »Betriebsunfall« der deutschen Geschichte, wie der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern schon vor mehr als fünfzig Jahren auf dem Berliner Historikertag feststellte.5 Wenn man das Scheitern der Weimarer Republik, ihre Zerstörung sowie den Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten erklären will, dann muss man frei von jedem Determinismus den Blick auch auf die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts und auf das Kaiserreich richten. Der Hinweis allein auf den Ersten Weltkrieg, die Kriegsniederlage und ihre Folgen reicht nicht aus, weil er nicht zuletzt die Dispositionen ausblendet, welche die Wahrnehmung von Niederlage, Revolution und Republikgründung bestimmten.6 Diese Dispositionen entstanden im Kaiserreich. Und auch der Weltkrieg selbst ist nicht zu erklären, wenn man nicht auch nach seinen tieferen, weiter zurückliegenden Ursachen fragt, beispielsweise nach jenem nationalen Bellizismus, der mit der Kriegsgeburt Kaiserreich untrennbar verbunden ist.7 Wer sowohl mit Blick auf den Ersten Weltkrieg als auch mit Blick auf den Nationalsozialismus die Frage nach dem Warum nicht völlig ausblendet, der muss sich mit der Geschichte des Kaiserreichs auseinandersetzen. Der 150. Jahrestag der Reichsgründung bietet dafür einen Anlass.

III Ein vergangenes Reich?

Geschichte ist immer Gegenwart. Die Nation, die er repräsentiere, sei eine andere Nation als das Deutschland von 1914, erklärte Bundespräsident Joachim Gauck, als sich 2014 der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Male jährte.1 Distanz zum Kaiserreich war auch seinen Vorgängern wichtig. Für Gustav Heinemann war der 18. Januar 1971 ein ungerufener Gedenktag. Nach einer Hundertjahrfeier war dem 1969 gewählten ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten nicht zumute. Allein schon wegen der deutschen Teilung stand für ihn die Bundesrepublik nicht in der Tradition des 1871 begründeten Nationalstaats. Außerdem habe dieser, so Heinemann in einer Fernsehansprache zum Jahrestag, zwar eine äußere Einheit geschaffen, nicht aber innere Freiheit und Demokratie. Doch auch die Geschichte seit 1871 stand aus seiner Sicht einem nationalen Feiertag im Weg: »Hundert Jahre Deutsches Reich – dies heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945.«2

Als fast zwei Jahrzehnte später, am 3. Oktober 1990, die deutsche Teilung zu Ende ging, war das für Bundespräsident Richard von Weizsäcker ein Beleg dafür, dass der Nationalstaat nicht am Ende sei, doch in die Tradition des Bismarck-Reiches stellte auch er den Nationalstaat Bundesrepublik nicht. Das Volk habe zwar damals – so wie 1990 – die schließlich 1871 geschaffene Einheit gewollt, es sei aber – anders als 1990 – an den Entscheidungen nicht beteiligt gewesen. Erstmals habe jetzt das ganze Deutschland seinen Platz im Kreis der westlichen Demokratien.3 Als wenige Monate darauf der Deutsche Bundestag über den künftigen Regierungssitz debattierte, führten sowohl Befürworter Berlins, das nach dem Einigungsvertrag deutsche Hauptstadt sein sollte, als auch Befürworter Bonns historische Argumente an. Dass Berlin auch die Hauptstadt des Kaiserreichs gewesen sei, tauchte als Argument gar nicht auf. Vielmehr erntete der CDU-Politiker Norbert Blüm, der mit einem Plädoyer für Bonn die Debatte eröffnete, parteiübergreifenden Beifall, als er erklärte, der deutsche Nationalstaat stehe am Ende des 20. Jahrhunderts »nicht mehr dort, wo er am Anfang stand. Wir haben uns nicht zum Deutschen Reich wiedervereint …« Das vereinigte Deutschland sei »nicht einfach die Verlängerung der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft«.4 War das Kaiserreich nach mehr als vier Jahrzehnten westdeutscher Demokratie und ostdeutscher Diktatur für die Berliner Republik tatsächlich nur noch Geschichte? War es ein vergangenes Reich?

Historiker gaben, wenig überraschend, in der Zeit nach 1990 unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Arnulf Baring etwa sprach von der Wiederkehr Deutschlands, das nun an seinen angestammten Platz in der Mitte Europas zurückkehre, von einer »geglückten Synthese aus Bismarcks Reich und Adenauers Rheinbund«.5 Wolfgang J. Mommsen, der in den 1990er Jahren eine große, freilich schon vor 1990 konzipierte Geschichte Deutschlands zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg vorlegte, hielt es zwar für unangemessen, in dem »wiedererstandenen deutschen Staat [dem vereinigten Deutschland von 1990; E.C.] nun eine Fortsetzung des deutschen Kaiserreichs« zu sehen, aber für ihn stand die Bundesrepublik seit 1990 nicht allein »in den geschichtlichen Traditionslinien, … die damals begründet worden sind«, sondern das Kaiserreich bildete in seiner Sicht auch »heute noch den zentralen Orientierungspunkt für die nationale Identität der Deutschen«.6 Das mag man als eine nicht zuletzt generationell bestimmte Sichtweise bewerten. Heinrich August Winkler, dessen 2000 erschienenes zweibändiges Werk Der lange Weg nach Westen als »politische Nationalgeschichte für die Berliner Republik« bezeichnet worden ist, sah – nach 1990 – die deutsche Geschichte »nicht länger als Widerlegung eines deutschen Nationalstaats oder gar des Nationalstaats schlechthin«. Nach dem Ende des antiwestlichen deutschen Sonderwegs 1945 endete für Winkler 1989/90 sowohl der postnationale Sonderweg der alten Bundesrepublik als auch der internationalistische Sonderweg der DDR. Das vereinte Deutschland war für ihn ein »demokratischer, postklassischer Nationalstaat unter anderen«.7 Aber haben sich die deutsche Geschichte und mit ihr die deutsche Geschichtsschreibung tatsächlich aus dem für sie so lange konstitutiven Bezug auf das Kaiserreich gelöst?

Ein Sonderweg in die Moderne?

Nationalgeschichte im Schatten der Katastrophe

Die Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus 1945 bedeutete zugleich das Ende des 1871 gegründeten deutschen Nationalstaats. Im beginnenden und rasch eskalierenden Kalten Krieg entstanden aus der alliierten Besatzungsherrschaft zwei Staaten. Die Bundesrepublik und zumindest zu Beginn auch die DDR erhoben zwar einen nationalen Anspruch – die Bundesrepublik verstand sich sogar staatsrechtlich als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches und hielt in der Präambel des Grundgesetzes am Ziel der Wiedervereinigung fest –, aber im Laufe der Jahrzehnte verfestigte sich die Teilung. Zwei Staaten existierten in Deutschland, so formulierte es Bundeskanzler Willy Brandt 1969, die füreinander nicht Ausland waren, und zu ihrem komplexen, von Abgrenzung und Verflechtung gleichermaßen geprägten Verhältnis gehörte zweifellos die gemeinsame nationale Geschichte. Aber konnte diese Geschichte, konnte die Geschichte des verlorenen, des in Krieg und Völkermord untergegangenen deutschen Nationalstaats eine Perspektive bieten für die Überwindung der Teilung? Waren nicht der nationale Staat und seine Geschichte durch die Verbrechen des Nationalsozialismus vollkommen diskreditiert? Wie konnte eine staatliche Ordnung – der Nationalstaat – zum politischen Fluchtpunkt werden, die zum Aufstieg einer Gewaltherrschaft und zu millionenfachem Mord geführt hatte? War nicht angesichts der deutschen Geschichte vor 1945 eine Rückkehr zum Nationalstaat ausgeschlossen? Als Karl Jaspers 1960 so argumentierte und der Philosoph insbesondere davon sprach, die Deutschen hätten mit »Auschwitz« jedes Recht verwirkt, eine Nation zu sein und einen Nationalstaat zu bilden, schlug ihm breite Ablehnung entgegen. Dass er den Deutschen selbst die Schuld gab an der Teilung und die Existenz zweier deutscher Staaten für historisch – und moralisch – gerechtfertigt hielt, löste einen Skandal aus.

Doch Jaspers verwies auf ein zentrales Problem historisch-politischer Selbstverständigung im Nachkriegsdeutschland: auf ein Geschichtsbild nicht zuletzt, in dem der Nationalsozialismus weithin aus der Kontinuität deutscher Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert und vor allem aus der Geschichte des Nationalstaats von 1871, des Deutschen Reichs, herausgelöst wurde. An der Entstehung und Stabilisierung dieses Geschichtsbilds hatte die Geschichtswissenschaft erheblichen Anteil. Deutsche Historiker wirkten daran entscheidend mit. Erschüttert blickte Friedrich Meinecke, der 1862 geborene liberale Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft, nach Kriegsende auf die »deutsche Katastrophe«, den Untergang des deutschen Nationalstaats, zu dessen historischer Legitimation Meineckes akademische Lehrer, unter ihnen Droysen, Sybel und Treitschke, im 19. Jahrhundert beigetragen hatten. Für Meinecke selbst waren Nation und Nationalstaat ebenfalls ein Lebensthema. Auch deshalb trieb den über achtzig Jahre alten Historiker, der sich schon früh vom Nationalsozialismus distanziert und deswegen 1935 nach fast vierzig Jahren als Herausgeber der Historischen Zeitschrift verdrängt worden war, der nationale Zusammenbruch um. Die Frage nach den tieferen Ursachen dieses Zusammenbruchs, der »furchtbaren Katastrophe, die über Deutschland hereingebrochen ist«, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Kritisch, auch selbstkritisch fiel Meineckes Blick auf die Unterhöhlung, ja die Vernichtung des Liberalismus im Prozess der Nationalstaatsbildung durch das Zusammenwirken des preußischen Militärstaats und eines national und machtstaatlich korrumpierten Bürgertums, dem er eine erhebliche »Mitverantwortung und Schuld … an allem, was die Katastrophen und insbesondere das Emporkommen des Nationalsozialismus vorbereitet hat«, zuwies. Meinecke, der 1948 noch Gründungsrektor der Freien Universität Berlin wurde, sprach von Borussismus und Militarismus als »schwerer Hypothek … auf dem Werke Bismarcks« und rang sich am Ende durch zu der für ihn schmerzhaften, aber nicht länger zurückzudrängenden Frage, ob nicht schon im Reich von 1871 »Keime des späteren Unheils … von vornherein wesenhaft steckten«.8

Nicht alle Kollegen wollten Meineckes zweifelnde Einschätzung teilen und damit auch ihr eigenes Werk und ihre eigene Biographie auf den Prüfstand stellen. Der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, Jahrgang 1888 und damit etwa eine Generation jünger als Meinecke, fragte zwar auch, wie es geschichtlich kommen konnte, »daß unsere Nation zur Gefolgschaft eines so extremen Militaristen werden konnte, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte – eines Dämons, der den guten deutschen Namen zum Schrecken und Abscheu Europas machte«?9 Aber schon in Ritters Frage lag seine Antwort – sein Versuch, durch den Begriff des »Dämons« und die Kategorie des »Dämonischen« die deutsche Nation und ihre Geschichte von Hitler zu trennen, den Nationalsozialismus als eine letztlich irrationale, von außen über die Deutschen gekommene Macht zu deuten, die sich daher auch der geschichtswissenschaftlichen Analyse und Erklärung entziehe und damit nicht zur nationalen Geschichte gehöre. Im vergangenheitspolitischen Klima der 1950er Jahre fielen solche Deutungsangebote auf fruchtbaren Boden, etwa wenn Erich Dombrowski, einer der Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in einem Leitartikel zum zehnten Jahrestag des 8. Mai 1945 nicht nur die angebliche Kollektivschuldthese der Alliierten zurückwies, sondern Hitler als einen »aus der Tiefe hervorgegurgelten Dämon« bezeichnete, der den Deutschen – Opfern dieses Dämons – einen Kampf gegen die eigene Nation aufgezwungen habe.10

Ritter, ein nationalkonservativer Historiker, Offizier im Ersten Weltkrieg, der die Machtübernahme der Nationalsozialisten und ihre vor allem außenpolitischen »Erfolge« zunächst begrüßt hatte, war später zum Regimegegner geworden. Ihm ging es in erster Linie darum, den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus nicht als kontinuierliche Fortentwicklung deutscher Geschichte zu betrachten und die Ursachen des Nationalsozialismus nicht in der deutschen Geschichte und in politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen insbesondere seit 1870/71 zu suchen. Das sollte helfen, die diskreditierte Idee der Nation zu retten, die sich tief in das Werk von Historikern seiner Generation eingeschrieben hatte und deren historisches Denken bestimmte. Zugleich – und in gegenwartspolitischer Wendung – musste man den deutschen Nationalstaat von 1871 von der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen trennen, um den im Grundgesetz festgeschriebenen Wiedervereinigungsanspruch zu stärken und um das – historische – Recht der Deutschen auf einen nationalen Staat zu stützen.

Eine Geschichtsschreibung über das Kaiserreich, die sich keine Tabus auferlegte, hatte es vor diesem Hintergrund schwer. Ansätze, ein kritisches Bild vom Kaiserreich zu entwerfen, die es in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik durchaus gegeben hatte, blieben marginal und wurden nach 1945 zunächst kaum aufgegriffen. Unter den kritischen Weimarer Werken sind die wichtigen Bücher von Johannes Ziekursch zu nennen, eines linksliberalen Kölner Historikers, der das Kaiserreich als Bollwerk gegen Demokratie und Parlamentarismus deutete.11 Aber auch die Schriften Eckart Kehrs, 1933 im Alter von nur dreißig Jahren gestorben, hatten in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit der Ära Adenauer keinerlei Bedeutung. Kehr, den Gerhard Ritter einen »Edelbolschewisten« nannte, hatte in seiner Dissertation – bei Friedrich Meinecke – die innenpolitischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der deutschen Flottenrüstung vor 1914 untersucht.12 Dass er dabei den Flottenbau und die aggressive deutsche Rüstungspolitik der wilhelminischen Ära primär auf innenpolitische Dynamiken und gesellschaftliche Interessen zurückführte, zielte perspektivisch bereits auf den Ersten Weltkrieg. Wenn es in der Gesellschaft des Kaiserreichs starke Kräfte gab, die – aus innenpolitischen Gründen – eine konfrontative Außenpolitik vertraten, was bedeutete das für den Weg in den Ersten Weltkrieg und insbesondere für die Frage nach der Kriegsschuld 1914?

Den Vorwurf einer deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg, so wie er 1919 auch in den Versailler Vertrag eingeflossen war, wies die deutsche Historikerzunft fast geschlossen zurück. Das änderte sich nach 1945 nicht. Gestützt durch gewichtige Stimmen aus dem Ausland, beispielsweise die Feststellung des ehemaligen britischen Premierministers David Lloyd George, Europa sei in den Krieg »hineingeschlittert«, sprach man von einer gemeinsamen Verantwortung aller europäischen Großmächte für den Ersten Weltkrieg und entlastete dadurch das Kaiserreich.

Diesem Konsens und dieser dominierenden Sichtweise widersprach der Historiker Fritz Fischer – geboren 1908 und damit zwanzig Jahre jünger als Gerhard Ritter – mit seinen Studien zur Vorgeschichte und zum Beginn des Ersten Weltkriegs, die er seit 1959 veröffentlichte. In seinem Buch Griff nach der Weltmacht (1961) wies er die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg eindeutig dem wilhelminischen Kaiserreich zu und gab damit eine klare Antwort auf die Kriegsschuldfrage. Und mehr noch: Zunächst nur angedeutet, postulierte Fischer in weiteren Publikationen eine Kontinuität deutscher Eliten weit über das Ende des Kaiserreichs hinaus, sprach von einem Bündnis der alten kaiserlichen mit den neuen, den aufsteigenden Eliten des Nationalsozialismus, die in ihrem Weltmachtstreben zueinander fanden.13 Auch auf die Identität der deutschen Kriegsziele im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt in Ost- und Ostmitteleuropa, wies Fischer hin. Damit aber war das »Dritte Reich« nicht aus der deutschen Nationalgeschichte gelöst, sondern integraler Teil, ja ihre konsequente Fortsetzung. Die »Fischer-Kontroverse«, die die Schriften des Hamburger Historikers auslösten, schlug bis in die Politik hinein hohe Wellen und wurde zum Medienereignis, weil sie die Geschichte des deutschen Nationalstaats und ganz besonders die des Kaiserreichs enttabuisierte. Zwar hatte Fischer seine Kontinuitätsthese hauptsächlich politikhistorisch und methodisch eher konventionell entwickelt, doch seine Positionen wirkten impulsgebend auf eine jüngere Historikergeneration, die nicht nur nach den politischen, sondern auch nach den gesellschaftlichen und strukturellen Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus fragte. Schon bald fand sie im deutschen Weg in die Moderne seit dem 19. Jahrhundert die Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus. Nicht nur um Kontinuität ging es, sondern auch um Kausalität.

Vom »deutschen Weg« zum »Sonderweg«

In der These vom »deutschen Sonderweg« sammelten und verdichteten sich die Überlegungen der Historikergeneration nach Fritz Fischer. Deutschland sei im 19. Jahrhundert von einer westlichen »Normalentwicklung« – den Normalitätsstandard setzte vor allem Großbritannien – abgewichen, und statt einer vom Individuum mit seinen Grundrechten und Grundfreiheiten her entwickelten liberalen Demokratie, statt Parlamentarismus und Pluralismus, hätten sich vom Staat her gedachte illiberale, obrigkeitsstaatliche politische Ordnungsvorstellungen herausgebildet und durchgesetzt. Dazu gesellte sich im Rückgriff auf Max Weber oder den amerikanischen Sozialwissenschaftler Thorstein Veblen das Argument einer politischen Rückständigkeit Deutschlands beziehungsweise einer Diskrepanz zwischen rasanter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Modernisierung einerseits und einer nicht nur verspäteten, sondern letztlich blockierten politischen Modernisierung andererseits. Diese erklärte man mit der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848, aber auch, wenn nicht vor allem, mit der Persistenz und den Machtinteressen der traditionellen Eliten im preußisch-kleindeutschen Kaiserreich. Das Kaiserreich selbst – seine Gründung und seine politische Verfassung – wurde in dieser Sichtweise zum Instrument dieser Eliten.

Der Befund eines Gegensatzes zwischen Deutschland und dem »Westen«, der den Kern der Sonderwegsthese bildete, war also, wie die Bezüge auf Weber oder Veblen zeigen, in den 1960er Jahren keineswegs neu. Er hatte seine Wurzeln im späten 19. Jahrhundert. Im Kern geht er zurück auf die kleindeutsch-borussisch geprägte Nationalgeschichtsschreibung, die spätestens seit der Reichsgründung nicht nur die Geschichte Preußens auf den Nationalstaat von 1871 zulaufen ließ, sondern die auch die Nationalstaatsgründung »von oben« – einschließlich der Reichsverfassung mit ihrem Parlamentarismusdefizit und der in ihr festgeschriebenen Dominanz Preußens – als deutschen Gegenentwurf zu westlichen Modellen und als »überlegenen Pfad in die Moderne« darstellte.14 Diese Gegensatzkonstruktion und mit ihr die »Ideologie des deutschen Weges« (Bernd Faulenbach) verschärfte und verhärtete sich, bellizistisch überformt, während des Ersten Weltkriegs. Die »Ideen von 1914«, ein starker, auf nationale Geschlossenheit gegründeter Staat, wurden den »Ideen von 1789« – Liberalismus, Demokratie und Menschenrechte – entgegengestellt, deutsche »Kultur« prallte auf westliche »Zivilisation«. Für Thomas Mann war in seinen in den Weltkriegsjahren entstandenen Betrachtungen eines Unpolitischen der Krieg ein neuer Ausbruch »des uralten deutschen Kampfes gegen den Geist des Westens sowie des Kampfes der römischen Welt gegen das eigensinnige Deutschland«.15

Kriegsniederlage, Revolution und Republikgründung bereiteten der Behauptung eines deutschen Sonderwegs kein Ende. Im Gegenteil: Gerade im nationalen Lager und auch in der Geschichtsschreibung verstärkten Kriegsende und Versailler Frieden die antiwestlichen Ressentiments, und die Weimarer Republik litt auch unter den Angriffen derer, die die parlamentarische Demokratie als aufgezwungenes, dem deutschen Denken und der deutschen Tradition wesensfremdes westliches Modell bekämpften. Aus der Gedankenwelt des deutschen Weges erwuchs nicht nur kein Widerstandspotential gegen Machtmissbrauch, Radikalnationalismus und Illiberalismus,16 sondern die mit dem deutschen Weg verbundenen Ordnungsvorstellungen begünstigten den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Durchsetzung seiner Herrschaft sogar noch. Insbesondere durch die Denkfigur der »Volksgemeinschaft« wirkte dabei auch der Gegensatz von – westlicher – Gesellschaft und – deutscher – Gemeinschaft als wichtige Brücke.17

In der deutschen Geschichtswissenschaft war davon nach 1945 wenig die Rede. Dort herrschte die Tendenz vor, den Nationalsozialismus gleichsam als Betriebsunfall darzustellen oder bei der Frage nach seinen Voraussetzungen nicht weiter zurückzugehen als bis zum Ersten Weltkrieg, der Niederlage von 1918 und ganz besonders dem Versailler Vertrag. Deshalb rüttelte Fritz Fischer mit seinen Thesen Historikerzunft und Öffentlichkeit so auf. Nur wenige Jahre nach Fischer fragte Ralf Dahrendorf in seinem 1965 erschienenen Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland18Kulturpessimismus als politische Gefahr19