Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2020
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ISBN 978-3-644-00532-7
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ISBN 978-3-644-00532-7
Meinen fünf Söhnen
Was irgend das Ich introspektiv als Ich zu erfahren vermag, ist auch Nichtich … Eingeholt wäre das Grauen von Depersonalisierung erst von der Einsicht ins Dinghafte der Person selbst.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik
Im Sommer 2018 besuchte ich mit meinen Söhnen die Time Travel Magic Vienna History Tour, eine Touristenattraktion in Wien. Höhepunkt der Zeitreise durch die vergangenen zweitausend Jahre ist ein 5D-Film, bei dem man, festgeschnallt wie im Flugzeug, die Geschichte Wiens hautnah erfährt: Rattenschwänze streifen die Fußknöchel, wenn Bilder der pestverseuchten Stadt vorbeiflimmern, Windstöße wehen die Nackenhaare auf, die Kamera zoomt, aus dem Weltraum hinunterfahrend, in eine Rauchwolke, um auf der Brandstätte zu landen, auf der der Leichnam des römischen Kaisers Marc Aurel im März des Jahres 180 nach Christus verbrannt wird.
An den Reichsgrenzen im Osten hatte Marc Aurel nach einer längeren Friedenszeit militärisch intervenieren müssen, der Donauraum war durch Germanenstämme bedroht. Das letzte Lebensjahrzehnt verbrachte er vorwiegend im Feldlager. Teile seiner «Selbstbetrachtungen» mit ihren berühmten Maximen und autobiographischen Reflexionen, die zu stoischem Verhalten anleiten sollten, schrieb er in den Militärlagern von Vindobona und Carnuntum. Die Physik des Lebens, die unausweichlichen Verkettungen von Ursachen und Schicksalsschlägen, lehrte er mit Gleichmut betrachten. Als Sterbeort Aurels galt aufgrund der Aufzeichnungen des späteren Statthalters in Pannonien, Aurelius Victor, lange Zeit Vindobona; dem steht die Aufzeichnung Tertullians entgegen, der Sirmium nennt. Die Time Travel Magic Vienna History Tour hatte sich aus naheliegenden Gründen für Wien als Sterbeort entschieden. So konnten wir also in den Rauch, der vom Scheiterhaufen Marc Aurels aufsteigt, eintauchen.
Die History Tour bot noch ein weiteres historisches Erlebnis. Die Besucher werden in einen dunklen Luftschutzraum geführt, man schließt die Türen, Sirenen warnen vor dem im Winter 1944 zu erwartenden Bombardement. Ein tiefes Wummern simuliert das nahende Bombengeschwader, der Boden unter den Füßen vibriert, als die Bomben einschlagen … Aber da hatte ich den Raum bereits fluchtartig verlassen. Die Simulation war von einer Hautnähe, die ich schwer ertragen konnte. Die Söhne fanden, dass ich spinne.
Während strittig ist, ob Marc Aurel in Vindobona oder im Lager Bononia bei Sirmium starb, scheint festzustehen, dass der Leichnam des Kaisers auf dem Campus Martius in Rom verbrannt wurde. Das ändert nichts daran, dass ich mich für einen Augenblick im Rauch der Stoa geborgen fühlte. Vom Rascheln der Ratten, von den Ausdünstungen der Pest und den Rabenvögeln, die Leichenberge umkreisten, konnte ich mich leicht distanzieren. Beim Luftschutzkeller war das nicht der Fall; die Simulation griff direkt ins Körpergedächtnis ein.
Mein Lebensbericht berührt beide Pole, den erfundenen Rauch, die Theatermaschine der Lebenskunst, des Selbstschutzes und der Distanz, die Vogelperspektive der Stoa und das, was das Körpergedächtnis hergibt; es wird durch den stoischen Blick von oben nicht aufgelöst.
Der Titel des Buches zitiert eine Zeile aus Bertolt Brechts «Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens» aus der «Dreigroschenoper». Walter Benjamin schrieb sie als Widmung in Baltasar Graciáns «Handorakel», das er seinem Freund 1933 schenkte.
Anfang Januar 2019 bin ich auf 2061 Metern Höhe in der Speiereck-Hütte im Lungau von einem Schneesturm eingeschlossen. Der Betrieb der Gondel vom Großeck her ist eingestellt, die Pisten aufgrund der Lawinengefahr gesperrt. Karin fährt mit meinen drei Söhnen im Tal Ski. Das Gepäck abreisender Gäste wird auf eine Schneeraupe geladen, auf die ich für die im Tal Abgeschnittenen noch einen Rucksack mit Wäsche packe. Mit Neid sehe ich die rauen Jungs aus Berlin trotz Lawinenwarnung auf Skiern im Schneestaub verschwinden. Jetzt bin ich der letzte Gast.
Da der Schneesturm mit über hundert Stundenkilometern um die Hütte fegt, verhängt die Bergwacht Ausgangssperre. Der dichte Schneefall erlaubt keinen Ausblick nach draußen. Ich lege Holzscheite auf das Feuer, das schlecht brennt, weil der Wind auf den Kamin drückt, und bin allein; der Wirt und die Kellnerin wollen sich von der Panik der Berliner Gäste, die überstürzt die Flucht ergriffen haben, erst einmal erholen. Jetzt hätte ich den Abenteuerroman «Die Eingeschlossenen vom Speiereck» schreiben können, aber aufgrund der ungewohnten Höhenlage leide ich unter leichtem Schwindel.
Weil nicht zu erwarten war, dass sich das Wetter bessern würde, stellte der Wirt den Gestrandeten im Tal sein Dachgeschoss in Mauterndorf zur Verfügung. Für unbestimmte, aber sicherlich überschaubare Zeit verlassen, was für ein Glück.
Abends unerwarteter Besuch in der von der Außenwelt isolierten Hütte: fünf leicht vereiste Hiesige mit, so scheint mir, Bergarbeiterlampen auf den Helmen. Sie versammeln sich um das Kaminfeuer, in der Finsternis brechen sie wieder auf zum Abstieg ins Tal. Der Koch brät Lachs, der dem einzigen Gast der Hütte auf einem raffinierten Risottobett serviert wird. In der Sauna wird für den Aufguss gesorgt, und alle sind offensichtlich bester Laune.
«Jeder etwas breitere Riss im Alltäglichen dient als Einfallstor für das Fest», tröstet mich per E-Mail eine Freundin aus dem noch schneefreien München, ein Satz aus Roland Barthes’ «Wie Paris nicht unterging». Tatsächlich ist die Frühstücksstimmung am nächsten Morgen im Kreis der Hüttenmannschaft festlich heiter: Der Koch entdeckt eine Bergdohle am Himmel, das verspricht Aufhellung. Zu erkennen ist sie am schwarzen Gefieder, den roten Beinen und dem gelben Schnabel, zumindest für die Bergbewohner. Im Feld sei sie durch ihren akrobatischen Segelflug auszumachen, wird der Gast informiert.
Der Bruder des Wirts erzählt, er habe einmal Christian Kracht in Argentinien getroffen, wohin übrigens viele Nazis emigriert seien. In Mauterndorf, unten im Tal, wo jetzt Karin und die Jungs ausharren, sei Hermann Göring fast Ehrenbürger geworden – wenn er sich nicht selbst dazu ernannt hätte. Ausnahmslos alle Einwohner Mauterndorfs hätten für den Anschluss gestimmt, was eine Bedingung Görings gewesen sei, um einen im Dorf allseits beliebten Bürgermeister aus der Haft zu entlassen. Die Gräfin Elisabeth von Epenstein übereignete dem Generalfeldmarschall gar Schloss Mauterndorf. Göring revanchierte sich, indem er ihr ermöglichte, die soeben arisierten Gummiwerke von Julius Fromm in Berlin für einen äußerst günstigen Preis zu kaufen. Jetzt war die österreichische Gräfin Herrin der größten Präservativfabrik Deutschlands.
Später kommen wir auf die aktuelle Situation in Österreich zu sprechen. Dass die FPÖ gegen eine europäische Armee sei, löst Gelächter in der Frühstücksrunde aus – es interessiere keinen Menschen, höre ich, ob Österreich eine Armee habe oder nicht. Schließlich interveniert Laura: Beim Frühstück bitte keine Politik!
In eine Wolldecke gehüllt und in schönem Regelmaß mit Glühwein versorgt, begann ich zu lesen. Ein gutes Pensum auf den ersten Blick, das Buch von Thomas Medicus über Melitta Gräfin von Stauffenberg, eine mir bisher unbekannte Sturzkampfbombertestpilotin im NS-Staat, Schwägerin Claus von Stauffenbergs, Ehefrau Alexander von Stauffenbergs, des Altphilologen aus dem George-Kreis. Ich sollte bei einem Workshop in Berlin einen Vortrag halten. Die Frage war, ob man die Denkfigur der «kalten persona», die ich in den «Verhaltenslehren der Kälte» entworfen hatte, auf Frauen übertragen könne. Diese Möglichkeit hatte ich, als ich das Buch schrieb, nicht bedacht. Nun tauchten aus dem blinden Fleck der «Verhaltenslehren» unversehens Pilotinnen der NS-Zeit als «kalte personae» auf.
Bald war ich ganz im Bann einer militärisch-wissenschaftlichen Lebensform, die die Pilotin wie eine eiserne Lunge umhüllte. Dem Laster dieser Faszination durfte ich mich drei Tage lang hingeben. «Bist du in einen falschen Schein geraten», rät der Dadaist Walter Serner in seinem «Handbrevier für Hochstapler» von 1927, «so bekämpfe ihn dadurch, dass du in einen andern falschen Schein dich begibst.»
Melitta Schiller, so ihr Mädchenname, Tochter eines jüdischen Vaters, war als Wissenschaftlerin eine Ausnahme unter männlichen und weiblichen Fliegern. Im Gegensatz zu den meisten Piloten, die sich auf die praktischen Aufgaben des Flugzeugführers konzentrierten und komplizierte technische Details über Regelungsvorgänge ausblendeten, war der technische Mantel des Stukas für Melitta von Stauffenberg wissenschaftlich transparent. Sie brauchte sich nicht auf die Automatisierung der Flugkontrolle und die notwendigen Habitualisierungen der Handgriffe zu verlassen, war ein Ausbund von Geistesgegenwart, eine Person, in der sich wissenschaftliche Erkenntnis und manuelle Fertigkeit durchdrangen, eine moderne Kriegerin. Sie war Wissenschaftlerin und Testpilotin in einer Person, Diplom-Ingenieurin und Flugkapitänin. Ab 1934 unterstand die «Ingenieurspilotin» der Luftwaffe, für die sie die Fronttauglichkeit neuer Flugzeugtypen testete. Im Labor und am Schreibtisch berechnete sie, wie die Bombe während eines Sturzflugs möglich präzise ins Ziel gelenkt werden kann. Es kam vor, dass Melitta von Stauffenberg an einem Tag unter extremer körperlicher Belastung elf Sturzflüge und vierzehn Messflüge ausführte und abends im Büro bis spät in die Nacht ihre Erfahrungen wissenschaftlich auswertete. In ihrem Tagebuch bezog sie das lakonische Verfahren der Datenmessung auch auf ihre emotionalen Zustände. Doch die Verschmelzung mit der Maschine wollte nicht gelingen. Die Erschöpfung erzwang Pausen, regelmäßig traten Depressionen auf.
Durch das Leseabenteuer in der Schneehöhle Speiereck präpariert, traf ich kurz darauf in Berlin auf einen illustren Kreis von Expertinnen und Experten, die Sabine Kalff nach glänzender Vorarbeit für ihre Tagung «Male and Female Heroism in the European Bombing War» versammelt hatte. Einer von ihnen war der britische Historiker Richard Overy, der nur beiläufig von den hundertsechsundvierzig englischen Frauen als Kampfpilotinnen berichtete; das Hauptaugenmerk seines Vortrags galt dem eher unspektakulären Einsatz von dreihunderttausend Engländerinnen in der civil defense, dem Luftschutz. Die Besatzungen der britischen Bomber beim strategic bombing, dem Flächenbombardement auf deutsche Städte zum Zweck einer Demoralisierung der Bevölkerung, seien aus dem Heldendiskurs der Flieger in Großbritannien herausgefallen. Weil diese Besatzungen im Team arbeiteten? Oder war ihr Einsatz moralisch nicht geheuer?
Overys Vortrag war für mich ein glänzendes Beispiel der britischen Militärgeschichtsschreibung, die mich schon früher in den Büchern von John Keegan über den Ersten Weltkrieg fasziniert hatte. Im Gegensatz zu deutschen Militärhistorikern können die Briten ihre Kriegsgeschichten fern vom Schulddiskurs des Holocaust erzählen, sodass sie ihre «Fakten» mit kälterem Blick, der Objektivität verspricht, registrieren. «Wir waren die Sieger», erklärte Overy auf meine Frage nach dem Unterschied der Sichtweisen ganz trocken.
Ich selbst konzentrierte mich in meinem Vortrag auf den Sturzflug-Junkie Melitta von Stauffenberg, die offenbar vom Absturz lebte, der für die meisten Menschen ein Albtraum ist. Die Beschreibung der Testflüge hatte am Kaminfeuer im Speiereck die Erinnerung an das Gedankenexperiment einer Absturzszene wachgerufen, an Ernst Jüngers Skizze «Das Entsetzen» im «Abenteuerlichen Herzen». Jünger beschreibt darin eine Installation, in der mehrere Bleche in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht sind. Der eigene Körper fällt auf das oberste Blech, das krachend reißt:
«Du stürzt, und stürzest auf das zweite Blatt, das ebenfalls und mit heftigerem Knalle zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung des Falles läßt die Schläge in einer Beschleunigung aufeinanderfolgen, die einem an Tempo und Heftigkeit anwachsenden Trommelwirbel gleicht. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, der endlich die Grenzen des Bewußtseins sprengt.»
Man glaubt, in Jüngers Vergegenwärtigung des Sturzes eine Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen von Soldaten des Ersten Weltkriegs im Trommelfeuer erkennen zu können. Der Knall eines Granateinschlags in unmittelbarer Nähe konnte einen shell shock mit schwer zu heilenden Schäden der Psyche verursachen. Hatte Melitta von Stauffenberg als Stuka-Testfliegerin das Innere der traumatischen Situation zu ihrem technischen Handwerksraum gemacht? Ein Sturz aus viertausend Metern Höhe auf eine Bombenauslösehöhe von tausend Metern dauert etwa dreißig Sekunden. Im Gegensatz zum Soldaten in Jüngers Sturz-Installation verliert die Pilotin nicht das Bewusstsein. Im Hohlraum des Lärmtraumas sitzen ihre Handgriffe in Perfektion. Die technische Beschreibung des Vorgangs lässt staunen:
«Vier Sekunden bevor der Sturzkampfbomber die Abfanghöhe passiert, ertönt ein Signalhorn. Wenn der Ton auf der Auslösehöhe aufhört, drückt die Pilotin einen Knopf an seiner Steuersäule, um eine starke Feder zu betätigen, die die Trimmklappe am Höhenruder in die neutrale Stellung zurückbringt. Das Flugzeug, das nun schwanzlastig getrimmt ist, beginnt automatisch sich selbst aus dem Sturzflug aufzurichten …»
Mein Vortrag in Berlin endete mit dem lakonischen Hinweis auf die totale Erschöpfung der Testpilotin. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine war gescheitert. Letzten Endes sollte Bertolt Brecht recht behalten: «Der Mensch ist der Fehler.»
Unter den Teilnehmerinnen der Tagung befanden sich zwei Pilotinnen. Reina Pennington, hieß es, «served more than nine years as a Soviet analyst with F-4 and F-16 fighter squadrons». Die Künstlerin Simone Aarberg Kaern war im Kampfeinsatz in Libyen gewesen. Mit einem so massiven Erfahrungsblock hatte ich nicht rechnen können. Bücher wie Melitta von Stauffenbergs Biographie erzeugen die Illusion, die Heldin berühren zu können. Die realen Gestalten der beiden Pilotinnen, die ich als charmant-zivile Damen erlebte, drangen nicht ins Kopfkino ein, sie blieben Teil der Außenwelt. Ironisch lächelnd blickten sie auf den Freak, der keinen blassen Schimmer vom Realraum des Cockpits hatte.
Auch von anderen Pilotinnen der Deutschen Luftwaffe wurde berichtet. Sie erlitten das gleiche Schicksal wie die berühmten «Nachthexen», die von der deutschen Wehrmacht gefürchteten sowjetischen Pilotinnen. Nach dem Krieg versanken sie alle erst einmal in der Versenkung – mit Ausnahme von Beate Uhse, die zu einer unwahrscheinlichen Karriere abhob. Im Rang eines Hauptmanns der Luftwaffe hatte sie Sturzkampfbomber und Jagdmaschinen zu den Fliegerhorsten überführt. Aus militärischer Sicht war ihre zivile Karriere ein Absturz in die Niederungen ehelicher Kampfzonen: Bald nach dem Krieg gründete sie ein «Versandgeschäft für Ehehygiene». Ein Erfolg auf Anhieb trotz kirchlicher und juristischer Anfeindungen. Der Mensch, selbst der Soldat nach der Niederlage, brauchte kein Fehler zu sein, wenn man ihm einige praktische Handgriffe beibrachte, die den Austausch der Geschlechter in «geheimnisfreier Sexualität» erleichterten, wie Beate Uhse in einer ihrer Werbebroschüren verriet. Sie übertrug die Kenntnis vom richtigen Umgang mit der Mechanik der Flugkörper auf den Körper im Handlungsraum der Sexualität. Das wurde als Befreiung empfunden.
Die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten waren nicht als Inbegriff der Manneskraft zurückgekehrt, sie wurden im besten Fall als ältester Sohn der Familie toleriert. Ahnte ich das, als Vater 1947 aus englischer Gefangenschaft kam und geduldet wurde? Als Kinder waren wir mit unseren Müttern in andere Ängste eingebettet gewesen. Das Bewusstsein des Kindes durchstreifte weder den Gefahrenhimmel der Stuka-Pilotinnen noch die leisen, wie eine Uhr vor sich hin tickenden Kümmernisse des Sexuallebens von Vater und Mutter. (Für uns Kinder galt sowieso das ungeschriebene Gesetz, dass wir Vater und Mutter nicht nackt sehen durften.) Prägend waren andere Situationen: Angst im Luftschutzkeller, Angst vor Tieffliegern im Brennnesselfeld, Angst vor Kindermördern in Ruinenkellern, Angst vor der Leiche im Gladbacher Münster. Warum erinnere ich mich trotzdem an meine Kindheit als eine angstfreie Zeit?
«HR» stand in fluoreszierend weißer Farbe an der kleinen Mauer vor unserem Haus, Rubensstraße 39 in München-Gladbach, was heute Mönchengladbach heißt. Sollten die Einwohner bei einem Bombenangriff verschüttet werden, konnten sie im Schutt des eingestürzten Luftschutzkellers «hinten rechts» gesucht werden. Ein Holzverschlag mit provisorisch hineingestellten Bänken und einem Zeichen an der Ziegelwand, wo notfalls ein Durchbruch zum Nachbarhaus geschlagen werden konnte, das war unser Luftschutzkeller. Es gab weder eine Stahltür noch Luftfilteranlagen wie in den Luftschutzbunkern der Stadt. In diesem Verschlag, dessen Decke jeder Granateinschlag leicht hätte zerreißen können, zitterten meine Mutter, mein älterer Bruder Hanswilli und ich, bis Sirenen das Ende der Gefahr signalisierten. Eine Zeitlang wohnten wir bei Verwandten in Krefeld, dort konnten wir bei Luftalarm in einem naheliegenden Luftschutzbunker mit drei Meter dicken Betonwänden Zuflucht suchen.
Vielleicht ist das die früheste Kindheitserinnerung: schlafend aus den Kissen gerissen, durch die Kälte des Treppenhauses zum Bunker geschleppt zu werden. Später las ich bei dem ungarischen Psychoanalytiker Sándor Ferenczi, der «Kälteschock» der Geburt fördere den Wirklichkeitssinn; so war selbst das kurze Frieren bei der Flucht in den Krefelder Bunker von Nutzen.
Erinnerungen an Bombenangriffe können die Tiefe traumatischen Schreckens berühren, postkartenleicht waren sie in meinem Fall. Ich erschrak daher, als ich im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien auf einen tonnenschweren Flugabwehrscheinwerfer traf und ich mich plötzlich an eine Situation erinnerte, die mir als Kind große Angst eingeflößt haben muss. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte uns das Brummen von Flugzeugmotoren, das die Luft vibrieren ließ, in gereizte Aufmerksamkeit versetzt. Trotz Verbot liefen wir nach draußen, um die Lichtsäulen der Flakscheinwerfer zu beobachten, die in der Nähe der Dürerstraße in Stellung gebracht waren. Sie grasten den Nachthimmel nach Beute ab, bis sie eines der silbrigen Dinger aufgespürt hatten, das sich nun zappelnd dem Spinnennetz zu entwinden suchte.
War es Fernstenliebe, die Besatzung des britischen Bombers heil heimholen zu wollen, kindliches Mitgefühl, für das die Körper der «Feinde» noch nicht im Säurebad des Feindbilds aufgelöst waren? Mit dieser Empathie war man als Kind allein, sie durfte nicht nach außen treten, wo die Bewohner der Rubensstraße den für wahrscheinlich gehaltenen Abschuss eines Feindes, der ihre Häuser zerstören wollte, mit lautem Klatschen bejubelten. Wollte ich nicht in die Affektgemeinschaft der Nachbarn hineingezwungen werden? War es ein Albtraum oder nachträglich für die Erinnerung korrigiert?
Die Angst der Mütter war jedenfalls begründet. München-Gladbach lag etwa vierzig Kilometer von Köln entfernt, das im Mai 1942 den ersten Luftangriff ungeahnten Ausmaßes hatte aushalten müssen. 1047 Bomber der Royal Air Force waren zum Angriff auf Köln aufgebrochen, 868 Besatzungen hatten, wie ich später bei Richard Overy nachlas, ihr Ziel erreicht und 1455 Tonnen Bomben, davon zwei Drittel Brandmunition, abgeworfen, es gab 486 Tote und 5000 Verwundete; 59100 Menschen waren vorübergehend obdachlos. Bis Ende des Krieges musste Köln mehr als 250 Bombenangriffe über sich ergehen lassen. München-Gladbach lag auf der Route des Rückzugs, auf der die Bomber Restbestände entsorgten. Am 31. August 1943 zerstörte dann ein mehr als einstündiger britischer Bombenangriff die halbe Stadt, 413 Menschen starben.
Schon nach dem ersten Angriff im Mai 1942 hatten bis zu 150000 Einwohner Köln verlassen. Die Welle der freiwilligen oder behördlich angeordneten Evakuierungen erreichte auch die kleineren Städte. Mutter floh mit uns zu einem entfernten Verwandten in Jünkerath, in der Eifel. Was sie nicht wusste: Jünkerath besaß einen strategisch günstig gelegenen Knotenbahnhof, der seit 1942 immer wieder Ziel von britischen Tieffliegern war. Im Sommer 1944 schien die Lage allerdings so ruhig, dass wir mit Holzspielzeugen, die sowjetische Kriegsgefangene hergestellt hatten, herumspazieren konnten und mit Inbrunst sangen: «Winter ade/Churchill sitzt auf’m AB/Chamberlain steht vor der Tür/Warte, bald komm’n wir zu Dir.»
Bei einem der Luftangriffe auf die Gleisanlagen wurde auch ein Zug mit sowjetischen Kriegsgefangenen getroffen. Am 12. September 1944 beschädigte eine außer Kontrolle geratene und abgestürzte V1 den Bahnhof. Was die Chronik der Eisenbahner von Jünkerath verzeichnet, berührt sich nur an einem Punkt mit meiner Kindheit: Mutter geht im Oktober 1944 mit mir über die Dorfstraße zum Bäcker, zeigt plötzlich zum Himmel und ruft: «Die wird uns befreien!» Als ich aufsah, war die V2 nimmer da.
Klüger als die Flucht nach Jünkerath war im Februar 1945 die Übersiedlung nach Oberwesel, einer Kleinstadt bei Sankt Goar am Mittelrhein. Die Schwestern meiner Mutter wohnten in Krefeld, und die jüngste war mit einem Seidenfabrikanten verheiratet, der für die ärmere Verwandtschaft aus der Baumwollstadt Gladbach Zimmer in einem Oberweseler Hotel reservierte.
Im Gewölbekeller dieses Hotels heulte Mutter vor dem Volksempfänger, als sie, die mit allen Tricks versuchte, meinen Bruder vor dem Panzerfausteinsatz als Hitlerjunge zu schützen, hörte, dass der Führer in «heldenhaftem Kampf» gefallen war. Mit aufgeschreckten Augen sah ich tags darauf Soldaten der Wehrmacht, ungeordnet und in Lumpen, auf dem Rückzug durch die Stadt. Sie marschierten nicht, sondern schleppten sich wie erschöpfte Pferde dahin, von mitleidigen Frauen, die ein paar hundert Meter neben den geschlagenen Kriegern liefen, mit Broten versorgt.
Tief sitzt immer noch der Schrecken eines Vorfalls, der sich im April 1945 zugetragen haben muss. Tiefflieger rasen in etwa hundert Metern Höhe über die Felder, um, wie die Mütter uns erzählten, pflügende Bauern abzuknallen. Ein Tiefflieger nähert sich unserer Badestelle an einem Flussgraben, den versprengte deutsche Soldaten kurz zuvor auf ihrem Rückzug passiert hatten. Die Kindheitserinnerung ist klar: Eines der Flugzeuge macht über der Badestelle halt, die Bodenluke öffnet sich, der Pilot lugt heraus, entdeckt drei Badende und wirft eine Handgranate, die uns verfehlt, weil Mutter die Kinder geistesgegenwärtig in ein Brennnesselfeld gestoßen hat. Dass die US-Piloten ausnahmslos aus dem Gefängnis Sing Sing entlassene Kriminelle waren, wussten wir von unseren Müttern und konnten es jetzt an den infernalischen Gesichtszügen des Piloten, der durch die Luke sah, auch direkt erkennen. Authentisch und surreal wie ein Albtraum – jedenfalls brannten sich die Brennnesseln dem Langzeitgedächtnis ein.
Stollen, schwarz und tropfnass, in die nahen Schieferberge getrieben, waren der letzte Zufluchtsort in der Winzerstadt vor Ankunft der Feinde. Und dann kamen sie, die Invasoren, leibhaftig, überlebensgroß. Amphibienpanzer verdunkelten die schmalen Straßen, das Klirren der Panzerketten war zu hören, sonst war es totenstill.
Trotz des strikten Verbots, durch die Gardinen nach draußen zu schauen, registrierte ein älterer Parteimann, was auf der Straße vor dem Hotel passierte. Zu sehen war ohnehin nicht viel; es gab aber eine Situation, die von allen Hotelgästen, die der Nazi zusammengerufen hatte, mit angehaltenem Atem beobachtet wurde. Tagelang hatten US-Panzer die Felsen am gegenüberliegenden Rheinufer beschossen, bis sich drei Landser, die als letzte Mohikaner die Felsen verteidigten, ergaben. Nun wurden sie mit erhobenen Händen, wir drängten alle zum verhängten Fenster, vor eine Häuserwand gestellt. Der Parteimann sagte voraus, was nun geschehen würde, und war sichtlich enttäuscht, als nur eine Leibesvisitation folgte, bevor die Gefangenen abgeführt wurden.
Als kulturlos empfand ganz Oberwesel, wie die fremden Soldaten Fische fingen: Sie schmissen Handgranaten in den Rhein und schöpften tausend silbrige Fischleiber mit Netzen von der Wasseroberfläche. Unseren Müttern war klar: Zur deutschen Kulturnation gehörte die Geduld des Angelns, davon hatten die Besatzer keine Ahnung. Wir sollten uns auf die Verwilderung der Sitten gefasst machen, warnten sie.
Rostige Barkassen schaukelten geschichtsleer an den Pontons des Hafens von Oberwesel. Das war vorläufig alles, was die Welt in den Schweigeminuten der Kapitulation bewegte.
Doch bald kam Bewegung in den Stillstand. Die Aufklärung begann, als Mutter, die die Wäsche der GIs waschen durfte oder musste, eines Tages entgeistert verkündete: «Sie färben gar nicht ab, die Schwarzen!» Vor der Kapitulation waren wir monatelang mit Sandseife gewaschen worden; jetzt durften wir im Schaum der Palmolive-Seife baden, die die Amerikaner mitgebracht hatten. Obwohl der Schmerz beim Abschmirgeln der Haut mit Sandseife sicherlich authentischer war als das Schaumbad, stand meine Westorientierung von nun an fest. Daran sollte auch die Wiederkehr der deutschen «Kernseife» nichts ändern.
Anfang Juni kehrten wir nach Gladbach zurück. Eine Zwischenwand der Wohnung in der Rubensstraße 39 war eingestürzt; das Bad wurde durch ein weißes Laken abgetrennt. Die britischen Besatzungssoldaten wurden verdächtigt, die Einmachgläser der deutschen Hausfrauen vollgeschissen zu haben, aber wir konnten in unserem Umkreis kein Indiz für dieses Verbrechen ausfindig machen. Wir hatten Glück gehabt. Zwei Kinder der Nachbarfamilie Seelmann waren im Luftschutzkeller andernorts erstickt. Vater, der schon im September 1939 eingezogen und später an der Westfront eingesetzt worden war, befand sich, wie Mutter aus seinen Mitteilungen wusste, unversehrt in Gefangenschaft, irgendwo in England. Er bildete vorerst eine Leerstelle in der Familie. Ich bastelte einen kleinen Maialtar mit einem Foto von ihm als Soldat.
An den Hungerwinter 1946/47 erinnere ich mich nicht; wohl aber daran, dass Mutter, da die auf Lebensmittelkarten rationierten Zuteilungen nicht reichten, mit einem Bollerwagen zu Hamsterfahrten ins Umland aufbrach. Ein Bauer, den sie widerlich fand, mit «einer Visage wie ein Slawe», wollte seine Kartoffeln nur gegen einen Kuss herausgeben; Mutters Ekel prägte sich uns Kindern tiefer ein als der Hunger.
Mit ihrem Liebhaber noch aus Vorkriegszeiten trat Mutter eine abenteuerliche Reise in die sowjetisch besetzte Zone an, um Filzstumpen von Vaters Hutgeschäft, die in Thüringen ausgelagert waren, zurückzuholen. Der Freund war ein schmächtiger Turner, ein Passant in hellgrauem Anzug, kein Zugreifer, so selbstlos für alles zuhanden und der Mutter hörig, dass es für mich schwer ist, ein prägnanteres Bild von ihm zu zeichnen. Er hatte schon den Ersten Weltkrieg überstanden, indem er sich, wie er erzählte, nach einer Schlacht tot gestellt hatte, um den «Roten Kommissaren, die das Schlachtfeld mit der Pistole nach Überlebenden durchkämmten», zu entgehen; im Zweiten war er, Angestellter der Deutschen Bank, als «unabkömmlich» vom Wehrdienst befreit worden. Er war also Kassierer und alarmierte seine Geliebte, als Vater Anfang der fünfziger Jahre Wettschulden auf der Trabrennbahn in Neersen machte.
Eigentlich begannen nun glückliche Nachkriegszeiten; unsere Spielplätze waren Ruinenkeller, die vom Geruch defekter Gasleitungen, schimmelnden organischen Substanzen und ätzenden Ausdünstungen der Überreste von Brandbomben erfüllt waren. Schwer nachvollziehbar, dass wir in diesem Dunstkreis erste Doktorspiele wagten mit Hanneke Mund, die ich liebte, und Rita Körber, die unser Treiben misstrauisch beobachtete (oder war es umgekehrt?). Der böse Armin Fleischer spionierte uns durchs Kellerfenster aus und drohte danach, mich zu verraten. Ich erinnere mich an den Fund eines Bombenmantels, dessen Innenseiten mit einer schneeweißen Paste bestrichen war. Die erfahreneren Jungs identifizierten das Zeug sofort als «Karbid» und empfahlen, einen Eimer Wasser darüberzuschütten, wir würden unser blaues Wunder erleben. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf der Flucht vor der zischend-knallend-schäumenden Substanz aus dem Keller herausgekommen bin. Stunden irrte ich durch die Stadt und erwartete ein Strafgericht. Als ich zurückkam, hatte die Feuerwehr das Feuer gelöscht und sich nicht weiter nach den Tätern erkundigt; zumindest hatte sie keinen Sechsjährigen in Verdacht.
Eine kleine Sensation war jede Woche die Ankunft des Eistransporters. Unser Eisschrank wurde mit Hilfe von Natureis gekühlt, das in einem Zinkblechbehälter an der Rückseite gelagert wurde. Er hatte eine Ablaufrinne, damit das Schmelzwasser nicht in den Schrank lief. Die vom Eisblock gekühlten Lebensmittel lagen auf einem Rost, so konnte die Luft gut zirkulieren. Als Eisschrankbesitzer hatten wir Anspruch auf einen halben Eisblock pro Woche. Das eben hatte die Sensation zur Folge: Mit einem Beil wurde der Block halbiert, Eissplitter flogen auf das Pflaster, und wir stürzten uns auf die Köstlichkeiten.
Das Unheimlichste in den Ruinenkellern waren nicht die Munitionsreste. Ein Kriegsgespenst erregte anhaltend Furcht: der «Kohlenklau». «Ein Bösewicht, vor dem wir uns sehr hüten müssen, weil er uns und unsere Kriegswirtschaft gefährdet» stand unter dem Plakat, auf dem uns ein pechschwarzer Unhold mit erbeuteter Kohle im Sack anblickte. Eine geniale Grafik, wie ich heute denke, die mit der Kinderschreckfigur des «Schwarzen Mannes» arbeitete, sich von der Warnung vor der Gefährdung der Energieressourcen löste, die Richtung änderte, weg von der Kohle, hin zu uns: ein Gespenst, das uns in die Keller der Ruinen hineinziehen wollte, um uns dort zu zerstückeln. Der Kohlenklau war Stephen Kings «Es» für Ruinenkinder. Vielleicht wollte uns Kardinal Frings aus Köln von dieser Kinderfurcht befreien, als er unseren Müttern in seiner Silvesterpredigt 1946 das Kohleklauen als lässliche Sünde zugestand.
An die Währungsreform kann ich mich nicht erinnern. Warum Onkel Willy mit vierzig Deutschen Mark wedelte und Vater strahlte, war mir ganz rätselhaft. Immerhin hatte die Kirche aus Anlass der Kommunionsfeier Ostern 1948 noch eine Tonne Weißkohlköpfe am Fuße der Rubensstraße abladen lassen, damit die Familien feiern konnten.
In die Kirche zu gehen war Pflicht, weil Vater schon 1928 Mitglied der NSDAP gewesen war und nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft um seine Reintegration in die katholische Umwelt kämpfen musste. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nur ein einziges Wort über die Verbrechen des NS-Staats von der Kanzel der Franziskanerkirche gehört zu haben. Der Orden der Franziskaner hatte die dunkle Zeit ohne größere Reibung überstanden («ein in nationalsozialistischer Wolle gefärbter Orden», gestand mir später ein in Kreuzberg zur Krankenseelsorge «strafversetzter» Franziskanerpater – ich habe das Urteil nicht überprüft). Stattdessen predigte Pater Rektor gegen die Hauptfeinde der Menschheit: Freimaurer und Bolschewiken, die Freimaurer in Brasilien und die Bolschwiken vor der Tür im Osten. Weiß der Teufel, was das für Leute waren. Aber die Predigten waren sowieso Nebensache. Wir Kinder versanken in der für uns bedeutungsleeren Tiefe der gregorianischen Wechselgesänge, angestimmt von den Klosterinsassen der St.-Barbara-Pfarrei. Die Ferne Gottes war im Latein der Liturgie gewährleistet; das Latein des Stufengebets war für mich ein Stolperstein, weil ich es nicht auswendig lernen konnte, was zur Folge hatte, dass ich als Messdiener nur bedingt und nur für kurze Zeit einsatzfähig war.
Ich weiß nicht, warum ich noch heute auf meine «katholische Kindheit» schwöre. War es der Hallraum des Kirchengewölbes? Der auferlegten Langeweile, in die mich der Singsang der Mönche versetzte, habe ich möglicherweise einiges zu verdanken. Vielleicht ein Fenster zur Transzendenz?
Unter einem Himmel frei von britischen Bombenflugzeugen und Luftalarm heiterte Mutters Gemüt sich auf. Weihnachten 1946 fanden wir uns glücklich unter Mistelzweigen und bunten Lampions bei einem englischen Major, der alle Kinder der Rubensstraße zum Kakaotrinken in die besetzte Villa eines Gladbacher Tuchfabrikanten eingeladen hatte. Hier konnte Mutter mit dem Feind Frieden schließen und ihre Form der Emanzipation genießen. Vater war noch weit weg. In seiner Ferne fand sie das Glück des weiten Feldes. Durch die Ruinen wehte bald transatlantischer Wind.
Es war die Illustrierte «Constanze», die Mutter zivilisierte. Als es mit der Illustrierten in den sechziger Jahren schon zu Ende ging, lasen wir in Adornos «Minima Moralia» den Aphorismus «Constanze», der uns in Verwirrung stürzte: Wer in Sachen Treue Sicherheit zu gewinnen suchte, blieb ratlos zurück. «Liebe ist Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen», lasen wir in Adornos Handorakel. Folglich schien uns das Unähnliche so attraktiv, dass wir verführt waren, die Flucht vor den Ähnlichkeiten der Treue in die Fremde der Untreue zu riskieren, wozu uns Adorno auch in erster Instanz ermutigte, um es in zweiter Instanz zu verbieten, weil der Befreiungsakt lediglich einem Gesetz der Mode folge, das uns nur tiefer in die Verblendung des Warentauschs führe, in dem das jeweils Neue reizvoller ist als das Alte, sodass die Treue eigentlich das wahre Feld der Liebe sei, wenn nicht im Immergleichen auch der Teufel stecke.
So oder so ähnlich wurden wir belehrt. Wolfgang Fritz Haug vom Argument-Club erkannte 1966 in den Windungen von Adornos «Constanze» eine «laokoonische Figur», die den Ratsuchenden bis zur Lähmung verstricke. Es fragt sich nur, wer hier, umschlungen von Adornos Schlange komisch-auswegloser «Dialektik», unhörbar schrie. War es die begehrte oder die bereits verlassene Frau?
Dagegen waren die Ratschläge für die moderne Frau in der «Constanze», der Mutter zu folgen suchte, handfester. Das auflagenstärkste Frauenmagazin der Nachkriegszeit zelebrierte förmlich den Frauen zuliebe die Krise des Mannes in seiner Niederlage, gab Scheidungstipps und Hinweise, wie die Frau selbstbewusst in den Strömen neuer Waren navigieren konnte. Wert und Arbeitsintensität der Hausarbeit hob die Illustrierte in den Himmel. Die Mutter war nicht nur Ernährerin, sondern unversehens Säule des historischen Geschicks.
In Harald Jähners Buch «Wolfszeit» erfahre ich, dass die Frau in den Nachkriegsjahren zur «Antipodin des von Todestrieben beherrschten Mannes» wurde. Eine unheimliche, da psychoanalytische Formel. Auf meine Eltern kann ich sie schlecht übertragen. Mutter konnte das fadenscheinige Gewand der «Nazisse» augenscheinlich im Handumdrehen abstreifen, um das Kleid der Trümmerfrau (Glied einer Menschenkette zur Beseitigung des Schutts war sie allerdings nie gewesen) oder das der fast mondänen Dame der «Constanze» anzuziehen; Vater, den Milden, der mit einem als Soldat wahrscheinlich kaum eingesetzten Aggressionspotenzial den Krieg überlebt hatte, kann ich mir als Verkörperung des Todestriebs schwer vorstellen. Die «Constanze» nährte sich von der Imagination einer unverdorbenen Mutterwelt. Restaggressionen konnten sich in der Verachtung der Männerwelt ergehen.
Während sich Mutters Horizont weitete, hinkten die Routinen der Volksschule hinterher. Vielleicht speichern Institutionen die Stickluft eines gescheiterten Regimes länger. Zwar hörten wir nicht mehr wie mein Bruder zu Beginn des Unterrichts: «Heil Hitler, Frollein Wismann!» – das war verboten worden. Auch rochen wir Kleinen natürlich nicht das Fortwesen der Funktionselite des NS-Staates, die war geruchsfrei und für Kinder ohnehin nicht greifbar. Aber vielleicht führt ein Tagebucheintrag von Carl Schmitt, der Publikationsverbot hatte, auf die richtige Spur. Am 9. Oktober 1949 notiert er: «In ‹Christ und Welt› ist eine schöne Glosse von mir abgedruckt, mit Einschaltung einer Reklame für Nivea-Creme. Das ist gut so. In der Zarenzeit hüllten die russischen Nihilisten ihre Bomben in Blumenbuketts ein. Warum soll ich nicht meine analogen Anliegen mit Nivea-Reklame umrahmen? Oder umgekehrt als Umrahmung von Nivea-Creme auftreten, um die Verfolger nicht zu reizen?» Schmitt nutzte die Werbung für Nivea-Creme als Tarnung für seine Glosse, die er trotz Publikationsverbot einschmuggeln konnte. Neuschnee, der als Maske der jungen Republik den Schnee von gestern bedeckte.
Die Erinnerung an die Volksschule haftet am Geschmack der Schulspeisung: Kraftbrühe, die nach den metallischen Kanistern schmeckte, in denen sie transportiert worden war; Biskuitsuppe, die von Mal zu Mal lehmartiger wurde. Kein Zweifel, wir brauchten die Verpflegung und mussten dankbar sein.
Schrecklich war der Volksschullehrer Zunder. Schön mit Kreide einen Schwan malen, das konnte er, und wir übertrugen sein Tafelbild mit Griffel auf unsere Schiefertafeln (das kalkige Kratzen ist mir immer noch im Ohr). Berüchtigt war Zunder allerdings für eine spezielle Strafaktion, die er mit sichtlichem Genuss exekutierte. Sie hatte nichts mit dem NS-Regime zu tun, sondern konnte sich auf eine ehrwürdige Tradition der Pädagogik berufen. Darunter litten vor allem Kinder aus dem Arbeiterviertel Eicken, wo ich später mit meinem Bruder im Stadion am Bökelberg die Borussia spielen sah. Nach jeder Schulstunde mussten die Bösewichte am Pult des Lehrers antreten, damit Zunder sein hölzernes Lineal mit Wucht auf Zeige- und Mittelfinger schlagen konnte. Mich erwischte es nur einmal, aber ich kann bezeugen: Es tat irrsinnig weh.
Der Wüterich hatte jedoch nicht mit der Klugheit des Proletariats gerechnet. Die Eickener Eltern rieten ihren Kindern, die Finger vor der zuverlässig zu erwartenden Prozedur mit Zwiebelsaft einzureiben. Die geschundenen Glieder schwollen nach den Hieben so an, dass ärztliche Behandlung angezeigt schien und die kleinen Proleten sich krankmelden und nach Hause gehen konnten. Der Trick hat uns einerseits Respekt eingeflößt, andererseits Furcht vor dunklen Energien, die in anderen Bezirken der Stadt zu Hause waren.
Seltsamerweise verlagerte sich die Angstlust des Kindes aus dem Luftschutzkeller in die paar Bücher, über die der Lethen-Haushalt verfügte. Das reich illustrierte Buch «Mein Weg nach Scapa Flow» imponierte mir. Scapa Flow war ein Stützpunkt der britischen Kriegsmarine vor der schottischen Küste. Der «Befehlshaber der U-Boote», Konteradmiral Karl Dönitz, überließ den Angriff, der als Selbstmordkommando galt, seinem Kommandanten Kapitänleutnant Günther Prien, der am 14. Oktober 1939 mit seinem U 47 in die britische Flottenbasis eindringen und das Schlachtschiff «Royal Oak» versenken konnte. Ich nahm nur die U-Boot-Fotos wahr. Man musste untertauchen, um die Festung zu sprengen. So also sah ein «Durchbruch» aus, der Zukunft versprochen hatte.
Vom Nibelungenlied dagegen, das Mutter vorlas, blieb nur das Gemetzel an Etzels Hof hängen. Und bis heute muss ich, wenn von «Gemetzel» die Rede ist, an den Namen «Etzel» denken, das «tz» schärft sich immer ein, selbst in Roman Polanskis Film «Der Gott des Gemetzels» aus dem Jahr 2011 mit Christoph Waltz (tz!) war Etzels Hof präsent.
Angst war der Grundbestand von Kesselschlachten, auch wenn wir von der furchtbarsten erst 1959 im Film «Hunde, wollt ihr ewig leben» erfuhren: Die Falle Stalingrad schnappte nicht mehr zu, wir gehörten jetzt zum Westen. Die Einbildungskraft nährte sich dennoch von Vorstellungen der Einkesselung, mit deren Grundmuster uns Jugendbücher versorgten: die Belagerung des Floßes durch die unsichtbaren Waldgeister der Irokesen, lauernd auf die Skalpe der Mädchen auf dem Floß, in James Fenimore Coopers «Lederstrumpf»; die Verteidigung des Blockhauses gegen die Piraten in Robert Louis Stevensons «Schatzinsel»; später die Serie von Eingeschlossenen in Horror- und U-Boot-Filmen; und immer wieder Etzels Hof – selten entkam ihm einer.
Im Spätsommer 1947 stand, mit einer Büchse Kakao in der Hand, ein Mann vor unserer Haustür in der Rubensstraße 39. «Rosig» vom Überfluss an Hammelfleisch, wie Mutter später spitz bemerkte, «während wir an Fleisch nicht denken konnten.» Vater wurde fortan toleriert, presste und appretierte die Filzstumpen, die Mutter heldenhaft aus Thüringen, russische Grenzkontrollen umgehend, zurückgeschmuggelt hatte, unter dem Balkon unserer Wohnung im Erdgeschoss.
Vater war Leichtathlet gewesen: 1924 mit der 4 × 100-m-Staffel von Preußen Krefeld Deutscher Meister auf der Aschenbahn. Als Hubert Houben, 1923 Weltrekordler über hundert Meter, das Zielband durchriss, hatte Vater, der Startläufer, schon wieder den Trainingsanzug angezogen, sodass er den Schlussläufer auf den Schultern tragen konnte. Trotz des Sieges Underdog! Und auch als Soldat im Zweiten Weltkrieg von der Degradierung zur Niederlage eilend. Sein letztes Kriegserlebnis: Belgier bespucken ihn, als er in einem Trupp Gefangener nach England überführt wird. Im Ersten Weltkrieg fünfmal verwundet, seit 1934 selbständiger Einzelhändler, wurde er aufgrund einer Denunziation im September 1939 eingezogen.
Er war kein «Märzgefallener», der sich 1933 schnell der NSDAP angeschlossen hatte; schon 1928 sah man ihn, den bekannten arbeitslosen Athleten, auf den Höfen der Tuchfabriken unserer Stadt für die Bewegung agitieren. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er 1934 das Hutgeschäft und stellte mit Erstaunen fest, dass die Schulden bei der inzwischen arisierten Deutschen Bank zu hoch waren, um sie je tilgen zu können.
«Hitler und Krupp in der Villa Hügel», soll er in einer Skatrunde bemerkt haben, «eine Schande.» An dieser Stelle vermischt sich die Familiengeschichte mit der Legende von der «nicht vollendeten Revolution», die in der SA kursierte, sodass er vielleicht sogar Glück hatte, die Röhm-Mordnacht vom 30. Juni 1934 zu überleben. Es blieb bei der Denunziation mit Langzeitfolgen bis 1947.
Nach seiner Rückkehr durfte Vater Starter beim TV 48 sein. Bruder Hanswilli trat in seine Fußstapfen und wurde in Delmenhorst Westdeutscher Jugendmeister über zweihundert Meter, das war wahrscheinlich der größte Glücksmoment im Leben meines Vaters. Ich brachte es als Mittelstreckler der A-Jugend auf mäßige zwei Minuten neununddreißig Sekunden auf tausend Meter, laborierte an einem Muskelriss und gab auf, als ich erfuhr, dass mein Konkurrent täglich hinter dem Mofa seines Vaters rennend trainierte. Mein Vater meinte ohnehin, ich sei «zu ironisch» für den Sport. Dabei liebte ich die einsamen Trainingsläufe an Winterabenden durch den Park. Ich weiß nicht, über was ich dabei nachgedacht habe, auf jeden Fall waren meine Runden Exerzitien der Langeweile. Kein Wunder, dass Alan Sillitoes «Die Einsamkeit des Langstreckenläufers» später ein Kultbuch für mich wurde. Allerdings trug es auch zur Romantisierung der englischen Arbeiterkultur bei, die später merkwürdige Blüten treiben sollte.
In der Verwandtschaft meines Vaters gab es durchaus markante Gestalten. Tante Toni, seine Zwillingsschwester, war, wie Vater fand, so hexenhaft, dass er sie bei jedem Besuch fragte, ob sie den Papagei auf ihrer Schulter vergessen habe. Im Krieg, ihrer wahrscheinlich großen Zeit, wie die Familie vermutete, hatte sie die Arbeiter der Organisation Todt auf eine verschwiegene Art beglückt, vielleicht aber auch nur als Buchhalterin gearbeitet, das blieb ihr Geheimnis. Nach dem Krieg arbeitete sie als Kassiererin in einer Hamburger Badeanstalt.
Onkel Paul, von mächtig-schmerbäuchiger Statur und mit eminenter Hakennase ausgestattet, war in der katholischen Kleinstadt isoliert. Nachdem er verdächtigt worden war, sich als Trainer einer Jugendmannschaft «versündigt» zu haben, wurde er aus der Kirche ausgeschlossen. In solchen Fragen war die katholische Kirche – wie wir inzwischen wissen – rigoros, und Onkel Paul fristete als auffällig unsichtbare Person der Stadt ein Schattendasein. Tante Helene, die Fromme, betreute den Exkommunizierten bis zum Lebensende. Zum Abitur schenkte mir Onkel Paul zwei Bücher aus seinem kleinen Bestand: Theodor Haeckers «Tag- und Nachtbücher. 1939–1945», Dokumente eines widerständigen Katholiken, solche hatte es also auch gegeben, und Alexander Mitscherlichs «Medizin ohne Menschlichkeit», das sich mir schmerzlich einprägte.
Auf der Rubensstraße gab es noch einen anderen Ausgeschlossenen der Stadt, Wilhelm Elfes. Er war als «Kommunist» von der katholischen Kirche exkommuniziert und von der Nachbarschaft der Tuchfabrikanten geächtet worden. Die Briten hatten ihn nach dem Krieg als Bürgermeister eingesetzt. Der einzige Vorposten eines Bildungsbürgertums humanistischen Formats auf unserer Straße, scheint mir heute. Ein Fremdkörper im Milieu eines Katholizismus, der sich nur zugutehalten konnte, so biegsam gewesen zu sein, dass er ohne große Verluste überlebte. Die Kirche hatte fast alles zugelassen, das ist das Günstigste, was man über sie sagen kann.
Elfes hatte, wie ich später erfuhr, 1921 bis 1933 dem Preußischen Staatsrat angehört. Er war an der Gründung der CDU beteiligt, wurde aber aufgrund seiner Opposition gegen die Politik der Westintegration von Konrad Adenauer 1951 aus der Partei ausgeschlossen. Das alles konnten wir Kinder der Rubensstraße nicht wissen. Wir starrten nur auf das Haus von Elfes, das merkwürdig kalt und unbehaust in der Leere der Ächtung stand, und erschraken, als wir von den Eltern erfuhren, dass diesem Mann mit schlohweißem Haar verboten worden sei, die Kirche der St.-Barbara-Pfarrei zu betreten, um die heilige Kommunion zu empfangen. «Was er doch allzu gerne wollen täte», meinte Mutter, die froh war, dass ihre eigene Familie der Ächtung entkommen war. Als ich 1961 zum ersten Mal an einer Wahl teilnehmen durfte, stimmte ich für den Kandidaten der Deutschen Friedensunion (DFU): Wilhelm Elfes.
Ja, die frommen Tuchfabrikanten hatten bald wieder das Sagen, seufzte Vater manchmal. 1932 hatte er für den NSDAP-Gau von ihnen großherzige Tuchspenden in Empfang genommen, ohne Quittung. 1947 ließen sie Gnade vor Recht walten; als Beisitzer einer Entnazifizierungskommission stuften sie Vater als nur geringfügig belastet ein. Sie selbst befanden sich fraglos im Unschuldsfeld.