Giorgio da Roma

Ausgeerbt

Kriminalroman

Meiner lieben Uschi einen ganz besonderen Dank
für ihre Zeit, Mithilfe und ihr Verständnis für meine
Ausflüge in andere Welten.

Einen ganz lieben Dank an Elke, Heike und

Amina für ihre Zeit und ihre Anmerkungen.

G.d.R. Im Frühjahr 2020

Ausgeerbt -

Samstag, Tag 1 – Der Kauf

Jetzt musste es schnell gehen. Er hätte gerne noch eine zweite Tasse Kaffee an diesem Morgen getrunken, aber der Anrufer hatte die Angelegenheit äußerst dringend gemacht. Also scheuchte er seinen Wagen routiniert durch die Straßen seiner Heimatstadt. Viel zu lange hatte er, immer wieder vertröstet und von neuen Hindernissen zurückgeworfen, diesem Zeitpunkt entgegengestrebt, als dass er nun den bevorstehenden Abschluss des Unternehmens einer Tasse Kaffee untergeordnet hätte.

Er schaltete die Gänge kurz und präzise hoch und der Motor brummte immer nur kurz auf. Jede Gelegenheit nutzend wechselte er die Fahrspuren, um fließend vorwärts zu kommen, während andere Verkehrsteilnehmer sich seiner Meinung nach noch im Tiefschlaf befanden. Glücklicherweise war es Samstag und dementsprechend wenig Verkehr zu dieser frühen Stunde.

Irgendwie war es schon merkwürdig, dass die ganze Aktion, die sich mittlerweile über sechs Monate hinzog, jetzt, an einem Samstagmorgen noch vor 10 Uhr, abgewickelt werden musste. Außerdem hatte der Makler darauf bestanden, seine Courtage in bar zu erhalten. Jo mochte den Typen nicht sonderlich, aber man kann sich nur seine Freunde aussuchen, Geschäftspartner nicht. Wäre er nicht der Bevollmächtigte des Eigentümers gewesen, der das Objekt Jos Begierde zum Verkauf anbot, wären sie nie zusammengekommen. Während Jo seinen Sportwagen mit Kofferraum, wie er ihn scherzhaft nannte, im leichten Drift um die Kurven, vorbei an den alten verlassenen Backsteinbauten dem Treffpunkt im Hafen zusteuerte, kam ein wenig Vorfreude auf den bevorstehenden Vertragsabschluss in ihm auf. Als aber sein Ziel in Sichtweite kam, verflog das leichte Grinsen aus seinem Gesicht und das Dienstgesicht nahm wieder seinen Platz ein.

Jo hatte als langjähriger Behördenmitarbeiter gelernt, Emotionen bei Dienstgeschäften aus seinem Gesicht zu verbannen, um seinem Gegenüber keinerlei Reaktionen über seine Empfindungen zu verraten. So auch jetzt, als Jo seinen Zuffenhausener Wagen mit dem springenden Pferd auf der Haube und der Bezeichnung 924 auf dem Heck der protzigen weißen, mit goldfarbenen Zierleisten versehenem Edelkarosse des Maklers entgegensteuerte. Vor dem Auto sah er schon den wohlbeleibten, permanent schwitzenden Besitzer des Vehikels aufgeregt mit den Armen wedelnd herumspringen. Jo hielt sein Fahrzeug an, nahm einen Alukoffer und eine feine Ledermappe und stieg aus. „Morjen, morjen! Ich warte schon eine Ewigkeit!“, posaunte der Makler los und wedelte dabei noch mehr mit seinen Armen, so dass Jo befürchtete, seine dicken goldenen Klunker an seinen Fingern oder seine protzige goldene Uhr könnten im hohen Bogen wegfliegen. Jo sah auf seine Uhr und stellte kühl fest: „Unser Termin findet erst in 10 Minuten statt. Aber da sie es ja so eilig haben, will ich mal nicht so sein.“ „Isch muss noch minnen Fliejer kriejen, der jeht inner juten Stund“, heulte der Schwitzende weiter. „OK, gehen wir rein. Haben Sie alles?“, schlug Jo vor. Der Dicke nickte eifrig und eilte zur Tür, so schnell es seine Figur und sein viel zu enger Anzug zuließen. Der Makler schloss die Türe auf und gemeinsam betraten sie die Empfangshalle eines einstmals großen Unternehmens.“ Haben sie die Unterlagen?“, fragte Jo. „Haben sie das Geld?“, entgegnete der Makler und hielt eine Mappe in der schweißfeuchten Hand. Jo nickte und deutete auf den Alukoffer. Koffer und Mappe wurden ausgetauscht und während sich der Schweißtriefende daran machte, die Geldscheine im Koffer mit leuchtenden Augen zu zählen, las Jo aufmerksam die Unterlagen der Mappe durch. Als Behördenmitarbeiter war von ihm immer Penibilität verlangt worden. Heute kam ihm das zugute. “Hier fehlt noch etwas“, bemerkte Jo und deutete auf die Unterlagen. „Die Befreiung…“, weiter kam Jo nicht mehr, denn der inzwischen noch stärker transpirierende Makler nahm ihm die Mappe aus der Hand, blätterte darin und hielt kurze Zeit später das geforderte Dokument wie eine Trophäe schwenkend in der Hand. „Alles da“, strahlte er. Jo nickte zufrieden. Alle Diskussionspunkte der Vergangenheit waren in seinem Sinne geregelt worden und es bedurfte nur noch seiner Unterschrift unter dem vorliegenden Kaufvertrag und alles war perfekt. Der Kaufpreis lag bereits auf einem Notaranderkonto und Jo brauchte nur noch den unterzeichneten Kaufvertrag dem Notar zuzuleiten. „Na prima, dann sind wir durch, oder?,“ fragte der Makler. Jo hielt die Hand auf und sah ihn fordernd an. Die Schweißströme seines Gegenübers schienen sich noch mehr zu verstärken, während er Jo ansah und sichtbar angestrengt nachdachte. Dann kam aber die Erleuchtung und er kramte aus der Tiefe seiner Hosentasche einen umfangreichen Schlüsselbund hervor. Mit erleichtertem Lächeln übergab er diesen an Jo. „Ohne den geht‘s ja wohl nicht“, bemerkte Jo. „Aber jetzt sind wir fertig, nö?“, kam nochmals eine vorsichtige Nachfrage des Maklers. „Yep, jetz simma fettich“, grinste Jo ihn an. Die beiden gaben sich die Hände und Jo bemerkte einen fehlenden Edelstein auf der Krone der Uhr seines Vertragspartners. „Haben sie den hier verloren?“, fragte Jo und deutete auf den freien Platz auf der Uhr. „Nee, muss ich zu Huus verloren haben“, kam eilig die Antwort. „Na, dann brauch ich ja nicht zu suchen“, bemerkte Jo abschließend. Sichtlich erleichtert raffte sich der Entlassene auf und machte sich auf den Weg nach draußen. „Alles Gute“ winkte er nochmals von der Türe her, bevor er sich mit beachtlichem Tempo zu seinem Protzauto begab und mit einem Affenzahn davonjagte.

Es war totenstill in dem Gebäude. Jo sah sich um. Er war jetzt Eigentümer dieser Immobilie, einer ehemaligen Futtermittelfabrik, deren Haupthaus Jo jetzt erworben hatte. Die Nachbargebäude der Fabrik wurden abgerissen und mit Bürogebäuden und Kleinindustrie neu bebaut. Er hätte dieses Objekt auch nicht bekommen, wenn er nicht der Verlegung seines Firmensitzes nach hier zugestimmt hätte. Außerdem stand das ehemalige Haupthaus der Firma unter Denkmalschutz, doch auch hier wurde man sich in Anbetracht von Jos nur geringfügigen Veränderungswünschen einig. Jo ging durch die halbdunklen Räume des alten Backsteinbaues und atmete tief durch, als wollte er das Gebäude inhalieren und sah vor seinem geistigen Auge die Angestellten bei der Arbeit. Er hatte die Firma noch in Betrieb erlebt. Jo fuhr mit dem Lastenaufzug, der Personenaufzug funktionierte nicht, in den zweiten Stock und ging in den ehemaligen Besprechungsraum. Von dort hatte man einen einmaligen Ausblick auf die Düsseldorfer Skyline vom Wasser aus, ohne auf der anderen Rheinseite oder auf dem Fluss zu sein. Es fiel ihm schwer, das alles zu fassen. Er hatte vor einiger Zeit eine mittlere zweistellige Millionensumme in einer Lotterie gewonnen. Davor hatte er, mittlerweile als Sachbearbeiter, in der besagten Behörde gearbeitet. Jetzt müsste er eigentlich überhaupt nichts mehr tun, aber still herumsitzen war nicht seine Art. Jo brauchte schon immer Aktion und jetzt konnte er sich aussuchen, wie diese aussah. Er hatte wieder angefangen zu schneidern und Damenmode zu designen und mit einer kleinen Gruppe Damen schon Einiges auf die Beine gestellt. Die Arbeit und der Trubel mit jungen Menschen hielten ihn jung und fit. Noch einmal ließ er den Blick schweifen, bevor er sich einen Ruck gab und zu sich selbst sagte: „Los geht´s!“

Den Rest des Tages verbrachte Jo mit dem Ausmessen der Räume und mit zahllosen Telefonaten.

Sonntag, Tag 2 - Probleme über Probleme

Der folgende Tag begann schon sehr früh. Jo hatte schon einige Vorbereitungen getroffen, damit die von ihm erwarteten Möbelpacker auch fließend tätig werden konnten. Wie ein Feldmarschall kommandierte er seine Truppen durch das Gebäude und im Laufe des Tages kannten sich die Träger zunehmend besser mit Jos Kennzeichnungen aus. Er hatte an jedem Türrahmen einen Code mit verschiedenfarbigem Isolierband befestigt, sodass man ganz leicht erkennen konnte, welcher Karton oder Gegenstand in welchen Raum gehörte. Da sich im Erdgeschoss nur der Empfang und die riesige Halle der Warenannahme befanden, musste alles mittels Lastenaufzuges in die oberen Etagen befördert werden. Der größte Teil der heutigen Lieferung ging in das erste Obergeschoss. Hier sollte der ganze Betrieb unterkommen, während sich Jo die zweite Etage als Wohnung gestalten wollte. „Chef“, fragte einer der Möbelpacker „wo sollen denn die beiden Zapfsäulen hin?“ Jo drehte sich zu dem Mann um und zeigte auf eine Stelle an der Wand zwischen zwei großen Fenstern. „An die Wand bitte, eine ans rechte Fenster und eine ans linke Fenster. Wenn sie dann noch den großen Spiegel im Auto finden, der kommt dazwischen. Erst einmal nur hinstellen, denn der muss später an die Wand montiert werden, aber da fehlt noch was.“ Der Mann nickte und setzte sich in Bewegung in Richtung Aufzug. „Sagen sie mal“, wurde Jo von der Tür zum Nachbarraum her von einem anderen Mann angesprochen, „wo sollen die beiden riesigen Tische hin? In den Raum hier geht nur einer!“ Jo ging zu dem Fragenden und warf einen kurzen Blick auf die beiden Möbelstücke. „Der hier“, zeigte Jo auf einen Tisch „kommt hier rein und der andere hier in den großen Raum, dahinten erst einmal in die Ecke.“ Jo unterstrich seine Anweisungen mit den passenden Armbewegungen. „Ok“, kam die Antwort und der Arbeiter winkte einen Kollegen zu sich. Gemeinsam wuchteten sie die beiden Zuschneidetische zu den angegebenen Positionen.

Die Aufzugtüre sprang auf und heraus kam außer den Möbelträgern, Kartons und Mobiliar auch eine drahtige Frau mittleren Alters mit eindeutig südländischem Aussehen und Temperament. „Hi! Ich muss doch mal sehen, ob du das alles richtig machst“, begrüßte sie Jo. Dieser kam mit ausgebreiteten Armen auf die Frau zu und begrüßte sie herzlich, „Hi, Kathy!“, mit den obligatorischen drei Küsschen – man ist ja schließlich in Düsseldorf! „Na, Liebelein, hast du Hunger oder Kaffeedurst?“, fragte sie ihn neckisch. „Aber sischer dat!“, antwortete Jo grinsend. „Du weißt doch: Kaffee geht immer!“ Sie packte ihre große Tasche aus und sie gossen sich jeder einen Becher des heißen Gebräus ein. Jo erklärte ihr seine geplante Raumaufteilung und sie nickte verstehend. „Also hier rechts, wenn man aus dem Aufzug rauskommt werden die Schminkplätze der Mädels hinkommen. Dahinter kommt ein Anproberaum mit Zuschneidetisch, weil hier das Licht so gut ist. Weiter links zwischen die beiden großen Fenster, da wo jetzt schon die beiden Zapfsäulen stehen, kommt eine kleine Bar mit großem Spiegel an der Wand. Der kommt gleich noch. Noch weiter links, das Gebäude macht hier einen Knick, kommt ein offener Kamin mit einer Sitzgruppe hin. Du hast dann hier einen Wahnsinnsblick auf die Stadt und liegst gleichzeitig auf dem Bärenfell vor dem offenen Feuer. Der Raum davor, wo wir jetzt stehen, wird immer spontan genutzt, entweder mit Sitzgruppe als zusätzlicher Empfang oder mit Tisch und Stühlen zum Essen, auch für Fotoshootings oder für die Mädels zum Laufen üben und um zu sehen, wie die Entwürfe in der Bewegung aussehen. Die Stoffe und die fertigen Kleider kommen in einen Nachbarraum, denn der war mal das Labor und er hat keine Feuchtigkeit, absolut dichte Fenster und eine eigene Klimaanlage. Weiter hinten sind noch Wasch- und Toilettenräume und eine kleine Küche. Über die Wendeltreppe draußen im Flur komme ich nach oben in meinen Wohnbereich. Da steht aber jetzt nur ein Notstandsbüro und zwei Betten!“ „Das ist ja richtig gut durchdacht!“, lobte sie. Stolz warf er den Kopf in den Nacken und beide lachten.

Ein etwas verlegener Schrank von einem Mann kam angeschlichen. „Chef, wir haben da ein Problem…“, begann er drucksend. „Was ist passiert?“, wollte Jo wissen. Der Mann zog ihn behutsam am Arm von der Frau etwas beiseite, als wollte er sie nicht mithören lassen. Er zeigte auf den Flur zu den anderen Räumen und begann zu erklären: „Mein Kollege hat mal ihre Toilette benutzen müssen.. “ „Und?“ „Und da ist ihm wohl ein Malheur passiert.“ Jo ging mit dem verlegenen Mann in die Toilettenanlage und sah sich die Bescherung an. Alles stand etwas unter Wasser und Fäkalienreste und Toilettenpapier schwammen friedlich umher. „Das ist einfach nur Sch….“, sagte Jo. Der Verursacher beteuerte, wie leid ihm alles tun würde und es wäre nur ein ganz „normales Geschäft“ gewesen und er würde das überhaupt nicht verstehen. „Shit happens“, kommentierte Jo grinsend. Er zeigte dem Betroffenen eine Ausweichtoilette und stellte einen kleinen Tisch vor die Türe des gefluteten Bereiches. „Eintritt nur mit Schwimmflügeln?“, fragte Kathy, die mittlerweile nachgekommen war. „Mingestens!“ kam die flapsige Antwort von Jo. „Mingestens! Besser wäre wohl noch ne Taucherbrille!“ Die beiden gingen zurück in den großen Hauptraum. „Sag mal Kathy, hast du noch Kontakt zu dem Klempner, den du mal hattest?“, wollte Jo wissen. Die Angesprochene öffnete ihre große Tasche, kramte etwas herum und brachte ihr Smartphone zum Vorschein. Nach einem längeren Telefonat versprach der Meister am nächsten Morgen direkt anzurücken. Einige Zeit später waren auch die letzten Teile aus dem Laster ausgeräumt und die Transporteure verabschiedeten sich. Jo räumte noch eine Weile, teilweise mit Hilfe von Kathy, herum und sie beendeten dann den Tag gemeinsam mit einer Pizza vom Lieferdienst.

Montag, Tag 3 – Es geht los – und einer schaut zu

Jo hatte sich schon vor dem Frühstück ein Mädchen zum Fotoshooting bestellt. Der Kontrast der weiblichen Konturen vor dem leicht verdreckten Industriefenster und der morgendlich angestrahlten Kulisse der Stadt ergaben eindrucksvolle Bilder. Tina, das morgendliche Modell, war eine echte Naturschönheit, mit Gardemaß von fast 1,80 m und gertenschlank. Zusammen mit ihrer hüftlangen blonden Mähne, hätte sie jedes Modelabel sofort gebucht. „Mach mir noch etwas mehr das Träumerle!“, fordert Jo die junge Frau auf und diese setzte es auch sofort um, indem sie sich, verträumt nach draußen blickend, an den Rahmen des Fensters schmiegte. „Suuuper“, lobt er ihre Aktion. Eine lärmende Kuhglocke störte die arbeitsame Stille und die beiden unterbrachen ihre Fotoserie. Jo hatte die Kuhglocke mittels eines Stahlseiles und eines alten Griffes als provisorische Klingel installiert und so aus einem Fenster im ersten Stock gehangen, dass man an dem Griff ziehen konnte, wenn man unten vor der Türe stand. Er ging zum Lastenaufzug und schaltete diesen ein. Der Aufzug brachte ein ganzes Rudel junger Damen mit in die Etage. Die Begrüßung verlief sehr wortreich, mit den üblichen Küsschen und jeder Menge Fragen, die auf Jo einprasselten. “Später, Ladies, später! Richtet euch erst einmal ein und zieht euch schon mal um. Very muss auch gleich da sein und ich bin noch mit Tina in Session. Außerdem muss die gleich weg, denn sie hat nachher noch Prüfung.“ Wie auf Kommando erschien Tina in diesem Moment: „Das Klo ist verstopft!“, sagte sie. „Gibt’s doch gar nicht“, entfuhr es Jo, „die Damentoilette auch noch?“ Er besah sich mit der Melderin den Schaden und verkündete dann: „Bis auf weiteres müssen wir unten in der Halle die Toiletten benutzen, aber die Fachleute kommen gleich.“ Während Jo und Tina ihre letzten Fotos in den Kasten brachten, lärmte die Kuhglocke mehrfach und die Mädchen bedienten abwechselnd den Aufzug. Jo beendete seine Fotoserie und sein Modell verabschiedete sich nach kurzem Umziehen mit der üblichen Prozedur. Veronika – von Jo einfach Very genannt – war die Meisterschneiderin, die Jos Ideen immer in Rekordzeit zu Schnitt und Naht verhalf. Sie hatte schon ihren neuen Arbeitsplatz eingerichtet und die Maschine surrte eifrig. Er begrüßte sie herzlich auf die übliche Art. Sie besprachen kurz die anstehenden Arbeiten und Abläufe und Very verschwand wieder hinter ihrem Sichtschutz. Die schnatternde Schar junger Frauen wurde von Jo unterbrochen, indem er seine Anweisungen erteilte: „Steffi, deinen Platz habe ich hier in der Ecke geplant, weil du hier Tageslicht fürs Schminken hast, schau mal, ob das geht? Anna, dich möchte ich nochmal in dem blauen Abendkleid sehen, Agnes ,wir machen gleich an der Corsage weiter, Jenny, dich möchte ich im kurzen Lederkleid sehen und Annika, wir fangen ja heute erst einmal mit einem kleinen Schwarzen an. Ich glaube, Very hat da schon etwas zusammengeheftet.“

Er hatte gelernt mit einem mehr oder weniger großen Haufen holder Weiblichkeit effektiv zu arbeiten. Es war nicht immer leicht, aber es ging. Die Kuhglocke lärmte erneut. Diesmal kam Daniela, kurz Dany, die Friseurmeisterin. Der obligatorischen Begrüßung folgte eine Einweisung durch Jo in die Räumlichkeiten und die bisherigen Schwierigkeiten. Dany orientierte sich kurz und begab sich dann in die Waschräume auf der Suche nach einem optimalen Standort für ihren portablen Waschplatz. Nach kurzer Zeit kam sie allerdings zurück zu Jo, der schon mitten im Geschehen war und informierte ihn, dass sie an keinem Hahn warmes Wasser bekommen könnte. „Verdammte Feife“, fluchte Jo, der den Mund voller Stecknadeln hatte „daf kann dof nift wa fein.“ Er drehte das Model, unter deren Rock er gerade zugange war, etwas in Position und steckte die begonnenen Konturen zu Ende, bevor er sich der Stecknadeln entledigte. „Lass uns nochmal schauen“, sagte er zu Dany und beide gingen in die Waschräume. „So langsam kann ich das hier nicht mehr glauben“, murmelte Jo. Auf der Suche nach Warmwasser wurden sie auch nur im Erdgeschoss fündig. Dany, die mit Jo schon einige Modenschauen durchgeführt hatte und dementsprechend katastrophenfest war, richtete sich in der Damentoilette des Erdgeschosses einen Waschplatz ein, damit sie den Mädels die Haare stylen konnte.

3.1 Hilfe naht

Die Kuhglocke lärmte erneut und Agnes, die - halb angezogen - als Einzige zur Verfügung stand, betätigte den Lastenaufzug. Die Mädels, wie Jo sie alle liebevoll nannte, waren es gewöhnt, spärlich bekleidet durch die Gegend zu laufen. Schließlich bestand ein Großteil ihres Jobs darin, Bekleidung zu wechseln. So kam es nicht selten vor, dass ihre eigentliche Bekleidung nicht mehr als ein Slip war, den sie wirklich ganztägig trugen. Alles andere wechselte nahezu im Minutentakt, je nach Vorgaben. So trug Agnes auch jetzt nur einen Slip und den Hauch eines Negligees locker um die Schultern geworfen, gerade soweit geschlossen, dass ihre Oberweite etwas bedeckt war. Immerhin war sie mit C-Körbchen gut ausgestattet. In dieser Situation öffnete sich nun die Aufzugstüre des Lastenaufzuges und heraus kamen diesmal: drei Handwerker! „Jooo“, flötete Agnes mit engelsgleicher Stimme, „ich glaube, hier ist jemand für dich!“ „Ifff omme gleifff“, war die Antwort. Die drei Handwerker standen mit weit geöffneten Augen und Mündern wie angewurzelt da und starrten Agnes an. Die machte aber keinesfalls Anstalten, sich fluchtartig zu verziehen, sondern ging vor den Dreien auf und ab und verteilte heiße Blicke an den Meister, den Gesellen und den Lehrling. Jo kam um die Ecke des Raumteilers und erfasste die Situation sofort. „Danke, Agnes, ich bin jetzt da“, sagte er, „Sie sind bestimmt von der Firma, mit der ich gestern telefoniert habe?“ Nachdem keine Reaktion von den Dreien erfolgte, kam Jo näher, schüttelte dem Meister die Hand, machte drei Riesenschritte über etwas vermeintlich Großes, vor den Dreien auf dem Boden liegendes und meinte spitz: „Wenn die Herren ihre Unterkiefer wieder einklappen und mir folgen könnten?“, und ging in Richtung Türe. Der Meister hatte sich zuerst gefangen: „Auf geht’s, Männer!“, sagte er mit heiserer Stimme und setzte sich in Richtung Türe in Bewegung. Der Geselle gab dem Lehrling einen Klaps auf den Hinterkopf, ohne seinen Blick von der vollbusigen Traumfrau zu nehmen und sagte: „Vorwärts Lusches!“, und folgte dem Meister. Der Lehrling starrte Agnes immer noch an, schaffte es aber dann doch, den Mund zu schließen und hinter den Anderen herzutrotten, ohne den Blick von Agnes zu nehmen. Diese sah ihm tief in die Augen und ganz aus Versehen rutschte ihr Negligee von ihrer Schulter und gab noch mehr nackte Haut frei. Sie sah ihn über die entblößte Schulter an, warf ihm einen Kuss zu und der Lehrling zerschellte mit der Leiter, die er trug, am Türrahmen. „Luuusches, komm!“, ertönte die Stimme des Gesellen aus dem Nachbarraum. Agnes drehte sich schnell weg, denn sie konnte sich das Lachen jetzt nicht mehr verkneifen. Der arme Lehrling sammelte sich selbst, die Leiter und seine Fassung und machte sich auf den Weg, während er murmelte: „Ich komm ja schon!“ Jo hatte die Klempnertruppe in die Probleme eingewiesen und sich ihr Vorgehen erklären lassen. Als er zurückkam, sah er Agnes an und bemerkte nur: „Du Biest!“ Sie fauchte wie eine Raubkatze und schlug mit der Tatze in Jos Richtung. „Du konntest es wieder mal nicht lassen, nicht? Mach mal die Fleischauslage etwas zu, die Männer sollen hier arbeiten und keinen Unfall erleiden!“, forderte Jo sie auf und zeigte dabei auf Ihre Oberweite. Schnippisch, wie eine Diva, schloss sie ihr Negligee, drehte sich um, warf ihre lange Mähne wirkungsvoll in den Nacken und stöckelte zurück zu ihrem Platz. Jo schüttelte grinsend den Kopf und folgte ihr.

3.2 Noch mehr Hilfe

Zwischenzeitlich war es früher Nachmittag geworden und die Klempner konnten einen ersten Teilerfolg vermelden. Sie hatten aus dem Abflussrohr der Damentoilette ein Stück einer Damenbluse gefischt, die die Überflutung verursacht hatte. „Vielleicht“, mutmaßte Jo, „ist ja der Rest davon in der Herrentoilette steckengeblieben?“ Die Handwerker suchten weiter nach den Fehlern.

Wieder schepperte die Kuhglocke. „Ich geh schon“, rief Steffi mit der Farbpalette und dem Schminkpinsel in der Hand. Sie war für Jo nicht nur Model, sondern auch ausgebildete Kosmetikerin, Visagistin und Make-up-Artist. So übernahm sie auch die Schminkabteilung in Jos Firma.

Die Aufzugstüre ging auf und ein junger Mann Mitte zwanzig betrat den Raum. „Bin daahaa! Wer noohooch?“, schallte sein Ruf durch den Raum. „Iihiich!“, war die Antwort von jedem der anwesenden Mädchen. „Dann ist ja guuhuut!“, beendete der junge Mann den Dialog. Alle wussten, dass Fabien mit Jo verwandt war, aber wie genau, wussten sie nicht. Sie mochten ihn alle, wenn er auch etwas schüchtern war, aber immer noch besser, als die Ober-Machos, die den Mädchen sonst nachstellten. Jede von ihnen hätte ihn gerne als Freund oder Partner genommen, auch wenn er etwas zu viel auf die Waage brachte. Aber fragen musste er sie schon selber – und daran hakte es noch. „Hi Fabi“, hörte man Jo hinter einem Spiegel herrufen, „hast du mir etwas mitgebracht?“ „Yep!“, war die knappe Antwort. „OK, ich bin in zwei Minuten da.“ „Kein Problem!“ Erst jetzt entdeckten die natürlich neugierig gewordenen Mädels das Mitbringsel, von dem Jo gesprochen hatte. Ein ganz junges Mädchen war unbemerkt und lautlos mit Fabien gekommen und stand total schüchtern in der Ecke des Raumes vor dem Aufzug. Sie wirkte in ihrem grauen Wollwintermantel mit dem grünen Barett auf dem Kopf wie einem Magazin der fünfziger Jahre entsprungen und etwas deplatziert, hier im warmen Spätherbst in der Großstadt. „“Yo napot!“, rief Jo und begrüßte damit das schüchterne Mädchen in ihrer Landessprache. Ihr ängstlicher unsicherer Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem scheuen Lächeln, denn sie erkannte die Stimme, konnte aber den Besitzer nicht entdecken und sah sich immer wieder suchend um. „Yo napot!“, antwortete sie leise, immer noch suchend. Agnes sah den scheuen Blick, zwinkerte ihr zu und deutete mit dem Kopf auf eine Spiegelwand, hinter der sich der Gesuchte befand, während sie mit Kämmchen im Mund versuchte, ihre Mähne zu einem Zopf zu flechten. Jo kam um die Ecke und das scheue Lächeln des Mädchens wich schlagartig einem Strahlen über das ganze Gesicht. Er kam auf Fabien und das Mädchen zu und begrüßte sie. Das Mädchen hörte gar nicht mehr auf zu strahlen und wich Jo nicht mehr von der Seite. Er war für sie wie ein Superstar und sie war jetzt bei ihm. „Dunja“, wandte sich Jo an sie, „Du musst mich noch fünf Minuten entbehren, dann bin ich bei dir, ok?“ Das Gesicht der Angesprochenen verfinsterte sich ein wenig, aber dann nickte sie. „Komm mit, mein Junge“, wandte sich Jo an Fabien, „ich zeige dir meine Probleme.“ „Alle?“, entgegnete Fabi. „Ach“, Jo schlug scherzhaft nach ihm, „komm jetzt!“. Die beiden machten sich auf den Weg und die Kuhglocke rasselte erneut. Dunja, das neue Mädchen, erschrak zutiefst und Agnes sah sie an und kam lachend auf sie zu: „Keine Angst, das ist nur unsere Notklingel.“ Sie betätigte den Aufzug und Kathy kam herein. „Aha, ein neues Gesicht!“, stellte sie fest als sie Dunja sah. „Ich bin Kathy, die Mutter der Kompanie. Egal, was du hast, du kannst immer zu mir kommen, ja?“, ratterte Kathy in ihrer gewohnten Art los. Die Angesprochene sagte zögernd: „Entschuldigen, ich habe schlecht deutsch!“ Kathy stutzte, begriff aber dann sofort, riss ihre Arme auseinander und nahm sie in die Arme und sagte: „Willkommen!“ Das verstand nun auch Dunja, die nun erleichtert lächelte. Jo kam zurück und nahm jetzt nochmals Dunja in den Arm, die daraufhin wieder strahlte, als hätte man einen Schalter bei ihr umgelegt. Er begrüßte nun auch Kathy in üblicher Manier und rief seine Mädels zusammen. Dann stellte er ihnen Dunja vor, ein gerade 18-jähriges Mädchen aus Ungarn, die er bei seiner Suche nach einer preiswerten Produktionsstätte in der armseligen Schneiderei ihrer Mutter entdeckt hatte. Früher war in Ungarn viel Mode produziert worden, doch seit sich die asiatischen Märkte geöffnet hatten, ließen alle großen Labels nur noch dort produzieren. Dunjas Mutter war eine Spitzenkraft, aber sie hatte Jo gefragt, ob er nicht etwas für ihre Tochter tun könne, denn mit dem Handwerk war es in Ungarn nicht mehr weit her, zumal, wenn man nicht direkt in Budapest wohnte. Aber das konnten sich viele nicht mehr leisten und ins Umland verlief sich kaum jemand, so wie Jo. Außerdem hatte die Mutter nicht unbegründete Angst davor, ihre Tochter könnte auf die schiefe Bahn geraten. Dunja war eine wahre Augenweide mit ihren schwarzen glatten langen Haaren, die ihr bis zum Po reichten, ihrer zierlichen Statur und ihrer strammen B-Körbchen-Oberweite, wären bestimmt eine Menge männliche Verehrer ganz schnell hinter ihr her gewesen – sicher nicht nur mit guten Absichten. So hatte Jo nach einigen Überlegungen zugestimmt sie zu sich zu nehmen, aber unter der Voraussetzung, sie müsse sich um einen Abschluss bemühen. Für Dunja war Jo eine Mischung aus edlem Ritter auf dem weißen Ross, der das arme Mädchen zu sich aufs Schloss holte und Superstar. Beide, Mutter und Tochter, hatten eiligst zugestimmt. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, hatte Jo sie von einem vertrauenswürdigen Fahrer, den Jo schon seit Jahren von früheren Besuchen in Budapest kannte, von ihrem Heimatdorf abholen und nach Budapest zum Franz-Liszt-Flughafen bringen lassen. Der Fahrer hatte sie dort noch fast in den Flieger gesetzt und Jo verständigt, dass sie unterwegs war. Fabien war es schließlich, der von Jo mit einem Foto und einem Schild bewaffnet zum Düsseldorfer Flughafen geschickt wurde, um sie dort abzuholen. Ab und zu musste er auch etwas für Jo tun, hatte er ihm doch sein Traumauto, einen nagelneuen Ford Mustang, gesponsert.

Kathy stellte Dunjas antikes Köfferchen erst einmal sicher und nun stellten sich die Mädchen nacheinander bei Dunja vor, damit sie alles halbwegs verarbeiten konnte. „Very“, rief Jo. „Hiii!“, kam die Antwort hinter der Spiegelwand und eine Hand winkte über den Schminkspiegeln. „Hast du gleich mal kurz Zeit?“, fragte Jo. Die Hand erschien wieder hinter dem Spiegel und öffnete sich einmal, schloss sich zur Faust und öffnete sich erneut, bevor sie wieder verschwand. Jo drehte sich zu Dunja. „Very braucht noch zehn Minuten“, übersetzte er ihr die Zeichensprache, „dann ist sie für dich da.“ Er nahm ihre Hände, breitet sie aus und drehte sie hin und her, während er sie mit kritischem Blick musterte. Dunja sah verunsichert zu den Anderen. Kathy nickte ihr zu, als wolle sie ihr bestätigen, dass alles seine Ordnung hätte. Veronika kam zu den Beiden und begrüßte die Neue. „Sag mal, hast du nicht noch das rückenfreie kleine Schwarze?“, fragte Jo, während er immer noch Dunja scharf musterte. Very überlegte, während auch sie jetzt Dunja eingehend musterte. „Ja, habe ich noch. Aber ich denke, ich habe noch was Besseres für sie für den Anfang, vielleicht nicht ganz so sexy.“, sagte Very und zwinkerte Dunja zu. „Komm mit, wir verwandeln dich jetzt mal“, verhieß sie lächelnd. Auf dem Weg hinter die Spiegelwand rief Very nach Dany und Steffi. Die beiden Gerufenen eilten herbei und der Kriegsrat begann. Nach kurzer Diskussion waren sich die Drei einig und Dany nahm Dunja bei der Hand und sie verschwanden Richtung Nassräume.

Die Klempner-Mannschaft hatte sich zwischenzeitlich in den Feierabend verabschiedet und ihren erneuten Besuch für den nächsten Tag angekündigt, da sie nicht alle Fehler beheben konnten. Agnes war vorsichtshalber unsichtbar geblieben.

Fabien war gelernter Elektriker und sollte die Anlage des Hauses überprüfen und auch teilweise wieder instandsetzen. Jetzt war er zu Jo gekommen und meinte: „Alter, was hast du denn da für eine Hütte ergattert? Die Pläne sind zum Teil noch von Adolfszeiten, zum Teil noch älter. Da sind Schriftzeichen dabei, die kenn ich net! Brauch mal nen Dolmetscher! Alter, neee!“ Jo sah sich die Pläne an und grinste: „Dat, meen Jung, ist deutsch! Die alte deutsche Schreibweise! Lass es mir hier, ich werde es dir bis morgen übersetzen. Bleibst du gleich noch zum Abendessen? Ich habe einen Tisch zur Feier des Tages im Turm bestellt.“ Fabi überlegte kurz und sagte schließlich zu.

Inzwischen waren Dany und Dunja von ihren Wasserspielen zurückgekehrt. Dany kam ganz nah an Jo heran und raunte: „Geh mal runter nachschauen, da unten in den Waschräumen stimmt was nicht! Ich fühle mich beobachtet!“ Dann setzte sie wieder ihr Lächeln auf, nahm Dunja bei der Hand und ging mit ihr zu der Spiegelwand, um dort mit der Verwandlung fortzufahren. Kaum da angekommen, gesellte sich Steffi mit ihren Schminkutensilien zu den Beiden.

Jo war alarmiert! Hatte es doch vor dem Verkauf in dieser Immobilie viele Straftaten auf dem Gelände gegeben. Forschen Schrittes eilte er zu den besagten Waschräumen und betrat diese langsam und ohne Licht einzuschalten. Er wartete einen Moment, bis sich die Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und spähte durch die verdreckten Scheiben konzentriert nach draußen. Was er dann sah, machte ihn wütend und gleichzeitig auch besorgt. Er fasste einen Entschluss und verließ seinen Beobachtungsposten so unbemerkt, wie er ihn eingenommen hatte.

3.3 Der Beobachter

Es war stockfinster in dem Raum. Die Luft war stickig und staubig. Die dunkle Gestalt drückte sich ganz nah an die Mauer neben dem halbblinden Fenster. Alles war voller Spinnweben und Staubflocken. Immer wieder versuchte die Person durch Veränderung der Kopfhaltung etwas mehr durch das verdreckte Fenster zu erblicken und starrte dabei ganz intensiv nach draußen. Dieser Mensch war so damit beschäftigt irgendetwas zu sehen, ohne dabei selbst gesehen zu werden, dass er nicht bemerkte, wie mittlerweile eine zweite Person den Raum betreten hatte. Diese zweite Person war vollkommen schwarz gekleidet und vermummt, sodass man das Gesicht nicht sehen konnte. Sie atmete völlig flach und bewegte sich absolut geräuschlos. Immer wieder in der Bewegung erstarrend, wenn die Gestalt am Fenster sich bewegte, näherte sich der Vermummte der anderen Person in Tippelschritten. Behutsam war er bis auf Armlänge an den anderen Menschen angeschlichen. Die Anspannung war in der Luft förmlich greifbar. Nach einer gefühlten Ewigkeit veränderte die Gestalt am Fenster wieder ihre Position. Jetzt schnellte der zum Zerreißen gespannte Körper der zweiten Person los. Der erfolgte Zugriff kam ansatzlos und völlig überraschend für den Fenstergucker. Er wurde vom Vermummten gepackt, mit einem Arm gegen das Fenster gepresst, während sein linker Arm hinter seinem Rücken so hochgezogen wurde, dass der Beobachter aufheulte und vornübergebeugt herumgerissen wurde. Urplötzlich lag der Fensterposten bäuchlings auf dem Boden und der Vermummte kniete auf seinem Rücken. So gab es kein Entkommen mehr. „Was machst du hier?“, herrschte der Obere den Liegenden an. „Nichts, nichts, gar nichts!“, jammerte der. „Warum schaust du dann hier aus dem Fenster nach da drüben?“, ging das Verhör unerbittlich weiter. „Ich mach doch nix!“, heult der Bekniete weiter. „Ich wollte doch nur sehen, ob der nette Mann wieder da ist.“ „Welcher nette Mann?“, bohrte der Schwarzgekleidete weiter. „Da war neulich so ein Mann, der hat mir fünfzig Euro gegeben, wenn ich für einen Abend von hier verschwinde“, jammerte der auf dem Boden Liegende. „Mit den fünfzig Euro bin ich jetzt über eine Woche ausgekommen und jetzt wollte ich nur sehen, ob ich da nochmal was kriegen kann“, fügte er hinzu. Der Verhörende hielt inne und überlegte. „Bitte tun sie mir nix, ich komm auch ganz bestimmt nicht wieder“ winselte der Unterlegene. Der Vermummte hatte offenbar eine Entscheidung gefällt und erhob sich. Er packte den immer noch Wimmernden und schleppte ihn nach draußen. Hier, an der Hafenbeckenseite des Gebäudes, lagen auf einer Parkbank diverse Sachen, wie sie von Obdachlosen gehortet werden. „Ist das deins?“, wollte der Mann in schwarz wissen? Der Gepeinigte bejahte die Frage und fing wieder an zu jammern. „Bitte nicht ertränken, ich kann nicht schwimmen!“, flehte er. „Setz dich! Hier wird niemand ertränkt – jedenfalls nicht heute“, kommandierte der Verhörexperte. „Jetzt erzähl mir nochmal die Geschichte mit dem netten Mann!“, forderte er den zitternden Mann auf. Dieser erzählte dann, dass er auf der Suche nach einem Schlafplatz hier im Hafen diesen schönen, überdachten und windgeschützten Platz gefunden hatte. Es war zwar weitab von der Stadt, aber der Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang waren sehenswert. Dazu wurde ihm dieser Platz von Niemandem streitig gemacht. Vor ein paar Tagen bemerkte er dann Bewegung in den Gebäuden und er wollte sich vergewissern, dass ihm kein Ärger droht. Deshalb ist er auf Suche gegangen und fand einen netten Herrn, im Anzug, der ihm fünfzig Euro bot, wenn er für eine Nacht verschwinden würde. Das hatte er getan und war nun wieder auf der Suche, weil er wieder Bewegung bemerkt hatte, um das eventuell nochmals zu wiederholen. Der Vermummte forderte den gebeutelten Mann auf, an Ort und Stelle zu bleiben, er würde dem neuen Eigentümer Bericht erstatten und ihn im Auge behalten, auch wenn er ihn nicht sehen würde. Danach verließ der Schwarzgekleidete die Anlegestelle, die auch zum Hauptgebäude gehörte und seinerzeit für den Transport über den Wasserweg genutzt wurde. Heute gehörte sie mit zu Jos Gelände. Kurze Zeit später erschien Jo auf der Hafenanlage und ging auf den immer noch angstgezeichneten Mann zu. „Hallo“, sagte Jo freundlich, „ich habe gehört, sie haben meinen Wächter kennengelernt?“ Der Andere nickte heftig und schluckte. „Nun gut“, sagte Jo, „wenn sie wollen, können sie hier bleiben und für mich arbeiten.“ Das verschlug dem geschundenen Mann die Sprache. „Arbeiten? Was kann ich denn schon machen? Nicht, dass ich nicht wollte, ich weiß nur nicht was?“ Jo ging auf den Mann zu: „Aufpassen! Sie können hier bleiben und einfach aufpassen, dass hier keiner anlegt, der hier nicht hingehört. Und in ein paar Tagen wird mein Boot hierhin verlegt, dann können sie darauf auch noch aufpassen. Ist das eine Idee? Natürlich gegen Bezahlung!“ Jetzt war es um Jos Gegenüber völlig geschehen, denn er schnappte nur noch nach Luft und nickte so stark, dass Jo fürchtete, sein Kopf würde gleich abfallen. „Prima“, freute sich Jo, „dann sind wir im Geschäft!“ Jo zeigte dem Mann noch, wo er in der Halle die Sanitäranlagen benutzen konnte und fragte nach, ob er für den Abend versorgt sei. Als der Mann dies bejahte, verabschiedete sich Jo von ihm und versprach ihm ein feudales Frühstück für den nächsten Tag, das der Mann gerne dankend annahm.

Jo kehrte wieder in den großen Raum zurück und wurde schon sehnlichst erwartet. Dany, Very und Steffi waren ganz versessen darauf, ihre neue Verwandelte zu präsentieren. „Bist du fertig für die Verwandelte?“, fragte Very. Jo nickte: „Lasst mal sehen, was ihr gezaubert habt!“ Very ging hinter die Spiegelwand und holte Dunja hervor, die nicht wiederzuerkennen war. „Wow“, entfuhr es Jo und Fabi gleichzeitig. Sie wirkte wie eine Elfe so zierlich, das lange, an den Schläfen teilweise geflochtene Haar kam voll zur Geltung und das körpernahe Kleid betonte ihre schlanke Taille und ihre Oberweite sehr vorteilhaft. Das perfekte Makeup unterstrich ihre Natürlichkeit. Dunja stand mit einem schulterfreien schwarzen Kleid da, hatte den Kopf gesenkt und zupfte immer etwas verlegen an dem, ihrer Meinung nach, viel zu kurzen Kleid. Aber es wurde halt nicht länger, das sagte ihr auch Kathy, die sie bewundernd ansah und anerkennend die Unterlippe vorschob: „Spitze!“. Jo ging auf sie zu, hob ihr Gesicht unter dem Kinn an und sagte ihr, dass sie umwerfend aussehen würde. Daraufhin kehrte das Strahlen wieder in Dunjas Gesicht zurück und das Zupfen ließ nach. Die anderen Teilnehmer hatten sich noch auf die Schnelle salonfähig gemacht und alle versammelten sich, um zum gemeinsamen Abendessen zur Feier des Tages in den Rheinturm zu fahren.