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So hat sich Caja ihr Leben nicht vorgestellt: Seit Jahren malt sie nur noch Auftragsillustrationen, ihre Ambitionen als Künstlerin hat sie aufgegeben. In Graz, wohin sie ihrem Ehemann Ben zuliebe gezogen ist, findet sie nur schwer Anschluss und verbringt die meiste Zeit in ihrem Atelier. Die Träume vom Reisen schiebt sie immer wieder auf. Erst als Caja das Smartphone einer Fremden findet und damit deren gesamtes Leben in der Hand hält, beginnt sie, ihren eigenen Alltag, ihre Wünsche und Sehnsüchte zu überdenken. Und dann überredet ihre lebenslustige Freundin Jolie sie auch noch zu einer ungewöhnlichen Reise. Auf einem Roadtrip mit Jolie und Ludwig, einem liebenswerten älteren Herrn, den sie unterwegs aufgabeln, landen sie in einem Künstlerhaus an der Küste Italiens. Das Meer immer vor Augen, taucht Caja ein in eine Welt, der sie sich viel zugehöriger fühlt als ihrer eigenen, zumal der Straßenkünstler Juran langsam ihr Herz erobert. Doch auf den Spuren der Handybesitzerin zieht es sie weiter nach Berlin, wo sie Antworten findet – und anfängt, sich endlich die richtigen Fragen zu stellen …

autor

© Angelika Censebrunn

Franziska Fischer wurde 1983 in Berlin geboren, wohin es sie, trotz einiger Zeit im Ausland, immer wieder zurückzieht. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin.

Franziska
Fischer

UND

DAS

MEER

VOR

UNS

Roman

 

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Für Geli

Du wolltest doch immer eine Rolle in einem meiner Romane spielen.
Vielleicht tust du das längst in jedem von ihnen.

Kapitel 1

Das laute Klappern des Müllfahrzeugs dringt tief in meinen Schlaf und reißt mich aus einem Traum, der nicht mehr hinterlässt als ein vages Erinnern an Unruhe und Sehnsucht. Schläfrig taste ich zur Seite, wo Ben nicht mehr liegt, wahrscheinlich schon seit einer Weile nicht mehr. Ich warte, bis es wieder ruhiger wird und der Traum verklingt. Aus der Wohnung dringt kein Laut.

Langsam stehe ich auf und schlüpfe nach einer raschen Dusche in ein schlichtes schwarzes Kleid. Es ist einer dieser Tage, an denen sich der Gedanke, die ganze Zeit allein oben im Atelier zu verbringen, eng und ermüdend anfühlt, weil nichts dorthin kommt, keine Stimmen, kein Gefühl, kein Draußen. Der Tag ruft, er zieht mich hinaus, und obwohl ich arbeiten müsste, folge ich ihm. Ich könnte mich ohnehin nicht konzentrieren.

Auch im Treppenhaus ist es still, der alte Teppich fängt meine Schritte auf. Als ich die Haustür öffne, steht eine junge Frau davor, ihr unschlüssiger Blick huscht von den Klingelschildern zu mir. Kurz lächelt sie, doch es ist ein Lächeln, das keinen Halt findet, ihre Augen wirken viel zu groß.

»Zu wem wollen Sie denn?«, frage ich und halte die Tür auf, bevor sie hinter mir ins Schloss fallen kann.

Noch immer antwortet sie nicht, starrt mich nur an, dann huscht sie an mir vorbei ins Haus. Für einen Moment frage ich mich, wen sie wohl besuchen will. Vielleicht einen der Studenten aus der WG in der ersten Etage. Sonst ist kaum jemand um diese Uhrzeit zu Hause.

Ein paar Straßen weiter betrete ich einen kleinen Blumenladen. Die Verkäuferin kennt mich, sie nickt mir mit einem Lächeln zu und bietet mir einen frisch gebundenen Spätsommerstrauß an, den ich sogleich entgegennehme, ohne ihn einwickeln zu lassen, nur etwas feuchtes Küchenpapier an den Stielenden wird ihn frisch halten. Der Geruch erfüllt den Bus, in den ich kurz darauf steige, Blumenduft trifft Schweiß und Käsebrot, keine besonders gelungene Kombination.

Etwa zwanzig Minuten später hält der Bus vor dem Grazer Zentralfriedhof. Wie immer bleibe ich eine Weile vor dem Eingang stehen, der die Toten von den Lebenden trennt, und frage mich, ob das überhaupt stimmt, ob es diese Trennung wirklich gibt.

In einer halben Stunde beginnt die Beerdigung. Noch habe ich genug Zeit, um an den Grabreihen entlangzuschlendern und jemanden zu suchen, dem länger niemand mehr Blumen gebracht hat. Schon nach ein paar Minuten finde ich ein Grab, das kahl und einsam wirkt, auch die Blumen können nicht viel daran ändern. Stumm nicke ich wie zu einem Abschied, dann fällt mein Blick auf die Grabstelle daneben.

Kleine Autos stehen auf dem blanken Marmor, als warteten sie darauf, dass ein Kind vorbeikommt und mit ihnen spielt. Doch das Kind, dem sie gehören, spielt nicht mehr. Joel ist knapp fünf Jahre alt geworden, und die einzigen Leben, die ihm noch bleiben, sind die, die sich andere für ihn ausdenken.

Vorsichtig hocke ich mich vor das Grab und berühre den Fotorahmen, der auf hellen Kieseln am Grabstein lehnt. »Du wachst viel zu früh auf«, sage ich. »Die Sonne scheint, heute kommt dein Opa zu Besuch. Nein, nicht der griesgrämige, der nur in Ruhe in seiner Zeitung blättern will, sondern der andere, der mit dir Legohäuser baut und dir Bücher vorliest, und manchmal geht er mit dir ins Naturkundemuseum oder an die Mur, wo ihr Steinchen ins Wasser werft und den Passagieren auf vorbeiziehenden Ausflugsschiffen zuwinkt. Deine Mama hat einen Kuchen gebacken, der Duft erfüllt die ganze Wohnung. Wahrscheinlich hat er dich geweckt, denn der Kindergarten fällt heute aus. Wenn Besuch kommt, musst du nicht in den Kindergarten gehen.« Ich atme tief ein, während das Foto lebendig wird. Der Junge wächst, ich sehe ihn bei einem Streit mit seinem Kumpel, beim Apfelpflücken, seine Oma bringt ihm das Stricken bei. Ich sehe ihn auf seinem neuen Fahrrad, im Urlaub in Spanien, mit seiner ersten Freundin, die Beziehung hält nicht lange, auch die zweite nicht. Als er siebzehn ist, stirbt sein Vater. »Es tut mir leid«, sage ich, »auch imaginäre Leben schmerzen.« Er ist ein Abenteurer, er heuert auf einem Kreuzfahrtschiff an, hält den Job jedoch aufgrund der anstrengenden Schichten und der schlechten Bezahlung nicht lange aus. Stattdessen wird er Bergsteiger, jeden Tag sucht er sich eine neue Herausforderung, das muss so sein, er möchte jede gelebte Stunde fühlen. »Du willst weiter kommen als jeder andere«, sage ich. »Denn dort oben, wo der Sauerstoff kaum noch ausreicht, dort oben bist du frei.«

Ein Geräusch von rechts lässt mich aufblicken. Ein älterer Herr kommt heran, er läuft langsam, so als müsste er sich jeden Schritt genau überlegen. Ich stehe auf, unschlüssig verharre ich.

Der Herr lächelt freundlich, während er weiterschlurft, doch dann bleibt er stehen und dreht sich noch einmal um. »Kannten Sie den Jungen?«, fragt er.

»Ich … Nein.«

Er trägt eine karierte Schirmmütze, die er sich nun ein Stück aus dem Gesicht schiebt. »Meine Frau blieb auch immer an den Gräbern der Kinder stehen.«

»Es tut weh, wenn sie noch so jung sind«, murmle ich, und der alte Mann nickt sanft.

In dem dunklen Anzug muss ihm viel zu warm sein.

»Es ist so friedlich hier«, sage ich, mehr als diese abgenutzte Phrase fällt mir nicht ein. »Ich mag die Ruhe und die Einsamkeit.«

Wieder nickt er. »Vergessen Sie nur nicht, dass Sie noch viel Zeit dort draußen haben.« Damit deutet er mit dem Kopf in Richtung des Ausgangs.

Um uns herum knistert der Spätsommertag, er fühlt sich an wie ein Tag Mitte August, mit einer Sonne, die keine Lust darauf hat, dem Herbst das Feld zu überlassen.

»Wenn ich könnte, würde ich noch viel mehr Draußen sammeln«, murmelt er so leise, dass ich die Worte nur schwer verstehe.

»Wieso tun Sie es nicht?«

Wieder lächelt er auf diese sanftmütige Weise. »Das Alter ist nicht immer etwas, das man sehen kann. Es sitzt tief in den Knochen, egal, wie viel man noch gern erleben würde.«

Die Kirchenglocken beginnen zu läuten. Eigentlich bin ich aus einem ganz anderen Grund hier, der nichts mit dem Jungen oder dem Mann zu tun hat, er hat überhaupt weniger mit den Toten als mit den Lebenden zu tun.

»Ich wollte …«, setze ich an.

»… zur Beerdigung?«

»Ja«, erwidere ich zögernd.

»Ich auch.« Er setzt sich in Bewegung. »Kommen Sie mit?«

Ich folge ihm, mit jedem Schritt nistet sich stärkere Nervosität in mir ein. Das tut sie immer, bevor ich auf eine Beerdigung gehe, während ich am Rand stehe, während ich unauffällig die Menschen beobachte, die sich ein letztes Mal von jemandem verabschieden. Ich gehöre nicht zu ihnen, ihre Geschichten gehen mich nichts an, doch selten wird so intensiv gefühlt wie in diesen Momenten voller Erinnerungen. Selten zeichnet sich so viel Leben in Gesichter, finden sich so viele Facetten von Trauer, aber auch Freude, Glück, Sehnsucht, nur kann ich das keinem alten Mann erklären, der mich gar nicht kennt. Er würde mich für verrückt halten. Für eine Beerdigungstouristin, die sich an dem Leid anderer labt.

»Die Gesichter sind Spiegel«, sage ich unvermittelt, ich weiß selbst nicht, woher dieser Satz kommt.

»Welche Gesichter? Und ein Spiegel wofür?« Kurz sieht er mich an, bevor er sich wieder auf den Weg konzentriert.

»Die der Beerdigungsgäste. Für … ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich hierherkomme. Um das herauszufinden.« Ohne weitere Erklärungen ziehe ich meinen Skizzenblock aus der Tasche. Ich klappe ihn nicht auf, niemals würde ich jemandem die Gesichter zeigen, die ich in den letzten Monaten gezeichnet habe, seit ich alle drei bis vier Wochen den Friedhof besuche.

Beide bleiben wir gleichzeitig stehen, während er das Heft mustert.

»Ich halte sie fest, weil … Ach, ich weiß nicht. Aus keinem wirklichen Grund, glaube ich.«

»Wir haben alle unsere Themen, nicht wahr?« Er wirkt kein bisschen erschüttert oder wütend, nicht einmal irritiert, vielmehr lächelt er, als wäre dieses Lächeln so tief in die Falten seines Gesichts gegraben, dass es sich nicht mehr daraus lösen lässt. »Meine Frau hielt sich gern in der Nähe von streitenden Pärchen auf. Ich vermute, das liegt daran, dass wir selbst kaum Differenzen miteinander auszutragen hatten, trotz einer Ehe, die vierzig Jahre lang dauerte.«

Ich frage nicht, wo seine Frau ist. Vielleicht stand ich schon einmal vor ihrem Grab und erzählte ihr Dinge, die sie nie erlebt hat. Vielleicht hörte sie mir sogar zu.

Vor der Kirche warten bereits zahlreiche Trauergäste. Dieses Wort, als wäre Trauer etwas, das man besuchen könnte, mit einer Flasche Wein und einer DVD, die man sich gemeinsam ansieht, die Trauer und man selbst, und dann lacht man und trinkt zu viel Alkohol und schläft nebeneinander auf dem Sofa ein, während der Abspann in ein kerzenlichtflackerndes Zimmer fließt.

Ich werde langsamer, je näher wir den Besuchern kommen. Normalerweise halte ich Abstand, ich dringe nicht in ihren Bereich ein, ich bleibe nur nah genug, um ihre Gesichter erkennen zu können, die Landschaften aus Augen und Nase und Kinn, aus Falten und Mundwinkeln und Grübchen und Sommersprossen. Manchmal sticht jemand hervor, und dann halte ich all diese Linien fest, wie eine Fotografie in meinem Gehirn, bis ich auf einer abgelegenen Friedhofsbank oder zu Hause das abzeichne, woran ich mich erinnere.

Trauer sieht immer wieder anders aus.

Mit einem Mal spüre ich die Stille, sie erfasst mich so plötzlich, dass ich für ein paar Sekunden aufhöre zu atmen. Sie ist nicht wie die Stille auf hoher See, die schweigend die Asche auffängt und in spritzender Gischt vergräbt, doch ich spüre die salzige Frische des Wassers, den Wind, der an den Haaren zieht, als würde er mit ihnen spielen, ich höre, wie er mich rief, wie er alle ruft, die seine Sprache verstehen. Ich schließe die Augen, bis das Bild wieder verschwindet.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragt der ältere Herr.

»Ja. Es ist alles okay.« Sofort bemühe ich mich um ein Lächeln. »Woher kannten Sie die Verstorbene?« An ihren Nachnamen erinnere ich mich nicht mehr, obwohl ich ihn heute Morgen erst im Online-Kalender eines Grazer Bestattungsunternehmens gelesen habe. Wilhelmine.

»Ach, das ist keine sonderlich spannende Geschichte.« Sein Lachen geht in ein Husten über, mit einem Mal wirkt er blass, der Atem rasselt in seiner Lunge. Er räuspert sich. »Wir haben uns im Urlaub kennengelernt. In Kroatien. Meine Frau wurde am Meer geboren, deshalb sind wir immer wieder dorthin zurückgekehrt.«

Ein paar Meter von den anderen entfernt bleiben wir stehen. Sie strömen bereits in die Kirche, so viele Menschen unterschiedlichen Alters. Ich suche mir immer Lehrer aus oder Ärztinnen, Menschen mit einem großen Bekanntenkreis, in dem ich sicher verborgen bleibe.

»Ich wurde auch am Meer geboren.«

»Dann wissen Sie ja, wie das ist.« Er knöpft sein Jackett auf, darunter trägt er ein weißes Hemd. »Es ist schwer, ohne es zu leben.«

»Ja. Das ist es.« Für einen Moment schweigen wir. Dann frage ich: »Reisen Sie jetzt nicht mehr?«

»Nein, jedenfalls nicht besonders weit. Ich fahre regelmäßig zum Gasthaus in der Nähe des Flughafens und schaue den Flugzeugen zu. Meine Frau und ich, wir sind nie geflogen, und ohne sie ist reisen nicht dasselbe.« Sehnsucht liegt in seiner Stimme, wahrscheinlich denkt er an all die Orte, die sie gemeinsam besucht haben, und all jene, die sie nie besuchen werden.

Wieder läuten die Glocken, fast alle Trauergäste haben die Kirche betreten. Heute werde ich ihnen nicht folgen. Heute werde ich mich nicht in ein fremdes Leben drängen und aus den Gesichtern derer, die zurückbleiben, herauslesen, was das für ein Leben war, ich werde die Landschaften nicht zeichnen und nicht an die Stille der See denken, an die Stille eines Hauses, in dem die eigene Kindheit verpufft. Viel lieber würde ich mich mit dem alten Herrn auf eine Bank setzen und mir aus seinem Leben erzählen lassen, doch er räuspert sich und schaut den letzten Menschen dabei zu, wie sie in dem Zentralbau verschwinden.

»Ich werde nicht mit hineingehen«, sage ich.

»Das dachte ich mir.« Er nimmt die karierte Schirmmütze ab, graue Haare bedecken nur noch dünn seine Kopfhaut. »Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen.« Mit einem letzten Lächeln verabschiedet er sich, bevor auch er auf die Kirche zuschreitet.

Als der Eingang geschlossen wird, drehe ich mich um und laufe über den breiten Weg auf eine Bank zu. Meine Beine fühlen sich schwer an und mein Herz schlägt ungewöhnlich schnell, doch sobald ich mich hingesetzt und mit geschlossenen Augen ruhig ein- und ausgeatmet habe, wird es langsam besser. Ich ziehe die Füße auf die Bank und stütze das Kinn auf die Knie. Eine alte Frau läuft vorbei, sie geht gebeugt, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und sieht kaum auf. Fast unbewusst hole ich den Skizzenblock aus der Tasche und klappe ihn auf. Die ersten Seiten überblättere ich, belanglose Zeichnungen beliebiger Menschen. Zu Hause werde ich sie wegschmeißen.

Mit dem Bleistift ziehe ich die ersten Linien, grobe Umrisse, die kaum als Gesicht zu erkennen sind, nur ein Rahmen, ein Gefäß, das erst gefüllt werden muss. Normalerweise warte ich, bevor ich die Details ergänze, diesmal jedoch drängen sie sich in meinem Kopf, sie wollen hinaus. Runde Grübchenwangen, wie im Gegensatz dazu ein ausgeprägtes Kinn, das hart und eckig wirkt, große Ohren mit knubbeligen Ohrläppchen. Dazu dieses warme Lächeln wie tröstende Worte, nachdem man sich das Knie aufgeschlagen hat oder das Lieblingskuscheltier verloren, ein Lächeln, das wie eine stumme Antwort auf alle ungestellten Fragen ist.

Als ich die Schirmmütze fertig gezeichnet habe, öffnen sich die Türen der Kirche und die ersten Trauergäste kommen wieder heraus, ihre Stimmen kehren zu ihnen zurück. Den Mann im Fischgrätenmusteranzug kann ich zwischen den zahlreichen Leuten nicht entdecken. Bewegungslos bleibe ich auf der Bank sitzen, während die Trauergesellschaft an mir vorbeizieht, zu Grüppchen formiert, auf den Ausgang zu. Offenbar findet das Begräbnis selbst ohne sie statt, nur im Kreis der Familie.

Es wird wieder ruhig, nachdem alle gegangen sind. Hier und da ziehen Wolken über den Himmel, ein paar Spatzen streiten sich um ein halbes Butterbrötchen.

Nach einer Weile erhebe ich mich und verlasse ebenfalls den Friedhof.

Mit vollen Einkaufstaschen bepackt, öffne ich die Haustür und schleiche die Stufen hinauf in die oberste Etage. Bestimmt sitzt Frau Gerberer wieder auf ihrem alten Stuhl mit dem Blümchenbezug in ihrem Flur und lauscht nach draußen, um sofort ihre Wohnungstür aufzureißen, sobald jemand vorbeikommt. Jemand, das sind entweder Ben oder ich oder der Pizzabote, und heute habe ich keine Kraft für Arztgeschichten, neugierige Fragen oder den neusten Tratsch aus dem Häkelclub.

An unserer Tür klebt ein Briefumschlag. Eine Spur zu laut stelle ich die Taschen ab, bevor ich ihn abreiße, nur Sekunden später steht Frau Gerberer in ihrem Türrahmen. »Da war eine junge Frau«, erklärt sie wie immer viel zu laut.

Freundlich lächelnd wende ich mich zu ihr um. »Was für eine Frau?«

»Ich kenne die Dame nicht. Sie hat sich vor Ihre Tür gesetzt und diesen Zettel angebracht, obwohl ich sie darauf aufmerksam gemacht habe, dass Sie durchaus einen Briefkasten besitzen.« Sie schüttelt missbilligend den Kopf.

»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ich lächle schwach.

»Fast hätte ich die Polizei gerufen«, ergänzt Frau Gerberer aufgeregt, dabei hätte sie das nicht getan, sie hat noch nie die Polizei gerufen, obwohl sie schon viele Gründe dafür sah.

»Hat die Dame denn versucht, bei uns einzubrechen?«

»Nun ja, sie lungerte im Haus herum, obwohl sie nicht hier wohnt.«

Den Briefumschlag lasse ich in einen der Stoffbeutel gleiten und angle den Wohnungsschlüssel aus der Handtasche. Dabei fällt mein Blick auf den Blumenkübel, der neben unserer Tür steht, und auf etwas schwarz Glänzendes, das dahinter liegt. Ich bücke mich danach.

»Vorsicht! Das könnte eine Bombe sein«, warnt Frau Gerberer fachmännisch, doch natürlich ist es keine Bombe, sondern nur ein Smartphone, und in dem Moment, in dem ich es aufhebe, beginnt es zu vibrieren. Vor Schreck lasse ich es beinah wieder fallen.

Frau Gerberer verschwindet panisch in ihrer Wohnung.

Matthias, steht auf dem Display, das Gesicht eines jungen Mannes erscheint, eine blaue Wollmütze auf dem Kopf, die ihm zu tief in der Stirn hängt, darunter graublaue Augen.

»Wollen Sie denn nicht rangehen?«, fragt Frau Gerberer hinter ihrer Wohnungstür.

Statt zu antworten, schiebe ich die Einkäufe in unseren Flur und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss.

Ich trage die Lebensmittel in die große Wohnküche und lege das Handy auf die Kücheninsel. Mein Blick streift durch den Raum, und erst, als ich ihn nicht finde, merke ich, dass ich Nanju gesucht habe, der mich sonst immer schon an der Wohnungstür begrüßt, weil er es hört, wenn Ben oder ich nach Hause kommen. Er hörte uns immer.

Schnell verstaue ich die Nougat-Eiscreme im Tiefkühlschrank und reihe das Gemüse auf der Arbeitsfläche auf. Mit dem Brief in der Hand wandere ich zu der Truhe, die mit Decken und Kissen belegt vor dem größeren der beiden Fenster steht, und setze mich darauf.

Sie kennen mich nicht.

Ihnen einen Brief zu schreiben, ist der feige Weg. Fast so feige, wie gar nichts zu tun. Das hatte ich eigentlich vor.

Ich war nur für drei Tage in der Stadt. Die Klimaanlage meines Mietautos funktionierte nicht, aber natürlich ist sie trotzdem nicht schuld daran, dass ich abgelenkt war und nicht aufgepasst habe. Die schwarze Katze habe ich nicht gesehen.

Es tut mir sehr leid!

Ich konnte nichts mehr tun. Ich habe sie in die Tierklinik gebracht. Sie hatte keinen Chip, und die Aushänge habe ich erst heute gesehen, als ich schon wieder abreisen musste. Trotzdem wollte ich mich persönlich entschuldigen und habe Ihre Handynummer gegoogelt. Ich mag Ihre Website. Sie malen sehr schöne Bilder.

Vielleicht war es gar nicht Ihre Katze.

Ich hoffe, es war nicht Ihre Katze.

Minuten dehnen sich endlos, während ich nur auf der Truhe sitze und zu verstehen versuche, dass Nanju tatsächlich nicht mehr zurückkommen wird. Dabei war es nur ein unachtsamer Moment, in dem die Wohnungstür offen stand, während ich noch schnell den Müll holen ging, um ihn mit hinunterzunehmen, und als mir der Nachbar aus dem Erdgeschoss, der ohne Namen am Klingelschild, entgegenkam und mich fragte, ob das meine Katze gewesen wäre, die da gerade hinausgeschlüpft sei, war es bereits zu spät.

Ich schaute unter alle parkenden Autos. Ich lief in alle Hauseingänge.

Nirgendwo fand ich ihn.

* * *

Vereinzelte Stadtlichter werfen Schatten in das Grau meines Zimmers, sodass sich die Umrisse der beiden Staffeleien aus der Dunkelheit schälen. Wie stille Wächter stehen sie da, mustern mich und warten darauf, dass ich das Licht einschalte und die Farben hervorhole, obwohl sie wissen, dass ich das nicht tun werde.

Dass ich das seit Ewigkeiten nicht mehr getan habe.

Einen Moment lang warte ich auf das Quietschen der Wohnungstür, deren Angeln dringend geölt werden müssten. Wenn ich das jedoch tue, höre ich nicht, wann Ben nach Hause kommt, und wenn ich ihn nicht kommen höre, merke ich irgendwann gar nicht mehr, ob er überhaupt da ist.

Ich schalte das Licht ein, räume den Zeichentisch und den Schreibtisch auf, sortiere alles zurück in die richtigen Fächer und Schränke. Jolie hat mich für meine Ordnung immer belächelt, aber ich kann einen Tag nicht richtig beenden, solange Dinge herumliegen, vorwurfsvoll, müde, und letztlich kann ich nichts von ihnen erwarten, wenn sie sich nicht ausruhen dürfen.

Mein Blick bleibt an dem Foto hängen, das in A3-Größe über dem Skizzentisch die Wand verziert. Island von oben, Grün und Braun und Weiß in unendlichem Blau. Ein kurzes Zögern, dann schiebe ich einen Stuhl heran, steige auf die Sitzfläche und nehme den schwarzen Rahmen ab. Darunter kleben Zettel an der Wand, drei Post-its in unterschiedlichen Farben.

Fritz (gelber Zettel).

Luise (blauer Zettel).

Joel (roter Zettel).

Zögernd öffne ich die Schreibtischschublade, nehme einen grünen Klebezettel und schreibe sehr sorgfältig einen vierten Namen. Ich brauche mehrere Versuche, immer wieder setze ich neu an, immer wieder verharrt meine Hand in der Luft, als könnte sich, wenn ich nur lange genug warte, noch etwas ändern. Als wäre es erst dann vorbei, wenn der Name auf diesem Zettel steht.

Nanju.

Nun klebt er unter den anderen. Ich setze mich auf den freigeräumten Skizzentisch, die Beine angezogen, bis meine Gedanken davonschweben. Sobald ich die Augen schließe, riecht es nach Meer und nach Pfeifenrauch, ich schmecke das Salz auf den Lippen, höre das Blubbern eines Eintopfes, der langsam auf kleiner Flamme eindickt, und manchmal murmelt eine helle Kinderstimme Zahlen in den Raum. Eine schwarze Katze liegt auf der Fensterbank, und aus einem anderen Zimmer dringt Musik, zu der, da bin ich mir sicher, jemand tanzt.

Nur mühsam befreie ich mich aus diesen Bildern, die sich anfühlen wie echte Erinnerungen, hänge das Foto wieder über die Post-its und verlasse das Atelier, das sich im Dachgeschoss über der Wohnung befindet.

In der Küche brühe ich mir einen Kräutertee auf und schalte das Display meines Smartphones ein. Das Rezept für das Abendessen leuchtet mir entgegen. Daneben nur eine Nachricht von Ben, er kommt später, mal wieder.

Die Tomatensuppe habe ich bereits mittags gekocht, um mich abzulenken, auch der Quinoa-Gemüse-Auflauf ist fertig. Ich wärme beides in der Mikrowelle auf, jeweils nur eine Portion.

Mit dem Abendessen setze ich mich vor den Fernseher. Auf meiner Netflix-Liste stehen so viele Serien, die ich mit Ben schauen wollte. Anfangs habe ich noch gewartet, ab und zu haben wir eine gesehen, immer dann, wenn er mal Zeit dafür fand, und wenn er zu lange eben keine fand, fing ich allein eine an. Die Anzahl der Serien, die ich ohne ihn geschaut habe, übersteigt schon seit Langem die derjenigen, die wir uns aneinandergekuschelt auf dem Sofa zusammen angesehen haben.

Während The Mystery of Peter Rabinshaw lädt, rühre ich etwas Sahne in die Tomatensuppe. Noch immer räume ich Butter und Käse sofort nach Benutzung in den Kühlschrank, noch immer lasse ich die Schlafzimmertür offen, damit der schwarze Kater sich nachts an meine Füße legen kann oder auf Bens Bauch, das sanfte Schnurren wie eine Abschirmung gegen die Welt.

Nach zwanzig Minuten schalte ich den Fernseher wieder aus. Stimmen quellen von der Straße durch das offene Fenster, von irgendwo Musik, fast könnte Wochenende sein, fast könnte ich eine derjenigen sein, die in einer der Nachbarwohnungen tanzt, in dieser Stadt, die mir auch nach vier Jahren noch fremd ist, die mir trotz oder gerade aufgrund ihrer Schönheit einfach nicht passt.

Ich war die freie Künstlerin und Ben der mit dem lukrativen Jobangebot in einem erfolgreichen Maklerbüro. Es gab keinen Grund, sich gegen Graz zu entscheiden und für Berlin, auch wenn er dort sicher ebenfalls einen Job gefunden hätte.

Die leeren Teller räume ich in die Spülmaschine, dann setze ich mich auf die Bank vor dem Fenster. Wenn ich die Hand ausstrecke, in die Dunkelheit hinaus, berühre ich die Nacht, ich spüre das Leben der anderen darin, es summt wie Strom in einem Elektrozaun.

Ein Klappern im Schloss der Wohnungstür.

»Hey, du bist ja noch wach«, begrüßt Ben mich, als wäre es ungewöhnlich, dass ich um zehn noch nicht im Bett bin.

Ich nicke, lächle, stehe auf und frage ihn, wie sein Tag war, in zwei, drei Sätzen fasst er ihn zusammen. »Morgen muss ich früh raus«, sagt er, und: »Danke, ich habe unterwegs gegessen«, und: »Schlaf gut«.

Für ein paar Minuten verschwindet er im Bad.

Mitten im Zimmer bleibe ich stehen und warte auf ihn, bis er frisch rasiert wieder herauskommt. »Wir haben einen Brief bekommen«, sage ich.

»Aha?« Er sieht mich nicht an, bestimmt ist er noch mit seinem Tag beschäftigt, mit organisatorischen Fragen, mit einem Kunden, mit einem technischen Problem.

»Er klebte an unserer Tür.«

»An der Tür?« Aus dem Schrank holt er sich ein Glas und hält es unter den Wasserhahn. In großen Schlucken trinkt er es leer, das Geräusch füllt den Raum.

»Wegen Nanju.«

Nun richtet er den Blick auf mich. »Was ist mit ihm? Hat ihn jemand gefunden?«

»Nein. Er …«, ich atme tief ein, »er wurde überfahren.«

Wortlos hält Ben inne. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Und das hat dir jemand geschrieben?«

»Ja. Jemand hat ihn überfahren und uns das so mitgeteilt, weil der Kater ja nicht gechippt war.«

»Okay.« Ben nickt langsam. »Wenigstens wissen wir jetzt Bescheid.« Für einen Moment zögert er, bevor er zu mir kommt, mir einen Kuss auf die Stirn gibt und dann im Schlafzimmer verschwindet. Die Tür schließt er hinter sich, und der rabenschwarze Kater, der nicht da ist, sitzt davor und blinzelt mich vorwurfsvoll an.

»Ich hätte dich reingelassen«, sage ich, aber nur leise, mehr in Gedanken.

Ich könnte noch einmal nach oben gehen und an den Kinderbuchillustrationen arbeiten oder die Serie weiterschauen, ich könnte die Farben hervorholen. Irgendwann sollte ich das wieder tun, bevor es zu spät ist, bevor es etwas wird, das mit mir und meinem Leben nichts mehr zu tun hat. Das Licht im Flur ist ausgeschaltet, dunkel erstreckt er sich bis zur Treppe, die ins Atelier führt, und ich weiß, der Kater wird nicht zusammengerollt auf dem Lesesessel schlafen, also bleibe auch ich unten.

Als ich das Schlafzimmer betrete, atmet Ben noch sein Wachatmen, es sind keine Träume darin, nur Gedanken und Sorgen. Leise schlüpfe ich unter die Decke und kuschle mich an ihn. »Du schläfst noch nicht«, flüstere ich.

Ein kurzes Schnauben, ein müdes Lachen. »Aber fast.« Seine Hand fährt über meinen Bauch.

Im Dunkeln ist alles nur eine Ahnung. Sein Körper unter der Decke, sein Gesicht, die Augen, das Kinn, das alles gehört schon so lange zu mir. Mein Mund sucht den seinen, so oft haben wir das schon gemacht, dass es wie von selbst geschieht. Zaghaft erwacht das Kribbeln tief unterhalb meines Magens, ich rücke noch näher an Ben heran. Gerade öffne ich die Lippen, taste mit der Hand nach der Stelle zwischen dem Saum seines T-Shirts und der Schlafanzughose, als seine Hand von meinem Bauch gleitet und er sich umdreht.

»Schlaf gut«, murmelt er.

»Ja«, murmle ich zurück. »Du auch.«

Draußen fällt fahles Mondlicht auf eine blasse Stadt. Ich blinzle ein paar Tränen weg, schlucke die plötzliche Schwere hinunter und denke an die Jahre, die ich mit Jolie in Berlin gewohnt habe, die ständige Musik in unserer Wohnung. Wenn ich morgens aufwachte, stand sie bereits in der Küche, wir haben Sandwiches zubereitet oder Rührei oder Pancakes und beim Essen ferngesehen. Wir haben geredet und gelacht, manchmal habe ich sie gezeichnet und ihr von dem Jungen erzählt, in den ich verliebt war, er studierte mit mir zusammen. Wenn die Wohnung zu eng wurde für unser Lachen und unsere Worte und die Musik, sind wir hinausgegangen, um einen Kaffee oder eine heiße Schokolade zu trinken. Wir haben uns in Parks gesetzt und den Menschen beim Leben zugesehen und ihnen Namen und Geschichten gegeben, und manchmal glaubten wir, dass diese Namen und Geschichten echt sind.

Dass wir diejenigen sind, die diese anderen Menschen erfinden.

Kapitel 2

Nachtluft strömt durch das geöffnete Fenster und kühlt den Raum merklich ab. Trotzdem bleibe ich auf dem Schreibtisch sitzen und blicke in die Dunkelheit hinaus. Neben mir liegt der Skizzenblock, das Gesicht des alten Mannes vom Friedhof ist fast fertig, mit Buntstiften habe ich es koloriert. Eine der wenigen Zeichnungen, die ich in den letzten Monaten beendet habe. Ich werde sie aufhängen, vielleicht neben das Islandfoto oder über meinen Lesesessel.

Mindestens eine halbe Stunde habe ich neben dem schnarchenden Ben gelegen, bis ich das Einschlafen aufgegeben habe.

Ich schließe das Fenster und knipse die Lichterketten an, die an dem Regal mit den Arbeitsmaterialien und über dem Schreibtisch befestigt sind. Während der Computer hochfährt, wandere ich durch den Raum und versuche, mich auf die Kinderbuchillustrationen einzustimmen. In ein paar Tagen muss ich sie zum Verlag schicken. Die meisten Entwürfe sind ganz gut gelungen, doch ein Bild, das wichtigste des ganzen Buches, erscheint mir langweilig, wie aus tausend anderen Geschichten kopiert, und so sehr ich mich auch bemühe, einen anderen Ansatz zu finden, fällt mir einfach keiner ein. Vielleicht gibt es nur eine begrenzte Kapazität für Hasen-Bilderbücher, und auch ich kann dem nichts Neues mehr hinzufügen.

Auf der Kommode neben der Tür liegt das gefundene Telefon. Ich schalte das Display ein, um nachzuschauen, ob noch jemand angerufen hat, nur kenne ich natürlich den Code für die Displaysperre nicht. Das Gerät wirkt fremd hier in meinem Zimmer. Aber es lag vor meiner Wohnung, absichtlich oder versehentlich, und fällt damit unter meine Verantwortung. Mit meinem Ladegerät schließe ich es an die Steckdose, bevor ich zurück zum Schreibtisch gehe.

Sobald das Grafikprogramm gestartet ist, öffne ich die letzte Zeichnung und versuche, einen Grünton feiner auf die anderen Umgebungsfarben abzustimmen. Ein paar Minuten lang plage ich mich mit Einstellungsdetails herum, gebe jedoch rasch wieder auf.

Erneut blicke ich aus dem Fenster. Nächte sind so viel größer als Tage, ich könnte in ihnen verschwinden und nie wieder auftauchen, ich könnte ein Teil ihrer Dunkelheit werden. Meine Gedanken stolpern schwerfällig, ich bin wohl doch zu müde, um mich zu konzentrieren.

Ich wickle mich in meine Kuscheldecke, setze mich in den Lesesessel und ziehe die Füße auf die Sitzfläche. Manchmal ist es mir zu still in meinem Atelier. Manchmal betrachte ich die zitronengelben Wände, die Staffeleien, die Arbeitsflächen, die Regale und versuche mich zu erinnern, wie all diese Dinge hierhergekommen sind, wann ich sie ausgesucht, gekauft und eingeräumt habe, was sie überhaupt mit mir zu tun haben.

Über der Leseecke hängen schmale Regale, auf denen Bücher stehen und Gläser mit Fundstücken, die ich aus Urlauben mitgebracht habe: Muscheln, Sand, getrocknete Blätter und Blüten, Steine, vom Meer geschliffene Glasscherben, Baumrinde, aber auch eine zerbrochene Brille, Knöpfe, ein Ohrring. Die zerknickte Postkarte ist das letzte Mitbringsel, das sich zu den übrigen Sachen reiht, eine Tuschezeichnung von Venedig, wo Ben und ich unseren dritten Hochzeitstag gefeiert haben. Danach gründete er mit Oliver die Umzugsservice-Agentur, und seitdem reichen Zeit und Geld nicht mehr für Urlaub.

Keines der Bücher spricht mich an. Für eine Weile blättere ich in einem Bildband über Architekturgeschichte, bis ich aufstehe und wieder vor die Kommode trete.

Der Akku ist fast voll. Es sind keine Nachrichten eingegangen. Wieso will niemand dieses Handy zurück? Vielleicht klingelt morgen der Besitzer an meiner Wohnungstür oder die Besitzerin, eine Fremde, die zögernd vor mir steht, die sich noch einmal stotternd wegen des Katers entschuldigt, obwohl er davon nicht zurückkehren wird.

Ich nehme mein eigenes Handy in die Hand und öffne den Browser. Eher oberflächlich google ich nach Displaysperre knacken. Natürlich existieren zahlreiche Tutorials zu dem Thema, Texte und YouTube-Videos, aber wirklich Lust habe ich nicht, sie mir anzusehen.

Mit dem Rücken gegen die Kommode gelehnt, scrolle ich durch meine Kontaktliste. Ben. Oliver. Frau Gerberer. Jolie. Tante Lisbeth. Ein paar Auftraggeber, Verlage, Autoren, mit denen ich schon mehrmals zusammengearbeitet habe. Wenige Freunde, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. Tanja.

Ohne nachzudenken, drücke ich auf das grüne Telefonhörersymbol. Um diese Uhrzeit hat sie das Handy wahrscheinlich schon auf lautlos gestellt, und morgen wird sie sich wundern, weshalb ich sie nachts anr…

»Caja? Ist alles okay?«

»Äh, ja.« Irritiert halte ich inne. »Wieso schläfst du noch nicht?«

»Wieso rufst du an, wenn du denkst, dass ich schlafe?« Im Hintergrund poltert etwas, darauf folgt ein Quäken, das in laute Schluchzer übergeht. »Warte kurz, ja? Mimi ist was runtergefallen.«

Ein paar Sekunden lang lausche ich den Hintergrundgeräuschen, Tanjas Stimme, Mimis Weinen, dann eine Weile nichts.

»Okay, bin wieder da.«

»Miriam schläft auch noch nicht?«

»Die Kleine ist krank, sie wacht immer wieder auf und denkt, es ist Zeit aufzustehen.« Tanja klingt erschöpft, obwohl sie diese Fröhlichkeit in ihre Stimme presst, wie sie das schon als Jugendliche getan hat. Immer dann, wenn sie zu lange aufblieb, um noch zu lernen oder Hausaufgaben zu erledigen, wenn sie selbst am Wochenende um sechs aufstand, um eine Stunde joggen zu gehen, später auch während des Abis, während des Studiums, während der Schwangerschaft, immerzu.

»Ach so.« Ich schweige, Tanja schweigt, nur Mimi plappert vor sich hin. »Wie geht es euch sonst?«

»Gut. Das Kind redet den ganzen Tag und isst so viel wie ich, entwickelt sich also prächtig.«

Ich bin nicht sicher, ob der ironische Unterton wirklich da ist oder ob ich ihn nur höre, weil ich ihn immer höre, selbst dann, wenn meine Schwester gar nichts sagt.

»Und was macht Claudio?«

»Musik, wie immer. Was ist bei dir los? Wieso rufst du eigentlich an?«

Ein »Ich wollte nur wissen, wie es dir geht« verkneife ich mir. »Ich habe ein Handy gefunden«, sage ich stattdessen.

»Ein Handy? Wieso … und wo?«

»Keine Ahnung, wieso. Jemand hat es vor meiner Wohnung liegen gelassen.«

»Merkwürdig.«

»Ja. Jedenfalls habe ich es erst mal behalten.«

»Gibt es bei euch kein Fundbüro?« Das Klappern von Geschirr ist zu hören, vermutlich wäscht sie ab, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

»Bestimmt.«

»Dann gib es doch dort ab.«

Leise seufze ich. Natürlich könnte ich es dort abgeben, aber es lag nun einmal vor meiner Wohnung, es lag dort aus einem Grund, und ich kann es nicht jemandem überreichen, der sich nicht dafür interessiert, der es mit einer Nummer versieht und in eine Kiste wirft, in der es so lange lagern wird, bis man es entsorgt.

»Was machst du jetzt damit?« Wasser plätschert in ihre Worte.

»Eigentlich wollte ich dich fragen, wie man die Displaysperre knackt, damit ich den Besitzer erreichen kann.«

Abrupt bricht das Plätschern wieder ab. »Willst du ihn auf dem Handy anrufen?« Sie lacht, es klingt etwas gekünstelt.

»Vielleicht hat derjenige noch eine andere Nummer eingespeichert oder jemanden namens Mama oder so. Jemanden, den ich kontaktieren kann.«

»Hm.« Wieder Wasserrauschen, das laute Zuschlagen der Kühlschranktür. »Ich müsste erst mal selbst recherchieren, wie das funktioniert. Ist es eine Mustersperre oder eine PIN

»Nein, keine Zahlen, ein Muster.« Meine Füße sind kalt, ich ziehe sie unter die kobaltblaue Decke.

»Hast du dir das Display mal genauer angeschaut? Wenn es nicht oft gereinigt wird, kann man eventuell eine Spur darauf erkennen.«

»Warte kurz.« Ich ziehe das Smartphone zu mir und schalte die Leselampe ein, um das Display genauer begutachten zu können. »Kann sein, dass man etwas sieht, aber das ist nicht so eindeutig.«

Wieder beginnt Mimi zu schreien, diesmal deutlich lauter als vorhin.

»Probier doch einfach ein paar Kombinationen aus. Die meisten fangen oben links in der Ecke an. Ich ruf dich gleich zurück, ja?« Schon hat Tanja aufgelegt.

Sie wird nicht zurückrufen, zumindest nicht heute. In einem Monat vielleicht, wenn in ihrem Kalender auch ein L steht, erst dann wird sie mit schlechtem Gewissen nach dem Telefon greifen, und ich werde mit schlechtem Gewissen abnehmen.

Ich stehe auf und setze mich an den Schreibtisch, die Lampe eingeschaltet. Auf ein Blatt Papier zeichne ich drei Reihen bestehend aus jeweils drei Punkten und hole meine Buntstifte hervor. Mit meinem Handy versuche ich, ein möglichst genaues Foto von den Fingerspuren auf dem Display des gefundenen Geräts aufzunehmen. Eine andere Möglichkeit, als einfach herumzuprobieren, bleibt mir allerdings nicht, also fange ich bei der ersten der etwa eine Million Möglichkeiten an. Nach einer Viertelstunde mache ich eine Pause und arbeite ein wenig an den Kinderbuchillustrationen weiter. Nach einer weiteren Viertelstunde finde ich ihn tatsächlich: den richtigen Code. Ich bin selbst derart überrascht, dass ich fast vergesse, ihn aufzumalen.

Das Hintergrundfoto zeigt zwei Frauen, jünger als ich, vielleicht Mitte zwanzig. Sie haben die Köpfe aneinandergelehnt, die Sonne blendet sie, doch sie lachen, um sie herum Sand und Meeresstimmung. Aus irgendeinem Grund macht mich der Anblick traurig, als wäre ich das auf dem Bild und die Erinnerung an diesen Augenblick längst verloren. Eine der Frauen kommt mir vage bekannt vor, irgendwo habe ich sie schon einmal gesehen.

Das Klingeln meines Telefons reißt mich zurück in die Gegenwart.

»Endlich ist sie richtig eingeschlafen«, sagt Tanja, und diesmal lässt sie die Erschöpfung zu. »Morgen geht sie wohl nicht in die Kita.«

»Du brauchst Urlaub«, antworte ich.

»Allerdings. Geht aber nicht. Im Laden ist es gerade super stressig.« Sie öffnet die Terrassentür, die unten am Rahmen schleift. »Hast du den Displaycode geknackt?«

»Ja. Hat ein bisschen gedauert, aber ging.«

»Gut.« Ihre Stimme klingt abwesend. »Und bei dir?«

»Alles okay. Ben arbeitet viel, aber das Unternehmen wächst.« Ich stehe auf, sortiere ein paar Becher mit Acrylfarbe im Regal um.

»Ja, kann ich mir vorstellen. So eine Firma aufzubauen, ist sehr viel Arbeit.«

»Ist es.« Unwillkürlich huscht mein Blick wieder zu dem fremden Smartphone.

»Was habt ihr am Wochenende vor?«, fragt Tanja.

Ich lehne den Kopf gegen den Sessel und schaue durch das Schwingfenster im Dach in den sternenlosen Himmel hinauf. »Nichts Besonderes. Ben arbeitet sicher Liegengebliebenes ab, ich werde mit dem nächsten Auftrag anfangen.«

»Ach so.« Sie schließt die Terrassentür.

»Und ihr?«

»Ich schätze, wir machen einen Waldspaziergang. Die Pilzsaison hat angefangen. Vielleicht fahre ich zum Reiten.«

»Du reitest wieder?« Ich stehe auf, setze mich auf den Schreibtisch, näher an die Nacht. In der Wohnung gegenüber geht das Licht an. Ein Pärchen torkelt küssend in ein kahl eingerichtetes Zimmer. Weiße Wände, übergroßer Fernseher, Glastisch. Normalerweise sitzt der Mann allein auf dem weißen Ledersofa und liest.

»Nicht oft, nein. Nur wenn Claudio auf Mimi aufpasst und sonst nichts Dringendes zu tun ist.«

Die beiden landen auf dem Sofa, sie auf ihm, erste Kleidungsstücke fliegen durch den Raum. Was für ein Klischee. Zum Glück höre ich das Stöhnen nicht.

Wenn ich mit Jolie telefonieren würde, würde ich ihr von den Nachbarn erzählen, sie würde lachen und mich darum bitten, ihr ein Foto zu schicken, und dann würde sie behaupten, dass nichts davon echt aussieht, sondern wie aus einem Film, und ich würde sagen, dass der Unterschied für viele nicht groß ist, und dann würden wir darüber lachen.

»Mist, Mimi ist schon wieder wach«, sagt Tanja plötzlich. »Ich lege mich zu ihr, sonst schläft sie gar nicht mehr. Wir reden morgen weiter, ja?«

»Ja, ist okay.«

Mit einem knappen »Tschüss« legt sie auf.

Inzwischen sind beide nackt, sie liegt unten, viel zu schnell fahren ihre Hände seinen Körper entlang. Das Leder fühlt sich sicher unangenehm an, kühl und klebrig, keinen von beiden scheint es zu stören.

Eher halbherzig schlage ich den Architekturbildband auf, und obwohl ich keine Lust dazu habe, beginne ich damit, ein Jugendstilgebäude abzuzeichnen, nur so, zur Übung. Als ich das nächste Mal aufsehe, sind die beiden verschwunden. Das Sofa war ihnen wohl doch zu unbequem. Ohne sie wirkt der kahle Raum noch leerer. Wie von selbst blättere ich eine Seite in meinem Skizzenheft weiter und zeichne ihn, glatte Formen, überall Kanten und Ecken und viel zu grelles Licht.

Erst weit nach Mitternacht räume ich alles zusammen und gehe leise die Treppe hinunter. Ben schnarcht vor sich hin, als ich das Schlafzimmer betrete. Ich kippe das Fenster und krieche unter die große Decke. Gedanken wirbeln durch den Raum, die sich nur nach und nach in Ecken verkriechen.

Ich lausche ihnen mit geschlossenen Augen. Unter der Decke spüre ich Bens Wärme, ohne ihn zu berühren.

Kapitel 3

Ich sitze auf der Bank vor dem Wohnzimmerfenster und blicke hinaus, während ich esse. Früher, als wir noch frisch zusammen waren, sind Ben und ich häufig bei Regen spazieren gegangen. Wir mochten das Prasseln auf den Schirmen, wir mochten es, wenn unsere Haare nass wurden und unsere Kleidung, aus der wir uns gegenseitig schälten, wenn wir wieder nach Hause kamen, und jedes Mal wollten wir eigentlich gemütlich einen Tee trinken und einen Film schauen, während das richtige Gewitter losging, und jedes Mal landeten wir stattdessen im Bett und sprachen über Dinge, über die wir sonst nicht sprachen. Es entsteht ein ganz eigener Raum, nachdem man miteinander geschlafen hat, abgeschieden vom Rest der Welt. Eigentlich gibt es keinen Grund, ihn jemals zu verlassen.

Manchmal scheint mir dieser Anfang so ewig weit weg, dass er genauso gut nie gewesen sein könnte. Das Leben zersplittert in einzelne Teile, die mit zunehmender zeitlicher Distanz auseinanderdriften. An Tagen wie heute schaue ich sie mir an und versuche, sie zusammenzupuzzeln, doch immer sehe ich die Bruchstellen, immer passt nicht alles zusammen, und ich blicke in die Lücken und frage mich, was dazwischen gewesen ist. Denn etwas muss gewesen sein, die Zeit ist nicht einfach ins Leere geronnen. Schon gar nicht acht gemeinsame Jahre.

Mit einer Kanne Jasmintee gehe ich wieder nach oben und lese meine E-Mails. Der Verlag hat geantwortet, sie sind zufrieden mit den Zeichnungen, die ich ihnen am Vormittag geschickt habe. Ich liebe die Illustrationen, hat mir die Lektorin geschrieben, doch diese Worte fühlen sich nicht so an, als wären sie an mich gerichtet.

Müde lege ich den Kopf in den Nacken, versuche, meine Schultern zu massieren. Weil das nichts bringt, stehe ich auf, laufe ein paar Schritte durch das Atelier. Trotz der großen Fenster erscheint die Welt unerreichbar weit entfernt. Selbst der Sonne gelingt es heute nur mühsam, gelegentlich zwischen den dahineilenden Wolken hervorzubrechen.

Vor der Kommode bleibe ich stehen.

Mittlerweile frage ich mich, ob das Handy in Wahrheit niemandem gehört. Vielleicht ist es aus der Zeit gefallen oder stammt aus einem Paralleluniversum, in dem gerade verzweifelt jemand versucht, es zurückzubekommen, ohne es erreichen zu können, denn es liegt ja hier, in meinem Atelier, und klingelt einfach nicht.

Unsicher nehme ich es in die Hand und deaktiviere die Displaysperre.

Die Kontaktliste gibt wenig her. Matthias, Leira, Großeltern, Eva. Alles deutsche Nummern, nur Evas hat eine österreichische Vorwahl.

Mehr steht dort nicht.

Kann man wirklich so wenige Leute kennen? Dagegen bin ich ja ein extravertierter Partylöwe.

Die Frage ist nur: Wen rufe ich an? Die Großeltern erschrecken sich vielleicht, wenn sie eine Fremde nach ihrem Enkel oder ihrer Enkelin fragt, die anderen könnten irgendjemand sein: der Chef, die Putzfrau, die Nachbarin, ein Taxifahrer, mehr als die Nummern finden sich nicht im Speicher.

Außer vielleicht, ich schaue mir die Nachrichten an. Mein Daumen schwebt knapp über dem Button einer Messenger-App, doch mit einem Mal bin ich unsicher, ob das überhaupt legal ist, in den persönlichen Daten eines Fremden herumzuwühlen. Rasch schiebe ich das Gerät zur Seite und versuche, im Internet zu recherchieren, wie weit ich mich bei einem Zugriff in den illegalen Bereich bewege.

Vielleicht helfen mir andere Apps weiter. Ich durchstöbere die Programme, finde jedoch nichts Brauchbares. Bisher war mir nicht bewusst, dass man sein Smartphone für derart viele Dinge verwenden kann. Eine App für einen Putz- und Haushaltsplan, eine für Einnahmen und Ausgaben, eine für Listen, eine für Rezepte … Von den meisten habe ich noch nie gehört. Eher wahllos öffne und schließe ich Applikationen, ohne sie mir wirklich anzusehen. Die ganze Zeit fühle ich mich beobachtet, immer wieder blicke ich auf, obwohl ich gleichzeitig weiß, wie übertrieben das ist. Ganz offensichtlich wurde diesem Gerät sehr viel anvertraut, ein halbes Leben befindet sich darin, mindestens, und jetzt schwebt es hier in meinem Refugium und breitet sich aus.

Es muss unheimlich sein, so viel über sich selbst an einem anderen Ort zurückzulassen. In mein Smartphone trage ich nur die Termine ein, die sich gelegentlich ergeben, und nutze es, um Ben zu schreiben. Eine Übersicht über meine Aufträge führe ich in einem normalen Notizbuch, und die Organisation unseres Haushalts funktioniert auch ohne App. Mal besser, mal nicht ganz so gut.

Zögernd betätige ich ein zweites Mal das Symbol für Homeorganizer. Nur mal so, um mir anzuschauen, wie die App aufgebaut ist. Eventuell kann sie Ehepartner daran erinnern, ihre Schmutzwäsche in den Wäschekorb zu legen oder den Kaffeebecher in den Geschirrspüler zu räumen. Das wäre doch sehr praktisch.

Alle möglichen Haushaltstätigkeiten finden sich in einer Liste, eingetragen mit einem Rhythmus, in dem sie erledigt werden, und der Information, wer dafür zuständig ist: Nathalie, Leira.

Ich gehe zurück zu den Kontakten und klicke kurzentschlossen auf Leiras Namen.

»Diese Nummer ist nicht vergeben«, teilt mir eine mechanisch klingende Frauenstimme mit.

Rasch lege ich wieder auf.

Leira.

Nathalie.

Eine ohne Nummer.

Eine ohne Handy.

Als würden sie gar nicht existieren.

Noch während ich über die beiden Namen nachdenke und die fröhlichen Frauengesichter auf dem Displayhintergrund, schrillt die Türklingel in meine Stille. Normalerweise ignoriere ich solche Störungen. Ben lässt sich seine Pakete ins Büro liefern, und Frau Gerberer fragte mich einmal, ob ich denn wirklich zu Hause arbeite, sie habe mir Kekse vorbeibringen wollen, doch niemand habe ihr geöffnet.

Wieder klingelt es, anders als sonst, ich weiß, dass etwas anders ist, es liegt keine Frage in diesem Klingeln, keine Bitte, sondern nur eine Aufforderung.

Ich schleiche die schmale Wendeltreppe hinunter in den Flur, wo ich stehen bleibe und den Atem anhalte.

Noch einmal klingelt es, dann klopft jemand gegen die Wohnungstür. »Caja? Mach verdammt noch mal auf, ich muss echt dringend aufs Klo.«

Jolie?

Überrascht reiße ich die Tür auf.

»Na endlich, ich hätte fast in den Hausflur gepinkelt.« Ohne ein weiteres Wort lässt sie einen riesigen Rucksack auf den Boden fallen und rennt an mir vorbei auf die Toilette. Während sich gegenüber langsam die Tür öffnet, drücke ich unsere so schnell wie möglich wieder zu.

Kurz darauf kommt Jolie zurück. Noch immer stehe ich im Flur, wahrscheinlich habe ich mich kaum gerührt.

»Hey, jetzt erst mal ein ordentliches Hallo.« Sie umarmt mich, drückt mich fest an sich, wie sie das immer macht. Schlappe Umarmungen sind keine Umarmungen, findet sie.

»Was machst du hier?«

»Ich freu mich auch, dich zu sehen«, sagt sie grinsend und streift die Schuhe von den Füßen, markenlose Sneakers in Waldgrün, greift nach ihrem Rucksack und schleppt ihn ins Wohnzimmer.

»Du hast nicht Bescheid gesagt …«

»Ich sage nie Bescheid, weißt du doch. Soll ich auf dem Sofa schlafen? Oder in deinem Arbeitszimmer?«

»Mein Arbeitszimmer ist jetzt oben und heißt Atelier. Wir haben doch vor zweieinhalb Jahren umgebaut, weil wir das vor dem Einzug nicht mehr geschafft haben.«

»Mir ist das ziemlich egal, wie der Raum heißt, in dem ich schlafen werde.«