Über das Buch

Anna Seghers Jahre im mexikanischen Exil – fulminant erzählt von Volker Weidermann

1941: Als Anna Seghers endlich die Flucht aus Europa gelingt, ahnt sie nicht, dass die Jahre in Mexiko ihr Leben entscheidend prägen werden. Hier wird sie mit der Veröffentlichung des »Siebten Kreuzes« in den USA über Nacht berühmt, hier schreibt sie ihre wichtigsten Werke und erfährt sowohl den Verlust der Mutter, die sie nicht mehr aus Nazi-Deutschland retten kann, als auch die eigene Endlichkeit, als sie bei einem schweren Verkehrsunfall fast stirbt. In den Jahren 1941 bis 1947 trifft sie in Mexiko Stadt nicht nur Diego Rivera, Frida Kahlo und Pablo Neruda, sondern auch deutsche Exilkommunisten und Juden, die wie sie mit dem Stalinismus ringen. Inmitten überbordender Farben, gleißenden Lichts und einer Kultur, die den Tod feiert, bleibt die Sehnsucht nach Europa …

Über Volker Weidermann

Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt, studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg und Berlin. Er war Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und ist seit 2015 Autor beim SPIEGEL. Zuletzt erschien von ihm »Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen« über die Münchner Räterepublik und »Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki«.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Volker Weidermann

Brennendes Licht

Anna Seghers
in Mexiko

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Buch lesen

Nachwort: Blaue Welt

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Impressum

Ausruhen, ausruhen. Vielleicht für immer. Hier im Licht. Ist das nicht angenehm? Nicht mehr kämpfen, nicht mehr diese Berge hinauf, immer wieder diese Berge. Still sein. Warten. Liegen. Vielleicht kommt die Welt ja zu ihr. Ganz von allein. Vielleicht ist alles ein Missverständnis. Vielleicht ist das Leben in Wahrheit gar kein Kampf. Und alles, was geschehen soll, geschieht. Sie kann hier einfach nur liegen. Und schauen. Und warten. Vertrauen. Das wäre ein Traum. Der Welt vertrauen. Vielleicht wird einfach alles gut, ganz ohne ihr Zutun, ohne ihren Kampf. Ganz ohne dass sie sich dagegenstemmt, gegen den Lauf der Welt. Vielleicht kann sie es alles nicht ändern. Sosehr sie auch kämpft. Vielleicht darf sie jetzt wirklich einfach hier liegen bleiben. Und warten. Und schauen. Und endlich, endlich ausruhen.

Anna Seghers in Mexiko. Sie liebt dieses Land, sie wollte nicht hierher. Sie wollte mit ihrer Familie nach New York. Aber New York wollte sie nicht. Ihre Tochter Ruth schaue so komisch, hatte der Arzt auf Ellis Island festgestellt. Ja, sie sei kurzsichtig, erklärte ihre Mutter. Ob Kurzsichtigkeit jetzt schon ein Grund sei, Menschen an der Grenze abzuweisen. Nein, das sei etwas Gefährlicheres, hatten die Einwanderungsbehörden entschieden und die Familie weitergeschickt. Nach all den Fluchten, aus Berlin, aus Paris, aus Marseille, aus Martinique, ging es – die Skyline von New York vor Augen – noch einmal weiter in dieses völlig unbekannte Land. So hatte Anna Seghers es auf dem Schiff in ihrem entstehenden Roman beschrieben und ihren Erzähler sagen lassen:

»Es gibt ja Länder, mit denen man schon aus der Knabenzeit her vertraut ist, ohne sie gesehen zu haben. Sie erregen einen. Gott weiß, warum. Eine Abbildung, ein Schlängelchen von einem Fluss auf einem Atlas, der bloße Klang eines Namens, eine Briefmarke. An Mexiko ging mich nichts an, nichts war mir an diesem Land vertraut. Ich hatte nie etwas über das Land gelesen, da ich auch als Knabe nur ungern las. Ich hatte auch über das Land nichts gehört, was mir besonders im Gedächtnis geblieben wäre. Ich wusste – es gab dort Erdöl, Kakteen, riesige Strohhüte. Und was es auch sonst dort geben mochte, es ging mich ebenso wenig an wie den Toten.«

New York wäre sie angegangen. Freunde warteten auf sie und ihre Familie, die Weiskopfs zum Beispiel und die Kantorowiczs, die gemeinsam mit ihnen die lange Reise von Europa gemacht hatten, waren schon an Land gegangen, ohne Probleme. Anna Seghers und ihre Familie nicht. Es war verrückt. Alles hätte jetzt gut werden können. Wenigstens eine Art von gut. So gut, wie es in der Welt am 22. Juni 1941 scheinen konnte. Ihr Literaturagent hatte ihr den Vertrag für die amerikanische Ausgabe ihres Romans Das siebte Kreuz nach Ellis Island gebracht. Und die USA – das war jetzt der Markt, der über Erfolg und Misserfolg eines Buches entschied. Es war ihr Lieblingsbuch, das Buch, an das sie von ganzem Herzen glaubte. An seine Wirkungsmacht vor allem. Wirkungsmacht zunächst ja für sie selbst. Das siebte Kreuz war eine Geschichte darüber, dass Widerstand möglich war. In einem totalitären Staat. In Deutschland, dass eine Flucht aus dem Konzentrationslager möglich war, dass es in Deutschland Menschen gab mit Mut und Kraft und einem guten Herzen. Ein Buch darüber, dass es auf den Einzelnen ankommt. Dort in Europa und hier auf der Flucht. Ihr Buch gegen die Verzweiflung, die eigene und die der Kämpfer gegen die scheinbar unbezwingbare Übermacht des Faschismus. Sätze wie diese, als Mantra in die Welt gesandt: »Ein entkommener Flüchtling, das ist immer etwas, das wühlt immer auf. Das ist immer ein Zweifel an ihrer Allmacht. Eine Bresche.«

Anna Seghers war selbst einer dieser Zweifel, sie und ihre Familie. Aber inzwischen etwas jämmerliche Zweifel, verzagte und erschöpfte Zweifel, vom Tode bedroht, abgewiesen, wie ein Giftpilz oder ein Virus gefürchtet. Ein Leben im ewigen Transit fürchtend. Warum nicht endlich bleiben dürfen? »Mein Sohn«, schrieb Anna Seghers auf dem Schiff in den entstehenden Roman, »weil sich alle Länder fürchten, dass wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.«

Und hier auf Ellis Island nun hatte sie auch diese fürchterliche und herrliche Nachricht erreicht: Deutschland hat die Sowjetunion überfallen. Das hieß: fürchterliche Angst, dass die deutsche Kriegsmaschine selbst gegen diesen übermächtigen Gegner einen schnellen Sieg erringen und damit endgültig alles verloren sein könnte. Es hieß aber vor allem auch: endlich wieder klare Fronten. Endlich wieder: gemeinsam gegen Hitler und sein Reich. Stalins Pakt mit Nazi-Deutschland war ja der schwerste moralische Schock für die kommunistischen Kämpfer im Exil gewesen. Ihr politischer Leitstern – verbündet mit dem Todfeind. Was war da noch die Grundlage, auf der man stand? Wo war fester Grund? Wer war der Gegner? Wo war Hoffnung? Viele der Mitkämpfer hatten sich damals, auch infolge der Moskauer Schauprozesse, vom Kommunismus abgewendet. Wie schwer war es danach gewesen, die Front geschlossen zu halten. Widersprüche abzuwehren. Anna Seghers war standhaft geblieben. Vollkommen standhaft. Wenn sie innerlich Zweifel hatte, so behielt sie sie für sich. Sie war nicht nur linientreu. Sie war selbst die Linie. »In einem Haus, in dem es brennt, kann man nicht einem Menschen helfen, der sich in den Finger geschnitten hat«, hatte sie schon 1935 auf dem 1. Internationalen Schriftstellerkongress gesagt, als es um die Freilassung des Trotzkisten Victor Serge und dessen Ausreise aus der Sowjetunion gegangen war. »Konterrevolutionär« sei die Übertreibung eines einzelnen Falles, hatte sie gesagt.

Ebenjener Victor Serge war nun mit ihnen auf dem Schiff gewesen, das sie aus Europa herausgebracht hatte. Und jener Leo Trotzki, dessen Anhänger er war, hatte einige Jahre zuvor in Mexiko Aufnahme gefunden, als kein Land der Welt mehr bereit war, ihn aufzunehmen. Der Todfeind Stalins. Die Verkörperung der sowjetischen Opposition, der Gründer der Roten Armee. Der Gegner. Inzwischen war er tot. An seinem Schreibtisch mit einem Eispickel erschlagen. Hinter hohen Mauern, von Wachleuten rund um die Uhr beschützt. Half alles nichts. Stalins Gegner waren nirgends sicher.

Anna Seghers wollte nicht nach Mexiko. Es war doch alles beinahe gut. New York vor Augen, den Buch-Vertrag unterschrieben, Stalin an ihrer Seite. Jetzt nur noch endlich runter von diesem verdammten Schiff. Es einfach machen wie ihr Lebensfreund Egonek, Egon Erwin Kisch, der rasende Reporter. Der vor Jahren trotz Einreiseverbots in Australien vom Schiff in hoher Höhe an Land gesprungen war. Und dann mit gebrochenem Bein und erhobenem Haupt als Reporterheld durchs Land gereist war und später ein Buch darüber geschrieben hatte. Und der dann, anderthalb Jahre vor Anna, auch hier wieder vom Schiff an Land gesprungen war – nachdem er nach langen Verhören auf Ellis Island ein Durchreisevisum erhalten hatte –, auf die Knie gefallen war, den Boden geküsst und einen Hotdog verlangt hatte.

Von seinem amerikanischen Verlag hatte er dann aber ganz andere Nachrichten erhalten als Anna später. Der Großverleger Alfred A. Knopf löste den bereits geschlossenen Buch-Vertrag über Kischs Lebenserinnerungen einfach auf. »Dies ist nicht das Buch, das ich mir von Ihnen erhofft hatte«, schrieb ihm Knopf. Es war ein Desaster für Kisch. Für wen jetzt noch schreiben? Wovon leben? Mit seiner Frau Gisela war er dann Anfang 1940 mit dem Zug nach Mexiko weitergefahren.

Anna Seghers will trotzdem hierbleiben. Wenigstens für einige Tage oder Wochen. Wenigstens hier und jetzt an Land gehen. Mit der Familie, kurz bleiben, frei sein, essen, ausruhen, mit Freunden reden, festen Boden unter den Füßen haben. Es geht nicht. Ihre lächerliche Machtlosigkeit hatte sie die ganze Flucht über, seit sie im Sommer 1940 Paris verlassen hatten, nicht so dramatisch gespürt wie jetzt. »Irrsinn« nennt sie es in einem Brief an den Freund F. C. Weiskopf. Ein amerikanischer Offizier hatte sich vor ihre siebzehnjährige Tochter Ruth gestellt, starrte sie sekundenlang an, ohne ein Wort zu sagen. Später stellte sich heraus, der Mann war Arzt, er untersuchte Ruth nicht weiter, schrieb aber auf einen Zettel, sie leide unter einem »disease of the central nervous system«. Sie wird zur näheren Untersuchung allein in ein Krankenhaus gebracht. Die Untersuchungen ergeben nichts, aber der erste Befund bleibt in den Akten, und der Familie wird vorgeworfen, eine schwere Erkrankung verheimlicht zu haben.

Die Wahrheit ist natürlich, nicht das Augenzwinkern von Ruth ist die Gefahr für das Land, sondern die politischen Überzeugungen der Mutter. Es hilft aber alles nichts. Die USA nehmen sie nicht auf. Und von Ellis Island ist noch niemand nach Manhattan gesprungen. Also weiter, immer weiter. In den Hafen der Welt. In das Land, das so viele Fliehende aufnimmt in diesen Tagen. Nach Veracruz, nach Mexiko.

Und hier endlich: die Welt. Endlich ankommen. Endlich die Sonne. Willkommen sein. So viel Schönheit. Sicherheit. Weit, weitab von jedem Krieg, jedem Kampf. Ob Mädchen blinzeln oder nicht, ist hier egal. Anna Seghers in Mexiko. Kaum war sie hier angekommen, schrieb sie schon, »ich fuehle mich hier fast besser als in New York«. Es war natürlich auch hier ein schwerer Kampf für sie als Mutter, Familienmanagerin im fremden Land, Erzählerin, Parteimitglied. Wohnung suchen, Geld organisieren, die Familie bei Freunden verstreuen, bis die erste kleine eigene Wohnung gefunden ist, immer wieder um Geld bitten, Schulen für die Kinder finden, Möbel kaufen, die Übersetzung des Siebten Kreuzes organisieren und selbst bezahlen, den großen Roman der Flucht, Transit, fertig schreiben, Vorträge halten, mit den Freunden einen Verlag gründen, den Heine-Club gründen, den Menschen hier vom anderen, vom guten Deutschland erzählen. Es war ein Wirbel und ein Kampf, und oft schien auch alles einfach nur vergeblich, hier, so fern der Heimat, so fern des Krieges, so fern der Entscheidungen. Egal unter Palmen. Klar, sie alle schrieben hier, klar, sie führten politische Diskussionen, beinahe wie zu Hause. Aber wen interessierte das? Es war vollkommen egal, was sie hier redeten unter dieser Sonne. Niemand konnte sie hören, drüben in der Heimat, die langsam unterging. Niemandem konnten sie helfen von den Freunden und Verwandten, die in Europa geblieben waren.

Und dann, im nächsten Sommer, war ihr plötzlich ein Märchen geschehen: Erfolg in den USA – und was für ein Erfolg! »Manna is pouring down«, hatte ihr F. C. Weiskopf am 24. Juni 1942 aus New York geschrieben. Binnen kürzester Zeit waren 300 000 Exemplare von The Seventh Cross verkauft, dann war es vom »Book of the Month«-Club ausgewählt worden, ein Buchclub mit gigantischer Mitgliederzahl, der einen weiteren sechsstelligen Absatz garantierte. Es bedeutete: Ende der Geldsorgen, Ende des Bettelns hier und dort. Und vor allem: Ende dieses Gefühls der Machtlosigkeit. Es war ihr Beitrag zu diesem Krieg.

Ein halbes Jahr zuvor, am 11. Dezember 1941, waren die USA in den Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten eingetreten. Die amerikanische Bevölkerung war – trotz Pearl Harbor – keineswegs vollkommen überzeugt von der Notwendigkeit der Beteiligung ihres Landes an diesem fernen Krieg.

Anna Seghers’ amerikanischer Verleger Angus Cameron hatte ihr die Wirkung, die kriegswichtige Wirkung ihres Buches in seinem Land in einem Brief beschrieben: »Die Rolle, die es dabei spielt, dem amerikanischen Volk in einer sehr entscheidenden Zeit die wirkliche Beschaffenheit der Vorgänge in Deutschland klarzumachen, seine Rolle, deutlich zu machen, dass der Präsident recht hat, wenn er sagt, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem deutschen Volk und den Nazis, all diese Dinge machen mich stolz darauf, dass das Buch eine so weite Verbreitung gefunden hat. Ich glaube, dass The Seventh Cross einen wirklichen Anteil hat an der politischen Erziehung des amerikanischen Volkes in diesem antifaschistischen Krieg.«

Den amerikanischen Soldaten wurde der Roman in einer gekürzten Version zur Ertüchtigung, Ermutigung und Unterhaltung auf die Schlachtfelder Europas mitgegeben. Und Hollywood plante sogleich, einen Film daraus zu machen.

Ihr Buch – endlich auf dem Weg um die Welt. In der Sowjetunion war der Vorabdruck in einer wichtigen Zeitschrift 1939 mittendrin einfach gestoppt worden. Die Buchausgabe konnte auch nicht erscheinen. Eine offizielle Begründung gab es natürlich nicht. Aber den Lesern und ihr, der Autorin, war klar: Auch das war eine Folge des Paktes mit Hitler gewesen. Ihr Buch hatte plötzlich den falschen Gegner gehabt. Wie groß ihr Schreck damals. Und wie groß seitdem ihre Angst. Es konnte immer alles geschehen.

War aber jetzt nicht alles gut? Nicht nur kämpfte die Sowjetunion zusammen mit beinahe dem Rest der Welt gegen Hitler, seit dem Jahreswechsel 1942/43 schien auch endlich der Sieg beinahe sicher. Die Schlacht um Stalingrad war gewonnen, das Pendel schlug endlich langsam, unendlich langsam in die andere Richtung aus. Der Sieg würde kommen. Die Heimkehr war nicht mehr ein unrealistischer Traum. Und die Kämpfer hier, die Wartenden, die Schreibenden, die fern der Schlachten Sitzenden – bereiteten sich innerlich auf die Rückkehr vor, mochte sie auch in noch so ferner Zukunft liegen.

Und dann hatte sie für die Familie eine neue Bleibe gefunden, ein kleines Haus ganz für sie vier allein. Sie würden endlich ausziehen, aus der kleinen engen Wohnung in dem zweistöckigen Mietshaus in der Calle Rio de la Plata. Ein Haus für sie, ein Eckhaus, nicht weit vom Heinrich-Heine-Club entfernt, mit genügend Platz, damit sich ihr Mann Rody in sein Denkerzimmer einschließen konnte, und für sie – gab es Luft und Sonne. Eine kleine Dachterrasse auf dem Haus. Wie würde sie dort oben schauen und erzählen und schreiben können. Mit Blick über die Häuser, über die Bäume. In der Mitte zwischen zwei Fahrbahnen ist ein Fußgängerweg, der von Bäumen gesäumt ist. War jetzt nicht alles auf einem guten Weg? Konnte der Fels nicht jetzt langsam, wenn auch der Umzug von ihr bewältigt sein würde, für einige Momente beiseitegerollt werden? Und danach: leichter werden auf Dauer?

Nein. Sicher nicht. Seitdem eine Rückkehr in absehbarer Zeit vorstellbar war, waren die Kämpfe in der kleinen Gruppe der kommunistischen Emigranten schärfer geworden. Sie fingen beinahe alle an, sich in Position zu bringen für die große Zeit danach. Für die Zeit nach dem Sieg, in der sich alle Mühsal auszahlen würde. Wenn sie alle, wenn ihre Partei an der Macht sein würde. Und sie alle im Glanz und im Recht. Dazu kam jedoch die Angst. Es gab so viel Missgunst, Neid und kleine Kämpfe. So unendlich viele Möglichkeiten und Fragen, in denen man unterschiedlicher Meinung sein konnte. Was war die richtige Haltung? Wer bestimmte darüber? Würde für sie alle Platz im Licht sein? Natürlich nicht. Mit der Hoffnung wuchs auch die Angst. Das hier war Mexiko, nicht Moskau. Die Entscheidungen für die Zukunft wurden so weit entfernt getroffen. Niemand konnte ahnen, wie sie ausfallen würden. Wird man sie überhaupt willkommen heißen, im neuen Deutschland? Sie alle auf jeden Fall nicht. Wer hatte die besten Kontakte nach Moskau? Wer schrieb schon jetzt Berichte über die anderen Parteimitglieder? Ihre abweichenden Meinungen. Ihre Frechheiten und Freiheiten. Fernab der Macht? Oh, die Kämpfe begannen erst. Der große Sieg war noch fern. Aber man konnte ahnen, wohin das führen würde.

Anna Seghers ahnte es.

Aber diese Kämpfe würde sie bestehen. Sie war geübt darin, eigene Zweifel zu unterdrücken, geübt darin, der offiziellen Parteilinie zu folgen, sie zu ihrer zu machen, offiziell, sich selbst vor den Augen der Genossinnen und Genossen in diese Linie zu verwandeln und im Hintergrund zu versuchen, in ihrem Sinne zu wirken. Es ging ihr an die Nerven, aber sie war bereit und gestählt.

Nein, nein, was ihr Leben hier in der grellen Sonne verdunkelte, das war das Wissen um ihre Mutter in Mainz. Ihren Ich-Erzähler in Transit hatte sie in Europa ausharren lassen. Den Kontinent, die Kämpfenden nicht im Stich lassen – das war seine Strategie. Und sie selbst hatte die Flucht gewählt. Hatte sie eine Wahl gehabt? Im besetzten Frankreich bleiben? Mit Mann und Kindern? Nein, das war keine realistische Option gewesen. Aber ihre Mutter hatte sie in Mainz zurückgelassen. Ihre Mutter Hedwig Reiling und ihren Vater Isidor, der aber war, drei Tage bevor das alte Paar aus seiner Wohnung geworfen und in ein sogenanntes Judenhaus umgesiedelt werden sollte, 1940 gestorben. Sie waren gläubige Juden, Isidor hatte Annas Geburtsurkunde damals nicht unterschrieben, weil Sabbat war. Der Beamte hatte die Lücke auf dem offiziellen Bogen pflichtschuldig so begründet. Derselbe Beamte, der dem Vater verboten hatte, seiner Tochter den Namen Jeanette zu geben. Das sei zu französisch, erklärte er. Netty sei doch auch schön. Und viel deutscher. Gut, also Netty. Später sollte sie ja mit ihren Namen, Vor- und Nachnamen, sehr frei und dichterisch verfahren. Seghers hatte sie sich erst als Schriftstellerin genannt. Ohne Vornamen zunächst, so dass Hans Henny Jahnn, der sie 1925 für den renommierten Kleistpreis vorschlug, dachte, er würde einen Mann auszeichnen.

Als Netty war sie neben ihrem Vater durch die Straßen von Mainz gehüpft. Hatte andächtig den Mainzer Dom besichtigt und den Erzählungen des Vaters gelauscht. Der war Kunsthändler, der erste der Stadt am Rhein. Sogar für den Kurfürst in Darmstadt kaufte und verkaufte er Werke. Er hatte sie für die Kunstgeschichte begeistert, so dass sie das Fach in Heidelberg studierte. Jetzt war ihr Vater tot, die Nachricht hatte sie noch in Frankreich erreicht. Aber ihre Mutter lebte. Gleich nach der Ankunft in Mexiko hatte sich Anna Seghers um ein Visum für sie bemüht. Hatte es schließlich auch bekommen – aber es war vergebens. Das Deutsche Reich ließ seit August 1942 keine Juden mehr ausreisen. Und Hedwig Reiling war 62 Jahre alt. Wie hätte ihre Tochter von Mexiko aus die Flucht der Mutter aus Mainz über Frankreich, über den Atlantik organisieren, wie bezahlen sollen? Es war ausgeschlossen. Aber gar nichts tun? In Mexiko sitzen, schreiben, diskutieren, während ihre Mutter in Mainz – ja – was? Einmal hieß es plötzlich, sie werde nach Schanghai deportiert. Um Himmels willen – nach Schanghai? Allein? Warum? Was dort? Das war doch Wahnsinn. Doch jeder Wahnsinn war glaubhaft in dieser von Wahnsinn regierten Welt. Aber letztlich – Anna Seghers wusste, was geschehen würde. Eine Weile lang waren noch Briefe der Mutter aus Mainz zu ihr nach Mexiko gekommen. Seit einer Weile kamen keine mehr. Hier zu sitzen und die Mutter dort zu wissen, hilflos, allein, ausgeliefert der Maschine. Wie furchtbar jetzt – ihre so bildstarke Phantasie, ihre grauenhafte Vorstellungskraft. Sie, die den ersten Roman über die deutschen Konzentrationslager geschrieben hatte, diesen Roman, der nun um die Welt ging. Und sie wusste, dass sie im Vergleich zu der inzwischen eingetretenen Wirklichkeit ein harmloses Konzentrationslager beschrieben hatte. Nun musste sie sich die Fahrt ihrer Mutter vorstellen, den Abtransport, eingezwängt zwischen den letzten Juden von Mainz. In Richtung Osten, in Richtung Tod.

In Wahrheit war es längst geschehen. Am 20. März 1942 hatten sie Hedwig Reiling aus dem Judenhaus geholt und zusammen mit tausend hessischen Jüdinnen und Juden in das KZ Piaski bei Lublin deportiert. Wie und wann und wo genau sie starb, hat ihre Tochter nie erfahren. Niemand, der nicht dabei gewesen ist, weiß es.

Aber wie gut weiß Anna Seghers noch, wann sie sie zum letzten Mal gesehen hat. Die Mutter. Das war im Sommer 1933 auf dem Bahnhof in Straßburg. Sie hatte den kleinen Peter aus einem Kinderheim im Schwarzwald abgeholt, Ruth war schon bei ihr und ihrem Mann in Mainz gewesen, um eine Scharlach-Erkrankung auszukurieren. Nun brachte ihre Großmutter die beiden Enkel zu ihrer Mutter. In Straßburg wollte sie die Kinder übergeben. Auf der Fahrt dorthin wies die Großmutter die Enkel auf die Farbe der Fahnen auf der anderen Rheinseite hin. Peter meinte: Unsinn, das seien doch genau die gleichen Farben. Doch die Großmutter beharrte auf dem kleinen Unterschied zwischen den Farben des Deutschen Reiches und der Französischen Republik: »Aber nein, sieh doch genau hin, das ist kein Schwarz, sondern Blau.« Ein feiner Unterschied. Eine andere Welt.

Dort am Bahnhof dann sahen sie sich zum letzten Mal. Die Großmutter sah ihrer Tochter so ähnlich. Nur ein klein wenig kräftiger, fröhlicher, sie lachte öfter mit großen weißen Zähnen, ein großes Lachen. Ihre Haare waren auch grauer, aber da holte die Tochter schnell auf. Hedwig Reiling aus Mainz hat den Enkeln nach Paris noch jahrelang Bücher geschickt, deutsche Bücher, damit sie die Sprache nicht verlernten und die Heimat nicht vergaßen. Nein, nach Mexiko hatte sie keine Bücher mehr geschickt. Nun waren sie seit vielen Monaten ganz ohne Nachricht von ihr. Und wie immer, wenn man mit aller Kraft versucht, an etwas nicht zu denken, denkt man unaufhörlich daran.

Dann kam dieser Abend im Juni 1943. Anna Seghers sollte einen Vortrag halten im Heinrich-Heine-Club,