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Wilfried von Bredow

Armee ohne Auftrag

Die Bundeswehr und die deutsche Sicherheitspolitik

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Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Daniel Pilar/laif

ISBN 978-3-280-05728-5

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Deutschland-Hologramm

Schiefes Fundament

Ruhebedürfnis und gelegentliche Panik

Weltpolitische Klimaverschlechterung

Kleiner historisch-politologischer Exkurs

Weltordnung, allgemein

Paradoxe Globalisierung

Demokratieverfall

Weltordnung, heute

Die BRICS-Welt

Amerika und Europa

Prekäre Sicherheit

Sicherheit als Schutz und Verteidigung

Realpolitik versus Idealpolitik

Friedensmissionen

Internationale Schutzverantwortung und Kampf gegen internationale Terrornetzwerke

Verlorene Hoffnungen

Kriegsformen und Kriegsführung

Die NATO und die Sicherheit Europas

Bruchlinien in der NATO

Zwei Perspektiven für die europäische Sicherheit

Das amerikanische Interesse an der NATO

Europäische Zweifel

Europäische Illusionen

Spagat

Deutschland in Europa – zaudernde Führungsmacht

Welches Europa?

Deutschland und Frankreich als Konkurrenten und Partner

Die deutsche Frage

Führungskraft

Mal zurückhaltend, mal ziemlich knallhart

Ein deutsch-französisches Europa?

Militärisch zurückhaltend, moralisch offensiv

Ernstfall Frieden

Kultur der Zurückhaltung

Risiken und Nebenfolgen

Das Verantwortungsmantra

Das Präventionsmantra

Lieber Zaungast sein, als …

Welche Bundeswehr wozu?

Defizitärer Diskurs

Strategisch denken

Strategiekommunikation

Wieder eine Neuausrichtung

Sicherheitsgefährdung durch Pandemien und Seuchen

Wie viel ist genug?

Streitkräfte im Reformstress

Der rechtliche Rahmen für Auslandseinsätze

Neue Aufgaben – weniger Personal

Transformation und vernetzter Ansatz

Scherbenhaufen

Eine Art Tritt in den Hintern

Eine Neuausrichtung nach der anderen

Problem-Lawine

In den Sand gesetzt

Lauter Hiobsbotschaften

Truppe am Limit

Fehlt es an Geld?

Beschaffungswesen

Mehr Aufgaben

Fazit

Literatur

Einleitung

In Deutschland ist die Bundeswehr die einzige Großbürokratie mit angeschlossenem eigenem Sicherheitsdienst. Zwar trifft man auf die Krake der Bürokratie in allen modernen Gesellschaften. In Deutschland allerdings begleitet die Bundeswehr seit ihrer Gründung ein besonders lautes Stöhnen über die Bürokratie. Nun gehört, darüber sollte man sich keine falschen Vorstellungen machen, eine funktionierende Bürokratie zu den Voraussetzungen, damit komplexe Organisationen ihre Ziele erfolgreich anvisieren und erreichen können. Aber sie muss halt funktionieren, sonst kommt es zu permanenten Reibungsverlusten und mangelhafter Effektivität.

Über die Bundeswehr dringt seit längerem vor allem Unerfreuliches an die Öffentlichkeit: Skandale, Personalnöte, Defizite bei Bewaffnung und Ausrüstung, Traditionswirrwarr. Von all dem gab es in den letzten Jahren mehr als genug. Bedenklich vor allem der Zustand der Ausrüstung mit Waffen und Geräten. Großgeräte von Marine, Luftwaffe und Heer sind nicht einsatzfähig. Ersatzteile fehlen. Neuentwicklungen werden um ein Vielfaches teurer als ursprünglich ausgemacht. Außerdem werden die Liefertermine seitens der Rüstungsindustrie zu oft nicht eingehalten. Scharfzüngige Kritiker haben sogar das demütigende Wort von der »Schrottarmee« in die Debatte geworfen. Wie passen diese betrüblichen Entwicklungen zu dem kernigen Satz aus dem letzten regierungsamtlichen Weißbuch (2016) zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr: »Die Bundeswehr ist ein wesentliches Instrument unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik«?

Ist sie das wirklich? Oder ist sie eine »Armee ohne Auftrag«, weil die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der »Zivilmacht Deutschland« auf Prioritäten geeicht ist, bei denen dieses Instrument keineswegs eine wesentliche sondern, wenn überhaupt, nur eine nachgeordnete Rolle spielt?

Selbstverständlich kann man unzähligen offiziellen Texten und Dokumenten der Bundesrepublik Deutschland entnehmen, welche Aufträge der Bundeswehr zugedacht sind. Im Weißbuch 2016 verteilen sich die Aufzählung und Erklärung dieser Aufträge und der Aufgaben der Bundeswehr gleich über drei Seiten. Die Bundeswehr kann sich geradezu vor Aufträgen und Aufgaben nicht retten! Aber dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass in der deutschen Sicherheitspolitik Ziele und Instrumente nicht gut zusammenpassen. Genau das ist mit dem, gewiss etwas zugespitzten Titel »Armee ohne Auftrag« gemeint: Es fehlt hierzulande an dem aufgeklärten Bewusstsein vom rechten Gebrauch der Streitkräfte als Instrument der Politik. Dieser Mangel macht die Konturen der deutschen Sicherheitspolitik unscharf und ihre Inhalte unglaubwürdig. Eine Folge davon ist, dass mit der Bundeswehr zeitweise zu nachlässig umgegangen wird, was wiederum deutliche Konsequenzen für das professionelle Selbstverständnis der Soldaten hat, egal, auf welcher Hierarchiestufe.

Die Bundeswehr verschlingt einen nicht unbeträchtlichen Teil des jährlichen Bundeshaushalts. Aber was genau sie macht und vor allem warum sie was macht, darüber liegt ein Schleier der Unkenntnis. Was hatte es beispielsweise mit Deutschlands Sicherheit zu tun, wenn sie in Somalia ein Feldlager für eine indische Brigade aufbaut, die niemals dort eintraf? Wenn sie im Kongo manipulierte Präsidentschaftswahlen überwachte, bei denen es glücklicherweise zu keinen gewalttätigen Zwischenfällen gekommen ist? Oder wenn sie zwei Jahrzehnte lang am Hindukusch vergeblich versucht hat, Staat und Gesellschaft Afghanistans zu stabilisieren?

Deutschland-Hologramm

Wenn man in Deutschland über Sicherheitspolitik redet, dann redet man über die UNO und ihren Sicherheitsrat; über die NATO, die – den Amerikanern sei Dank – Deutschland beschützt; über die OSZE, die irgendwie wichtig erscheint, ohne dass man Genaueres über sie weiß; über die EU, die bedauerlicherweise sicherheitspolitisch nicht in die Puschen kommt. Sicher, manchmal redet man auch von der Bundeswehr. Aber deren alter Werbespruch »Wir produzieren Sicherheit« ist eigentlich nie auf viel Verständnis gestoßen.

Nach der Vereinigung 1990 gewann Deutschland trotz aller internen Schwierigkeiten bei der Eingliederung der neuen Bundesländer auf der europa- und weltpolitischen Bühne mehr Gewicht. Für seine Außen- und Sicherheitspolitik galt es nun, neue Verhaltensweisen im gründlich veränderten internationalen Umfeld zu entwickeln. Die Erwartungen aus diesem Umfeld an Deutschland hatten sich ein großes Stück weit verändert – einer der Hauptgründe dafür, dass sich auch die Selbstwahrnehmung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ändern musste – ohne dass tief eingeprägte Grundentscheidungen (doppelte Westintegration) zur Disposition gestellt und erfolgreiche Methoden (Multilateralismus) aufgegeben werden sollten. Konnte dieselbe Kontinuität auch für das nach 1949 ausgebildete Merkmal außen- und sicherheitspolitischen Verhaltens, die »Kultur der Zurückhaltung« uneingeschränkt gültig bleiben?

Der Kraftakt, bewährte Grundsätze weitgehend zu bewahren, sich zugleich aber den schwierigen neuen Rahmenbedingungen internationaler Politik anzupassen, ist bislang nicht so gelungen, wie man es sich wünschen würde. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, behaupten ihre Kritiker, stolpert oft nur vor sich. In einem seiner letzten Bücher kennzeichnet Hans-Peter Schwarz (2005) sie als orientierungslos. Ihre Führungspolitik sei ratlos, behauptet der frühere Diplomat Volker Stanzel (2019). Freilich gibt es jede Menge Empfehlungen von Beobachtern und Fachleuten, wie das zu ändern wäre. Wie nicht anders zu erwarten, widersprechen sie sich teilweise. Deutschland müsse öfter und mit höherem Einsatz bei weltpolitischen Konflikten eingreifen, heißt es. Oder gerade nicht. Deutschland müsse seine eigenen außenpolitischen Prioritäten und sicherheitsstrategischen Grundsätze endlich klar und deutlich herausarbeiten, heißt es. Aber ja nicht als rein nationale Prioritäten oder als nur national ausgerichtete Sicherheitsstrategie, hört man von anderer Seite.

Deutschland als zentrale Macht in der Mitte Europas sei inzwischen nolens volens zur »Vormacht wider Willen« (Bierling 2014) in Europa und teils sogar darüber hinaus geworden. Ein forscher Zwischenruf aus der Schweiz (Gujer 2007) behauptet tout court, Deutschland sei längst eine Großmacht. Stefan Fröhlich (2019) konstatiert sogar »das Ende der Selbstfesselung« Deutschlands. Es müsse beherzt Führungsaufgaben in der Europäische Union übernehmen, fordert Herfried Münkler (2015). Aber möglichst so, dass es niemand merkt. Nötig sei eine Art »wohlwollende Hegemonie« Deutschlands (Mangasarian/ Techau 2017), vor der keiner der Nachbarstaaten Angst zu haben brauche. Aber was genau sind die Merkmale einer »wohlwollenden Hegemonie« und was unterscheidet sie von simpler Vorherrschaft? Was den einen als wohlwollend erscheinen mag, nehmen andere eben doch als Druck und Fremdbestimmung wahr. Es will alles nicht recht zusammenpassen.

Das berühmt-berüchtigte Deutschland-Hologramm: zu groß und vor allem ökonomisch zu stark, um als harmloser Mitspieler auf der europäischen Politik-Bühne gelten zu können, erscheint das Land hinwiederum nicht groß genug und – vor allem sicherheitspolitisch – viel zu schwach, um für die eigene, gar nicht zu reden von der europäischen Sicherheit, sorgen zu können. Dieses Bild, vor 1990 häufig in der Formel ausgedrückt »ökonomischer Riese, politischer Zwerg«, bildete zwar nie die ganze politische Realität ab, passte jedoch aus verschiedenen Gründen ganz gut zu der eigentümlichen Konstellation des Ost-West-Konflikts. 1990 war es damit jedoch vorbei.

Warum ist bei vielen Beobachtern der Eindruck entstanden, dass die deutsche Sicherheitspolitik kein Bein auf den Boden kriegt, sondern ihr Selbstverständnis, ihre großen Versprechungen und die von den verbündeten Mitspielern auf der politischen Bühne an Deutschland gerichteten Erwartungen immer wieder desavouiert? Wieso herrscht im außen- und sicherheitspolitischen Diskurs der meinungsbildenden Kreise (das Wort Eliten vermeiden wir besser) über der Rolle und Funktion von Militär und Streitkräften für die Außen- und Sicherheitspolitik so große Unklarheit? Am liebsten würden viele beides gar nicht thematisieren und deutsche Politik zu einer rein zivilen Angelegenheit erklären. Aus Angst vor einer Wiederkehr von Militarismus und aggressiven Eroberungsgelüsten? Aber ist diese Angst nicht schon längst zu einer Pose demonstrierter Gutwilligkeit geworden, die Selbstschwächung in Kauf nimmt, wenn man nur schwierigen, kostspieligen und moralisch ungemütlichen Entscheidungen enthoben ist?

Die schmerzhaften Struktur- und Grundorientierungsprobleme der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik haben historische Wurzeln und lassen sich nicht einfach abstellen. Der Konflikt zwischen den Anhängern einer transatlantischen Ausrichtung Deutschlands als außenpolitisches Primärziel (»Atlantiker«) und denjenigen, die Deutschland vor allem als europäische Macht definieren (»Gaullisten«), geht bis in die Adenauer-Zeit zurück. Noch älter ist der Konflikt zwischen den »Russlandverstehern« und den Russlandskeptikern. Er wurde eigentlich nur von Bismarck neutralisiert, verschärfte sich aber nach dessen Abgang und spielte in der Weimarer Republik eine nicht unwichtige Rolle. Ein Strukturproblem anderer Art ist die »Last der Vergangenheit«, nämlich die der zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur mit all ihren Verbrechen. Im Bewusstsein dieser Last wurde die deutsche Nachkriegspolitik menschenfreundlicher und besonnener. Das ist positiv. Jedoch zeitigte sie auch eine Reihe von Zwiespältigkeiten, darunter eine über die Jahre bis zur Bigotterie aufgewachsene Moralisierung der Politik.

Schiefes Fundament

Die Bundeswehr wurde von Anfang an als Instrument der Politik eingerichtet und unter fest institutionalisierte zivile, demokratische Kontrolle gestellt. Mit diesem klassischen demokratie-kompatiblen und nach wie vor gültigen Konzept von den Streitkräften als Mittel der Politik haben aber ein politisches System und eine von grundsätzlich gewaltfreier Politik schwärmende demokratische Öffentlichkeit ihre Schwierigkeiten. Ein anti-militärischer Grundton der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist unübersehbar, ausgedrückt etwa in dem immer wiederholten, indes kaum reflektierten Slogan »Krieg ist keine Lösung«. Das ist ja nicht völlig falsch. Aber wenn er zur unbedingten Handlungsmaxime eines Staates wird, gefährdet er nicht nur dessen eigene Stabilität. Vor allem in einer Welt, in der viele staatliche und nicht staatliche Akteure Gewalt und bestimmte Formen der Kriegsführung ganz unverblümt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen einsetzen.

Die Ursachen und Gründe für die gegenwärtige Misere der Bundeswehr liegt in den Anpassungsschwierigkeiten des politischen Systems und der politischen Kultur dieses Landes an die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts tiefgehend veränderte Ordnung der internationalen Politik. Hinzu kommen allerdings auch organisationsinterne Pannen und Fehlentwicklungen. Selbstverständlich geht es hier nicht um einen Totalverriss oder eine polemische Generalabrechnung, was ja heute zum üblich gewordenen Ton der Berichterstattung über die Bundeswehr zu gehören scheint. Es ist nicht (oder nur selten) die völlige Blindheit und Blödheit der Entscheidungsträger und ausführenden Organe in der deutschen Sicherheitspolitik und der Bundeswehr, die für die viel beklagten und in der Tat beklagenswerten Defizite verantwortlich sind. Vielmehr ist es das schiefe konzeptionelle Fundament, das eine kluge, selbstbewusste und angemessen zukunftsorientierte Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend behindert.

Ruhebedürfnis und gelegentliche Panik

Um diese Einsicht nachvollziehbar zu machen, werde ich mich nicht nur auf die aktuellen Probleme der deutschen Sicherheitspolitik und der Bundeswehr konzentrieren, sondern weiter ausholen. Deshalb ist diese Studie nach dem Kaskadenmodell aufgebaut.

In ihrem ersten Teil stehen die Veränderungen der politischen Weltlage und die Schwierigkeiten im Vordergrund, ihnen mit angemessenen Konzepten und Strategien für internationale Sicherheit zu begegnen. Der unübersichtlich gewordenen Lage und Entwicklung der Weltpolitik kommt man nämlich mit überalterten Vorstellungen über Frieden und Sicherheit nicht bei. Wenn Staaten und ihre Regierungen über keine wirklich langfristigen Konzepte und Orientierungsrahmen für ihre Außen- und Sicherheitspolitik verfügen, kann das, optimistisch interpretiert, ihre Flexibilität erhöhen. Andererseits reduziert sich dadurch ihre Verlässlichkeit. Beides zu optimieren, ist nicht ganz einfach, vor allem bei internationalen Krisen und Konflikten.

Deutschland befindet sich mit seinen Schwierigkeiten in der Sicherheitspolitik keineswegs völlig allein auf weiter Flur. Das ist nach einem Blick auf andere Staaten auf der weltpolitischen Bühne wichtig festzuhalten, wenn es auch kein Trost ist. Denn die Schwierigkeiten und Probleme Deutschlands haben ein besonders scharfes Profil, weil sich hier vieles mehr und grundlegender als anderswo zu ändern hätte. Die vergleichsweise recht komfortable wirtschaftliche und politische Situation des Landes hat aber gerade nicht dazu geführt, dass sich der sicherheitspolitische Diskurs durch ein bemerkenswertes Maß an zukunftsbezogener politischer Einbildungs- und Urteilskraft auszeichnet. Stattdessen ist er träge, repetitiv, zuweilen rechthaberisch und Ausdruck einer kollektiven Ruhebedürftigkeit, gelegentlich nur unterbrochen durch kurze Phasen kollektiver Panik. Alles in allem angesichts der gegenwärtigen und vor uns liegenden Aufgaben völlig unangemessen.

Im zweiten Teil geht es um die Organisationsrahmen deutscher und europäischer Sicherheit, nämlich die NATO, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union und nationale Sicherheitsvorkehrungen. Zwei komplementäre Fragen drücken hier zunächst aufs politische Gemüt: Inwieweit sind die Maßnahmen und Handlungen der von den USA dominierten NATO mit den europäischen Eigenanstrengungen für die Sicherheit Europas vereinbar? Wie ergänzen und wo widersprechen sich amerikanische und europäische Vorstellungen zur Stabilisierung der internationalen Sicherheit? Der Themenkomplex Europäische Sicherheit erweist sich zudem auch deshalb als unübersichtlich, weil die (Führungs-)Rolle Deutschlands in der Europäischen Union einerseits notwendig, andererseits aber umstritten ist, nicht zuletzt in Deutschland selbst.

Der am ausführlichsten geratene dritte Teil beleuchtet die Schwierigkeiten, die Deutschland damit hat zu akzeptieren, dass die Streitkräfte in der Tat ein wesentliches, ja ein unabdingbares Instrument der Sicherheitspolitik sind. Am liebsten würden die Deutschen sie als eine Art Technisches Hilfswerk einsetzen. Die Bundesregierungen haben nach 1990 immer wieder Anläufe zur Reform der Bundeswehr gemacht und ihre Angehörigen damit einem Dauerstress ausgesetzt. Das hat in den letzten Jahren zu einer unguten Problem-Kumulation bei Waffen und Geräten, der Hardware, aber auch in den Köpfen mancher Soldaten, der Software, geführt. Damit müssen wir jetzt fertig werden.

Rein betriebswirtschaftliche und organisations-reforme-rische Lösungen der akuten Probleme greifen ebenso zu kurz wie heftige Schnitte in der Spitzenpersonal-Politik. Stattdessen muss ein größerer Umweg eingeschlagen werden. Es braucht eine kühle Analyse der Ziele, Interessen, Möglichkeiten und erfolgreichen Methoden der deutschen Sicherheitspolitik. Erst dann kann die Grundvorstellung von der Rolle der Streitkräfte als Instrument der Politik angemessen korrigiert werden. Auf dieser Basis können dann Fragen wie »welche Bundeswehr benötigen wir?« und »was darf oder soll sie uns kosten?« sinnvoll beantwortet und danach die nötigen Entscheidungen getroffen werden.

Weltpolitische Klimaverschlechterung

Alle reden vom Klima und sind besorgt über den globalen Klimawandel. Das betrifft nicht nur das Wetter, sondern auch das politische Klima. Als sich die ohnehin immer brüchiger gewordene Ost-West-Bipolarität um 1990 aufgelöst hatte, drängten sich neue Schlüsselbegriffe zur Kennzeichnung der weltpolitischen Entwicklung auf: Paradoxe Globalisierung, Verblassen des internationalen Regelkonsens, Überdrehung der Finanzmärkte, Staatsabschwächung und Staatsverfall auf mehreren Kontinenten, Scheitern der US-amerikanisch geführten Weltordnungspolitik, Aufstieg der Volksrepublik China, wachsendes Destruktionspotenzial religiös begründeter Politik, neue Formen der Kriegsführung. Wahrlich unübersichtlich, das alles! Oder anders gesagt: Die Welt von heute hat es mit einem höheren Maß an Gefahren und Unsicherheit zu tun. Das trifft auch dann zu, wenn man in Rechnung stellt, dass die direkte nuklearstrategische Konfrontation der damaligen weltpolitischen Vormächte USA und UdSSR in dieser Form heute nicht mehr existiert.

Zugleich hat sich in den letzten Jahren die Zahl jener existenziellen Weltprobleme erhöht, die mit Aussicht auf Erfolg nur mittels gemeinsamer Politik gelöst oder wenigstens gemildert werden können. Aber wie sollen zum Beispiel umwelt- und klimapolitische Ziele erreicht werden, wenn die – metaphorisch so bezeichnete – weltpolitische Klimaverschlechterung weiter anhält?

Kleiner historisch-politologischer Exkurs

Weltpolitik, die diesen Namen sozusagen geografisch zu Recht trägt, gibt es noch gar nicht so lange, erst seit drei, vier Jahrhunderten. In den Zeiten davor blieb die im Bewusstsein der Menschen und für die Politik eines Staates relevante Außenwelt in der Regel territorial beschränkt. Die »Welt« umfasste noch nicht den gesamten Globus. Die Erde als politisch vorstellbare Einheit gab es noch nicht. Die Menschen kamen erst langsam dazu, global zu denken. Trotzdem existierten und konkurrierten kleine und große Reiche, gab es expansive Kulturen; und freilich jede Menge Kriege und Feldzüge. Manche, wie etwa die Alexanders des Großen, halfen, das Weltbewusstsein der Zeitgenossen erheblich zu erweitern.

Wenn sie das gesamte Beziehungsgefüge der Staaten und anderer grenzüberschreitend aktiver Organisationen und Akteure beschreiben, benutzen die Politologen den Begriff des internationalen Systems. Er ist zunächst rein formaler Natur und soll ein Gebilde kennzeichnen, dessen Zusammenhang und Zusammenhalt inhaltlich auf der allgemeinen Anerkennung eines mal kleineren, mal etwas größeren Minimums von Regeln und Umgangsformen der beteiligten Staaten besteht. Daraus ergibt sich schon rein aus Gründen der wechselseitigen Betroffenheit, der Macht des Faktischen, die Notwendigkeit zur Kommunikation untereinander. Die muss nicht freundlich sein, denn die Konkurrenzen und Interessenkonflikte bestehen ja auch innerhalb eines solchen internationalen Systems. Aber ein Mindestmaß an gültigen Regeln, rechtlich fixiert oder informell, darf nicht unterschritten werden.

Früher blieben internationale Systeme groß-regional beschränkt, etwa das der griechisch-römischen Zeit des Mittelmeerraums. Seit dem 15./16. Jahrhundert expandierte das eurozentrische internationale System des Mittelalters schrittweise über den ganzen Erdball. Es führte im 17. Jahrhundert festere rechtliche und politische Umgangsregeln ein und wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu dem ersten wirklich globalen, d. h. erdumspannenden internationalen System.

Diese Expansion beruhte auf politischen, wirtschaftlichen und technologischen Impulsen, allesamt in sich konfliktreich. Der Erwerb von Kolonien und ihr Zusammenbinden in überseeische Besitztümer ging nicht ohne brutale Eroberungs- und Unterwerfungskriege ab, zugleich aber auch nicht ohne Kriege zwischen den konkurrierenden europäischen Mächten um die Vorherrschaft in Europa. Historiker wie Paul Kennedy haben diesen quasipermanenten Streit um die Vorherrschaft und die Anstrengungen der einzelnen Staaten, sich in der Rangfolge der mächtigsten Staaten besser oder sogar möglichst ganz oben zu positionieren, als einen der Gründe ausgemacht, warum gerade das europäische internationale System sich globalisiert hat.

Jedoch ist die Bezeichnung dieses internationalen Systems als europäisch nur insofern korrekt, als Europa sein Ursprungskontinent ist. Die hier entwickelten Vorstellungen über Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur fassten auch auf anderen Kontinenten Fuß, hauptsächlich über die Migration (aus sehr unterschiedlichen Gründen) und die Übernahme dieser Vorstellungen in manchen der sich früh von Europa politisch emanzipierenden Kolonien. Die »amerikanische Revolution« von 1775/1776 ist dafür das leuchtende Beispiel.

Weltordnung, allgemein

Der französische Politikwissenschaftler Raymond Aron definierte ein internationales System als die Gesamtheit politischer Einheiten, welche untereinander reguläre Beziehungen unterhalten und in einen allgemeinen Krieg hineingezogen werden können. Über die Art der regulären Beziehungen ist damit noch nichts ausgesagt. Angesichts der Verschiedenheit politischer Einheiten, was ihre territoriale Ausdehnung, ihren Ressourcenreichtum und ihre militärische Macht angeht, kann man sich jedenfalls gut vorstellen, wie kompliziert es ist, solche Beziehungen auf längere Dauer aufrechtzuerhalten. In der Regel geht das nicht ohne eine durchsetzungswillige und -fähige Ordnungsmacht. Tatsächlich lehrt ein Blick in die Geschichte, dass es immer wieder solche Ordnungsmächte gab, die dem jeweiligen internationalen System – entweder im Alleingang oder mit einer anderen Macht konkurrierend, entweder eher kooperativ oder durch Zwang – ihre Ordnungsvorstellungen aufprägen wollten.

In der Rangfolge von Staaten stehen solche Ordnungsmächte ganz oben. Sie streben nach Hegemonie, auch weil sie ihren Rangplatz nicht verlieren wollen. Hegemonie kann aber auf längere Zeit nur funktionieren, wenn sie nicht nur der Vormacht selbst, sondern auch den anderen Mächten etwas einbringt, wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten etwa und Sicherheit im doppelten Sinne des Wortes – als Verlässlichkeit der Beziehungen untereinander und als ein gewisser Schutz vor Bedrohungen von außerhalb des internationalen Systems. Den Begriff der Weltordnung kann man entweder sozusagen inhaltsneutral als den gerade bestehenden Zustand des internationalen Systems verstehen. Oder als durch Ordnungsmächte durchgesetzte, von bestimmten und weitgehend akzeptierten Welt- und Wertvorstellungen charakterisierte, also inhaltlich bestimmte Ordnung.

Seit dem 17. Jahrhundert war das europäische internationale System mit seinen überseeischen Außenstellen, sprich: Kolonien und sonstigen Einflussgebieten, als Staatensystem definiert, das auf der (rechtlich definierten) souveränen Gleichheit der Staaten und dem daraus folgenden Grundsatz der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten beruhte. Auch eine gewisse, wenn auch nicht sehr wirkungsvolle Einhegung des Krieges war ein Element dieses »Westfälischen Systems der internationalen Beziehungen« (benannt nach dem Westfälischen Frieden am Ende des 30jährigen Krieges). Der Krieg galt im Übrigen als ein völlig legitimes Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen, auch expansiver Interessen.

Die Detailgeschichte dieser, wenn man so will, »Westfälischen Weltordnung«, ihrer inneren Widersprüche, ihres Wandels infolge von Revolutionen und anderer Umbrüche, des Abfalls, aber auch des Auf- und Ausbaus vieler zunächst nur als Wirtschaftsobjekte wahrgenommener Kolonien zu Imperien, der imperialen Konkurrenz, die in zwei Weltkriegen kulminierte, all das ist spannend zu verfolgen, aber hier nicht unser Thema. Festzuhalten gilt, dass der Zusammenhalt eines internationalen Systems, gleichviel ob er mehr auf einer Balance mehrerer Mächte oder der Dominanz einer einzigen Ordnungsmacht beruht, immer gefährdet ist. Das Wohlergehen und die Sicherheit der Menschen können niemals garantiert, allenfalls auf Zeit stabil gehalten werden.

Paradoxe Globalisierung

Hier kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, die Globalisierung. Also die Ausdehnung des ursprünglich europäischen internationalen Systems mit seinen Ordnungselementen und -versprechungen über den gesamten Globus. Dieser Prozess hat alle anderen politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen auf der Erde in der einen oder anderen Weise in Mitleidenschaft gezogen. Seine Dynamik hat in den letzten Jahrzehnten weiter zugenommen und wird sich in den vor uns liegenden Jahrzehnten voraussichtlich kaum verlangsamen. Das private, berufliche und das öffentliche Schicksal von immer mehr Menschen wird weltweit mindestens indirekt, meist jedoch direkt von der Globalisierung beeinflusst. Sie hat die verschiedensten Lebensbereiche erfasst, von der Wirtschaft, deren Märkte zu »Weltmärkten« werden, und der Politik, über die Unterhaltungsindustrie, den Tourismus, Wissenschaft und Forschung bis hin zu der Entgrenzung von Kriminalität und Terrorismus. Ihre Antriebsmomente sind in erster Linie mobilitäts- und kommunikationstechnische Neuerungen.

Land Grabbing