Anna Gnehm

Gesplittert

Fragmente eines Lebens

Einleitung

Als Kind litt Nora an einer Leseschwierigkeit und erst in der dritten Klasse wurde dies bemerkt und darauf eingegangen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie es erfasst und begann unverzüglich, auch selber zu schreiben. Die alltäglichen Begebenheiten waren der Ausgangspunkt dafür, mit lebendiger Fantasie wurden Geschichten daraus. Es war für sie ein Bedürfnis, die Ereignisse ihres Lebens in Erzählungen wiederzugeben. Aber niemals teilte sie diesen Bereich ihrer Persönlichkeit mit jemandem, es war einzig der Drang, Schilderungen zu gestalten, der sie dazu veranlasste und motivierte.

Und so fuhr sie fort, alle Begebenheiten, die sie losgetreten hatte oder ihr widerfahren waren, als Geschichten zu erzählen. Es waren die wichtigen Ereignisse ihres Lebens, die sie berührt, beeindruckt und beeinflusst hatten.

Mit zunehmendem Alter begann sie sich jedoch zu fragen, warum ihr denn diese Dinge zugestossen waren. Hatte sie selber durch falsche Entscheidungen alles verursacht oder war es vielleicht sogar ihr Schicksal?

Alle diese Ereignisse waren es, wie Stolpersteine in ihrem Leben, welche ihre Persönlichkeit prägten, und sie öfters zu einem Beschluss führten, den sie weder gewünscht noch gesucht hatte.

Trotz all dieser Erfahrungen hat sie ihren heiteren Sinn bewahren können, hat sich mit all den Umbrüchen ausgesöhnt und geht ihren Weg voll Zuversicht und mit einer lebensbejahenden Grundhaltung weiter.

Der Anfang

Die beiden kleinen Mädchen spielten selbstvergessen in ihrem sonnigen Zimmer. Ihr Bruder war erst drei Monate alt und für die zwei noch unbedeutend. Das Krankenschwester Spiel war bereits vorbei, ebenso das des Krämerladens, und nun spielten sie „Postbüro“. Die ältere Vera, sie mochte ungefähr knapp sechs Jahre alt sein, gab durchwegs den Ton an, und die jüngere Nora, gut dreijährig, spielte gehorsam mit. Manchmal rebellierte sie zwar und wollte auch einmal die bestimmende Rolle haben, aber das war völlig aussichtslos bei ihrer überlegenen und herrischen älteren Schwester.

Es kam den beiden seltsam vor, dass sich an diesem Morgen niemand um sie kümmerte, aber es beschäftigte sie nicht sonderlich und sie spielten selbstvergessen weiter. Dann fiel ihnen ein, dass sie eine Kissenschlacht veranstalten könnten. Sie hüpften auf ihren Betten herum, es wurde laut und ungestüm, sie kicherten, kreischten, lachten und genossen ihr Spiel in vollen Zügen.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und eine grosse, hagere Frau in schwarzer Kleidung stand im Türrahmen. Sie machte einen resoluten, harten Eindruck und erhob ihre tiefe und irgendwie raue Stimme. Eine strenge und laute Strafpredigt ging auf die beiden nieder. „Wie könnt ihr so laut und rücksichtslos sein, wo doch euer Vater gestorben ist. Schämt euch, ihr Zwei!“ Nora verstand kein Wort davon, aber sie begriff, dass es etwas Ernstes sein musste und mit ihrem Vater zu tun hatte. Von diesem Tag an fürchtete sie sich vor der Mutter ihres Vaters, vor deren Stimme und Strenge, bis zu dem Zeitpunkt, als sie selbst erwachsen war.

Für Nora war ihr Vater ein sehr hoher, langer Mann, der bei ihr nur einen diffusen Eindruck hinterlassen hatte. Sie erinnerte sich, dass er sie manchmal in die Luft warf und dann wieder auffing. Insgeheim hasste sie dies, weil sie eine unheimliche Angst dabei verspürte, dass er sie verpassen könnte und sie dann mit voller Wucht auf den Boden knallen würde. Dennoch wehrte sie sich nie, denn sie hoffte jedes Mal, die Angst sei für immer verschwunden. Dem war leider nie so.

Ihr Vater trug Vera täglich, wenn er die Treppe hinunterging, auf seinen Schultern und hüpfte dabei wie ein Pferd im Galopp die drei Stockwerke hinab. Nora schaute zu und bat immer, auch einmal reiten zu dürfen. Die Antwort war stets ein Nein: „Du bist zu klein, es wird dir sicher übel dabei“. Sie aber fuhr fort zu betteln, denn sie hatte festgestellt, dass es ihrer Schwester nie übel geworden war. Deshalb war sie dermassen hartnäckig, dass er sie tatsächlich eines Tages auf seinen Schultern reiten liess. Unten angekommen fühlte sie sich wackelig auf den Beinen, ihr war schwindlig und schlecht. Sie wusste nun, dass ihr Vater recht gehabt hatte, sie schämte sich und nahm sich aussergewöhnlich zusammen, denn sie wollte keinesfalls von ihm hören, dass er es ihr ja vorausgesagt hatte.

Nora stellte nach und nach fest, dass der grosse Mann in der Familie nicht mehr vorhanden war. Ihre Schwester versuchte ihr klar zu machen, dass es ihr verstorbener Vater sei, der jetzt fehlte. Was sterben bedeutete verstand Nora nicht, aber sie spürte, dass die Stimmung in der Familie eine andere geworden war, seit er nicht mehr da war.

Eines Tages setzte sich ihre Mutter auf die kleine, gelb gestrichene Bank im Korridor und fing an, bitterlich mit den Händen vor ihrem Gesicht zu weinen. Nora schaute ihr zu, erschrak zutiefst und wusste nicht, wie weiter, denn sie fühlte sich völlig hilflos und verunsichert. Der Zustand ihrer Mutter war so neu und beängstigend, dass sie erstarrt und voller Angst einfach stehen blieb und ihre Mama betrachtete. Dann folgte sie einer unbewussten Eingebung, setzte sich einfach daneben und begann, ebenso herzzerreissend und erbärmlich zu schluchzen und zu weinen.

Ungefähr ein halbes Jahr später zog die Mutter mit ihren drei Kindern von Zürich wieder in die Nähe von Bern, von wo sie herkam. Auch ihr Vater und seine Anverwandten lebten dort, ebenso wie ihre Schwiegereltern und deren Familie.

In einem Zweifamilienhaus mit Garten hatte sie eine Dreizimmer Wohnung mit verglaster Veranda und direkter Treppe in den Garten gefunden. In diesem Wintergarten konnten Vera und Nora hingebungsvoll und stundenlang miteinander spielen, solange sich Nora den ewigen Anweisungen ihrer älteren Schwester unterzog.

Nach geraumer Zeit besuchte Vera den Kindergarten und später die Schule. Nora fing an, sich mit ihrem kleinen Bruder Lars zu beschäftigen. Sie setzte sich zu ihm ins Laufgitter und las ihm Geschichten vor, wobei sie wichtig ein Buch, jeweils auch verkehrt herum, auf ihren Knien im Gleichgewicht zu halten versuchte. Mit wanderndem Zeigefinger fuhr sie alsdann den Zeilen entlang und erzählte dem Kleinen irgendetwas. Er hörte zu, schaute sie an und war genauso gelehrsam und gefügig, wie Nora bei ihrer Schwester gewesen war.

Einmal wurde sie vom Teufel geritten und bat ihn, die Schuhsohlen ihrer Pantoffeln abzulecken, was er ohne Murren tat. Da erschrak sie sehr und wunderte sich, wie und warum sie ihn hatte dazu bringen können, so etwas Gruseliges zu tun. Sie schämte sich vor sich selber und wusste nicht, warum sie das getan hatte und er ihr auch noch gehorcht hatte. Gerne hätte sie es ungeschehen gemacht oder dem Bruder erklärt, dass es ihr leid tat; er aber war viel zu klein, als dass er dies hätte verstehen können.

Ein anderes Mal schnitt sie ihm mit einer grossen Schere einige seiner blonden Locken ab und erwartete einen heftigen Widerstand, ja sogar die Weigerung, damit sie sich mit ihm hätte auseinandersetzen können. Aber nichts Derartiges geschah, er liess alles willig mit sich geschehen, so dass es Nora verleidete, sich mit ihm abzugeben. Sie hatte gehofft, er würde widersprechen, weil sie gerne mit ihm gestritten hätte. Dafür war er höchstwahrscheinlich einfach noch zu jung.

Von nun an wartete sie nur noch sehnsüchtig auf den Zeitpunkt, wenn sie alt genug für den Kindergarten sein würde und freute sich riesig darauf. Sie hatte keine Vorstellung davon und war fest überzeugt, dass es ihr dort sicher bestens gefallen werde. Leider folgte die Ernüchterung nur zu schnell.

Anders

Warum war Nora anders?

Warum interessierten sie nicht die gleichen Dinge, wie all die andern?

Wie konnte sie dieses Gefühl des Fremdseins in ihren Griff bekommen?

Seit wann war es denn so?

Nora stand vor einem Berg von Fragen.

Der Weg in den Kindergarten erschien Nora sehr weit. Er führte durch Wiesen, dann an einem Bauernhof vorbei, über eine grosse Strasse, einem Bach entlang und über die kleine Brücke zum Gebäude des Kindergartens. Sie hatte sich danach gesehnt, endlich alt genug zu sein, um allein dorthin gehen zu können! Darauf freute sie sich jetzt umso mehr.

Bereits einige Wochen später stellte sie jedoch traurig fest, dass sie hier irgendwie nicht hineinpasste. Was auch immer sie sagte, tat oder machte, war auf eine gewisse Weise nicht richtig. Nicht eigentlich falsch, aber einfach nicht so ganz, wie es die anderen Kinder machten, und es das „Fröilein“ erwartete. Sie wurde getadelt, ja sogar ausgeschimpft und vor den anderen Kindern blossgestellt. Sie merkte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie irgendwie fremd war und hatte keine Ahnung, warum das so war und wie sie damit umgehen sollte, um auch dazu zu gehören.

Vorerst einmal begann sie damit, die andern zu beobachten, um heraus zu finden, was diese denn so anders machten als sie. Ein erleuchtender Erfolg blieb ihr versagt.

Eines Tages sollten alle ein Haus zeichnen, in dem sie gerne wohnen möchten. Nora malte ein Schloss auf einem Berg, zu dem ein kleiner Zickzack-Weg führte. Sofort wurde sie getadelt, denn es sollte ein Haus zum darin leben sein. Und nicht ein Luftschloss!

Bei anderer Gelegenheit sollte sie eine kleine Geschichte nacherzählen. Sie schmückte diese so fantasievoll aus, dass die Erzählung kaum mehr zu erkennen war. Die Vorstellungkraft des „Fröileins“ war völlig überfordert und es setzte wieder Schelte ab. Nora merkte, dass sie in dieser Gemeinschaft eine Fremde war.

Sie war traurig und verstört, denn sie gab sich stets Mühe und jedes Mal schien es falsch zu sein. Es machte sie ängstlich und sie äusserte sich kaum mehr, sondern versuchte, sich anzupassen. Deshalb tat sie nunmehr alles bedächtig, um bei den anderen Kindern abschauen zu können, wie diese eine Aufgabe lösten. Im Nachahmen war sie allerdings nicht sehr erfolgreich.

Wiederum stellte sie fest, dass sie irgendwie nicht in das Muster passte, etwas war bei ihr anders und sie fühlte sich nicht zugehörig. Sie war scheinbar zu abweichend von der Norm, weshalb sie merklich passiv und zögerlich wurde, da sie keinesfalls mehr als andersartig auffallen wollte. Aus diesem Grund ging sie eigentlich nur noch widerwillig in den Kindergarten und verlegte ihre Hoffnung auf den Schuleintritt. Dabei bildete sie sich ein, dort würde es dann nicht mehr so sein, sondern viel besser.

Das Einzige, was ihr den Kindergarten noch erträglich machte, war, dass sie sich auf ihre kindliche Art, aber durchaus ernst und bewusst, in einen ihrer Kameraden verguckt hatte. Er hiess Eduard, war grösser als sie und sang die zweite Stimme, was ihr unheimlich Eindruck machte. Von ihr und ihrem Gemütszustand nahm er jedoch keinerlei Notiz. Auf Nora übte er jedenfalls eine seltsame Anziehung aus, die sie fröhlich machte. Unbekümmert schwärmte sie für ihn, und dieser Umstand trug dazu bei, ihr den Kindergarten auch wieder einigermassen angenehm zu machen.

Bereits am ersten Schultag fiel sie wieder auf. Die Lehrerin fragte die Mädchen, wer denn noch nicht stricken könne und Nora hob unbedacht und munter den Zeigefinger in die Höhe. Sie hatte nie Lust verspürt, stricken zu lernen und war die Einzige, die es nicht konnte. Durch diese Tatsache fühlte sie sich bereits wieder gemassregelt. Die Lehrerin verlangte von ihr, bis Ende Woche stricken zu können. Oh Schreck, oh Graus! Mit viel Einsatz, Mühe und Fleiss schaffte sie es, doch das Ergebnis erfüllte sie keineswegs mit Stolz.

Ihre Religionslehrerin war eine Respekt-heischende, grosse und stattliche Frau, in einen schwarzen Herrenanzug mit weissem Hemd und schwarzer Krawatte gekleidet. Sie machte auf Nora einen furchteinflössenden Eindruck, alles andere als vertrauensvoll. Die Klasse sollte die Legende der Sintflut wiedergeben und Nora machte daraus unverzüglich ein lustiges, modernes Märchen.

Sie siedelte die Erzählung in einem Schwimmbad an, bei dem von zauberhafter Hand das Wasser immer mehr wurde, die Umgebung überflutete und die Menschen sich auf unerklärliche Weise retten konnten. Sie wurde auf der Stelle aufs Heftigste ausgeschimpft, die Lehrerin kochte vor Wut und tobte einem Erdbeben gleich. Die ganze Klasse war vor Schreck erstarrt und mäuschenstill. Nora erschrak und wurde einen Augenblick lang ganz klein, sogar winzig, ein Nichts, wie vom Erdboden verschluckt. Doch dann regte sich ihr Widerspruchsgeist und sie war wieder da, kühl und ihrer Sache sicher. Noras Respekt vor der Religionstante war verflogen und sie beharrte auf ihrer Geschichte.