Zur Autorin

Dorothea Böhmer lebt in München. Im tredition-Verlag ist bisher von ihr erschienen „Der Tod der kleinen Katze – Kater Lanzelot packt aus“. Mitteilungen an die Autorin bitte an den Verlag: info@tredition.de oder dorothea-boehmer@gmx.de

„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche

Dorothea Böhmer

Der rosa Wolkenbruch

Ab morgen liebt er Männer

1

Wieso hatte sie im Wohnzimmer geschlafen? Julie blinzelte, das Licht kitzelte ihre Wimpern. Langsam wurde sie wach. Sie lag auf dem Gästesofa, sah sich um und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie betrachtete den Jugendstilschrank und die Stereoanlage, als hätte sie beide noch nie gesehen. Die Tür zum Gang war geschlossen, obwohl Julie geschlossene Türen nicht leiden konnte. Und überhaupt, warum lag sie nicht im Bett neben Christian?

Erst verschwommen, dann zunehmend klarer erinnerte sie sich an den vorhergehenden Tag. Sie und Christian hatten beschlossen, ab sofort in getrennten Zimmern zu wohnen. Seit langem wusste sie, dass ein Damoklesschwert über ihrer Ehe schwebte. Christian fühlte sich zu Männern hingezogen.

Draußen war Frühling. Julie hätte den strahlenden Tag als Aufmunterung nehmen können, doch sie bemerkte die Sonne gar nicht. Gegen Frauen hätte sie um ihn kämpfen können, gegen Männer brauchte sie gar nicht erst anzutreten. Es gab keinen Grund aufzustehen. Julie weinte und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

***

Fast sieben Jahre war es her, dass Julie Christian in der Kellerbar des Studentenwohnheims, in dem sie damals wohnte, begegnet war.

Wie in einer Bahnhofskneipe, dachte Julie. Sie lümmelte an der Theke. An den Sonntagabenden war der Geräuschpegel besonders hoch. Es schien, als ob alle gleichzeitig redeten, aber keiner zuhörte. Am Tresen war es eng, außerdem war es zugig. Jedes Mal, wenn die schwere Metalltür aufging, schlug sie wenig später krachend ins Schloss. Die einen meldeten sich vom Wochenende zurück, andere verschwanden nach einem Begrüßungsbier oder mit einem Schlummertrunk in der Hand Richtung Zimmer. Mitte der 80er Jahre waren gemischte Wohnheime nicht ungewöhnlich. Doch in diesem lebten junge Frauen und Männer nicht nur auf mehreren Stockwerken gemeinsam unter einem Dach, sondern in denselben Gängen Wand an Wand. Die Bewohner und Bewohnerinnen eines Ganges teilten sich Duschen, Toiletten und eine Gemeinschaftsküche.

Neben Julie stand in aufrechter Haltung Doris. Wie meist hatte sie das Wochenende bei ihren Eltern verbracht. Obwohl Doris schon im sechsten Semester Lehramt studierte, fuhr sie mit ihrem Bruder, der ebenfalls im Wohnheim lebte, spätestens jedes zweite Wochenende nach Hause. Sie hing sehr an ihrer Familie. Ihre Eltern, sie waren Nachbarn von Julies Eltern, hatten ein Häuschen mit Garten und konnten sich jährlich einen Sommer- und einen Winterurlaub leisten. Die Mutter hatte den Vater nie geliebt, ihn aber geheiratet, weil er ihr zur Seite stand, als sie schwer lungenkrank war. Doris fand das in Ordnung.

Julie hatte das Wochenende im Wohnheim verbracht. Sie liebte die Ruhe, die an Samstagen und Sonntagen im Haus herrschte. Ungestört konnte sie lesen und ihre Seminararbeiten schreiben. Manchmal ging sie spazieren oder ins Kino. Julie war zwar gerne unter Leuten, aber mindestens so gerne alleine.

Während Doris auf Julie einredete, überlegte Julie, ob sie in ihr Zimmer gehen sollte. Es interessierte sie weder, wie es der Großmutter von Doris ging, noch welchen Kuchen Doris am Wochenende gebacken hatte.

Sie selbst fuhr ungern nach Hause, weil sie nach einem Wochenendbesuch bei der Familie gerädert ins Studentenwohnheim zurückkam. Ständig wurde sie zu Hause für irgendwelche Arbeiten eingespannt. Julie war in einer Unternehmerfamilie groß geworden und bereits als Kind wurde ihre Mithilfe eingefordert. Kaum ließ sie sich außerhalb ihres Zimmers blicken, hieß es: „Julie, geh einkaufen“, „Julie, bring die Post zum Briefkasten“, „Julie, du sitzt hier noch im Schlafanzug und wir müssen Personal bezahlen“ oder „Julie, komm sofort aus der Toilette, du hast dich wieder mit einem Buch eingeschlossen“.

Lesen galt im elterlichen Betrieb als Nichtstun. Wurde Julie von der Mutter oder dem Vater mit einem Buch erwischt, bekam sie sofort eine so genannte nützliche Arbeit angetragen, wie abspülen oder Wäsche zusammenlegen, obwohl es eine Haushälterin gab. Waren ihre Eltern nicht in der Nähe, konnte Julie sicher sein, dass ihre ältere Schwester Hedwig sie störte und zwang, irgendetwas für sie zu besorgen oder zu tun. Weigerte sich Julie, beschwerte sich Hedwig umgehend bei der Mutter. Hedwig hatte immer die besseren Karten, weil sie alles tat, um den Eltern zu gefallen. Dabei vertrödelte Hedwig ihre Tage regelrecht. Aber kaum waren die Eltern oder ihr Bruder Arnold, er war der älteste von den drei Geschwistern, in der Nähe, begann sie, wie eine Verrückte das Waschbecken zu putzen, Staub zu saugen, einfach irgendeine Tätigkeit, um beschäftigt zu wirken. Sobald die Eltern oder der Bruder außer Sicht waren, musste Julie die Arbeiten zu Ende führen und Hedwig blätterte in Journalen, las Zeitung oder richtete ihre Frisur, eine ihrer Lieblingstätigkeiten. Hedwig stellte das christliche Weltbild der Eltern nicht in Frage, sondern ging ohne Widerrede am Sonntag mit ihnen und dem Bruder zur Kirche, aus der alle vier nach dem Gottesdienst mit verklärten Gesichtern zurückkamen. Weigerte sich Julie mitzugehen, war es klar, dass das Frühstück fertig sein musste, wenn die anderen vom Kirchgang eintrafen. An Ausschlafen war nicht zu denken, es wurde gezielt verhindert. Zudem war die Stimmung ihr gegenüber den ganzen Sonntag eisig, sofern sie nicht völlig geschnitten wurde. Nur Arnold hielt sich bei Unstimmigkeiten meist heraus. Er tat alles für seine beiden Schwestern, was Hedwig nach Julies Meinung ungeniert ausnutzte. Julie musste an Hedwigs letzten Umzug denken, bei dem Arnold und sie geholfen hatten. Hedwig war aus dem Lastauto ausgestiegen, hatte mit dem Wohnungsschlüssel geklimpert und gezwitschert: „Ich sperre schon mal die Wohnungstür auf.“ Ohne auch nur einen Karton mitzunehmen, wollte sie in den vierten Stock voraus gehen. Julie hatte ihr damals einfach zwei Korbstühle in den Arm gedrückt. „Aber nicht, ohne dass du etwas mit nach oben nimmst.“ Hedwig mied Arbeit, wo sie nur konnte.

***

Die Tür krachte wieder zu. Der Lärm riss Julie aus ihren Gedanken und holte sie in die Kellerbar zurück. Doris erzählte immer noch vom Wochenende. Julie nickte ihr zu. Sie hatte keine Ahnung, wovon Doris gerade geredet hatte, nahm einen Schluck Bier und sann weiter über ihre Familie nach.

Es war keine sechs Monate her, als sie zum Geburtstag ihrer Mutter zu Hause war und tags darauf mit Hedwig gestritten hatte. Hedwig hatte sich im Bad eingeschlossen, obwohl sie wusste, dass Julie bald von Doris und ihrem Bruder abgeholt werden würde, die sie im Auto mit zurück in die Studienstadt nahmen. Da Julie noch packen und sich fertig machen musste, war ihr der Kragen geplatzt. Sie hatte ihre Schwester als rücksichtsloses, egoistisches Monster bezeichnet. Zu laut. Ihre Mutter kam hinzu: „Wenn du uns nur zum Streiten besuchst, ist es besser, du kommst nicht mehr.“ Die Worte ihrer Mutter hatten sie getroffen, zumal diese keine Ahnung hatte, worum es bei dem Streit überhaupt gegangen war. Aber Hedwig konnte ja nicht schuld sein, Hedwig war nie schuld.

Für Julie war es ein Hinauswurf. Weihnachten hatte ihre Mutter getan, als wäre nichts gewesen. Es war für sie selbstverständlich, dass Julie über die Feiertage nach Hause kommen würde. Doch Julie war nur am Heiligen Abend heimgefahren und hatte sich am ersten Feiertag gleich nach dem Frühstück in den Zug gesetzt. Sie war alleine im Wagon gewesen und hatte die Stille genossen. Während sie jetzt darüber nachdachte, nahm sie sich vor, in diesem Jahr an Heiligabend im Wohnheim zu bleiben. Wozu sollte sie heimfahren? Nur damit man vor den Nachbarn das Bild der intakten Familie abgeben konnte? Warum musste sie diese Lüge unterstützen? Sollten die Nachbarn doch denken, was sie wollten.

***

Doris redete und redete.

Für ihre Mutter und Hedwig war Julie nicht erwachsen. Beide nahmen sie nicht ernst, konnten das auch nicht tun, sonst hätten sie sich mit sich selber und ihren eigenen Anschauungen auseinandersetzen müssen.

Seit Beginn ihres Studiums hatte sich Julie langsam, aber konsequent, von der Familie gelöst. Einfach war es nicht. Immer wieder rief die Mutter an, um versteckte Vorhaltungen zu machen: Wie gut man sie im Haushalt brauchen könnte. Und Hedwig bezeichnete Julie als skrupellos, weil sie nicht nach Hause fuhr. Verständlich, Hedwig konnte Arbeiten nicht mehr auf Julie abwälzen und musste selbst anpacken. Sogar Arnold nannte Julie eine Egoistin; er fuhr jedes Wochenende von der Domstadt, in der er studierte heim, um zu helfen. Julie blieb nicht nur bei ihrer Skrupellosigkeit, sondern baute sie aus. Zuerst fuhr sie nur alle vier Wochen nach Hause mit der Begründung, sie hätte viel zu lernen, dann alle sechs Wochen, dann alle acht und schließlich nur noch zu Feiertagen wie Ostern, Weihnachten und runden Geburtstagen. Jetzt, nach den harten Worten ihrer Mutter, hatte sie überhaupt keine Lust mehr, heim zu fahren.

***

Doris erzählte, dass eine Schulfreundin, die im Kirchenchor sang, bald heiraten würde.

Julie fragte sich, warum ihre Eltern sie als schwarzes Schaf bezeichnet hatten. Wahrscheinlich wegen ihrer rebellischen Fragen. Bestimmte Dinge durften nicht angezweifelt werden, die katholische Religion zum Beispiel und alles was mit Obrigkeit zu tun hatte. Worte des Pfarrers am Sonntag galten als unumstößliche Wahrheit. Wahrheit war einer der Lieblingsbegriffe von Julies Mutter und ein Kampfbegriff für Julie. Welche Wahrheit, wessen Wahrheit?

„Bevor du jemanden kritisierst, leiste erst das, was diese Person geschafft hat.“ So lautete die übliche Antwort des Vaters, sollte Julie der Meinung des Pfarrers ihre eigene entgegensetzten. Gingen dem Vater die Argumente aus, schrie er „Glaube heißt, nichts wissen“, zum Beispiel wenn Julie verkündete, dass sie die Jungfräulichkeit Marias für ein Ammenmärchen hielt. Im biblischen Urtext stand nämlich junge Frau, nicht Jungfrau. Das wusste sie von einem Theologiestudenten, der im Wohnheim lebte. Von der Mutter wurde Julie, sobald sie unbequeme Gedanken äußerte, zu irgendeiner Arbeit abkommandiert, z. B. Rechnungen sortieren im Büro, das ging zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Die Art und Weise wie die Familie lebte, galt bei den Eltern als richtig, davon abweichendes Verhalten falsch oder zumindest suspekt.

Julie seufzte. Sie hatte die Gehirnwäsche und den Kleinstadtmief gründlich satt. Deshalb hatte sie sich die Großstadt als Studienort gewählt. Welche Mühe es machte, den Schein der heilen Welt zu wahren. Julie und den Geschwistern war von klein auf eingeschärft worden, Dinge, die am Familientisch besprochen wurden, nicht nach außen zu tragen. Jeder Funken Lebenslust wurde durch Arbeit und antrainiertes Pflichtgefühl im Keim erstickt. Festgeklebt in einem Spinnennetz und eingesponnen wie eine Mücke, so kam sich Julie zu Hause vor.

Über ihren Vater war sich Julie nicht im Klaren. Zweifellos spielte er den Patriarchen, eine Position von ihrer Mutter nicht nur gestützt und gefördert, sondern geschaffen. „Der Mann ist der Kopf, die Frau ist der Hals der ihn lenkt.“ Wie oft hatte die Mutter Julies undiplomatischen Umgang mit Männern gerügt. Aber Julie hatte ihren eigenen Kopf und weiß Gott keine Zeit, einen zweiten zu lenken. Noch dazu wenn der dazu unfähig war. Im elterlichen Betrieb hatte die Mutter die Fäden in der Hand und wickelte den Vater um den Finger, wie er es gerne hatte. Gleichzeitig nahm sie ihm dadurch viel Arbeit ab, die sie sich selbst aufbürdete. Ihre Mutter arbeitete mindestens dreimal so viel wie ihr Vater, dessen war sich Julie sicher.

***

Die abgedunkelte Bar, das Stimmengewirr und die plätschernden Sätze von Doris entspannten Julie. Doris hatte ihre geistige Abwesenheit nicht bemerkt. Julie zwang sich jetzt, ihr zuzuhören.

„Ich werde heiraten und Kinder haben. Natürlich will ich meinen Lebensstandard halten. Bis ich Kinder habe, werde ich als Lehrerin arbeiten. Ich habe mir schließlich das Studium ausgesucht, weil ich in keinem anderen Beruf so viel Freizeit und Ferien habe. Er ist bestens mit Familie zu vereinbaren.“

Familie war das Stichwort. Julie ahnte, was folgen würde. Und es folgte.

„Du hast das alles weggeworfen. Wann hast du dich von Arthur getrennt? Vor vier Monaten? Ich verstehe dich einfach nicht. Er ist aus bestem Haus, studiert Jura, ist gutaussehend, zielstrebig und wollte sich mit dir verloben.“

Doris sprach wie Julies Mutter. Als Julie der darlegte, dass sie sich von Arthur getrennt hatte, weil sie nicht zusammen passten und sie ihn nicht mehr liebe, hatte ihre Mutter gesagt: „Darauf kommt es überhaupt nicht an. Wichtig ist, dass der Mann die Frau liebt, der Rest entwickelt sich schon.“

Julie wusste, dass es sinnlos war, sie antwortete Doris trotzdem:

„Ja genau. Er wollte sich verloben, um mich in einen Käfig zu setzen. Wie oft soll ich es dir noch erklären? Ich habe mich an seiner Seite nicht frei gefühlt. Statussymbole waren ihm wichtig, vom silbernen Kugelschreiber bis zu Designer-Klamotten.“

„Und was, bitte schön, ist schlecht an einem silbernen Stift und Markenkleidung?“

„Nichts, ganz im Gegenteil. Ich bin die erste, die sich über einen silbernen Kuli freut. Aber ich definiere mich nicht darüber. Das war es, was mich genervt hat. Nimm solchen Männern ihre teuren Spielzeuge weg, was bleibt dann noch? Nichts. Und seine Zukunftspläne für uns: Übernahme der Kanzlei seines Vaters im besten Viertel der Stadt, ein Haus am Stadtrand, Kinder. Ich hätte repräsentieren dürfen. Wundervoll. Pünktlich um 17.00 Uhr den Feierabend-Aperitif kredenzen, Häppchen mit Partygürkchen und bunten Paprikastreifen garnieren, Gäste unterhalten. Natürlich hätte ich auch berufstätig sein können, sollte ich Zeit dafür finden.“

Julie war verärgert über die Naivität von Doris, und Doris war sauer, dass Julie trotz ihrer vorlauten Art bei Männern gut ankam. Sie hätte Arthur sofort genommen. Irgendwann würde es Julie einsehen, dass eine Familie das Schönste auf der Welt war. Julie hatte ihrer Meinung nach extreme Ansichten, weshalb es sinnlos war, mit ihr über Beziehungen zu sprechen.

Doris und sie hatten zu unterschiedliche Vorstellungen von Beziehungen und vom Leben überhaupt. Julie hatte keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden.

2

Mit vibrierenden Scheiben flitzte der kleine grüne Fiat über die Autobahn. Harry steuerte auf die Stadt zu, in der Christian Betriebswirtschaft studierte und versuchte Christian zu überreden, mit ihm weiter zu fahren in die Großstadt.

„Du brauchst die Vorlesungen morgen sowieso nicht. Wir gehen heute in die Kellerbar im Studentenwohnheim und morgen siehst du dir die große Kunstausstellung an. Schlafen kannst du bei mir im Zimmer.“

Harry hatte keinerlei Interesse an Kunst, wusste aber, dass er Christian damit locken konnte. Er hatte Lust, heute mit seinem Freund zu trinken. Christian zu überzeugen, war nicht schwer, denn er mochte sein Studienfach nicht. Erst hatte er auf Drängen seiner Eltern eine Lehre zum Bankkaufmann absolviert, dann ein entsprechendes Studium angehängt, das ihn genau so wenig interessierte wie die Lehre. Er spielte sehr gut Klavier und hätte am liebsten Musik studiert, für seine Eltern kam das nicht in Frage. Die Großstadt mit ihren Konzertsälen und Bühnen war für Christian seine Traumwelt, weshalb er nur kurz überlegte.

„Warum nicht, morgen sind keine wichtigen Veranstaltungen an der Uni, es reicht, wenn ich am Abend mit dem Zug zurückfahre.“

Leere Bierflaschen kegelten unter Christians Sitz nach vorne, als Harry das Gaspedal durchtrat und an der Ausfahrt „Zentrum“ vorbeifuhr.

„Christian, ist noch ein Bier auf dem Rücksitz?“

„Du solltest beim Autofahren nicht trinken.“

Christian öffnete die letzte Flasche mit dem Taschenmesser und reichte sie Harry.

„Ich weiß.“

3

Drei Gläser Wein. Doris hat heute richtig über die Stränge geschlagen, wunderte sich Julie. Kurz vor Mitternacht beschlossen beide ins Bett zu gehen. Als sie nicht mehr über Beziehungen sprachen, war der Abend noch recht lustig geworden. Die Tür der Kellerbar fiel knallend hinter ihnen zu, während sie versuchten, untergehakt die Treppenstufen zu treffen. Julie hielt sich am Geländer fest und zog die kichernde Doris hinter sich her. Zur selben Zeit schnappte die gläserne Haustür des Wohnheimes zu. Harry und Christian trafen die beiden jungen Frauen auf der Treppe in nicht gerade vorteilhafter Haltung an, aber mit durchaus sympathischer Ausstrahlung

„Hallo Harry.“ Julie sah ihn zuerst. Ihr fiel wieder auf, dass er einen ziemlichen Bierbauch hatte.

„Hallo Mädels. Los, kommt mit runter. Wir müssen nach der langen Fahrt etwas trinken. Das ist Christian.“

„Hallo Christian“, säuselte Doris angetüdelt.

„Was meinst du Doris, sollen wir mit? Ich gehe nur, wenn du mitgehst.“ Julies Füße standen bereits treppabwärts.

Christian sah Julie an. Seine Augenfarbe konnte sie in dem dunklen Treppenhaus nicht erkennen. Bis auf ein ruhiges „Hallo“ hatte er noch nichts gesagt.

„Das ist Erpressung!“ Aber Doris ging mit.

Harry nahm Julie rechts und Doris links in die Arme und schob beide vor sich her.

***

Sie redeten ununterbrochen. Christian erfuhr, dass Julie Journalismus studierte, im Nebenfach Kunstgeschichte belegt hatte und sich auf Fotojournalismus spezialisierte. Sie sprachen über Konzerte, über Künstler und über Kunst in und an öffentlichen Gebäuden.

Harry meinte: „Ich sehe nicht ein, dass manche Künstler und ihre Kunst durch Steuergelder finanziert werden. Warum soll die Allgemeinheit für die Selbstverwirklichung von Egozentrikern zahlen?“

Das brachte Julie auf: „Weil sie die Allgemeinheit inspirieren und ihr Denkanstöße geben, auf welche die Allermeisten sonst nie kämen, da sie weder Zeit noch den Grips dazu haben.“ Sie unterdrückte zu sagen, Leute wie du zum Beispiel.

So müsste das Mädchen sein, das ich einmal heirate. Christian wusste selbst nicht, wieso er plötzlich auf diesen Gedanken kam. Es gefiel ihm, wie Julie ihre Meinung vertrat.

Unvermittelt rief Doris: „Wisst ihr, dass ihr ausseht wie Geschwister?“

Julie und Christian hatten tatsächlich große Ähnlichkeit, die Haarfarbe, die Augenfarbe, überhaupt die Gesichtszüge. Christian war aber in seiner Stimme, seinen Bewegungen und Bemerkungen sehr viel ruhiger als Julie.

Harry und Doris waren längst in ihren Zimmern verschwunden, als der studentische Bardienst Christian und Julie hinauswarf. Bevor Christian im Flur verschwand, in dem das Zimmer von Harry lag, umarmte er Julie. „Ich bin froh, dass mich Harry mitgenommen hat.“

„Für mich war es ein sehr schöner Abend.“ Sie zögerte. „Schade, dass ich die Vorlesung über Bildrechte morgen nicht ausfallen lassen kann.“

„Ja, schade.“

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Christian drehte sich im Gang noch einmal um und sah Julie nach, die im gegenüberliegenden Flur verschwand.

4

Julie schlug so fest auf den piependen Wecker, dass er scheppernd vom Regal auf den Schreibtisch fiel. Klaus, ihr Zimmernachbar, würde sich wieder über den Lärm beschweren. Sie war von selbst aufgewacht und schon fast angezogen. Christian ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Irgendetwas war an ihm anders als bei den Männern, die Julie kannte, aber sie wusste nicht genau, was es war. Er hörte aufmerksam zu, war rücksichtsvoll, fast sanft, hatte nicht über Fußball oder Autos gesprochen, war an Oper und Kunst interessiert und vor allem stellte er nicht das männliche Imponiergehabe zur Schau, das Julie so lächerlich und nervig fand. Außerdem hatte er keine Frauen gemustert. Naja, er hatte Julie zwar beobachtet, aber anders als die vielen Männer, die Frauen nur nach dem Aussehen beurteilten. Julie hatte das Gefühl, Christian sah sie als Person. Sie schlüpfte in die Jeans. Noch bevor sie zur Uni ging, musste sie Sophie erwischen. Ihre Freundin wohnte ein paar Zimmer weiter. Vielleicht wusste Sophie etwas über Christian, schließlich stammten Markus, ihr Freund, Harry und Christian aus demselben Dorf.

Mit ihren kurzen, dunkelblonden Locken und grünen Augen sah Sophie pfiffig aus. Sie war ein Küstenkind aus dem hohen Norden. Wenn Julie sie betrachtete, war sie immer erstaunt, wie viel Energie Sophie ausstrahlte. Von der angeblich nordischen Kühle war an ihr nichts zu bemerken.

„Ja, natürlich kenne ich ihn.“ Sophie nahm einen Schluck Tee. Sie saß Julie am Tisch der Stockwerksküche gegenüber, kostete es aus, dass Julie sie erwartungsvoll ansah, und ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Dann stützte sie ihr Gesicht in die Hände und gab enttäuscht zu: „Weißt du, ich habe ihn nur einmal gesehen. Ich bin zu Harry ins Auto gestiegen. Plötzlich kommt von hinten eine Stimme und sagt „Hallo Sophie“. Ich habe mich umgedreht und war erstaunt, weil ich nicht wusste, dass noch jemand da war. Harry hat Christian dann vorgestellt. Er sieht sehr gut aus. Findest du nicht auch?“

Mechanisch rührte Julie in ihrem Kaffee und beobachtete die kleinen Kreise an der Oberfläche. „Hm.“

„Er gefällt dir also? Nicht zu fassen, hattest du nicht gestern noch die Nase von Männern voll?“

„Du sollst hier nichts über mich erzählen, sondern über Christian. Aber du hast Recht. Ich habe die Nase von Männern voll und überhaupt keine Zeit für eine Beziehung. Danke für den Hinweis, das macht es leichter.“

„Hör zu. Ich bin nächsten Freitag bei Markus zu Hause und werde Christian wahrscheinlich bei einer Geburtstagsfeier treffen. Ich lade ihn zu unserem Sommerfest ein.“

„Mach keinen Unsinn.“ In hohem Bogen warf Julie den Kaffeelöffel vom Tisch aus ins Spülbecken, so dass es schepperte, trank ihren Kaffee aus und ließ Sophie sitzen.

5

Mit einem lauten Ratsch riss Julie Frischhaltefolie entlang der gezackten Metallleiste von der Rolle. Es war später Samstagnachmittag. Sie und Doris hatten in der Küche alle Hände voll zu tun mit letzten Vorbereitungen für das Sommerfest am See. Auch ihr Zimmernachbar Klaus und seine Freundin Edith, sie war über das Wochenende zu Besuch, halfen mit. Doris rührte eine Vanillecreme an und Julie deckte den Kartoffelsalat mit Folie ab. Sie überlegte, ob sie als nächstes Tomatensalat oder Knoblauchbutter zubereiten sollte, als das Flurtelefon läutete. Alle anderen hatten die Hände voll, also ging sie an den Apparat.

„Sophie! … Ich verstehe nichts. Es rauscht so. … Ja, jetzt ist es besser. Wo bist du?“

„Wir sind an einer Autobahnraststätte und ungefähr in einer Stunde bei euch. Christian ist bei uns.“

„Was? Wie hast du das gemacht?“

„Ich habe ihn in deinem Namen zum Sommerfest einladen und betont, dass du dich sehr freuen würdest, wenn er mitkäme.“

„…“

„Hallo? Julie? Julie, bis du noch dran?“

Julie sprach langsam, mit tiefer Stimmt und betonte jede Silbe: „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

„Reg dich nicht auf. Du klingst wie aus der Gruft. Er hat sofort ja gesagt. Bis gleich.“ Die Leitung knackte.

Julie hielt den Hörer noch in der Hand. Freute sie sich? Ja. Aber sie war verunsichert und nervös. Wie sollte sie sich Christian gegenüber verhalten?

„Was ist?“ Doris sah sie erwartungsvoll an.

„Sophie schätzt, dass sie in einer Stunde da sind.“

Julie zog eine Flasche Chianti aus der Weinkiste heraus. Im großen Weidenkorb, in dem sie Besteck, Servietten und Gläser verstaut hatte, angelte sie nach dem Korkenzieher. „Noch jemand einen Schluck?“

„Ja, schenk mir was ein.“ Klaus studierte ebenso wie Doris Lehramt.

„Dass du dich nie zurückhalten kannst.“

Er ignorierte das Genörgel seiner Freundin Edith, die sich selbst als seine Verlobte ausgab. Erst vor ein paar Tagen hatte sich Klaus bei Julie das Herz ausgeschüttet und ihr gestanden, dass Edith ihn seit Monaten bekniete, endlich zu heiraten. Für Klaus war es wichtig, erst das Studium abzuschließen und eine feste Stelle zu haben. Er wollte finanziell gesichert sein, bevor er sich zu einem solchen Schritt entschloss. Der eigentliche Grund, warum er mit Julie gesprochen hatte, er war an dem Abend mit einer Flasche Wein in ihr Zimmer gekommen, war sein letzter Besuch bei Edith. Klaus stand immer noch unter Schock als er davon erzählte. Edith hatte ihm das Brautkleid vorgeführt, das sie sich ohne sein Wissen und ohne einen Heiratsantrag von ihm erhalten zu haben, gekauft hatte: eine üppig verzierte Robe mit Reifrock und Schleppe; sogar den langen Schleier hatte sie sich ins Haar gesteckt.

6

Christians Augen leuchteten, als er Julie sah. „Danke für die Einladung!“

„Gerne.“ Julie wurde rot bis unter die Haarwurzeln und drückte Christian eine Tüte mit Baguette-Stangen in die Arme, verbunden mit der Bitte sie ins Auto von Markus zu legen. Sie würde sich Sophie später vorknöpfen.

Als die Körbe mit Geschirr, Essen und Getränken in die Autos verladen waren, fuhren sie los. Julie und Christian im Auto mit Sophie und Markus; Harry mit seiner Freundin im grünen Fiat, die anderen strampelten auf Fahrrädern hinterher.

Später saßen Christian und Julie gemeinsam auf einer Decke am See, und noch später lagen sie am Lagerfeuer in Schlafsäcken nebeneinander. Wie selbstverständlich kuschelte sich Christian an Julie und küsste sie. Als sie gegen 3.00 Uhr in der Frühe in das Studentenwohnheim zurückkehrten, war es für beide die natürlichste Sache der Welt, dass Christian nicht in Harrys Zimmer, sondern bei Julie übernachtete.

In der blauen Bettwäsche sieht er mit seinen halblangen Haaren aus wie ein Märchenprinz, dachte Julie, als sie Christian am Morgen ansah. Hatte er ihren Blick gespürt? Christian schlug die Augen auf und zog Julie an sich.

Sie streichelte ihn.

Eine Zeit lang lagen sie sich still in den Armen. Dann gab Christian sich einen Ruck: „Julie, ich muss dir etwas sagen.“

Seine Stimme klang brüchig.

„Ich habe einmal eine Nacht mit einem Mann verbracht.“

Julie sah ihm irritiert in die Augen. „Wie meinst du das, mit einem Mann verbracht?“

„Ich bin in eine Schwulenkneipe gegangen, habe mich an die Bar gesetzt und ein Glas Wein getrunken.“

Christian dachte an die Situation zurück. Wie viel Mut es ihn gekostet hatte, in die Kneipe zu gehen. Alle Männer hatten ihn, den Neuen, wie Frischfleisch beäugt.

„Nach einer Weile hat mich der Barkeeper angesprochen und gefragt, ob ich mit ihm komme, wenn er schließt.“

Christian stockte und starrte an die Decke.

„Ich bin mit ihm gegangen. Für ihn war ich einer von Vielen. Das war für mich nicht schlimm, ich war nicht in ihn verliebt, sondern wollte einfach mit einem Mann zusammen sein. Am nächsten Tag war ich unbeschreiblich glücklich. An diesem Tag habe ich mich mit meinem Vater getroffen, er hatte zufällig in der Stadt zu tun. Am liebsten hätte ich ihm alles erzählt. Aber er wäre ausgerastet. Ich weiß, wie mein Vater über Homosexualität denkt. Er hätte mich verstoßen.“

Julie war von Christian abgerückt und versuchte, seine Worte einzuschätzen. „Warst du vorher schon an Männern interessiert?“

Christian überlegte. „Als ich zwölf Jahre alt war, hatten wir einen gleichaltrigen Austauschschüler aus England in unserer Familie. Ich habe immer seine Nähe gesucht, wollte immer bei ihm sein. Wenn ich zurückdenke, glaube ich, ich war in ihn verliebt. Damals habe ich das nicht begriffen.“

Julie war still. Christian sah sie an.

„Warst du nie in eine Frau verliebt?“ wollte Julie wissen.

„Ich hatte ein Jahr lang eine Beziehung. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie mit einem Studenten befreundet ist und hat Druck auf sie ausgeübt, bis sie sich von mir getrennt hat.“

„Sonst keine?“

„Es gab ein rothaariges Mädchen an der Uni, das mir sehr gefallen hat. Ich habe mich nie getraut, sie anzusprechen. Julie, wegen der Sache mit dem Mann, … bist du jetzt geschockt?“

„Nein, ich denke, die meisten Leute sind bisexuell veranlagt und jeder Mensch trägt weibliche und männliche Züge in sich. Oder besser gesagt Züge, die von unserer Gesellschaft als männlich und weiblich definiert werden, was immer das auch sein soll. Wie oft sehe ich männlich wirkende Frauen und weiblich wirkende Männer. Wahrscheinlich gibt es so viele sexuelle Identitäten wie es Menschen gibt.“ Sie hob den Kopf: „Wie ist es jetzt? Hast du Verlangen nach Männern?“

Er rutschte zu ihr. „Nein, jetzt habe ich ja dich.“

Bevor sie aufstanden, griff Julie nach dem Büchlein Sprüche zum Tag, das neben ihrem Bett lag.

„Ich will schauen, unter welchem Motto der Tag stand, an dem wir uns das erste Mal gesehen haben.“ Sie las vor: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker, von Nietzsche.“ Enttäuscht ließ sie sich zurückfallen. „Och, ich habe gehofft, dass irgendetwas Romantisches drin steht.“

„Ich schick dir einen romantischen Satz per Post.“ Er küsste sie zärtlich. „Meine Julie.“

7

Die Bahn verdiente prächtig an ihnen. An einem Wochenende trafen sie sich bei Christian, am nächsten bei Julie. Sie besuchten Kunstausstellungen, gingen ins Kino, in die Oper, unternahmen lange Spaziergänge, kochten gemeinsam und trafen Freundinnen und Freunde. „Die Sonne geht auf“ wurde zum geflügelten Wort im Freundeskreis, wenn beide den Raum betraten.

***

Julie war nur nach Hause gefahren, weil ihr Vater einen runden Geburtstag hatte. Ihre Familie nahm Christian mit offenen Armen auf, was nichts Besonderes war, weil Julies Mutter nette, gut erzogene Männer generell mit offenen Armen aufnahm.

„Biete doch Christian ein Brot an.“

„Christian kann sich selbst ein Brot aus dem Korb nehmen, er wird wissen, ob er Hunger hat.“ Julie war wütend. Später zog ihre Mutter sie beiseite: „Christian ist so ein guter Mensch, und du bist so egoistisch. Du verdienst ihn gar nicht und musst noch viel lernen. Ihr jungen Frauen wisst nicht, wie man einen Mann glücklich macht.“

„Mir ist es wichtiger, mich glücklich zu machen. Nur dann hat Christian etwas von mir.“

„Du wirst dir die Hörner noch abstoßen.“

Christians Mutter war dagegen der Studentin aus der Großstadt gegenüber äußerst misstrauisch. Julie würde ihren Sohn vom Lernen abhalten. Ihrer Meinung nach sollte er sein Studium beenden, sich einen Job suchen und viel verdienen. Nur das zählte.

Und Christians Vater? Er war als Bauingenieur oft im Ausland tätig gewesen und betonte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, eine Beziehung könne nur funktionieren, wenn genug Geld da sei.

Eines Abends bei Christians Eltern konnte sich Julie nicht zurückhalten: „Ja, Sie haben gut verdient und Ihre Familie ernährt, aber um welchen Preis? Sie haben Ihre Frau und Christian nur am Wochenende gesehen, und wenn Sie im Ausland waren nur zweimal im Jahr. In einem Jahr sind Sie sogar Weihnachten nicht nach Hause gekommen.“

„Was hätte ich machen sollen? Das Haus musste abbezahlt, der Sohn ernährt werden.“

Christian fand die Reihenfolge bemerkenswert, sagte jedoch nichts.

Wie gut kannte Julie das aus ihrer Familie. Materiell war für sie und ihre Geschwister bestens gesorgt worden. Essen war das Wichtigste. Nur während der Mahlzeiten war es erlaubt, nicht zu arbeiten. Für die seelischen Bedürfnisse der Kinder gab es dagegen weder Zeit noch Verständnis. Vielleicht lag es an der Hilflosigkeit oder Unfähigkeit ihrer Eltern, Gefühle anzusprechen. Konflikte wurden in Julies Familie auf einfachste Weise gelöst: Sie wurden ignoriert.

Soweit Julie auch zurück dachte, immer hatte sie das Gefühl gehabt, im Weg zu stehen, Zeit zu kosten, abgefertigt zu werden. Ja, die Mutter hätte für sie Zeit, wenn sie aus dem Büro käme, sie hatte das gesamte Personalwesen und die Buchhaltung der Firma in der Hand. Nein, doch keine Zeit, sie hatte sich Arbeit mit in die Wohnung genommen. Wenn sie damit fertig wäre, dann hätte sie Zeit für Julie. Auch nicht. Nach dem Abendessen. Meist schlief ihre Mutter am Tisch vor Erschöpfung ein.

Christians Mutter hatte die Angewohnheit, seine Briefe zu öffnen, mit der Begründung, es könnte etwas Wichtiges sein. Er war zu schüchtern, um sich zu wehren. Schon früh hatte er sich in sich zurückgezogen und ging Streitereien aus dem Weg.

Die ganze Zuneigung, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die Christian und Julie in der Kindheit vermisst hatten, suchten sie jetzt beieinander. Sie konnten nicht oft genug und nicht eng genug zusammen sein.

8

In dicken Wollpullovern, die Julie gestrickt hatte, und eingemummt in Schals und Mützen stapften beide durch den verschneiten Park, die Hosen in die Stiefel gestopft, weil der Schnee hoch lag. Fast eineinhalb Jahre kannten sie sich inzwischen.

So beiläufig wie möglich sagte Christian: „Was hältst du davon, wenn ich ab März an deiner Uni studiere?“

Abrupt blieb Julie stehen. „Ist das dein Ernst?“

Er schob sie weiter. „Ja. Ich denke seit längerem darüber nach.“

„Und deine Eltern, was werden die sagen?“

„Das ist mir egal. Ein Wechsel ist kein Problem. Alle bisher abgelegten Prüfungen werden anerkannt, ich habe mich erkundigt. Es geht nur noch um die Diplomarbeit. Also … was hältst du von dem Plan?“

„Ein wunderbarer Plan! Ich kann dir gar nicht sagen wie wunderbar!“

Umschlungen stampften sie sich einen Weg durch die Winterlandschaft.

„Ich habe nur Angst davor, dass du mich bei irgendeinem Streit vor die Tür setzen wirst, meine Prinzessin.“

„Wie kommst du auf die Idee?“

„Na ja, manchmal bist du ein bisschen impulsiv.“

„Ich und impulsiv?“ Julie bückte sich, pappte einen Schneeball zusammen und warf ihn Christian hinterher, der rannte, so schnell es im tiefen Schnee nur ging.

***

Christian meldete sich an seiner alten Uni ab, lieh sich von einem Freund dessen roten VW-Bus für den Umzug und stellte, nachdem alles geregelt und nichts mehr rückgängig zu machen war, seine Eltern bei einem sonntäglichen Mittagessen vor vollendete Tatsachen.

„Übrigens ziehe ich ab März zu Julie.“

Seinen Eltern verging der Appetit schlagartig. Der Vater legte das Besteck zur Seite. Seine Stimme klang heftig.

„Das geht nicht, so kurz vor dem Abschluss. Du verlierst Zeit. Und was der Umzug kostet.“

„Julie und ich haben eine günstige Wohnung gefunden.“ Selbst wenn sich Christians Studium durch den Hochschulwechsel verlängert hätte, wäre es für ihn irrelevant gewesen.

„Hat das die Julie verlangt?“ Der Mund der Mutter war schmal geworden.

Christian sah seine Mutter an: „Nein, es war meine Idee. Ich habe sie überrascht.“

„Schöne Überraschung. Die Großstadt ist teuer. Von uns bekommst du nicht mehr Unterstützung als bisher“, kam als drohender Einwand vom Vater.

„Ich habe mich bei meiner alten Uni abgemeldet.“ Außerdem hatte er einen Nebenjob angenommen. Das sagte er aber nicht. Sein Leben ging die Eltern nichts mehr an.

9

Die Grünpflanzen wuchsen und wucherten in der hellen Einzimmerwohnung. Julie und Christian hatten es sich gemütlich gemacht mit dem ausziehbaren Schlafsofa, dem alten, abgebeizten Küchentisch mit der riesigen Schublade, in der sie Besteck und viele Kleinigkeiten verstauen konnten, mit Klappstühlen, einem Kleiderschrank, Bücherregalen und zwei Schreibtischen, die sie so stellten, dass sie Rücken an Rücken saßen, um sich bei der Arbeit nicht abzulenken. Für Bilder war an den Wänden kein Platz, doch die winzige Küchenzeile beklebten sie mit bunten Postkarten, die sie mit der Zeit von Freunden und Bekannten bekamen.

Wenige Wochen nach dem Einzug fuhr Christian zu seinen Eltern. Er hatte etwas bei einer Behörde zu regeln. Julie wunderte sich, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie mitkommen wollte. Aber im Grunde war sie froh darüber, weil sie eine Seminararbeit schreiben musste. Außerdem vermutete sie, es ginge um Formalitäten wegen seines Umzugs.

Als Christian am nächsten Abend zurück war, deckte er sorgfältig den Tisch für das Abendessen, rückte die Kerzenleuchter zurecht, faltete die Servietten und stellte Rotweingläser neben die Teller. Er mochte es, stilvoll zu essen und Julie zu verwöhnen. Julie ließ sich gerne verwöhnen. Es war für sie eine neue Erfahrung, denn zu Hause war sie in keinster Weise verwöhnt worden.

Christian ließ seinen Blick prüfend über den Tisch gleiten.

„Weißt du, wo ich heute Morgen war?“ Er zupfte das Tischtuch zurecht.

Julie angelte konzentriert im Topf nach den Tagliatelle, um zu prüfen, ob sie fertig waren. Ständig rutschen ihr die Teigbänder vom Kochlöffel.

„Hm? Nein.“

„Ich war auf dem Einwohnermeldeamt.“

Sie hatte es immer noch nicht geschafft, Nudeln über den Kochlöffel zu hängen. Sie legte ihn weg und nahm den großen Schöpflöffel aus der Tischschublade.

„Wie schön du gedeckt hast.“

Ja, so war es kein Problem mit den Nudeln.

„Ich habe alle Unterlagen besorgt, die wir für unsere Hochzeit brauchen.“

Der Schöpflöffel platschte in den Topf. Christian stand jetzt neben Julie und fischte den Löffel samt Nudeln heraus.

„Die Papiere sind nur ein halbes Jahr gültig.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Julie die Sprache wieder fand.

„Das ist ein Heiratsantrag, stimmt´s?“ Sie sah ihn verdutzt an. „Dann könnten wir nach dem Essen eine Liste machen von den Leuten, die wir einladen wollen.“ Übermütig hüpfte sie durch das Zimmer. „Du darfst jetzt die Braut küssen.“

„Wie denn, wenn sie nicht ruhig hält!“

Beide waren ausgelassen und gleichzeitig bewegt. Christian ließ Julie nicht mehr los und tanzte mit ihr durch die kleine Wohnung. Dann öffnete er den Kühlschrank und holte eine Flasche Sekt heraus, die er ganz hinten versteckt hatte.

Julie hielt Christian zwei Sektschalen entgegen, als er den Korken knallen ließ. „Auf uns.“ Die Gläser klirrten.

Bei Tisch wurde Christian kleinlaut. „Aber meinen Eltern müssen wir es gemeinsam sagen, alleine traue ich mich nicht.“

Julie drehte ihre Nudeln auf die Gabel. „Erinnerst du dich an den Satz Was mich nicht umbringt, macht mich stärker? Ich weiß jetzt, auf was sich der bezogen hat, auf unsere Eltern!“

***

Dass ihre unverheiratete Tochter mit einem Mann zusammenlebte, wollten Julies Eltern nicht wahrhaben und taten vor sich und anderen alles, um es zu verbergen. Aber die hartnäckigen Fragen von Tante Lisbeth nach der Wohnform von Julie und Christian waren immer schwerer zu beantworten und wurden langsam lästig. Deshalb waren Julies Eltern über die Aussicht auf eine Hochzeit heilfroh.

Christians Eltern waren hingegen entsetzt. Wie versteinert saßen beide beim Abendbrot, als Christian die Neuigkeit verkündete. Er hatte es den ganzen Tag vor sich hergeschoben, obwohl ihm Julie oft mit rollenden Augen ermutigend zugenickt oder einen kleinen Stoß in die Rippen verpasst hatte.

„Wir wollen keine Beschwerden hören, wenn es schiefgeht“, war der einzige Satz seiner Mutter.