„Familie ist nicht Blut. Familie ist Hilfe, Treue, Nähe und Akzeptanz. Wenn ich das in meiner Blutsfamilie nicht finde, dann gehe ich und suche es mir woanders.“

Djun

Martin Engelbrecht

Wahlfamilien en gros

Band 2 der Chroniken zwischen Innen und Außen

Inhalt

Aussprache der Eigennamen

Was bisher geschah

Wahlfamilien en gros

Wer ist wer auf Bitter?

Aussprache der Eigennamen

(Auszug aus der „Entzyklopedie obskuurer Worte und Reedewendungen“, Weiß und Rosenrot Willkopp 1180, Trueb, Wissenschaftlicher Fachverlag der Alma Mater von Trueb S. VI):

„Folgende Liste mag das geneigte Leservolk mit dem Stifte kopieren und bei der geneigten Lektuere neben sich legen. So verfuegt man ueber eine Hilfe, die Eygennamen in korrekter Weise auszusprechen. Man wird mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass man die Laute bald auswendig versteht und setzt, als gehoerten sie zur eigenen Sprache. Diese Erweiterung der Sprachfehigkeiten ist in unserem Sinne, erweitert doch jede Moeglichkeit zu sprechen auch unsere Moeglichkeiten zu denken.

Th – Ein stumpfer Zischlaut, erzeugt, indem man die Zunge nahe an die oberen Zähne fuehrt, ohne sie jedoch zu beruehren und dann die Luft ausblest.

Dh - Der nemliche Zischlaut, diesmal lediglich stimmhaft, das heisst, zusetzlich lasse man ein Summen in der Kehle erklingen.

J – Wie ein Sch, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

Dj - Wie das J, aber mit einem D als Anlaut.

Y – Als Mitlaut wie das herkoemmliche J,als Selbstlaut wie ein I zu sprechen.

Yy - Wie ein herkoemmliches ij.

V - Wie ein F, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

Z – Wie ein S, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

Gh - Wie ein Ch in Nacht, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

W - Zwischen dem herkoemmlichen W und dem U angesiedelt.

Die Betonung haben wir durch Akzente vereindeutigt, wo immer sie dem Sprachgefuehle des Leserkreises zuwiderlaufen könnte.“

Was bisher geschah

(Zusammenfassung des ersten Teils der Chroniken zwischen Innen und Außen: „Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen“)

Herzlich willkommen auf Bitter! Die Schuhe bitte draußen lassen. Kommt rein und setzt euch. Nehmt von dem Roten, der müsste noch heiß sein. Die süßen Steine sind frisch aus dem Ofen. Schau nicht so, wenn du Angst um deine Linie hast, iss einfach nur die Hälfte.

Bevor wir richtig loslegen, sind vielleicht ein paar Erklärungen ganz hilfreich.

Ja?

Dann los.

Unsere Geschichte spielt auf Bitter, einem Planeten, der sich von Anfang an alle Mühe gegeben hat, seinem Namen gerecht zu werden. Tiere und Pflanzen schienen nichts weiter im Sinn zu haben, als der Menschheit das Leben zur Hölle zu machen. Und als ob das nicht ausreichen würde, werden die Menschen Bitters bis heute von einer ungewöhnlich hohen Mutationsrate heimgesucht, die zahllose Krankheiten verursacht: Das ‚Sykdom’, mit dem über die Hälfte aller menschlichen Bewohner des Planeten geschlagen sind.

Mehr als sechstausend Jahre brauchten die Menschen, um es sich auf Bitter einigermaßen bequem einzurichten. Fast fünftausend Jahre davon standen sie kurz vor der Auslöschung. Diese Epoche wird das ‚dunkle Zeitalter’ genannt. Die Menschheit wäre untergegangen, hätte sie nicht einen mächtigen Schutz gehabt: Den Wall.

Der Wall ist ein gigantisches, kreisrundes Gebirge aus einem unzerstörbaren Material, das profanerweise dem braunem Glas der billigen Flaschen gleicht, in denen die Grünländer ihren Absinth an den Mann bringen. Wer den Wall errichtet hat, weiß niemand. Das von ihm geschützte Gebiet ist der Lebensraum der Menschen auf Bitter. Es wird ‚Innen’ genannt – für die einen der Zufluchtsort der Menschheit, für die anderen ihr Gefängnis. Alles, was jenseits des Walls liegt, heißt ‚Außen’ – Ziel aller Ängste und Träume der Bewohner des Innen. Es gibt nur wenige, schwer bewachte Durchgänge durch den Wall.

Ein weiterer Grund dafür, dass das Leben auf Bitter dem Namen des Planeten alle Ehre macht, liegt – wenig verwunderlich – darin, dass die Menschen auf Bitter nicht besser sind als die Menschen anderswo. Aufgespalten in ein knappes Dutzend Nationen und viele große und kleine Religionen verschleuderten sie einen großen Teil ihrer Kraft und Zeit damit, sich gegenseitig mit erbitterten Kriegen zu überziehen.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 1310 nach Ende des dunklen Zeitalters. Eine Allianz (leidlich) demokratischer Staaten, das ‚SUCH-Bündnis’, hat einen zerbrechlichen Frieden geschaffen. Technische Neuerungen haben Wirtschaft und Handel revolutioniert. Berauscht von diesen Fortschritten gibt sich die Menschheit ihrem Lieblingstraum hin – das Außen dauerhaft zu unterwerfen.

Etwas Wichtiges muss ich noch erwähnen: Neben dem Sykdom, den negativen Mutationen, die so viele Menschen zu Behinderten machen, gibt es eine zweite Sorte von Mutationen: Die ‚Gaven’. Auf Bitter leben Menschen, die ihren Geist miteinander verbinden können, Menschen, die übermenschliche Kräfte besitzen, Menschen, die ihr Geschlecht wechseln können und noch zahllose andere ‚Begavte’. In der Frage, ob sie ein Segen oder ein Fluch für die ‚Normalen’ sind, gehen die Meinungen allerdings weit auseinander.

Die (erste) Heldin unserer Geschichte ist eine solche ‚Begavte’: Mara von Dyckeburg. Klein, drahtig, temperamentvoll, stur, ausgesprochener Morgenmuffel und starke Telepathin. Sie ist letztbergische Adlige, Sapphe, Anhängerin des Kults der Schmutzigen Mutter, Meisterin des Schwerttanzes und pflichtbewusste Anführerin des Telepathenkorps der centrischen Armee.

Auch sie ist vom Sykdom geplagt. Um ihre fehlenden Organe zu ersetzen, trägt sie einen Lebensbaum als Symbionten in ihrem Körper. Doch dieser Symbiont hat es in sich. Alle ein bis zwei Jahre treibt er einen Ableger aus, den Mara in die Erde setzen muss, ein Vorgang, bei dem Mara stirbt, um anschließend von dem Baum seinerseits wieder in die Welt gesetzt zu werden: Die ‚Pflanzung’.

Die Angst vor der nächsten, unmittelbar bevorstehenden Pflanzung gibt Mara endlich den Mut, ihrer Sekretärin Ama zu gestehen, dass sie sie seit zwei Jahren anbetet. Ama, die diese Gefühle ebenso geduldig wie verschwiegen erwiderte, sagt nicht nur ja zu Maras vorschriftswidrigem Antrag, sie erklärt sich überdies auch bereit, Mara durch ihre Pflanzung zu begleiten. So beginnt unsere Geschichte gegen alle literarischen Gepflogenheiten mit einem Happy End.

Szenenwechsel. Unsere zweite Heldin ist Ílygaid, die Prinzessin eines insektenähnlichen Volks, das verborgen in einer Wüste im Außen des Ostkontinents Sánkamap lebt. Dort schützt es sich vor der größten Gefahr, die es kennt: Wasser. Ílygaids Rasse ist so gut an extrem trockene Welten angepasst, dass die allgegenwärtige Feuchtigkeit auf dem regenreichen Planeten Bitter für sie tödlich ist.

Die Prinzessin weiß: Eine sorgfältig konstruierte Mischung aus den Genen ihres eigenen Volks und denen der Menschen ist das entscheidende Werkzeug für eine Ausbreitung von Ílygaids Rasse über die Wüste hinaus. Eine Mischung wie sie selbst. Ihr Vater war ein Mensch, der grünländische Forscher Treu Von den wilden Pferden, den ihre Mutter für die Zeugung der Prinzessin entführt, getötet und aufgefressen hat. Doch ihre Mutter kann menschliches Gewebe nur verarbeiten, nicht erzeugen. Die Prinzessin ist von ihrer Mutter erschaffen worden, um dieses Problem zu lösen.

Doch das Gedächtnis von Ílygaids Vater – ihr von der Mutter chemisch ins Gehirn gebrannt – bringt sie zu der Überzeugung, dass für das Überleben ihrer Rasse auf Bitter mehr nötig ist als nur menschliche Gene. Ílygaid sucht ihre Mutter auf, um sie zu überreden, sie in die Menschenwelt reisen zu lassen. Zu ihrer Überraschung erfährt sie, dass ihre Mutter eine solche Expedition nicht nur vorhergesehen, sondern von langer Hand geplant hat.

Die Prinzessin ist sauer. Losziehen tut sie dennoch, eskortiert von einem sechsbeinigen, drei Mann langen Elitekrieger ihrer Rasse, den ihre Mutter extra für diesen Anlass aus wasserfestem Fleisch konstruiert hat. Seine Unterstützung ist der Prinzessin willkommen. Weniger willkommen ist ihr dagegen das permanente Gezänk der Gedächtnisse ihrer beiden Eltern, die sie in ihrem Kopf mit sich herumträgt.

Nächster Szenenwechsel. Diesmal begegnen wir Edavi von Dyckeburg, Maras Bruder. Blond, schmal, hübsch und chaotisch. Außerdem ordentlich schüchtern, was ihm die kommenden Ereignisse allerdings gründlich austreiben werden. Auch er ist mit Sykdom geschlagen, ihm fehlen von Geburt an die Ohren. Doch Edavi ist keineswegs taub, denn der junge Telepath hat von Kindheit an gelernt, mit den Ohren anderer zu hören.

Edavi ist Mitglied einer Expedition auf den Südkontinent Sáut. Zusammen mit einer Militäreskorte und den drei in einer Klanehe lebenden Wissenschaftlern Kaya, Karlson und Odjana von Fort ist er zu einer Mine im ‚großen Tal’ unterwegs, in der Honigtropfen abgebaut werden – eine seltene Sorte von Edelsteinen. Die Mine wird von einer riesigen Herde von Beilspringern belagert – büffelähnliche Sechsbeiner, die ein Pferd mit ihren axtförmigen Köpfen einfach in zwei Teile schneiden können.

Mara fährt derweil mit Ama in den Konvent der Schmutzigen Mutter der Stadt Leinen. Dort bringt sie die tödliche Geburt ihres Lebensbaums hinter sich. Ama harrt bei dem frisch gepflanzten Baum aus und wartet ihren Zweifeln zum Trotz darauf, dass er ihr die Freundin zurückgibt.

Edavi hat mittlerweile herausgefunden, dass hinter der Belagerung der Mine im Großen Tal ein mächtiger Telepath steckt, der einer nichtmenschlichen Rasse angehört. Doch auch dieser Telepath hat Edavis Anwesenheit gespürt und weiß nun, dass das Geheimnis der Existenz seines Volks auf dem Spiel steht. Er hetzt die Beilspringer zu einem vernichtenden Angriff gegen die Mine auf, um alle Zeugen zu beseitigen und seine Spuren zu verwischen. Edavi und seinen Freunden gelingt es, ihn zu töten, doch die Rüstung, die die Kräfte des Telepathen verstärkt, führt dessen letzten Befehl weiter aus: Die Vernichtung der Mine. Die Verteidigung des befestigten Minenvorplatzes bricht zusammen. Edavi, den Wissenschaftlern und einigen Soldaten (darunter dem schwer in Edavi verliebten Marineinfanteristen Sáyyabu) gelingt es, sich in die Mine zu retten und den Eingang zu sprengen.

Zwischendurch werden wir Zeugen einer ungewöhnlichen Begegnung. Mara, die halb schlafend, halb wach im Inneren ihres Schösslings vor sich hin wächst, wird plötzlich geweckt – und zwar von niemand anderem als ihrem Baumkind selbst. Zu ihrer Verblüffung erfährt sie, dass Lebensbäume intelligente, telepathisch begabte Wesen sind, die in einer engen Symbiose mit den Menschen leben. Doch Mara hat ihre Aufgabe als ‚Menschenwurzel’ erst zu drei Siebteln erfüllt. Lebensbäume sind telepathische Gruppenwesen, die aus einer Sprossachse und sechs Seitentrieben bestehen. Erst wenn alle sieben Triebe in der Erde sind, ist ein Lebensbaum vollständig geboren. Mara gibt ihrem Baumkind den Namen Sait. Sie verspricht ihm, die restlichen Seitentriebe schneller zur Welt zu bringen, denn dann kann der Lebensbaum ihr den Schmerz der Pflanzung nehmen.

Die Prinzessin, die während ihrer Wanderung durch die wasserreichen Gebiete des Planeten massiv mit ihren Ängsten zu kämpfen hat, findet unerwartete Hilfe. Der Kräutersammler Úzalayn wird ihr Führer auf dem Weg ins Innen. Er ist es auch, der sie auf den Namen Ílygaid tauft. Das ist ein altes Wort für Augen, denn die Mutter der Prinzessin hat bei ihrem Design den einen oder anderen kleinen Fehler begangen. Ílygaids Haut leuchtet feuerrot und ihre Augen sind nichts weiter als große Seen ausdrucksvoller Schwärze. Doch Úzalayn weiß, wie sie sich trotzdem unerkannt in der Menschenwelt bewegen kann. Verborgen hinter Maske und Kluft eines ildurischen Feuertänzers wird niemand an ihrem fremdartigen Aussehen Anstoß nehmen.

Ílygaids Weg in das Innen führt sie über das Lachsmeer, das sie im Haus einer riesigen Goldseeschnecke namens Siómadhur überquert. Eine Besonderheit dieser Tiere verhilft ihr zu einem faszinierenden Erlebnis. Die Lichtbrechung unter Wasser lässt das Schneckenhaus durchsichtig werden, so dass die Passagiere das Lachsmeer in einem gläsernen Dom durchqueren. Ílygaid lernt die überwältigende Schönheit von Wasser kennen und lieben.

Doch der Prinzessin stehen noch mehr Entdeckungen bevor. Auf einer Insel im Lachsmeer stößt sie auf Yai, eine ältere Schwester von ihr, die gegen den Auftrag ihrer Mutter rebelliert hat und dort mit zwei Partnerinnen in einer Klanehe lebt. Was Yai ihr erzählt, vertieft Ílygaids beginnende Zweifel am Auftrag ihrer Mutter weiter.

Mara ist wieder da! Zusammen mit der über ihre Wiedergeburt seligen Ama kehrt sie nach Center zurück. Kaum angekommen, muss sie gleich eine akute Krise meistern. Ihr zweiter Bruder Héyyu hat sie in ihrer Abwesenheit vertreten. Héyyu, Genießer und leidenschaftlicher Faulenzer, Frauenschwarm, aber seiner Ehefrau Káris ergeben, kann Menschen mit seiner Stimme zwingende Befehle erteilen, eine Gave, der er selbst ausgesprochen ablehnend gegenübersteht. Doch auf dem Sommerfest des Heeres musste er sie einsetzen und zwar, um seine Frau vor den Avancen des ebenso arroganten wie unfähigen Heeresführers von Hohenbaum zu beschützen. Der Heeresführer, von den telepathischen Fähigkeiten Héyyus eingeschüchtert, aber besessen davon, seinen Ruf wiederherzustellen, forderte Mara daraufhin öffentlich zu einem Schwerttanzduell heraus.

Während Héyyu und ihr Stab Mara das alles erzählen, klingelt das Telephon. Am Hörer ist der oberste Seeherr, der Mara durch die Blume den Auftrag des ersten Ministers weitergibt, sich dem Duell zu stellen. Mara sagt zu, zum Entsetzen Amas und zur moralischen Empörung von Héyyus Frau Káris.

Damit sind die Überraschungen für Mara und Ama nicht zu Ende. Auf der Willkommensparty, die Maras Stab organisiert hat, treffen die beiden auf eine Gruppe telepathischer Kinder. Sie sind Flüchtlinge aus der Allianz, einem Staat, in dem Gaven gnadenlos verfolgt werden. Mara und Ama lernen die zwölfjährige Meno und den gleichaltrigen Ball kennen. Es ist gegenseitige Liebe auf den ersten Blick. Die vier beschließen, eine Familie zu gründen.

Doch der Begleiter der Kinder, der Ingenieur und Industrielle Véstanawt Dockschmied hat noch ein Anliegen. Er kommt mit einem Hilferuf der Regierung der Union zu Mara. Der Westen von Véstanawts Heimat wird von sogenannten ‚Töpfen’ verwüstet – Monster, so groß wie Schiffe, die ähnlich wie die Beilspringer auf Sáut offenbar von einem Telepathen gesteuert werden. Mara und Ama sagen zu, der Unionsarmee zu helfen.

Am nächsten Morgen begibt sich Mara in die Sitzung des centrischen Kriegsrats, dem sie angehört. Es kommt zum Duell mit dem Heeresleiter. Mara tötet ihn ohne große Mühe.

Das Ableben des Heeresleiters kommt den politischen Absichten des Ersten Ministers von See sehr entgegen, der Mara mit einem ebenso geheimen wie gefährlichen Auftrag belohnt. Zusammen mit einer wissenschaftlichen Einrichtung namens SEZENA (geleitet von dem Gelehrten Kavóy) soll sie und ihr Korps drei nichtmenschliche Rassen aufspüren. Diese drei Rassen sind laut der Legende von den vier Kindern Gottes vor sechstausend Jahren zusammen mit der Menschheit auf Bitter gelandet. Mara weiß noch nicht, dass ihr Bruder Edavi eine Begegnung mit einem dieser Völker eben nur mit knapper Not überlebt hat.

Doch nicht nur das: Maras Bruder hat inzwischen schon seine zweite intelligente Rasse entdeckt! Photínayin, ein Ingenieur der zu den Überlebenden der Minenkatastrophe zählt, enthüllt dem jungen Telepathen, dass die ‚Honigtropfen’, die in der Mine abgebaut werden, keine bloßen Edelsteine sind. Tatsächlich sind sie die Leichen einer intelligenten telepathischen Rasse: Die ‚Steinschwimmer’, eingeschlechtliche gesellige Wesen, die sterben, wenn sie Licht ausgesetzt werden. Maras Bruder nimmt einen sorgfältig verpackten und fest schlafenden jungen Steinschwimmer namens Frels mit, um ihn unter dem Schloss seiner Familie einzugraben und so seiner Art das Überleben zu sichern.

Nach zwei Wochen gelingt es Edavi und den anderen in der Mine Eingeschlossenen, durch einen Luftschacht zu entkommen. Sie überstehen einen weiteren Angriff des Volks des feindlichen Telepathen und retten eine junge Frau, die zur Sklavenkaste dieser Fremden gehört. Weil die Angreifer die verschiedenen Kasten ihrer Untertanen von Geburt an mit knalligen Farben kennzeichnen, werden sie von den Menschen das ‚Bunte Volk’ getauft.

Im Durcheinander des Konflikts um die Mine ist Edavi allerdings eine Kleinigkeit entgangen, die nicht ohne Folgen bleiben soll. Während des Kampfes mit dem Telepathen hatte er sich der Ohren von zwei Steinmäusen bedient. Steinmäuse gehören zur Familie der Töpfe, sind aber nur so groß wie Handbälle. Was Edavi nicht weiß: Durch die Verbindung während des Gefechts hat er ein Band zu den beiden geschaffen. Sie sehen ihn nun als ihren Rudelführer an, dem sie folgen werden, wo immer er hingeht. Und Steinmäuse sind verdammt schwer abzuschütteln…

Ílygaid ist mittlerweile im Innen in dem kleinen Land Schmiedinnen angekommen. Dort leben Úzalayns Tochter Yesche und ihre Frau Djun. Ílygaid enthüllt ihnen, wer und was sie ist. Nach anfänglichem Zögern beschließen die beiden, ihr zu helfen. Unter anderem verschaffen sie ihr eine Stelle als Tseitlerin. Die Tseitler kümmern sich um die ‚Honigkerfe’, eine insektenähnliche Lebensform, die auf Bitter die Pflanzen befruchtet.

Mara und Ama besteigen inzwischen zusammen mit Véstanawt Dockschmied ein Schiff in Richtung Union. Begleitet werden sie von dem düsteren Major Thómrit, den der Erste Minister Mara als Leibwächter mitgegeben hat, und dem alten Ásgwrn, einem Diener von Maras Großvater, mit dem Mara eine enge Freundschaft verbindet.

Ásgwrn ist es auch, der Mara und Ama ein streng geheimes Tagebuch mitbringt, das von der Reise zweier Forscher in den Außenozean erzählt: Der schüchterne Geograph Rúa Kokk und die ruppige Kapitänin Lívkiarn sind unterwegs, um in der Wasserwüste des Außenozeans eine winzige Insel zu suchen. Dort soll ein mächtiges telepathisches Wesen leben, das noch weit gefährlicher ist als die drei Völker, die damals mit den Menschen nach Bitter gekommen sind. Mara und Ama beginnen sich zu fragen, ob die Anwesenheit so vieler telepathischer Rassen auf Bitter ein Zufall sein kann.

Ílygaid hat sich inzwischen mit ihrem Mitlehrling angefreundet, dem vierzehnjährigen, syken Padja. Der ebenso kluge wie aufmerksame junge Tseitler merkt schnell, dass Ílygaid, die wegen ihrer Hautfarbe bei den Tseitlern nur ‚die Rote’ heißt, besondere Fähigkeiten besitzt. Er gibt ihr einen ‚Reimer’ zu essen. Reimer sind neben den Männchen, den Weibchen und den Suchern das vierte Geschlecht der Honigkerfe. Sie regeln mit ihren Duftstoffen das Leben und das Wachstum ihrer Rasse.

Ílygaid entdeckt, dass sie mit dem genetischen Wissen des Reimers das Problem ihres Volks mit dem Wasser lösen kann. Doch ihre Zeit mit Úzalayn und das Beispiel der Liebe zwischen Yesche und Djun haben die Prinzessin überzeugt, dass ihre eigene Stadt kein seelenloser Insektenbau sein darf. Sie soll etwas völlig Neues werden. Alles, was Ílygaid für die Gründung einer solchen Stadt jetzt noch fehlt, ist ein menschlicher Partner. Doch die Sache hat einen Haken: Die Genetik ihrer Rasse diktiert, dass jede künftige Königin ihren Mann in der Hochzeitsnacht auffressen muss…

Zusammen mit Ama und Mara lesen wir weiter in Kokks Tagebuch. Nach einem schwierigen Anfang haben sich Kokk und Lívkiarn zusammengerauft. Sie finden einen schwimmenden Baum, auf dem die ‚Atahúa’ leben, eine Rasse liebenswerter kleiner Pelzwesen, die wissen, wo die Insel zu finden ist, die die beiden Forscher suchen. Doch die Atahúa werden von einem Wesen tyrannisiert, das sie ‚Quälen, damit stark fühlen’ nennen. Sind die beiden Forscher in der Lage, dieses Monster zu besiegen? Und besteht auch nur die geringste Chance, dass die raue und unabhängige Lívkiarn die romantischen Gefühle des schüchternen Stubenhockers Kokk erwidert? (Antworten auf diese Fragen findet ihr im ersten Band der Chroniken zwischen Innen und Außen: „Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen“.)

Edavi muss nach seiner Ankunft in Center den Wissenschaftlern des SEZENA gestehen, dass die ehemalige Sklavin des Bunten Volks verschwunden ist. Die junge Frau, die sich mittlerweile ‚Sprechen’ nennt, hat es mit Hilfe der drei Wissenschaftler Kaya, Karlson und Odjana geschafft, sich aus dem Staub zu machen.

Doch Maras Bruder hat ein noch viel dringenderes Problem zu lösen. Frels, der kleine Steinschwimmer, der Edavis Reise bisher friedlich verschlafen hat, ist von den telepathischen Aktivitäten in Maras Korps geweckt worden. Vor dem tödlichen Licht nur durch eine dünne Steinkruste und einen alten Rucksack geschützt, gerät er in eine lebensbedrohliche Panik. Maras neue Adoptivtochter Meno schafft es, ihren Geist mit dem des kleinen Steinschwimmers zu verbinden und ihn auf diese Weise am Leben zu erhalten. Doch Edavi muss ihn so schnell wie möglich in sein neues Zuhause verfrachten, bevor der Arme an seinen Ängsten zugrunde geht. Zusammen mit Maras Kindern Meno und Ball, seinem Adjutanten Sáyyabu und der Telepathin Kiáire bricht der junge Telepath nach Dyckeburg auf.

Doch es hat sich herumgesprochen, dass er ein telepathisches Wesen in Center eingeschmuggelt hat. Der erboste Kavóy schickt ihm einen seiner Agenten hinterher, Oberst Gradhhést. Es gelingt Edavi und seinen Freunden, den jungen Steinschwimmer im Schloss unter die Erde zu bringen, bevor Gradhhést sie aufhalten kann. Doch das ist nicht der einzige Auftrag des Obersten…

Wahlfamilien en gros

Am Nachmittag fiel in Dyckeburg der Regen solide und gleichmäßig. Vom südlichen Haupteingang des Schlosses aus konnte ein durchnässter und vom Reiten zerschlagener Oberst Gradhhést sehen, wie im landeinwärts gelegenen Dorf etwa hundert Meter tiefer nach und nach die Lichter angingen.

Sein Magen knurrte. Er selbst hatte sich nur kurz nach Sonnenaufgang eine Pause gegönnt, um den Vorsprung nicht unnötig anwachsen zu lassen. Das Frühstück in einem Gasthaus in Neuschloss war exzellent gewesen, Fisch mit Kartoffelreis in einer würzigen Soße, doch es konnte nicht ewig vorhalten. Der Enkel des Herzogs und seine Begleiter hatten etwa vier Stunden Vorsprung. Gradhhést setzte darauf, dass diese Zeit zu knapp war, um das exotische Tier in die Freiheit zu entlassen.

Das große Tor der Festung war geschlossen und der Oberst drückte auf die offenbar brandneue elektrische Klingel an dem kleinen Durchlass für Fußgänger. Modern wie der morgige Tag ist er inzwischen, mein alter Herr Kommandeur, dachte er ironisch.

Die kleine Holztür schwang geräuschlos zur Seite und enthüllte einen vierschrötigen älteren Mann in einem dicken Pullover, abgetragenen Arbeitshosen und Guttaperchastiefeln.

„Hm?“, knurrte der und musterte Gradhhést und das müde Kavalleriepferd von oben bis unten.

Der Oberst nannte seinen Namen. „Ich hätte gern den Herzog gesprochen, wir kennen uns von früher“, sagte er.

„Na, dann kommen Sie mal rein“, erwiderte der Mann und öffnete den rechten Torflügel einen Spalt weit.

Gradhhést betrat den düsteren Torbau, das Pferd am Zügel hinter sich.

„Lassen sie es hier, ich kümmere mich gleich darum“, sagte der Mann, nahm ihm die Zügel aus der Hand und schlang sie um einen von drei handtellergroßen rostigen Eisenringen, die rechts in die Wand eingelassen waren.

„Hier lang.“ Er deutete auf eine üppig mit Schnitzereien verzierte Spitzbogentür in der linken Wand. Der Oberst betrat das Gebäude, hinter ihm flammte ein Licht auf.

„Wir haben nicht überall Strom, wissen Sie“, meinte der Mann entschuldigend, eine Blendlaterne in der Hand. „Da geht’s rauf, bitte.“

Er wies auf die Tür zu einer steinerne Wendeltreppe und folgte Gradhhést in den ersten Stock. Die Treppe endete in einem kleinen Durchlass, der sich nach links zu dem Wehrgang öffnete, der das Tor deckte. Rechts ging es zu einer sandsteingepflasterten Balustrade mit einer langen Reihe von Türen. Der Mann führte ihn zum Ende des Ganges, wo eine weitere Spitzbogentür auf sie wartete, massiv und mit einem kunstvollen Halbrelief verziert, das Motive der umfassenden Wahrheit zeigte.

„Nach Ihnen“, sagte der Mann und zog die Tür weit auf.

Gradhhést betrat den Raum und fand sich in einer Kapelle wieder. Umfassende Wahrheit, aber wohl umgeweiht, wie so oft hier im Grenzland. Ein hallender Schlag hinter seinem Rücken sagte ihm augenblicklich, dass er eingesperrt war.

Er zog die Augenbrauen hoch, ging zur Tür und klopfte höflich.

„Du meinst doch nicht im Ernst, dass ich eine rote Kokarde hier einfach so rumlaufen lasse“, hörte er den Mann sagen. „Falls du daran denkst, auf die Tür zu schießen, pass auf den Winkel auf, damit du dir nicht selber wehtust. Das ist Felsenesche.“

„Das ist Baumarchitektur und vermutlich ein Original“, retournierte der Oberst. „Halten Sie mich für so einen Kunstbanausen?“

Als er keine Antwort bekam, drehte er sich um und begutachtete seinen neuen Aufenthaltsort. Auf den eisenharten Bänken lagen überall Sitzkissen in den vier Farben des letzten Berges. Na wunderbar. Gradhhést verteilte drei Lagen davon auf der hintersten Bank, streckte sich darauf aus und schlief sofort ein.

Wieder einmal wurde Edavi von Sáyyabu aus Morpheus’ Armen gerissen. Er erwachte mühsam, als der junge Soldat ihn an der Schulter rüttelte.

„Deine Großmutter hat zum Tee gerufen“, grinste Sáyyabu, „es klang, als ob man besser Folge leisten sollte.“

Edavi richtete sich auf und rieb sich das Gesicht. Er und Sáyyabu hatten in dem Zimmer kampiert, das der junge Telepath sich die längste Zeit seines Lebens mit Héyyu geteilt hatte. Ein paar Stunden Schlaf hatten die schlimmste Müdigkeit vertrieben und er verspürte einen Bärenhunger.

Als sie im großen Speisesaal ankamen (darunter tat es Großmutter natürlich nicht), waren die anderen schon dabei, tüchtig zuzulangen.

„Die Mädchen sahen so verhungert aus“, sagte seine Großmutter entschuldigend, die seinen erstaunten Blick als Tadel deutete, dass sie ohne ihn angefangen hatten. Edavi nickte ihr beruhigend zu, zog Sáyyabu mit sich und sie besetzten zwei freie Plätze am unteren Ende der Tafel.

„Mich haben sie auch immer gemästet, aber sie haben mich nicht dick gekriegt“, sagte er in Richtung von Meno und Kiáire.

„Mit mir könnten sie es schaffen“, seufzte Ball unglücklich und starrte auf den himmelhohen Haufen an süßen Steinen in der Mitte des Tisches, das Gelächter der anderen würdevoll ignorierend.

Schritte kündigten die Ankunft eines weiteren Tischgastes an. „Schön, dich heil wiederzusehen, Kind“, sagte eine leise Stimme.

Edavi drehte sich um. „Paps“, lächelte er mit weich werdenden Augen und machte Anstalten aufzustehen. Óruels knochige Hände drückten ihn sanft auf seinen Sitz zurück.

„Stell mir doch deine Reisegefährten vor“, bat er und nahm neben Edavi Platz. Eine der beiden stämmigen Küchenhilfen, die den Tisch mit Argusaugen bewachten, sprang vor und goss ihm eine heiße Tasse Grünen ein. Ohne Zucker natürlich, dachte Edavi, sein Vater mochte den Tee bitter.

Mit einem Mal ging das Herz von Maras Bruder für ihrer beider Vater auf. War das nicht typisch für ihn? Keine große Begrüßungsszene, die eigene Rührung sorgfältig in dem Wort ‚Kind’ versteckt und sofort Interesse zeigen für das, was seine Sprösslinge gerade taten, was auch immer es war. Warum hatte er das früher nie zu würdigen gewusst, so wie Mara, die für ihren Vater gestorben wäre?

„Das ist Ball“, begann er. Der genannte verneigte sich, wieder ganz formvollendet und zuvorkommend. „Das mit der Katze ist Meno. Die beiden sind Maras Kinder, also begrüßt eure brandneue Verwandtschaft.“

„Haben wir bereits“, erwiderte sein Großvater trocken und alle lachten.

„Daneben sitzt Kiáire“, fuhr Edavi ungerührt fort. „Sie gehört zum Korps und hat uns auf der Reise hierher sehr geholfen.“

„Sie gehört auch zur Familie“, sagte Meno in ihrer unnachahmlichen Weise, kratzte den Zucker von ihrem Stein und ließ ihn die Katze ablecken, „wir wissen bloß noch nicht genau, wie.“

Es entstand eine kleine Pause, weil Kiáire das jüngere Mädchen stürmisch umarmte. Die Katze sprang erschrocken auf den Tisch. Ball nahm sie hoch und gab sie ohne viele Umstände an Sáyyabu weiter, der sie sich auf den Schoß setzte und sofort ebenfalls begann, sie mit Zucker zu füttern.

Edavi holte tief Luft und atmete den Stich aus, den Meno ihm mit dieser Bemerkung versetzt hatte.

„Nun, du könntest Edavi heiraten“, sagte seine Großmutter in Richtung Kiáires, gerade als der Sáyyabu vorstellen wollte. „Ihr würdet bestimmt gut zueinander passen.“

„Oma!“, explodierte Edavi.

„Ach, das glaub ich jetzt weniger“, erwiderte Kiáire, wie immer völlig unbeeindruckt. „Er ist zwar total nett, aber ich bin mehr so wie die Chefin, Sie wissen schon, na, wie Mara halt. Ich mag mehr Mädchen.“

Edavi starrte Kiáire an, nicht wissend, was ihn mehr frappierte, dass sie eine Sapphe war oder die Unbekümmertheit, mit der sie es allen hier erzählte.

Seine Großmutter blickte milde enttäuscht.

„Schade, es wäre so schön, wenn er endlich mal so eine nette Frau fände wie sein Bruder“, sagte sie in selbstverständlichem Konversationston zu Kiáire.

„Ach das kriegt er schon hin“, erwiderte die Angesprochene. Edavi konnte sich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, sie meinte, das kriegen wir schon hin’.

„Im Korps gibt’s einen ganzen Haufen Mädchen, die auf ihn stehen“, machte Kiáire prompt weiter. „Meine Freundinnen finden dich süß, zum Beispiel“, fuhr sie in Richtung Edavis fort, der merkte, wie er knallrot anlief. „Mela geht ja nicht, weil sie unbedingt einen Observanten will, aber Oro ist da lockerer, was hältst du denn von der?“

Das Lachen des ganzen Tischs schlug über dem Angesprochenen zusammen. Sáyyabu legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

„Du sagst immer was du denkst, nicht wahr?“, sagte sein Vater zu Kiáire. Edavi war ihm dankbar für die Ablenkung.

„Das macht sie und deswegen mögen wir sie so – unter anderem“, sagte Meno, die sich ihre Katze zurückgeholt hatte.

„Dir hingegen ist das fremd“, kommentierte Óruel mit sanfter Ironie.

„Nö“, sagte Meno durch das wieder aufwallende Gelächter, „ich mach das auch immer.“

„Während du, du bist mehr der Diplomat, nicht wahr?“, wandte sich Edavis Vater an Ball, der inzwischen kapituliert hatte und sich noch drei weitere Steine auf den Teller schaufelte.

„Naja, einer muss ja“, meinte der kläglich grinsend.

„Vermisst ihr eure echten Eltern nicht?“, fragte plötzlich Edavis Großmutter.

„Unsere echten Mütter sind Mara und Ama“, sagte Ball ohne aufzusehen, aber mit einer für ihn ungewöhnlichen Schärfe in der Stimme. „Die beiden vermissen wir, und wie.“

„Meinen früheren Vater hab ich gar nicht gekannt“, sagte Meno und schaute haarscharf an Edavis Großmutter vorbei. „Meine frühere Mutter hat, seit ich klein war, ungefähr fünfundzwanzig Freunde gehabt, von denen mich nur zwei nicht verprügelt haben.“

Sie beugte sich wieder über ihre Katze, während Edavi seine Großmutter bedauerte, die sich entsetzt beide Hände vor den Mund hielt.

„Aber Mara und Ama liebt ihr sehr, nicht wahr?“, fragte Óruel mit seinem ewig gleichen, gelassenen Ton.

„Ganz fürchterlich“, sagte Meno und die Heiterkeit kehrte etwas verkrampft an den Tisch zurück.

„Dann wäre da noch dieser junge Mann“, intervenierte Edavi im lautstarken Ton eines Fremdenführers. „Er heißt Sáyyabu, ist mein Adjutant, aber hauptsächlich mein Freund und hat mir schon zweimal das Leben gerettet.“

„Und“, fragte seine Großmutter, „haben Sie schon ein nettes Mädchen für sich gefunden?“

„Ich bin sein Adjutant geworden, weil ich ihn liebe“, sagte Sáyyabu und nur Edavis Gehirn registrierte das winzige Zittern in seiner Kehle. „Ich wäre ihm ein treuer und liebender Mann. Aber er liebt nun einmal Frauen. Also habe ich beschlossen, ihm zu dienen und auf ihn aufzupassen. Das muss für mich genügen, denn er wählt, wen er liebt, das ist sein Recht.“

Die Röte, die kurzzeitig aus Edavis Gesicht gewichen war, kehrte zurück und brachte ordentlich Verstärkung mit. Er erinnerte sich, dass seine Großmutter schon früher die Gabe gehabt hatte, sämtliche potentiellen Peinlichkeiten einer Tischgemeinschaft zielsicher eine nach der anderen zur Sprache zu bringen. So drehte er sich um und legte seinerseits die Hand auf Sáyyabus Schulter.

„Und Sie sind glücklich mit dieser vergeblichen Minne aus der Ferne?“, fragte sein Vater aus heiterem Himmel und schaufelte noch mehr Kohlen auf Edavis ohnehin schon glühendes Haupt.

„Es gibt schlechtere Arten zu leben“, antwortete der junge Soldat mit einer so selbstverständlichen Würde, dass Edavi am liebsten im Boden versunken wäre.

In diesem Moment betrat Lamónt den Raum und beugte sich über seinen Dienstherren. Sie wechselten ein paar geflüsterte Worte. Die Augenbrauen von Edavis Großvater gingen in die Höhe und er winkte seinem Enkel.

„Wir haben offenbar ein Problem mit den Pferden, bei dem wir deine Gave brauchen könnten“, sagte er ruhig, „darf ich dich kurz vom Tisch losreißen?“

„Klar“, sagte Edavi erleichtert, sprang auf und bewunderte die routinierte Art, mit der sein Großvater zu lügen in der Lage war.

„Was ist wirklich los?“, fragte er, als er neben Lamónt und seinem Großvater die Treppe zu den Stallungen hinunter stieg.

„Schon mal den Namen Gradhhést gehört?“, fragte der zurück.

Edavi brauchte einen Augenblick, bis die Erinnerung an den elegant gekleideten Geheimdienstler zurückkehrte. „Was ist mit ihm?“

„Er macht ein Nickerchen in der Gesindekapelle, wo Lamónt ihn eingesperrt hat“, erwiderte sein Großvater grimmig.

„Der ist bestimmt wegen Ihrem Tier hier“, platzte der alte Diener dazwischen. „Ich hab ihn mal kurz kaltgestellt. Ich kann’s nicht leiden, wenn die roten Kokarden hier frei herumschnüffeln.“

„Pff“, machte Edavi und blieb stehen.

„Du weißt also auch nicht, wie er zu der Information kommt?“

Edavi schüttelte den Kopf.

„Vielleicht ist er wegen etwas ganz anderem hier“, überlegte er.

„Wenn, dann wegen etwas, was nur du weißt“, wandte sein Großvater ein und fixierte ihn mit seinem Dornadlerblick. „Na schön, dein Gesicht sagt mir, dass du keine Ahnung hast.“

Er rieb sich die knochigen Hände und überlegte kurz.

„Pass auf“, fing er wieder an, „wir machen folgendes: Ich war jahrelang sein Vorgesetzter, ich rede erst mal mit ihm. Dann unterhaltet ihr euch. Anschließend beschließen wir, was wir tun.“

„Sollten wir uns nicht erst auf eine gemeinsame Version zu dem Steinschwärmer einigen?“, fragte Edavi verzweifelt, der das Gefühl hatte, von den Ereignissen überrollt zu werden.

„Seit wann stimmst du deine Geschichten mit der Familie ab?“ kommentierte sein Großvater trocken.

Lamónt grinste wissend.

Gradhhést wachte frierend und nur wenig erholt auf. Roch es hier etwa nach Tee?

Er wälzte sich herum und erblickte seinen alten Vorgesetzten, der ihm über die Lehne der Kapellenbank hinweg einen großen Humpen voll Rotem hinhielt.

„Verbindlichsten“, sagte der Oberst dankbar, rappelte sich auf und widmete sich erst einmal mit Hingabe dem brühheißen Getränk.

„Ihr habt also einen Singvogel im Korps meiner Enkel“, eröffnete der alte Herzog das Gespräch.

„Das ist bei weitem nicht die einzige Peinlichkeit an der Sache“, meinte der Oberst mit entwaffnender Offenheit und schielte nach der Kanne, die neben seinem ehemaligen Kommandeur auf der Bank stand. „Theoretisch ist Ihr Enkel sogar mein Vorgesetzter und ich verfolge ihn ohne seine Kenntnis. Er hat ja noch nicht einmal gegen irgendein Gesetz und oder irgendeine Vorschrift verstoßen, er hat nur dieses interessante Tier an seinem Kollegen vorbeigemogelt. Ich seh’s so: Ich werde nichts weiter tun, als ihn höflich fragen, ob er es nicht doch wenigstens kurz nach Center bringen kann, damit seine neugierigen Kollegen einen Blick drauf werfen können.“

Edavis Großvater reichte ihm die Kanne.

„Das Tier ist schon in freier Wildbahn, viel Spaß beim Suchen“, sagte er gelassen.

Gradhhést war unbeeindruckt.

„Ich habe mir von kundiger Seite sagen lassen, es lebe unter der Erde und sei sehr langsam“, wandte er ein.

„Uns gehört aller Grund und Boden von der Glaw bis halbwegs nach Chlin Anden“, retournierte der Herzog ungerührt und schniefte. „Ich leihe dir gern eine Schaufel.“

„Na schön. Gehen wir also davon aus, das Tier ist weg“, akzeptierte Gradhhést nach einer kurzen Pause bedauernd, „dann können Sie mir vielleicht wenigstens eines verraten: Was sollte das Ganze eigentlich?“

„Wenn wir mit unserem kleinen Plausch durch sind, kannst du das meinen Enkel gerne fragen“, sagte der Herzog, „aber erst will ich eines wissen. Wer steckt hinter dem Singvogel und sind Edavi und meine anderen Enkel in Gefahr?“

„Wer dahintersteckt, müssen Sie Rollkragenpullover fragen“, entgegnete der Oberst, „von dem kam die Information. Was Ihre Enkel betrifft: Ihr Edavi ist von Gnaden seiner Schwester stellvertretender Leiter unseres neuen Instituts. Formal leitet es Ihre Enkelin, da sie aber nicht da ist, leitet es de facto Gelehrter Kavóy und der hat mich auch hierher beordert. Denn die Geschichte mit dem vergrabenen telepathischen Tier ist unangenehmer Weise nicht das Ende der Fahnenstange. Offenbar hat ihr Enkel noch ein zweites fremdes Wesen verschusselt, eine Frau, die zu einer Rasse gehört, die auf Sáut lebt und die Menschheit bedauerlicherweise für unerwünschte Konkurrenz hält. Ebenfalls Telepathen.“

Der alte Mann verdrehte die Augen zu dem steinernen Flechtwerk an der Decke.

„Das klingt tatsächlich verdächtig nach meinem Enkel“, knurrte er, stand auf und ging zur Tür.

„Komm doch mal rein“, schnaubte er in Edavis Richtung, „offenbar hast du mal wieder nicht alle deine Streiche gebeichtet.“

Eine gute Stunde und zwei Kannen Roten später hatte Edavi seinem Großvater und Gradhhést das meiste erzählt, was er über die Steinschwärmer wusste und fast alles über Sprechen. Seine Version, dass die Von Forts nichts mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hatten, hielt er aufrecht, war sich aber im Klaren, dass keiner der beiden Männer sie auch nur eine Sekunde glaubte.

Gradhhést fläzte gut gelaunt auf der harten Kirchenbank und verzehrte mit Genuss die süßen Steine, die Lamónt ihm grummelnd aus dem Speisesaal geholt hatte. Edavis Großvater ging langsam vor dem alten Altar auf und ab.

„Ich sehe es so“, sagte der Oberst gemütlich, „so wie ich Gelehrten Kavóy kenne, wird er die Steinschwärmergeschichte akzeptieren. Reden Sie einfach mit ihm, Chef. Aber das Mädchen müssen wir zurückholen. Wenn das rauskommt, nützt alles nichts, was wir im Institut haben. Sie wissen, wo Sie sie finden. Sie lassen sich vorher vereidigen, dann können Sie ihr freies Geleit garantieren. Aber wir brauchen sie. Sie kann kriegsentscheidend sein.“

Edavi starrte missmutig vor sich hin und verkniff sich eine gereizte Bemerkung zu der provozierenden Bezeichnung ‚Chef’. Er sah zu seinem Großvater hinüber.

Der blieb stehen, als er den Blick seines Enkels spürte und drehte sich um.

„Du bist nicht nur zu groß, um übers Knie gelegt zu werden, du bist auch zu groß für Ratschläge“, sagte er und verschwieg dabei geflissentlich, dass er Edavi nicht ein einziges Mal übers Knie gelegt hatte. „Ich sage dir nur eins: Säße ich noch da, wo, äh, ‚Rollkragenpullover’ jetzt sitzt“, (er sprach den Spitznamen des Geheimdienstchefs aus wie eine Obszönität), „dann würde ich über Leichen gehen, um sie zu kriegen. Mit anderen Worten“, er beugte sich über seinen Enkel, „Find. Sie. Wieder.“

Edavi atmete tief durch. „Ich kann es versuchen, aber garantieren kann ich gar nichts.“,

„Wo würden Sie denn mit der Suche anfangen?“, fragte Gradhhést mit gespielter Beiläufigkeit und als Edavi nichts sagte, „kommen Sie, wir kriegen es spätestens dann mit, wenn Sie abreisen.“

„Na schön“, kapitulierte Edavi, „auf der Hexeninsel.“

„Warum nur hab ich mir das gleich gedacht?“, lächelte Gradhhést.

Eine halbe Stunde später standen Edavi und sein Großvater auf der Zugbrücke über den Graben vor dem südlichen Eingangstor, das Lamónt langsam wieder zuschob. Gradhhést saß in einem Landauer des Schlosses, kutschiert von dem jungen Énasch und war wieder unterwegs nach Center. Das müde Kavalleriepferd war an der Kutsche angebunden und trabte schlecht gelaunt hinterher. Der Regen rieselte Edavis Rücken hinunter, denn er hatte sich nicht getraut, zu gehen und sich einen Mantel zu suchen.

Sein Großvater stand neben ihm, die Hände tief in den Hosentaschen und rauchte vor Ärger.

„Also“, knurrte er, „er ist weg und wir haben ein bisschen Luft. Was hast du noch alles ausgefressen?“

„Hm“, machte sein Enkel.

Der alte Mann zog erwartungsvoll die Brauen in die Höhe.

„Komm mit“, sagte Edavi.

„Eigentlich hab ich fast nichts mehr angestellt“, meinte er wenig später im Plauderton in der Remise und kramte im Packkasten von Holzapfels Kutsche, „zumindest fällt mir nichts ein. Wenn mir noch was einfällt“, machte er weiter, „sag ich’s dir sofort, versprochen.“ Die aufdringliche Unbekümmertheit, die ihm sein innerer Héyyu eingab, war ihm angesichts des finsteren Gesichts seines Großvaters selbst ziemlich unheimlich.

„Das einzige“, er hievte einen zweiten schweren Rucksack aus dem Packkasten und stellte ihn dem alten Mann vor die Füße, „wäre noch das da.“

„Da ist nicht noch so eine telepathische Pille drin, sonst würdest du vorsichtiger damit umgehen“, grummelte sein Großvater. Er kniete sich hin, gelenkig für sein Alter und öffnete den Rucksack.

Der war bis zum Rand gefüllt mit Honigtropfen. Phantastische Stücke, so groß wie die Eier von Perlfedern.

„Sind geklaut von der Union & Center Minengesellschaft, die alles tun wird, um herauszufinden, wo das Zeug herkommt, sobald es auf dem Markt ist“, schwadronierte Edavi. „Ein Teil davon ist die Witwenrente für die Frau von dem armen Ingenieur, von dem ich euch erzählt habe, der Rest davon gehört mir – wenn man so will. Ich glaube, um das Zeug ungestraft zu Geld zu machen, braucht man den besten Hehler in ganz Center.“

„Du kleiner, naseweiser Rotzlöffel“, sagte sein Großvater, ohne aufzusehen, „du widerlicher, ausgekochter, frühreifer Ganove.“

„Ich dachte, dieses Detail lasse ich Gradhhést gegenüber besser unerwähnt“, plauderte Edavi weiter, grenzenlos erleichtert, dass er gewonnen hatte. „Aber mal ehrlich, zu wem hätte ich damit kommen sollen, wenn nicht zu dir?“

Sein Großvater stand auf, holte aus und schlug seinem Enkel mit aller Macht auf die Schulter. „Bei der Geschichte mit dem Mädchen hast du dich angestellt wie ein Trottel“, sagte er und grinste übers ganze Gesicht. „Aber das hier, damit hast du alles wieder gutgemacht.“

„Wie lange wirst du dafür brauchen?“, fragte Edavi glücklich und rieb sich unauffällig die schmerzende Schulter.

„Naja“, grübelte sein Großvater, „Ásgwrn ist nicht da, deshalb wird es ein bisschen länger dauern und ich will ja eine Weile Spaß dran haben. Ein Jahr oder so? Vielleicht ein bisschen länger. Deinen Anteil verwenden wir für das Korps, in Ordnung?“

„Ganz wie du willst, Großvater“, sagte Edavi zärtlich und fand die Welt schon wieder ein bisschen freundlicher.

„Eins noch“, sagte der alte Herzog, „kein Wort zu deiner Großmutter, oder ich bin ein toter Mann.“

Als Djun mit den Kindern nach Hause kam, fanden sie Ílygaid im Gebetsraum am Boden ausgestreckt, wie es sonst nur Yesche zu tun pflegte.

„Alles in Ordnung mit dir, Tante Ílygaid?“, fragte Pil besorgt.

Die Prinzessin hob mühsam den Kopf. Sie sah aus, wie aus einem Traum gerissen.

„Klar ist alles in Ordnung“, lächelte sie. Sie kam auf die Füße und strich dem kleinen Mädchen über die Haare. „Geht ihr beiden schon mal in die Küche rüber, ich muss kurz mit Djun was besprechen.“

Öchtu zog das widerstrebende Mädchen pflichtschuldigst mit sich. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, packte Ílygaid Djun bei den Schultern.

„Ich weiß jetzt wie es geht“, flüsterte sie und erzählte in hastigen Worten, was passiert war.

Djun wurde bleich und trat einen Schritt zurück, als sie verstand, was Ílygaid meinte.

„Nein, nein, nein, nein“, sagte die Prinzessin eindringlich, „du verstehst nicht. Ich werde es niemals tun, niemals. Du und Yesche, ihr habt mir gezeigt was eine Familie ist. Ich will auch eine Familie, keinen …“, sie suchte nach Worten, „…keinen verdammten Kerfbau!“

Sie legte ihre Hände wieder auf Djuns Oberarme. „Ich liebe euch. Und ich liebe eure Kinder und Yesches Vater und Padja und seine Schwester, siehst du nicht? Über meinen Vater bin ich Teil eures Volks und ich habe meine Seite gewählt. Ich werde verhindern, dass meine Mutter jemals das Wissen bekommt, das ich jetzt habe, und wenn ich jede meiner zukünftigen Schwestern einzeln umbringen muss.“

Sie machte eine Pause und blickte ihrer Gastgeberin bebend in die Augen.

„Langsam, nur langsam“, sagte Djun und strich ihr mit ihrer großen Hand sanft über die Wange. Ílygaid war immer wieder erstaunt, wie geschickt und sensibel Djun und die Kinder mit ihren so klobig wirkenden Pranken umzugehen in der Lage waren.

„Ich glaube dir ja“, fuhr die Schmiedin fort, „,ich bin es nur nicht gewohnt, Tür an Tür mit der Weltgeschichte zu wohnen. Das ist manchmal ein bisschen erschreckend für so ein schlichtes Gemüt wie mich.“