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Eberhard Koch

Nun danket
alle Gott

Kirchenlieder und
ihre Geschichte

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Gewidmet meiner Frau

Abkürzungen

GB:

Gesangbuch der Neuapostolischen Kirche, erschienen 2004.

CB:

Chorbuch für den gottesdienstlichen Gebrauch der Neuapostolischen Kirche, erschienen 2013.

JLB:

Jugendliederbuch „Dich loben wir“, erschienen 2009.

EG:

Evangelisches Gesangbuch der deutschsprachigen evangelischen Gemeinden in Deutschland, Elsass-Lothringen, Osterreich und Luxemburg, zwischen 1993 und 1996 eingeführt. Die Lieder aus dem Evangelischen Gesangbuch (EG), auf die in diesem Buch verwiesen wird, sind dem Stammteil dieses Gesangbuches entnommen. Einige wenige finden sich im sogenannten Regionalteil Württemberg wieder.

GL:

Gebet- und Gesangbuch der katholischen Bistümer in Deutschland, Österreich und Südtirol, zwischen 2013 und 2014 eingeführt.

Inhalt

Vorwort

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Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

Michael Franck

Aus meines Herzens Grunde

Georg Niege

Aus tiefer Not schrei ich zu dir

Martin Luther

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Befiehl du deine Wege

Paul Gerhardt

Bewahre uns, Gott

Anders Ruuth

Breit aus die sanften Flügel

Carolina Wilhelmina Sandell-Berg

Brich an, du schönes Morgenlicht

Johann Rist

Brich herein, süßer Schein

Marie Schmalenbach

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Das Jahr geht hin, nun segne du

Arno Pötzsch

Das Jahr geht still zu Ende

Eleonore Fürstin von Reuß

Der Bräut’gam kommt

Johanna Meyer

Der Mond ist aufgegangen

Matthias Claudius

Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen

John Ellerton

Die Kirche ist gegründet allein auf Jesum Christ

Anna Thekla von Wehling

Die Nacht ist vorgedrungen

Jochen Klepper

Dies ist der Tag, den Gott gemacht

Christian Fürchtegott Gellert

Du großer Gott

Carl Boberg

Du kannst nicht tiefer fallen

Arno Pötzsch

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Ein feste Burg ist unser Gott

Martin Luther

Es kommt ein Schiff geladen

Johannes Tauler

Es mag sein, dass alles fällt

Rudolf Alexander Schröder

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Frühmorgens, da die Sonn aufgeht

Johann Heermann

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Geist der Weisheit

Ehrenfried Liebich

Gelobt sei Gott im höchsten Thron

Michael Weiße

Gern in alles mich zu fügen

Johann Kaspar Lavater

Gott des Himmels und der Erden

Heinrich Albert

Gott ist dein Gott

Albert Knapp

Gott sandte zu uns seinen Sohn

Heinrich Bone

Großer Gott, wir loben dich

Ignaz Franz

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Heilig, heilig, heilig

Johann Philipp Neumann

Herr, bleib bei mir

Henry Francis Lyte

Herr, mach uns stark im Mut

Anna Martina Gottschick

Herr, vor dein Antlitz treten zwei

Victor Friedrich von Strauß und Torney

Herr, weil mich festhält deine starke Hand

Helga Winkel

Herr, wir bitten: Komm und segne uns

Peter Strauch

Hört, Jesus ruft

Ernst Heinrich Gebhardt

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Ich bete an die Macht der Liebe

Gerhard Tersteegen

Ich hebe meine Augen auf

Nach Psalm 121

Ich lobe meinen Gott

Claude Fraysse nach Psalm 9,2.3,8–10

Ich steh an deiner Krippen hier

Paul Gerhardt

In dir ist Freude

Cyriakus Schneegaß

Ins Wasser fällt ein Stein

Manfred Siebald

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Jerusalem, du hochgebaute Stadt

Johann Matthäus Meyfart

Jesu Friede sei mit allen

Jesus-Bruderschaft, Gnadenthal

Jesu, geh voran

Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf

Jesu, Heiland meiner Seele

Charles Wesley

Jesu, meine Freude

Johann Frank

Jesus, meine Zuversicht

Otto von Schwerin

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Lass mich dein sein

Nikolaus Selnecker

Liebe, die du mich zum Bilde

Johann Scheffler

Liebster Jesu, hier sind wir

Benjamin Schmolck

Lobt froh den Herrn

Georg Gessner

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Macht hoch die Tür

Georg Weissel

Mein Herz, o Gott, ist dir bereit

Cornelius Becker

Morgenglanz der Ewigkeit

Christian Freiherr Knorr von Rosenroth

Morning has broken

Eleanor Farjeon

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Nun danket alle Gott

Martin Rinckart

Nun gib uns Pilgern aus der Quelle

Otto Riethmüller

Nun jauchzet, all ihr Frommen

Michael Schirmer

Nun ruhen alle Wälder

Paul Gerhardt

Nun singet und seid froh

Hannover 1646

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O Heiland, reiß die Himmel auf

Friedrich Spee

O Jesu, du seligste Ruh

Gustav Mankel

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Reicher König, Wirt voll Gnaden

Karl Friedrich Gerok

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Siehe, das ist Gottes Lamm

Johannes 1,29/Jesaja 53,7

So nimm denn meine Hände

Julie von Hausmann

Stern, auf den ich schaue

Cornelius Friedrich Adolf Krummacher

Stille Nacht, heilige Nacht

Joseph Mohr

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Tochter Zion, freue dich

Friedrich Heinrich Ranke

Tut mir auf die schöne Pforte

Benjamin Schmolck

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Und die bereit waren

Matthäus 25,10

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Vom Himmel hoch, da komm ich her

Martin Luther

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„Wachet auf!“, ruft uns die Stimme

Philipp Nicolai

Weiß ich den Weg auch nicht

Hedwig von Redern

Welch ein Freund ist unser Jesus

Ernst Gebhardt

Wenn Friede mit Gott

Horatio G. Spafford

Wer nur den lieben Gott lässt walten

Georg Neumark

Wie wird uns sein

Karl Johann Philipp Spitta

Wir sind nur Gast auf Erden

Georg Thurmair

Wir warten dein, o Gottessohn

Philipp Friedrich Hiller

Vorwort

Viele unserer Kirchenlieder gehören bis heute – über alle Epochen hinweg – zum ausdrucksstärksten Zeugnis eines gelebten christlichen Glaubens. Die in diesem Buch vorgestellten achtzig Lieder spiegeln allerdings nur einen winzigen Teil dessen wieder, was in der über fünfhundert Jahre alten Geschichte des Kirchenliedes entstanden ist. Was sie auszeichnet – trotz gewisser konfessioneller Prägungen – ist ihre Vielfalt an Ausdrucksmitteln. Manchmal ist es die poetische Kraft der Worte, die uns anspricht, manchmal ist es die Ausstrahlung der Melodie, die uns aufhorchen lässt und die den Worten Kraft und Tiefe verleiht. Im besten Falle sind es beide, die uns begeistern können.

Eine tiefergehende Beschäftigung mit den ausgewählten Liedtexten kommt nicht umhin, auch an die Liedschöpfer selbst zu erinnern und an die Ereignisse ihres oft schweren und hart geprüften Lebens. Deshalb ist die Beschreibung des musikalischen und sprachlichen Charakters eines Liedes immer auch eingebettet in die Lebenszusammenhänge des Dichters und des Melodienschöpfers.

Wenn wir in diesem Zusammenhang vom „Kirchenlied“ sprechen, könnte der Gedanke an eine feste und „ortsgebundene“ Gattung des Liedes naheliegen. Dem ist nicht so. Kaum ein anderer Gegenstand des vokalen Musizierens bietet so viele mögliche „Einsatzorte“ wie das Kirchenlied: Es dient seit Luthers Reformation zunächst der Teilhabe der singenden Gemeinde am gottesdienstlichen Geschehen und bereichert bis heute die Intensität und Lebendigkeit unserer Gottesdienste und ihrer Segenshandlungen, die unser Leben begleiten. Doch unsere Kirchenlieder können mehr: In den Sorgen und Nöten sind sie Quelle des Trostes und wenn sich Glaubensschwestern und -brüder freundschaftlich oder aus festlichem Anlass heraus zusammenfinden, sind es oftmals die Texte und Melodien geistlicher Lieder, die den Glauben stärken und die Liebe zu Gott bereichern. Vielleicht können die in diesem Buch vorgestellten Lieder Ansporn sein und Mut machen, einmal wieder miteinander zu singen – auch außerhalb „gewohnter“ Anlässe.

Bei der Auswahl der achtzig Lieder aus dem aktuellen Gesangbuch und weiteren Liedersammlungen der Neuapostolischen Kirche wurden überwiegend solche Lieder bevorzugt, die melodisch eingängig und in einem einfachen, textverständlichen Akkordsatz gehalten sind, so, „… dass eine ganze christliche Gemeinde mitsingen kann“.1

Es ist darüber hinaus eine persönlich geprägte Auswahl, die im Zeichen der Ökumene vor allem auch solche Lieder berücksichtigt, die in den Gesangbüchern der meisten christlichen Konfessionen enthalten sind. Dies gilt teilweise auch für die zwanzig in diesem Buch besprochenen Lieder aus dem Chorbuch und für die zehn Lieder aus dem Jugendliederbuch „Dich loben wir“.

Lieder können in die Tiefe unserer Seele dringen, können uns bewegen und im Innersten ergreifen. Was dabei geschieht, kann jedoch auch die beste Melodie- oder Liedbeschreibung nicht erklären.

„Wer singt, betet doppelt“ – mit dieser Augustinus zugeschriebenen Weisheit kann unsere Liebe zum reichen Schatz des uns überlieferten geistlichen Liedguts wachsen.

Eberhard Koch

Reutlingen, im September 2019

1Lucas Osiander (1534–1604). Er gab als bedeutender Theologe und Stuttgarter Hofprediger den Anstoß für das erste, 1586 erschienene württembergische Gesangbuch.

Nun danket alle Gott

mit Herzen, Mund und Händen,

der große Dinge tut

an uns und allen Enden,

der uns von Mutterleib

und Kindesbeinen an

unzählig viel zugut

und noch jetzund getan.

Martin Rinckart

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Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

GB 430/EG 528/GL 657

Michael Franck (1609–1667)

Vielleicht ist geistliche Dichtung da am Größten, wo sie es wagt, an das Äußerste einer Lebenswirklichkeit zu gehen, der wir nur zu gerne entfliehen. Wir verdrängen sie oft, weil sie unser Herz in Unruhe versetzt und aufwühlt: „Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss. Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir“ (Psalm 39,5.6).

Der Thüringer Michael Franck hat – wie kaum in einem Kirchenlied zuvor – diese Lebenswirklichkeit unserer Existenz ungeschönt, doch mit poetischer, bildstarker Kraft nachgezeichnet.

Francks Lied zeigt noch etwas Anderes: Geistliche Dichtung ist selten völlige Neuschöpfung. Inspiriert durch die Heilige Schrift, ist sie stets ein Nachdenken über das biblische Wort, ein Sich-Hineinfühlen in die Heilsgeschichte des Evangeliums und ein Sich-Bewusstmachen der eigenen Lebenserfahrungen.

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

ist der Menschen Leben!

Wie ein Nebel bald entstehet

und auch wieder bald vergehet,

so ist unser Leben, sehet!

Ach wie nichtig, ach wie flüchtig

sind der Menschen Tage!

Wie ein Strom beginnt zu rinnen

und mit Laufen nicht hält innen,

so fährt unsre Zeit von hinnen.

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

ist der Menschen Freude!

Wie sich wechseln Stund und Zeiten,

Licht und Dunkel, Fried und Streiten,

so sind unsre Fröhlichkeiten.

Ach wie nichtig, ach wie flüchtig

ist der Menschen Schöne!

Wie ein Blümlein bald vergehet,

wenn ein raues Lüftlein wehet,

so ist unsre Schöne, sehet!

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

sind der Menschen Schätze!

Es kann Glut und Flut entstehen,

dadurch, eh wir uns versehen,

alles muss zu Trümmern gehen.

Ach wie nichtig, ach wie flüchtig

sind der Menschen Sachen!

Alles, alles, was wir sehen,

das muss fallen und vergehen.

Wer Gott fürcht’, wird ewig stehen.

Michael Franck stammte aus Schleusingen in Thüringen und war Sohn eines Kaufmanns. Während zwei seiner vier Brüder studieren durften, blieb ihm dies trotz seiner großen Begabungen verwehrt: Als er 13 Jahre alt war, verstarb der Vater und die Familie blieb praktisch mittellos zurück. Franck begann aus der Not heraus eine Bäckerlehre, legte die Meisterprüfung ab und machte sich selbstständig. Doch was er sich mit seinem Handwerk erarbeitet hatte, verlor er bald schon in den ersten Wirren des Dreißigjährigen Krieges durch marodierende und plündernde Banden und Soldaten, die sein Haus überfielen. Nachdem er Hab und Gut verloren hatte, flüchtete er mit seiner Familie nach Coburg zu einem seiner Freunde und fand dort auch eine Stelle als Bäcker. Doch in jeder freien Minute widmete er sich seiner großen Liebe: der Dichtkunst und der Musik. Aufgrund seiner großen Begabung und seines umfassenden Wissens, das er sich vorwiegend im Selbststudium angeeignet hatte, wurde Franck 1644 als Präzeptor, das heißt als Lehrkraft, an die Stadtschule Coburg berufen. 1659 wurde Franck durch seinen damals schon berühmten Hamburger Dichterfreund Johann Rist (siehe sein Lied „Brich an, du schönes Morgenlicht“) zum Dichter gekrönt, einem damals durchaus üblichen Brauch.

Bereits 1650, zwei Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, war sein Lied „Ach wie flüchtig, ach, wie nichtig“ mit 13 Strophen auf einem Flugblatt erschienen. In den Strophen gibt der Dichter den Erfahrungen und Stimmungen der vom Krieg auf verheerende und grausame Weise heimgesuchten Menschen einen tief empfundenen Ausdruck.

Aufgrund der großen Nachfrage veröffentlichte Franck sein Lied 1652 nochmals mit zwei weiteren. Der kleinen Sammlung gab er ein kurzes Vorwort mit auf den Weg, das Einblick in den Gedankengang des Dichters gibt: „Die Eitelkeit, Falschheit und Unbeständigkeit der Welt und Flüchtigkeit der irdischen Güter, dagegen das rechte standhafte Gut der himmlischen Güter in drei Liedern gezeiget.“

Die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Menschseins vergleicht Franck mit den uns vertrauten Vorgängen in der Natur, mit dem Nebel, der aufsteigt und sich wieder auflöst, mit dem Strom, der unaufhaltsam der Mündung zufließt wie die Zeit, die uns das Leben einräumt, mit der Blume auch, die aufblüht und doch verwelkt, gleich der menschlichen Schönheit, die vergeht.

Doch Francks Lied endet mit einer wie gemeißelt dastehenden Zusage, der biblisch verbrieften Verheißung eines ewigen Lebens für den, der gottesfürchtig dem Evangelium lebte: „Wer Gott fürcht’, wird ewig stehen.“

1657 veröffentlicht Franck in einer eigenen kleinen Liedersammlung eine vierstimmige Fassung von „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“. Doch erst in der Bearbeitung Johann Crügers (1598–1662) fand Francks eher schmucklose Melodie ihre heutige Gestalt.

Franck setzt ganz auf die Kraft des auf einfache Weise gesungenen Wortes. Die Melodie sollte dabei nicht ablenken von der Aufmerksamkeit des Singenden und Hörenden für den Text: Jede Silbe wird auf eine einzige Melodienote gesungen – keine Silbe, kein Wort wird melodisch gedehnt oder gar ausgeschmückt. In dem fast stechend und unerbittlich wirkenden Gang der e-Moll-Melodie und ihrem Auf und Ab schält sich eindringlich heraus, was die Worte uns sagen.

Von den vielen seiner Lieder, die Franck schrieb und meist mit vierstimmigen Sätzen versah, reichte dieses eine Lied aus, um ihn unvergesslich zu machen, auch deshalb, weil Johann Sebastian Bach in seiner Kantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ (BWV 26) Francks bilderreiche und tiefgründige Sprache zum Ausgangspunkt eines hinreißenden musikalischen Gemäldes gemacht hat.

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Aus meines Herzens Grunde

GB 322/EG 443/GL 669

Georg Niege (1525–1589)

Vergeblich hatte der in Allendorf an der Werra geborene Georg Niege versucht, für das Manuskript seiner Liedersammlung einen Verleger zu finden. Er bat schließlich Nikolaus Selnecker – nach Luther einer der großen Schöpfer geistlicher Lieder – um tatkräftige Hilfe, allerdings ohne Erfolg. Selnecker reagierte eher zurückhaltend und rang sich zu der kurz und knapp wirkenden und wenig hilfreichen Bemerkung durch, dass die Lieder Nieges „… manchen Christen erquicken könnten“. Vielleicht hatte Selnecker auch gewisse Vorbehalte gegen die Person Nieges und ihren Werdegang, was durchaus verständlich sein mag – schließlich hatte sich Niege als Landsknecht freiwillig am Schmalkaldischen Krieg zwischen den protestantischen und kaiserlichen Truppen beteiligt. Dieser Krieg war der Kampf Kaiser Karls V. gegen die protestantischen Fürsten und Städte, die sich im Schmalkaldischen Bund zusammengetan hatten, der nach dem Sieg des Kaisers 1547 aufgelöst wurde.

Nieges Kriegsbegeisterung mag heute noch verwundern und befremden. Doch Niege konnte sich als überzeugter Lutheraner und mit seinem Hang, an kriegerischen Auseinandersetzungen der beiden Konfessionen teilzunehmen, auf Luther selbst beziehen. Dieser hatte mit seiner Schrift „Ob Kriegsleute auch im seligen Stand leben können“ das kriegerische Handwerk anderen lebenserhaltenden Berufsständen gleichgesetzt und den Einsatz von Gewalt unter anderem mit einem für das christliche Gewissen heute höchst fragwürdigen Rechtsbewusstsein begründet: „Gott hat zweierlei Regiment unter den Menschen aufgerichtet: Eines geistlich, durch das Wort und ohne Schwert, durch welches die Menschen fromm und gerecht werden sollen, so dass sie durch diese Gerechtigkeit das ewige Leben erlangen; und solche Gerechtigkeit bewirkt er durch das Wort, welches er den Predigern befohlen hat … Das andere ist ein weltliches Regiment durch das Schwert, damit diejenigen, die durch das Wort nicht fromm und gerecht werden wollen zum ewige Leben, dennoch durch dieses weltliche Regiment gezwungen werden, fromm und gerecht zu sein vor der Welt; und solche Gerechtigkeit bewirkt er durch das Schwert; und wiewohl er diese Gerechtigkeit nicht mit dem ewigen Leben belohnen will, so will er sie dennoch haben, auf das Frieden unter den Menschen erhalten werde, und belohnt sie mit zeitlichem Gut.“1

Niege jedenfalls war eine schillernde Persönlichkeit, fest im Glauben, umfassend gebildet und mit besonderen dichterischen Gaben ausgestattet. In Kassel hatte er überdies eine fundierte musikalische Ausbildung genossen, die ihm unter anderem auch ein Studium an der Marburger Universität ermöglichte. Doch selbst, als er für einige Zeit das kriegerische Leben mit dem eines Zollbeamten getauscht hatte, zog es Niege wieder auf das Schlachtfeld – doch nun im Range eines Hauptmanns.

Erst um 1580 kehrte er in ein eher bürgerlich-ruhiges Leben zurück, um sich noch mehr als bisher den schönen Künsten zuwenden zu können. Aus seiner Liedersammlung hatte sich schon bald sein Gedicht „Aus meines Herzens Grunde“ auf eine damals fast übliche Weise mündlich und handschriftlich verbreitet: In einer Zeit ohne Urheberrecht waren es am Ende wohl acht verschiedene Textfassungen, die von Nieges Gedicht kursierten. So wurden zum Beispiel Strophen von fremder Hand textlich verändert oder neue Strophen willkürlich hinzugefügt. Als Niege schließlich den Auftrag erhielt, die Trostschrift eines Magisters namens Leonhard Jacobi in Reime zu fassen, nutzte er die Gelegenheit, dieser später gedruckten Ausarbeitung einige seiner besten Lieder beizufügen, darunter sein in Sprache und Inhalt kraftvolles und gleichermaßen inniges Morgenlied „Aus meines Herzens Grunde“.

Aus meines Herzens Grunde

sag ich dir Lob und Dank

in dieser Morgenstunde,

dazu mein Leben lang,

dir, Gott, in deinem Thron,

zu Lob und Preis und Ehren

durch Christus, unsern Herren,

dein’ eingebornen Sohn,

dass du mich hast aus Gnaden

in der vergangnen Nacht

vor G’fahr und allem Schaden

behütet und bewacht,

demütig bitt ich dich,

wollst mir mein Sünd vergeben,

womit in diesem Leben

ich hab erzürnet dich.

Gott will ich lassen raten,

denn er all Ding vermag.

Er segne meine Taten

an diesem neuen Tag.

Ihm hab ich heimgestellt

mein’ Leib, mein Seel, mein Leben

und was er sonst gegeben;

er mach’s, wie’s ihm gefällt.

Darauf so sprech ich Amen

und zweifle nicht daran;

Gott wird es alls zusammen

in Gnaden sehen an,

und streck nun aus mein Hand,

greif an das Werk mit Freuden,

dazu mich Gott beschieden

in mei’m Beruf und Stand.

Mit den Eingangsworten seines Liedes deutet der Dichter an, dass Beten kein mechanisch sich wiederholender, plappernder Vorgang sein darf. Beten ist für ihn eine tief empfundene Herzenssache. Danksagung und die Zusage, Gott lebenslang die Ehre zu erweisen, verbinden sich in der ersten und zweiten Strophe mit der Bitte um göttliche Nachsicht und Vergebung angesichts eines von Sünde bestimmten Menschseins. Die beiden nachfolgenden Strophen lenken mittelbar den Blick auf die täglichen Heimsuchungen und Gefährdungen, denen der Mensch insbesondere in der damaligen Zeit ausgesetzt war. Der selbst vom Krieg und Elend gezeichnete und hart geprüfte Dichter sieht für sich und die Seinen nur einen Weg, um behütet und geborgen zu sein, den Weg eines tiefen Vertrauens in die führende Hand Gottes und dessen gnädiges Walten. Dabei vergisst er seine Nächsten nicht: Fürbittend schließt er sie ein in sein Gebet, getragen von der Hoffnung in die Macht der Engel, die dienstbaren Geister Gottes, die auch den Satan in die Flucht schlagen können (Strophe 5). In den Schlussstrophen bekundet er nochmals den Willen, sich ganz in die Hand Gottes zu begeben und sich seinem Wohlgefallen anzuvertrauen. Die Schlussverse führen in die Lebenspraxis zurück, dem tatkräftigen, morgendlichen und von Freude erfüllten Aufbruch im Namen Gottes, der dazu seinen Segen gibt.

Die Melodie, die sich im Laufe der über vierhundert Jahre alten Geschichte des Liedes durchgesetzt hat, nimmt in ihrer Beschwingtheit beide mit: den Singenden wie auch den Zuhörenden. Sie hat ihre Wurzeln in ähnlichen Melodiemodellen aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Obwohl sich die Melodie fast ausschließlich im Raum einer Quinte bewegt und der erste viertaktige Melodieabschnitt noch zweimal wiederholt wird, sorgt das fröhlich wiegende Wechselspiel von Halbe- und Viertelnoten für eine ungeschmälerte Singfreude. Diese wird verstärkt durch die fast koloraturhaft gedehnten und durch Punktierungen markant hervorgehobenen Takte 1 und 2 sowie 9 und 10.

Das temperamentvolle und mit einer einprägsamen, schlichten Melodie ausgestattete Lied Georg Nieges gehörte zu den Lieblingsliedern König Gustav Adolfs von Schweden – so jedenfalls ist es überliefert. Überdies war Nieges Lied für viele Komponisten eine Quelle der Inspiration: Ausgehend von der rasch ins Ohr gehenden, stets streng in viertaktige Abschnitte gegliederten Melodie, entstanden über die Jahrhunderte hinweg Orgelbearbeitungen, Kantatensätze und Chorwerke – unter ihnen auch ein vierstimmiger Choralsatz von Johann Sebastian Bach (BWV 269).

Sie alle sorgten für die weite Verbreitung eines Liedes, das als Morgengebet zu den schönsten Liedern des 16. Jahrhunderts gezählt werden darf.

1Martin Luther, Gesammelte Schriften, Band 4, Suhrkamp-Verlag, München, 1982, S. 180 ff.

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Aus tiefer Not schrei ich zur dir

GB 86/EG 299/GL 163

Martin Luther (1483–1546)

Christus sagt: ‚Kommt her zu mir, die ihr mühselig seid.‘ Als wollte er auch sagen: Haltet euch nur an mich, bleibt bei meinem Wort und lasst gehen, was da geht … Geht’s euch übel, so will ich euch den Mut geben, dass ihr noch dazu lachen sollt und soll euch die Marter nicht so groß sein, der Teufel nicht so bös, wenn ihr auch auf feurigen Kohlen ginget, so soll euch dünken, als ginget ihr auf Rosen … Habt ihr Beschwerung, Tod oder Marter … erschreckt nicht, es soll euch nicht schwer zu tragen, sondern leicht und sanft werden … dass solche Last, so der Welt unerträglich wäre, euch eine leichte Bürde wird.“

Es sind dies Worte aus der Predigt Luthers am 14. Februar 1546 in Eisleben, seinem Geburtsort. Luther ahnte wohl nicht, dass es seine letzte Predigt sein würde und dass es kein Wiedersehen mehr geben würde mit seiner Familie.

Luther war nach Eisleben gereist aus ganz profanen Gründen: Er sollte dort Erbstreitigkeiten schlichten, die im Hause der Grafen von Mansfeld ausgebrochen waren. Dies gelang ihm auch. An diesem 14. Februar – vier Tage vor seinem Tod – nützte Luther schließlich die Gelegenheit, der Gemeinde seiner Geburtsstadt zu predigen. Er sprach über den Ruf Jesu aus Matthäus 11,28 – ein Ruf, der ihn zeitlebens nie losgelassen hatte.

Luther, durch Schmerzen schon geschwächt, zeigt in dem zitierten Predigtausschnitt beispielhaft und eindrucksvoll seine großen Gaben einer verständlichen, dem Alltag nahestehenden, bildstarken Schriftauslegung. Mit innerer Hingabe und Überzeugungskraft schließt er seinen Zuhörern die Worte Jesu auf. Dabei lässt der Reformator aufleuchten, was zu seinen Gewissheiten gehörte: Der durch den Glauben Gerechtfertigte braucht sich nicht zu fürchten, auch nicht vor dem Tod. Wenn Gottes Nähe und Macht oft weit entfernt scheinen und die Wege nur mit Schmerzen wie „… auf feurigen Kohlen“ zu bewältigen sind, dürfen Vertrauen und Liebe zu Gott – eingefangen im Bild der Rosen – nicht schwinden. Der Gläubige bleibt auch in Anfechtung und größter Not Gottes Eigentum. In seinem 1523 entstandenen Lied „Nun freut euch liebe Christen g’mein“ – einem der ersten evangelischen Kirchenlieder überhaupt (EG 341) – legt Luther diese Gedanken in der siebten Strophe selbst in den Mund:

Er sprach zu mir: „Halt dich an mich,

es soll dir jetzt gelingen;

ich geb mich selber ganz für dich,

da will ich für dich ringen;

denn ich bin dein und du bist mein,

und wo ich bleib, da sollst du sein,

uns soll der Feind nicht scheiden.

Eine andere Blickrichtung nimmt sein 1524 entstandenes Bußlied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Im Bewusstsein und im Bekenntnis seiner Endlichkeit und Sündhaftigkeit, sucht in diesem Lied der Gläubige Trost und die Sünden vergebende Gnade Gottes, wohlwissend, dass dies Schuldbewusstsein und Buße voraussetzt.

Bei der Beschäftigung mit den Psalmen, deren Übersetzung Luther 1523 in Angriff genommen hatte, war es vor allem dieser 130. Psalm, dessen Gedankengänge und Wortschatz Luther fesselten und die er – sprachlich bearbeitet und in vier Strophen gefasst – in sein Bußlied übertrug.

Aus tiefer Not schrei ich zu dir,

Herr Gott, erhör mein Rufen!

Dein gnädig Ohr neig her zu mir

und meiner Bitt es öffne!

Denn so du willst das sehen an,

was Sünd und Unrecht ist getan,

wer kann, Herr, vor dir bleiben?

Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,

die Sünde zu vergeben;

es ist doch unser Tun umsonst

auch in dem besten Leben.

Vor dir niemand sich rühmen kann,

des muss sich fürchten jedermann

und deiner Gnade leben.

Darum auf Gott will hoffen ich,

auf mein Verdienst nicht bauen.

Auf ihn will ich verlassen mich

und seiner Güte trauen,

die mir zusagt sein wertes Wort.

Das ist mein Trost und treuer Hort;

des will ich allzeit harren.

Überhaupt waren für Luther die Psalmen zur wichtigsten Quelle des evangelischen Kirchenliedes geworden. Dies zeigt sich eindrucksvoll in seinem unermüdlichen Bemühen, Dichter zu finden, die sein Projekt „Deutsche Psalmen“ hätten unterstützen können. Ein Brief an seinen Freund und Gönner Georg Spalatin ist ein Indiz dafür, welche große Bedeutung Luther den Psalmen als der Quelle geistlichen Singens schlechthin beimaß: „Ich habe den Plan … deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt. Wir suchen überall nach Dichtern. Da dir aber die Gabe und sichere Beherrschung der deutschen Sprache gegeben … ist, bitte ich Dich, mit uns an diesem Vorhaben zu arbeiten und zu versuchen, einen Psalm in ein Lied zu übertragen, so wie du es hier an meinem Beispiel siehst.“ Luther macht in seinem Brief sogar Vorschläge, welche Psalmen Spalatin in Angriff nehmen könnte: „Übernimm doch den ersten Bußpsalm, ‚Herr, strafe mich in deinem Zorn‘ oder den siebten, ‚Herr, erhöre mein Gebet.‘“ Luther hatte seinem Brief die vier Strophen seines Liedes „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ beigefügt. Eine Antwort Spalatins blieb wohl aus, was aber die tiefe Freundschaft der beiden Männer keinesfalls beeinflusste – schließlich war es Spalatin, der die Rettung Luthers auf die Wartburg in die Wege geleitet hatte. Was Luther an den Psalmen besonders schätzte, ist die Unmittelbarkeit des Betenden und Singenden zu Gott hin. Gott zu danken und das Lob Gottes zu singen, ihn aber auch anzurufen, um die Mühsale und Nöte des Lebens zu beklagen, ihn um Vergebung zu bitten und auszusprechen, was auf der Seele lastet (Strophe 1) – diese gegensätzlichen Erfahrungen sollten Bestandteil einer Liturgie werden, in der die singende Gemeinde zur Sprache bringt, was sie fühlt, was sie empfindet, was Not tut und was sie erlebt hat. Luther lehnt sich inhaltlich und auch in seinem Sprachgebrauch eng an Psalm 130 an. Gleichzeitig war es ihm wichtig, jene reformatorischen Erkenntnisse nochmals zu festigen, die für ihn theologisch von größter Bedeutung waren und die ein Umdenken erforderlich machten: Es steht allein in Gottes Gnade und Macht, die Sünden zu vergeben (Strophe 2). Gottes Gnade ist weder käuflich, noch vermag sie den zu erreichen, der meint, aus eigenem Bemühen heraus könne man das Wohlgefallen Gottes und seine Gnade auf sich ziehen (Strophe 3). Göttliche Gnade und Macht sind seitens des Menschen nicht festlegbar. Man kann sich die Gnade Gottes nicht einfach durch die Einhaltung des Gesetzes oder durch freiwillig erbrachte Leistungen verdienen: „Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen.“ Was alleine zählt, ist die starke Hoffnung und die Geduld des zur Buße bereiten Sünders. Gottes Gnade kennt aber auch kein Ende, sie ist immer größer als die Sündhaftigkeit des Menschen.

Luthers Bußlied ist bis heute ein berührendes Lied geblieben, weil es in einzigartiger Weise ein tiefes, hingebungsvolles Vertrauen widerspiegelt und das veranschaulicht, was die unermessliche Gnade Gottes für den Sünder bedeutet. Luther fasst dies in Schlüsselbegriffe, die er über alle Strophen ausbreitet: „Gnade“ und „Gunst“, „Hoffnung“ und „Vertrauen“, „Güte“, „Hort“ und „Trost“. Luther fügte 1524 eine fünfte Strophe hinzu. Heute bieten die aktuell gültigen Gesangbuchausgaben drei, vier oder auch alle fünf Strophen an. Das Evangelische Gesangbuch enthält alle Strophen, das Gesangbuch der Neuapostolischen Kirche übernahm die ersten drei Strophen, das katholische Gotteslob ebenso drei der Strophen, allerdings sprachlich und inhaltlich teilweise verändert.

Zum ersten Mal erscheint Luthers Lied gedruckt 1524, allerdings mit unterschiedlichen Melodien versehen. Zwei davon haben sich bis heute erhalten. Zum einen die von Martin Luther selbst, zum anderen eine Melodie des im badischen Offenburg geborenen Dominikaners und Organisten Wolfgang Dachstein (1487–1553), einem Studienfreund Luthers aus seiner Erfurter Zeit.

Luther greift in seiner Melodie auf die phrygische Tonleiter oder auch Tonart zurück mit dem Ausgangs- und Schlusston e' und die an Molltonarten erinnernden kleinen Terz e – g. Diese Tonart wurde weit über Luthers Zeit hinaus häufig verwendet bei Bitt- und Klageliedern. Sinnfällig beginnt Luthers Melodie mit einer tief fallenden und sofort wieder nach oben springenden Quinte. Fünf drängende Achtelauftakte, meist mit einem ausrufenden Quartsprung nach oben verbunden, geben Luthers herausragendem Psalmenlied Nachdruck und Gewicht. Es ist eine Melodie, die den Singenden nicht zuletzt hineinhorchen lässt in die Tiefen, aber auch Höhen von Luthers Leben und dem eigenen Lebensweg.

Die zweite Melodie von Wolfgang Dachstein – meist in der Tonart G-Dur abgedruckt – ist melodisch und rhythmisch grundverschieden zu der Luthers. Dachsteins Melodie wirkt durch die zunächst eher ruhig dahinfließenden Schrittbewegungen und die wenigen Terzsprünge ausgewogen und Zuversicht ausstrahlend – so, als wolle sie bereits mit dem ersten Melodieabschnitt auf die Unwandelbarkeit hinweisen von Gottes unvergänglicher Liebe und Gnade.

Luthers Lied gehört bis heute zu den bedeutendsten und wichtigsten Liedern aller christlichen Konfessionen. In sechs Sprachen wurde Luthers Lied auch in das ökumenische Gesangbuch „Colours of Grace“ übernommen.

Als liturgisch auf vielfache Weise verwendbares Lied hat es Geschichte geschrieben. Als Begräbnislied erklang es, als Kurfürst Friedrich der Weise – eine der großen Gönner und Freunde Luthers – zu Grabe getragen wurde und nicht zuletzt war es auch dieses Lied, mit dem eine der größten Persönlichkeiten der Weltgeschichte – der Reformator selbst – am 22. Februar 1546 in der Schlosskirche zu Wittenberg beigesetzt wurde.

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Befiehl du deine Wege

GB 146a/EG 361

Paul Gerhardt (1607–1676)

In einem berührenden Brief wendet sich kurz vor seinem Tod der Dichter Paul Gerhardt ein letztes Mal an seinen Sohn, der ihm als einziges seiner fünf Kinder geblieben war. Nach über dreihundert Jahren sind es besonders zwei Sätze aus diesem Testament Gerhardts, die uns besonders nachdenklich stimmen und aufhorchen lassen im Blick auf uns selbst und die Welt heute: „Lass dir“, so der Dichter an seinen Sohn, „genügen an dem, was du mit Ehren und gutem Gewissen erworben hast, ob’s gleich nicht viel ist. Beschert dir aber der liebe Gott ein Mehreres, so bitte ihn, dass er dich vor dem bösen Missbrauch des zeitlichen Gutes bewahren wolle.“

Heute mag dieser Rat ziemlich weltfremd erscheinen – zu sehr sind viele Menschen verstrickt in einen Prozess des ständigen Kaufens und Vermehrens dessen, was sie schon haben. Das erinnert manche der älteren Leser an das 1979 erschienene Buch des Psychoanalytikers und Philosophen Erich Fromm „Haben oder Sein“. Darin entwirft der Autor die Vision eines neuen Menschen. Zu ihm gehöre – so Fromm unter anderem – „Freude aus dem Geben und Teilen zu schöpfen, nicht aus dem Horten und der Ausbeutung anderer.“1

Die Lebensumstände und die Gedankenwelten dieser beiden Männer könnten nicht unterschiedlicher sein und liegen doch eng beieinander. Erich Fromm geht es um die bittere Erkenntnis, dass der Mensch sich anschickt, eine Welt zu schaffen, in der ein noch nie dagewesenes Besitz- und Gewinnstreben vorherrscht, begleitet von einer gedankenlosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Fromm zeigt auf, wie solche Entwicklungen den Menschen krank werden lassen und am Ende sogar existentiell bedrohen.

Paul Gerhardt trieb dreihundert Jahre zuvor vor allem die Sorge um, dass beim Streben nach Ansehen, nach Gewinn und den eigenen Vorteilen die anderen Seiten des Lebens verkümmern könnten. Zu ihnen zählte er die Bescheidenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die Beachtung der göttlichen Gebote und die Wertschätzung der natürlichen Lebensgrundlagen. Für Gerhardt waren dies unabdingbare Voraussetzungen für ein gelingendes, von Gott gesegnetes Leben und für einen geordneten, lebendigen Fortbestand der Schöpfung.

Diese Sichtweisen und Überzeugungen sind einer der Gründe, warum sich bis heute Menschen zu ihm und seinen Liedern hingezogen fühlen. Ein anderer ist die Echtheit und Beständigkeit seines Glaubens, obwohl Gerhardts Leben selbst ein schwer geprüftes war. Oft bewegte es sich nur noch zwischen herben Enttäuschungen, persönlichen Schicksalsschlägen und den leidvollen Erfahrungen eines dreißig Jahre währenden Krieges.

Hinzu kam, dass er nach dem Westfälischen Frieden 1648 in einen schweren Gewissenskonflikt geriet, als den sogenannten „Reformierten“ die gleichen Rechte zugesprochen wurden wie den Lutheranern. Erstere waren unter anderem Anhänger des Schweizer Reformators Calvin, der in „seiner“ Genfer Kirche mit einer strengen Kirchen – und „Sittenzucht“ nicht nur in der protestantischen Welt Aufsehen erregte und Widerstand auslöste. Als Calvin schließlich auch noch die Ansicht vertrat, Ketzer sollten – der mittelalterlichen Praxis gemäß – nach wie vor mit dem Tode bestraft werden, nannten ihn viele Lutheraner nur noch Kain anstatt Calvin. Paul Gerhardt jedenfalls war in seiner Funktion als erster Geistlicher an der Nikolaikirche Berlin nicht bereit, ein Toleranzedikt zu unterzeichnen, das beide Glaubensrichtungen gleichstellte. Aufgrund namhafter Fürsprecher wurde die deshalb drohende Amtsenthebung abgewendet, doch es war dann Gerhardt selbst, der sein Amt an der Nikolaikirche aufgab. Er wollte in seinem Denken und Tun unabhängig bleiben (siehe dazu die Ausführungen zu dem Lied „Nun ruhen alle Wälder“).

Drei Jahre lebte er ohne eigenes Einkommen, und es waren Gönner und Freunde, die ihn in dieser Zeit tatkräftig unterstützten. 1669 wurde ihm schließlich in Lübben/Spreewald das sogenannte „Archidiakonat“ (Vorsteheramt) übertragen, das er bis zu seinem Tode innehatte.

Über 130 Lieder hat uns Paul Gerhardt hinterlassen. Fast die Hälfte davon wurzelt in den Worten und Aussagen der Psalmen oder ist auf andere Weise biblisch inspiriert. Das Besondere jedoch ist, wie Gerhardt das biblische Gedankengut schöpferisch umformt. Doch für ihn sind die Bildhaftigkeit und die „Buntheiten“ der Sprache niemals ein bloßes Stilmittel: Was er dem Leser mit poetischer Kraft in seinen Natur- und Glaubensbildern vor Augen führt, sind die tiefempfundenen, inneren Regungen und Überzeugungen eines Dichters, den eine große Gottes- und Naturliebe auszeichnete. Nie gleitet Gerhardt dabei ins Schwärmerische oder gar Sentimentale ab. Seine Ausdrucksweise ist einfach und die Sprache seiner Bilder ist von großer Klarheit und Verständlichkeit.

Die folgenden vier Verse aus der 11. Strophe seines Liedes „Befiehl du deine Wege“ zeigen dies beispielhaft: „Gott gibt dir selbst die Palmen in deine rechte Hand, und du singst Freudenpsalmen dem, der dein Leid gewandt.“

Dieses tiefgehende Lied mit seinen ursprünglich zwölf Strophen gehört zu den bekanntesten und auch schönsten Trostliedern von ihm.

Befiehl du deine Wege

und was dein Herze kränkt

der allertreusten Pflege

des, der den Himmel lenkt.

Der Wolken, Luft und Winden

gibt Wege, Lauf und Bahn,

der wird auch Wege finden,

da dein Fuß gehen kann.

Dem Herren musst du trauen,

wenn dir’s soll wohl ergehn.

Auf sein Werk musst du schauen,

wenn dein Werk soll bestehn.

Mit Sorgen und mit Grämen

und selbstgemachter Pein

lässt Gott sich gar nichts nehmen,

es muss erbeten sein.

Weg hast du allerwegen,

an Mitteln fehlt dir’s nicht.

Dein Tun ist lauter Segen,

dein Gang ist lauter Licht.

Dein Werk kann niemand hindern,

dein’ Arbeit darf nicht ruhn,

wenn du, was deinen Kindern

ersprießlich ist, willst tun.

Auf, auf, gib deinem Schmerze

und Sorgen gute Nacht!

Lass fahren, was das Herze

betrübt und traurig macht!

Bist du doch nicht Regente,

der alles führen soll;

Gott sitzt im Regimente und

führet alles wohl.

Ihn, ihn lass tun und walten,

er ist ein weiser Fürst

und wird sich so verhalten,

dass du dich wundern wirst,

wenn er, wie ihm gebühret,

mit wunderbarem Rat

die Sach hinausgeführet,

die dich bekümmert hat.

Inhaltlich wurzelt Gerhardts Lied in Psalm 37, der mit Worten und Aussagen durchzogen ist, als spräche da einer mit sich selbst oder zu einem anderen, sich an die bösen und schweren Tage erinnernd. Mit neidvollem Blick, mit Entrüstung sieht er auf das scheinbare Glück der Bösen, denen es gut geht. Soll man da einfach schweigen? Paul Gerhardt fasst diesen Gedanken in das Bild des gekränkten, angefochtenen Herzens (Strophe 1). Doch dabei bleibt er nicht stehen. Aus diesem Gedanken heraus entfaltet der im Leben so hart geprüfte Dichter seine Sätze und Bilder der Hoffnung und des Vertrauens, von denen besonders die auffordernden Strophen 7 und 8 künden. Gerhardt hat selbst erfahren, dass es in allen Rückschlägen unverzichtbar ist, sich im Gebet und in der Treue zu Gott zu üben und sich in der Trübsal zu bewähren (Strophen 9 bis 11). Über allem aber steht der starke Glaube, dass Gott es am Ende wohl machen wird (Strophe 12).

Gerhardts Lied erschien zum ersten Mal gedruckt 1653 in der 2. Auflage von Johann Crügers Berliner Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“, was so viel bedeutet wie „Übung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen“. Bei seinem ersten Erscheinen 1640 enthielt dieses Gesangbuch vor allem Lieder Luthers und auch solche des schlesischen Dichters Johann Heermann („O Jesu Christe, wahres Licht“). Die meisten dieser Lieder waren versehen mit von Crüger selbst komponierten Melodien. Doch mit jeder neuen Ausgabe dieses Gesangbuchs erhöhte sich die Anzahl der darin enthaltenen Lieder von Paul Gerhardt. So waren es in der Ausgabe 1653 bereits 82 Lieder, die aus seiner Feder stammten, darunter auch „Befiehl du deine Wege“, unterlegt mit einer Melodie des vor allem in Frankfurt/Oder tätig gewesenen Kantors, Lehrers und damals bedeutenden Tonsetzer Bartholomäus Gesius (1560–1613). Allerdings stand diese Melodie noch im Dreiertakt. Später nahm Georg Philipp Telemann (1681–1767) eine weitreichende Veränderung vor: er gab der Melodie einen ruhiger wirkenden 4/4-Takt und schuf auf diese Weise einen Ausgleich zwischen dem sprachlich ergreifenden und tiefsinnigen Text und dem Melodierhythmus, der ihn trägt. Der Tonumfang dieser so veränderten Melodie ist den Grundsätzen der Kirchentonarten folgend auf eine Oktave beschränkt. Nur fünfmal wagt sie einen Terzsprung; ansonsten sind es ausgleichende und auch Ruhe verströmende Sekundschritte, die ganz den Text in den Vordergrund rücken.

Doch es gibt noch eine zweite, gleichermaßen passende Melodie zu Gerhardts Lied, die Hans Leo Haßler (1564–1612) zuzuschreiben ist und vor allem bekannt wurde durch das zehn Strophen umfassende Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“, einem Passionslied Paul Gerhardts, das mit seinen beiden letzten Strophen schon für viele Menschen zu einer Quelle des Trostes und der Hoffnung wurde. Dreimal erklingt die Melodie dieses Chorals auch in Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“.

Einige Gesangbuchausgaben von heute bieten zu Gerhardts „Befiehl du deine Wege“ beide Melodien an, sicher auch deshalb, weil der Singende bei beiden die innere Übereinstimmung fühlt zwischen Dichterwort und Melodie.

1Erich Fromm, Haben oder Sein, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979, S. 163.

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Bewahre uns, Gott

CB 156/JLB 21/EG 171

Anders Ruuth (1926–2011)
Eugen Eckert (*1954)

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott,

sei mit uns auf unsern Wegen.

Sei Quelle und Brot in Wüstennot,

sei um uns mit deinem Segen.

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott,

sei mit uns in allem Leiden.

Voll Wärme und Licht im Angesicht,

sei nahe in schweren Zeiten.

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott,

sei mit uns vor allem Bösen.

Sei Hilfe, sei Kraft, die Frieden schafft,

sei in uns, uns zu erlösen.

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott,

sei mit uns durch deinen Segen.

Dein Heiliger Geist, der Leben verheißt,

sei um uns auf unsern Wegen.

Beim ersten, aufmerksamen Hören dieses Liedes scheint es so gar nicht den gewohnten Erwartungen zu entsprechen, die man mit einem Kirchenlied verbindet. Wie ein Sprechgesang wirken die ersten vier Takte mit ihren Tonwiederholungen. Jede Silbe der beiden impulsiv wirkenden Bittrufe „Bewahre uns Gott, behüte uns Gott“ ist unüberhörbar. Umso mehr ist es dann der betonungsintensive Dreivierteltakt, mit dem sich die Melodie immer mehr entfaltet, gleichsam nach vorne drängend. Der durch die moll-Tonart beeinflusste Klangcharakter des Liedes mag unterschiedlich empfunden werden, doch er liegt wie ein Schatten über den Worten und den beiden Bittrufen, mit denen jede der vier Strophen beginnt. Spannend ist nicht zuletzt auch die Geschichte dieses Liedes.

Anders Ruuth, der Verfasser des ursprünglichen Textes und der dazugehörigen Melodie, arbeitete etliche Jahre als Pfarrer in Argentinien und auch als Professor an der Lutherischen Fakultät der Universität Buenos Aires. Nach seinem zweiten Argentinienaufenthalt kehrte er in sein Heimatland Schweden zurück und wurde Direktor der dortigen Lutherhilfe. Während einem seiner Aufenthalte in Argentinien hatte Ruuth ein mehrstrophiges Gedicht mit dem Titel „La paz del Senor“ (Der Friede des Herrn) verfasst, dem er später eine eigene, von ihm komponierte Melodie beifügte. Dieses Lied wurde anlässlich eines Konzerts 1984 wohl zum ersten Mal auch in Deutschland aufgeführt und stieß mit seiner Melodie und seinem spanischen Text auf große, nachhaltige Begeisterung.

Es war dann der Studentenpfarrer und Dozent für Kirchenmusik, Eugen Eckert, der 1985 mit Ruuths Zustimmung die längst populär gewordene Melodie mit einem neuen, einfühlsamen und passenden deutschen Text unterlegte. Eckert war zu der Zeit bekannt als Verfasser und Bearbeiter vieler geistlicher Lieder. Sein neuer, ebenso vier Strophen umfassender Liedtext zu Ruuths Melodie stieß vor allem auf Kirchentagen auf breite und große Zustimmung. Das auf diese Weise nun neu entstandene und sich rasch verbreitende Lied machte nicht zuletzt den Komponisten der Melodie und auch den Dichter Eugen Eckert weithin bekannt.

Ihm gelingt es, in allem Vertrauen auf Gott die Unwägbarkeiten und Heimsuchungen des Lebens in einfache Worte und Bilder zu fassen, die letztlich einen biblischen Ursprung haben. Schon mit der Bitte, Gott möge „Quelle“ und „Brot“ sein, ruft uns Eckert die johanneischen Aussagen ins Gedächtnis zurück, in denen sich Jesus als „Brot des Lebens“ vorstellt und als der, aus dem „… das ewige Leben“ quillt (vgl. Johannes 6,35 und 4,14). Mit dem Erlösungsgedanken in der dritten Strophe erinnert der Dichter zudem an das Gebet des Sohnes Gottes, das Vaterunser. Die „Wüstennot“, die „Leiden“ und die „… schweren Zeiten“ schließlich können Hinweis sein auf die entsagungsvolle Wüstenwanderung des Volkes Israel.

Gleichzeitig verweist dieses Ereignis auf die Versuchungen, Herausforderungen und Glaubensprüfungen, die das Christsein bis heute begleiten. Mit der Bitte um Segen und Führung durch den Heiligen Geist klingen die vier Strophen aus.

Es ist ein erfahrungsbezogener Liedtext, der jeden anzusprechen vermag. Mit dem hinter seinen Worten etwas verborgenen Blick auf die oft harte Wirklichkeit unseres Daseins spricht Eckert Vielen aus dem Herzen. Doch gleichzeitig macht er mit seinen Gebetsworten deutlich, dass Christen mit dem Segen Gottes rechnen und auf die Kraft des Heiligen Geistes bauen dürfen. Ohne diese beiden Gottesgaben, die die erste und letzte Strophe des Liedes leitmotivisch bestimmen, bliebe das menschliche Leben ohne Erlösung und müsste scheitern.

Die volkstümlich wirkende und vorwiegend aus Schrittbewegungen bestehende Melodie Ruuths prägt sich bereits beim ersten Singen ein: Die viertaktigen, stets mit Auftakt beginnenden Abschnitte sind geprägt von einem rhythmischen Kern aus Viertel- und Halbenoten. Letztere sorgen für die Ruhepunkte angesichts der pochenden Tonwiederholungen. In der Mitte des sechzehntaktigen Liedes erreicht die Melodie ihren auch ausdrucksmäßigen Höhepunkt auf dem Ton c". Diese Liedmitte trägt wichtige Eigenschaften Gottes hinaus zu den Hörenden: Gott als „Quelle und Brot“, als „Wärme und Licht“, als „Hilfe und Kraft“. Melodiegestalt und Rhythmus – das lässt uns dieses Lied spüren – stehen ganz im Dienst der Worte und ihren Aussagen.

Die nochmalige Bitte schließlich in der vierten Strophe um die Gegenwart Gottes in Gestalt seines Segens mag unterschiedliche Vorstellungen hervorrufen über das, was mit Segen gemeint sein könnte. Vielleicht findet sich in den Worten des Evangelisten Lukas über Jesus der tiefe Sinn dessen, was „Segen“ im Zusammenhang mit diesem Lied bedeuten könnte: „Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ (Lukas 2,52).

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Breit aus die sanften Flügel

CB 157

Carolina Wilhelmina Sandell-Berg (1832–1903)
Übersetzung aus dem Schwedischen:
Carsten Borkowski (*1965)

Die schwedische Pastorentochter Carolina Wilhelmina Sandell-Berg (1832–1903) hat sich vor allem als Verfasserin geistlicher Lyrik und Texte einen Namen gemacht. Mit ihrem Gedicht „Bred dina vida vingar“ („Breit aus die sanften Flügel“) und der zugrundeliegenden Melodie ist sie über ihre Heimat hinaus bekannt geworden.

Breit aus die sanften Flügel, du mein Jesus, über mir

und lass mich sicher ruhen in Wohl und Weh bei dir.

Herr, meine Ruh und Stärke, sei Weisheit mir und Rat

und lass mich alle Tage leben nur von deiner Gnad.

Vergib mir alle Sünden, wasche mich in deinem Blut.

Gib mir ein heil’ges Denken, einen Willen neu und gut.

Nimm in deine treue Sorge uns alle, Groß und Klein,

lass auch heut die Abendruhe zum Frieden neu gedeihn.