Für Ramona, meine Zwillingsschwester
Die Autobiografie einer Frau, die sich nicht behindern lässt
Zur Entstehung von Text und Bild
Im Rahmen der Aufarbeitung ihrer schwierigen Lebensphasen hat Andrea Zurlinden seit 1998 Bilder und Texte erschaffen, die in ihrer Ausdrucksstärke noch heute für sich sprechen. Die Soziotherapeutin Anita Walti hat diese Biografiearbeit in einem therapeutischen Prozess begleitet. In einem ersten Schritt entstand ein «Lebenspanorama» in Form von Bildern. Anhand der Bilder konnte Andrea – sie wird im Buch bewusst «nur» mit Vorname genannt, weil es ihr Wunsch ist – in einem zweiten Schritt die Texte schreiben. Dafür sind Andrea Zurlinden und Anita Walti nochmals in die biografischen Themen eingetaucht. Sie haben die Bilder betrachtet und darüber gesprochen. Wortwörtlich hat Anita Walti Andreas Gedanken in deren Begrifflichkeit in einer ersten Form handschriftlich zu Papier gebracht. Andrea hat ihre Texte später mit dem Computer selbst festgehalten. So wurden aus Gedankengängen und Gefühlen fertige Texte.
Der Weg in die Öffentlichkeit
Über Menschen mit Beeinträchtigungen wird geschrieben, geforscht und referiert. Selbstvertretungen – das heisst Menschen, die als Experten oder Expertinnen in eigener Sache auftreten – sind nach wie vor selten und ein Novum.
Andrea hat diesen Schritt gewagt. In Begleitung hat sie 2005 angefangen, ihre Geschichte mit den vorhandenen Bildern und Texten in Form von Referaten einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie wollte ihrer subjektiven Wahrnehmung Ausdruck und Sprache verleihen. Sie selbst soll gehört und gesehen werden. Das vorliegende Buch ist ein weiterer Schritt dazu. Realisiert werden konnte das Buch aber nur dank dem engagierten Einsatz von Anita Walti. Nachdem über mehrere Jahre versucht wurde, Geburtshelfer für Andreas Projekt zu finden, hat Walti fast zehn Jahre nach ihrer Pensionierung in der Stiftung Züriwerk diesen grossen Wunsch von Andrea aufgegriffen und konnte die Idee und das Projekt 2018 der Wetziker Kommunikationsagentur dok-kommunikation übergeben.
«Mein Leben war nicht immer einfach. Es gab schon Schönes, aber es war nicht einfach. Ich habe ein gutes Leben, ich werde ernst genommen, kann sagen, was ich will. Alleine kann ich kein Buch schreiben.»
Diese fehlende Selbständigkeit sollte ihr nicht im Wege stehen, um den langersehnten Buchwunsch zu verwirklichen. Weil Andrea Zurlinden die mündliche Sprache nicht gut nutzen kann, möchte sie per Buch anderen Menschen aus ihrem Leben berichten. Mit Hilfe verschiedener Personen und einer Kommunikationsagentur konnten ihre Texte und Bilder zusammengestellt und neue Beiträge geschrieben werden.
Zur Entstehung von Text und Bild
Warum ich ein Buch schreiben möchte
Vorwort – «Betroffene sprechen lassen»
Andrea erzählt
«Ich musste weinen vor Schreck»
Geburt, frühe Kindheit und Kinderheim, 1967–1974
«Ich bin anders, ich werde weggegeben, was passiert mit mir?»
Schulheim, 1974–1985
«Bei Anna fühlte ich mich wohl, weil sie mich gern hatte, so wie ich war»
Wohnheime, 1985–1992
«Ich kann nicht mehr»
Altersheime, 1992–1998
Endstation, was nun?
Klinikaufenthalte, 1988–1998
Time-out, Aufschub – Sicherheit und Ruhe
Mein Weg aus der Angst
Stiftung Züriwerk, Bubikon, 1998–2019
Weggefährten erzählen
Gespäche und Gedanken
Eintritt Züriwerk – «Neuanfang mit alten Mustern»
Es braucht eine «seelische Spitex» – Ein Stück Institutionsgeschichte
«Das Erzählen macht Andrea Zurlinden stark»
«So normal und selbstbestimmt wie möglich!»
Umgang mit Krisen – fachliche Aspekte
Krise steht am Anfang einer Veränderung
Systemische Grundlagen zum Umgang mit Krisen und herausforderndem Verhalten
Epilog
2019 – Weiterziehen unter schmerzhaften Umständen
Mitautorinnen und Mitautoren
Bildnachweise, Literatur
Impressum
Wenn Menschen mit Beeinträchtigungen aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Äusserungen und ihrer Reaktionen als sogenannt «auffällig» bezeichnet und darum ausgegrenzt, entwürdigt, entwertet, abgeschoben, hospitalisiert oder medikamentös ruhiggestellt werden, ist das immer ein Zeichen von Überforderung und Not aller beteiligter Parteien. «Gewalt braucht Hilfe!» ist darum auch einer der wichtigsten Grundsätze jeglicher Prävention.
In diesem Buch wechseln die Leserinnen und Leser für einmal die sonst übliche Perspektive. Nicht die Profis, die Hilfesysteme oder irgendwelche Präventions- oder Interventions-Methoden stehen im Mittelpunkt, sondern ein betroffener Mensch. Hier schreibt eine Frau, die selber Gewalt erlebt, aber auch Gewalt ausgeübt hat, von ihrer Geschichte, ihrem Erleben, ihren Ängsten, ihren Zweifeln, ihrer Verzweiflung. Und sie berichtet von ihrem Weg aus der Angst in ein gutes, zufriedenes und lebenswertes Leben. In diesem Buch gibt uns eine mutige und engagierte Frau Einblick in ihre dunklen Zeiten, aber auch in ihre «Kämpfe nach oben», in ihre Erfahrungen mit unterstützenden Hilfen und vertrauensbildenden Begleitmassnahmen.
Andrea hat sich gewünscht, dass einige Personen, die sie auf diesem Weg begleitet haben, einen Beitrag zu ihrem Buch leisten. Die Fachbeiträge bilden gleichsam den Rahmen dieser ungewöhnlichen, beeindruckenden, tragischen, aber auch Hoffnung machenden Lebensgeschichte einer aussergewöhnlichen, mutigen und lebensfrohen Frau.
Ich wünsche dir, Andrea, und deinem Buch, dass ihr die Herzen der Leserinnen und Leser aufwühlt und berührt. Dass ihr damit viele andere Betroffene anregt, ihnen Mut macht und sie zum Nachahmen motiviert. Dass ihr allen Begleitpersonen als Leuchtturm dient. Dass ihr die Fachwelt aufrüttelt und zu neuen Ideen und Angeboten anregt.
Dass du deinen Weg weiter gehst, deine Stärken ausbaust und deinen Mut immer behältst.
Andrea, vielen herzlichen Dank für dieses Buch, für deine Freundschaft und deine Beharrlichkeit!
Daniel Kasper
«Ich musste weinen vor Schreck»
1967–1974