ALAN DEAN FOSTER

 

 

Starman

 

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 62

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

STARMAN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

Das Buch

 

1977 wurde die Sonde Voyager II in den Weltraum geschossen - mit der Einladung an alle Lebewesen des Universums, unseren Planeten Erde zu besuchen. Nun ist es soweit: Der Besuch ist da...

Das fremde Wesen trifft in einer abgelegenen ländlichen Gegend der USA auf eine verwitwete junge Frau. Über alle Schwierigkeiten hinweg kommen sie sich näher, aber die Agenten der Regierung haben sich bereits an die Fersen des Besuchers geheftet...

 

Starman von Alan Dean Foster ist der Roman zum gleichnamigen Kult-Film von John Carpenter aus dem Jahr 1984, in den Hauptrollen: Jeff Bridges als Starman, Karen Allen als Jenny Hayden und Richard Jaeckel als George Fox. 

Der Roman erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER. 

  STARMAN

 

 

 

 

 

 

 

Für Pete Branham –

der besser ist, als er glaubt

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Niemand sah es.

Es näherte sich ganz leise, wie auf hypergravitischen Katzenpfoten, und es stahl sich nicht wieder davon. Stattdessen schwenkte es auf eine Umlaufbahn ein, etwa sechzigtausend Kilometer von der Oberfläche des schönen blauweißen Planeten entfernt. Die Bewohner des Planeten entdeckten es nicht, denn die Besatzung wollte unbemerkt bleiben. Die Mitglieder der Crew wahrten ihre Anonymität mittels einer simplen Methode – sie lenkten alle Ortungsimpulse von sich ab, mit deren Hilfe man sie hätte entdecken können. Bestimmte Apparate an Bord konnten sogar Schwerkraftwellen beugen. Allerdings war es viel einfacher, Radarstrahlen abzuleiten.

In einer Spezialkammer tief im Inneren des großen Raumschiffs befand sich ein Ding. Sie hatten es gefunden, wie es steuerlos durch den interstellaren Raum geschwebt war, ohne Ziel, in lächerlich langsamem Tempo. In dem harten Metallkörper des einsamen Reisenden befanden sich Geräte mit primitiven visuellen und akustischen Codes. Die Crew hatte nicht lange gebraucht, um sie in mehrere tausend verständliche Informationseinheiten zu zerlegen. Die Übersetzung der planlosen Kilobytes bedeutete mehr oder weniger: »Hi!« Diesem Gruß waren dann Anweisungen hinzugefügt – zumindest vermutete man, dass es sich um solche handelte.

Man diskutierte und argumentierte und entschloss sich, das Objekt aufzubrechen und herauszufinden, was es mit den Herstellern des Reisenden wohl auf sich hatte. Nach einigen Unterredungen und Konsultationen über Sternweiten hinweg, änderte das Raumschiff seinen Kurs.

Nun war die Reise beendet, und das Schiff umkreiste die Welt, von welcher der Reisende gekommen war. In aller Stille beobachtete die Crew den Planeten, nahm Messungen vor, registrierte, überprüfte und interpretierte die Resultate der Observation. Dies nahm einige Zeit in Anspruch. Doch so hochentwickelt die Instrumente auch sein mochten, es gab einiges, das man über eine Distanz von sechzigtausend Kilometer hinweg nicht herausbekommen konnte. Letztlich musste doch eine Untersuchung aus der Nähe durchgeführt werden.

Wer den schwierigen, aber notwendigen nächsten Schritt tun sollte, stand außer Frage. Er war ein ungewöhnliches Individuum, sogar im Kreise seiner Artgenossen (wir werden ihn aus biologischen Gründen er nennen). Trotz der Gefahren, die der Besuch auf einer primitiven Welt voll unbekannter Risiken, aber auch Möglichkeiten mit sich brachte, beneideten ihn seine Kollegen. Aber niemand erhob irgendwelche Einwände. Niemand erklärte, dass er sich an seiner Stelle auf den Weg machen wolle. Die Besatzung des großen Schiffs hatte längst so absurde Gefühle wie Missgunst abgelegt. Alle wussten, dass der Auserwählte, der den Absprung wagen sollte, am besten für diese Aufgabe qualifiziert war. 

Ohne große Abschiedszeremonien stieg der Forscher in seine winzige Raumkapsel. Keine Freunde standen da, um ihm Glück zu wünschen und ihm nachzuwinken, und er brauchte auch keine. Stattdessen kam die restliche Crew ihren Pflichten nach. Hätte man die Leute gefragt, warum sie sich so verhielten, dann hätten sie geantwortet, jeder Augenblick, den man mit Nichtigkeiten vergeude, würde den Triumph der Entropie hinauszögern. Dies war der eigentliche Feind – nicht die primitive, möglicherweise auch aggressive Bevölkerung des fremden Planeten.

Das bedeutete allerdings nicht, dass ihnen sein Schicksal gleichgültig gewesen wäre. Jede auch noch so kurzfristige Besichtigung einer rückständigen Welt brachte gewisse Gefahren mit sich. Und so herrschte stumme Besorgnis in den Reihen der Crew, als sich die Luke in der Flanke des großen Flugkörpers öffnete und das kleine Forschungsschiff ins All hinaus glitt. Die Besatzungsmitglieder kannten einander gut. Sie waren enger miteinander verbunden als eine Familie, und der Forscher war einer von ihnen. Je früher seine Expedition beendet war, je eher er zu ihnen zurückkehrte und in Sicherheit war, desto schneller würden sie ihre Ruhe wiederfinden.

Trotz dieser Sorgen warteten sie alle gespannt auf das Ergebnis der Inspektion, hoffnungsvoll und nervös zugleich. In der weiten Einsamkeit des Universums war Intelligenz etwas Seltenes und Kostbares. Sollte sich die Expedition des Forschers als erfolgreich erweisen, würde die Galaxis nicht mehr so leer sein wie zuvor.

Ein Teil seines Risikos lag in der geringen Größe des Forschungsschiffs. Es war so konstruiert, dass es mühelos hierhin und dorthin fliegen konnte, auch zu schwer erreichbaren Orten, und dabei kaum Aufmerksamkeit erregte. Aber weil es so klein war, bot es nur wenig Platz für das Instrumentarium, das man zur Abwehr diverser fremdartiger Energien benötigt hätte. Deshalb war es den Ortungsimpulsen, die möglicherweise von der Oberfläche des Planeten abgestrahlt wurden, ausgeliefert.

Sowohl der Forscher als auch die Crew glaubten zuversichtlich, dass dies keine Folgen für seine Mission haben würde, und sie durften mit gutem Grund das Beste hoffen. Die Raumkapsel war wegen ihres winzigen Umfangs schwer zu entdecken, und die Struktur des interstellaren Reisenden, dessen Botschaften sie dechiffriert hatten, ließ vermuten, dass die Absender nur über eine ziemlich primitive Technologie verfügten.

 

Charmichael lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte das Magazin beiseite, so dass das Faltblatt in der Mitte herausfiel, und betrachtete interessiert das anatomische Schema. Seine Konzentrationsfähigkeit war bewundernswert, und es gab nichts, was ihm entgangen wäre. Trotzdem sah er sich gezwungen, die schimmernde Abbildung genau zu betrachten, bevor er sie wieder zusammenfaltete und in das Magazin zurückschob. Seufzend blätterte er weiter, zu einem Artikel von William F. Buckley Jr., und versuchte, ebenso vergeblich wie bei der Lektüre der vorangegangenen Seiten, Begeisterung zu empfinden.

An dem Instrument, das die klimatologischen Bedingungen draußen im Freien anzeigte, konnte er ablesen, dass die Temperatur sechsundvierzig Grad betrug und die Luftfeuchtigkeit lächerlich hoch war. Rings um ihn herrschte angenehme Kühle. Natürlich sollte die Klimaanlage weniger seinem eigenen Wohlbefinden dienen als der Maschinerie, die er kontrollierte, doch das störte ihn nicht.

Um ihn herum bildeten mehrere Tonnen Metall, auf komplizierte Weise miteinander vermengt, eine gigantische Scheibe, deren Sensoren rund um die Uhr den Himmel abtasteten. Diese Platte diente dazu, elektronische Anomalien zu orten. Diesen Job erledigte sie nun schon seit vielen Jahren geduldig und ohne nennenswerten Erfolg. Hin und wieder registrierte Carmichael einen Pieps- oder Brummton, der aus dem Lautsprecher drang und ihn weder überraschte noch bei seiner Lektüre störte. Es war ein angenehmer Job für einen Mann, der gern las.

Und er eignete sich dafür. Es bedurfte einer besonderen Art von Geduld, allein in einem Raum zu sitzen und ein Faltblatt nach dem anderen zu studieren, ohne die Nerven zu verlieren und die Einrichtung zu zertrümmern.

Ein Registrierapparat summte und lenkte seinen Blick auf einen Bildschirm, der zwischen Dutzenden von anderen in die Instrumentenwand eingelassen war. Charmichael runzelte die Stirn, verdrängte seine streng konservativen Ansichten und richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf. Nun konzentrierte er sich ganz auf diesen einen Bildschirm – was sich sonst noch in dem Raum befand, war für ihn nicht länger existent.

Sie war immer noch da, die Anomalie. Er stand auf und stellte die Kontrollgeräte auf Feinabstimmung ein. Die Anomalie verschwand nicht. Sie schien sogar stärker zu werden, während er versuchte, sie zu beheben. Buckley und sein geistloser Kollege waren vergessen. Charmichael empfand ein Gefühl, das ihm an seinem Arbeitsplatz normalerweise fremd war – Erregung.

Ein Computerdruckapparat begann wie ein Maschinengewehr Informationen auf das Papier zu rattern. Er riss das Blatt heraus, sobald die Kopie fertig war. Da hatte er es, schwarz auf weiß, den Beweis für etwas, das unmöglich war. Um es wissenschaftlich auszudrücken: sein Arsch war abgesichert.

Er griff nach dem Spezialtelefon.

Matthews und Ford beobachteten die Reihe winziger gelber Lichter, die auf dem Bildschirm zum Leben erwachten. Der Bildschirm des Monitors war transparent, so dass man hindurchsehen konnte, vorbei an den gelben Punkten und den leuchtend grünen und roten Linien, die sich mit der gelben kreuzten. Die beiden Männer studierten den Bildschirm so gespannt wie zwei Fünfzehnjährige in einer Videothek das letzte Spielviertel eines ferngelenkten Footballspiels. Aber da gab es einen wesentlichen Unterschied. Die Aktivierung des Bildschirms, den sie anstarrten, kostete Millionen, und die Bewegung der gelben Lichter lag außerhalb ihrer Kontrolle. Sie waren nur Zuschauer, keine Teilnehmer.

»Das ist verrückt«, sagte Matthews, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Die immer länger werdende Linie aus gelben Lichtern hypnotisierte ihn förmlich.

»Es ist genau da, wo es laut Arcebio sein müsste.«

»Verrückt.«

Zwei weitere gelbe Punkte flackerten auf, und die gelbe Linie wurde noch ein Stückchen länger. Wenn das so weiterging, würde sie bald die unregelmäßige rote Linie an der linken Bildschirmseite schneiden, und das könnte bedeutsam sein, denn diese rote Linie kennzeichnete die Küste des Staates Washington.

Andere Männer und Frauen, die vor kleineren, auf Konsolen montierten Bildschirmen saßen, schauten herüber. Am liebsten wären sie zu Matthews und Ford gelaufen, doch sie durften ihre Posten nicht verlassen. Eine dritte Person, die solche Vorschriften nicht berücksichtigen musste, gesellte sich zu den beiden und betrachtete den Monitor – ein kleiner alter Mann, der kaum noch Haare auf dem Kopf hatte. Die fehlende Haarpracht kompensierte er durch die Autorität, die er ausstrahlte.

»Was halten Sie davon, meine Herren?«, fragte er schließlich. »Ein sowjetisches Raumschiff?«

Ford überlegte eine Weile. »Möglich. Es ist über dem Nordpazifik aufgetaucht, mit hochgradigem atmosphärischen Einstieg und extrem steilem Sturzflugwinkel – und es ist ganz allein da oben. Vielleicht testen sie uns mit einem Blindgänger, um zu sehen, ob sie durchschlüpfen können.«

»ICBM?«

Matthews schüttelte den Kopf. »Das ist ja das Verrückte, Sir. Es bewegt sich viel zu langsam. Ich verstehe das nicht. Mehr noch – es scheint sein Tempo zu variieren.«

»Vielleicht ein Aufklärer-Satellit mit variablem Orbit?«

»Wenn das stimmt, müsste es mit Geräten vollgestopft sein, die uns völlig unbekannt sind. Ich habe noch nie einen Flugkörper gesehen, der sich so verhält. Merkwürdig...«

»Es interessiert mich nicht, ob Sie es merkwürdig finden. Ich will wissen, was es ist.«

»Das kann niemand sagen, Sir«, antwortete Ford.

»Aber es gehört definitiv nicht uns?«

Beide Männer schüttelten die Köpfe.

»Es sei denn, irgendeine Behörde führt einen verteufelt cleveren Test durch«, schränkte Ford ein.

»Das ist kein Test«, entgegnete sein Vorgesetzter, dann betrachtete er schweigend den Bildschirm. Ein weiteres gelbes Lämpchen war aufgeleuchtet, und die Linie durchschnitt jetzt den roten Küstenstreifen. Das genügte. Er wandte sich ab, ging zu einem Schreibtisch und nahm einen Telefonhörer ab. Er brauchte die Nummer nicht zu wählen, mit der er sich verbinden lassen wollte. Das Telefon hatte keine Tasten. Trotzdem beobachteten ihn alle Anwesenden gespannt. Niemand sagte ein Wort.

»Eine wunderschöne Nacht, George!« Der General war überschwänglich guter Laune, was er den Konzertbesuchern, die ihn begleiteten, nicht verheimlichte.

George Fox, der Chef des Nationalen Sicherheitsdienstes, erwiderte sein Lächeln, trank einen Schluck Martini und blickte auf den Potomac hinaus. In fünf Minuten würde die Pause zu Ende sein. Er musste sich beeilen, wenn er das Glas leeren wollte. Das war jammerschade, denn er genoss diesen erholsamen Abend. Zur Abwechslung fand er die Welt heute relativ friedlich. Die Mozartmusik hatte ihn beruhigt, und er freute sich auf den anregenden Janacek.

Er könnte den Drink einfach stehenlassen, doch das würde ihm regelrecht Schmerzen bereiten. Er hasste jegliche Form von Verschwendung. Dies war einer der Gründe, warum er einen so hohen Posten in der Regierung erobert hatte. »Ja, es ist schön hier draußen«, stimmte er zu. »Wie geht es den Kindern?«

Der General zuckte mit den Schultern. »Immer das gleiche. Ich versuche, Debby vom MTV wegzulocken. Sie ist jetzt sechzehn.«

Der Marineflaggoffizier, das dritte Mitglied des Triumvirats, bemitleidete seinen Kollegen. »Ich fürchte, dass es da noch Probleme geben wird. Sie wissen ja – für den Preis einer Fregatte mit ferngesteuerten Raketen könnten wir das Zeug in jeden sowjetischen Haushalt strahlen. Innerhalb eines Monates wäre der kalte Krieg beendet.«

»Keine schlechte Idee«, gab der General zu. »Glauben Sie, die würden Michael Jackson als neuen Zaren akzeptieren?« Beide Männer lachten leise. Fox nicht. Er lachte nur selten.

Endlich entdeckte der atemlose Lieutenant die drei Männer auf der Promenade und versuchte, sich möglichst schnell einen Weg durch die Menge zu bahnen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

»Herr Direktor?«

Fox wandte sich zu dem Neuankömmling und ließ sich kaum anmerken, wie irritiert er war. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass man ihm nicht gestatten würde, den zweiten Teil des Konzerts zu genießen. »Ja?«

Der Lieutenant reichte ihm einen braunen Umschlag. Fox brach das Siegel und las die Nachricht. Wie alle Kommuniqués dieser Art war sie knapp, prägnant und konnte unabsehbare Folgen haben. Er studierte sie ein zweites Mal, bevor er das Blatt in das Kuvert zurücksteckte. Die beiden anderen Offiziere standen daneben und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit geflissentlich auf andere Dinge.

Der General tat sein Bestes, um seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. »Etwas Wichtiges, George?«

Fox lächelte dünn. »Ich glaube nicht, aber Sie wissen ja, wie das ist. Irgendjemand hält die Sache für gravierend, und ich muss jetzt sein überreiztes Nervenkostüm wieder in Ordnung bringen. Das gehört nun mal zu meinem Job. Erzählen Sie mir später, wie der zweite Teil des Konzerts war, ja?«

Der Flaggoffizier nickte mitfühlend. »Natürlich, George.«

Die beiden Männer sahen ihrem Gefährten nach, der zur nächsten Treppe eilte.

»Was glauben Sie, was das zu bedeuten hat?«, fragte der General.

Sein Kollege zuckte mit den Schultern. »Das hat er doch gesagt. Wahrscheinlich viel Lärmen um nichts, wie üblich.«

»Ja.« Der General schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Ich möchte seinen Job nicht haben – nicht einmal für alle Diamanten von Südafrika.«

 

Der Korridor war makellos sauber und von zahlreichen Neonlampen hell erleuchtet. Die Türen waren nur durch Nummern gekennzeichnet. Fenster gab es keine. Fox und sein Assistent durchquerten den Gang mit schnellen Schritten und ignorierten die Leute, die ihnen hin und wieder begegneten.

»Ich glaube, das ist russischer Weltraummüll, Brayton. Wenn irgendein Satellit versehentlich gestartet wäre, hätten sie es uns sofort mitgeteilt, und wenn es Absicht war, würden wir es mittlerweile ebenfalls wissen. So schlecht sind unsere Informationsquellen nun auch wieder nicht. Also muss es Abfall sein.«

»Die Molink-Leute sagen: nein.«

Brayton war schnell von Begriff, präzise und nicht besonders fantasievoll. Fox fand das alles sehr nützlich.

»Und was sagt der Kreml dazu?«

»Na zdarowie, und wie denn das Wetter bei uns wäre. Sie wissen von nichts.« 

Fox seufzte. »Falls dieses Ding ihnen gehört, hätten sie eine Menge Gründe, es nicht als ihr Eigentum zu beanspruchen. Wenn die Molink-Leute weiterhin behaupten, sie hätten nichts damit zu tun, und wenn es sich auch künftig so unberechenbar aufführt wie bei der ersten Ortung, könnte es sich trotzdem um eine neue Aufklärungsmethode handeln. Oder es ist wieder mal ein verschlissener Militärsatellit mit intaktem Reaktor, wie das Ding, das vor ein paar Jahren über Kanada auseinandergefallen ist. Wenn eine dieser Möglichkeiten zutrifft, werden unsere sowjetischen Freunde ihre Unschuld beteuern, bis wir ihnen ein paar stichhaltige Beweise um die Ohren schlagen können.«

Sie erreichten das Ende des Korridors und gingen durch eine Tür. Dahinter war ein Saal voller Fernschreiber, riesiger Bildschirme, Monitorkonsolen und leicht hektischem Wartungspersonal. Brayton und Fox eilten geradewegs zur Mittelkonsole, um die sich mehrere NSA-Leute drängten. Einer der Männer bemerkte die Ankunft der beiden und informierte die anderen über die Anwesenheit des Chefs.

»Was wissen wir?«, fragte Fox kurz angebunden.

»Ein paar F-16s von McCord haben es über den Bergen aufgestöbert, Sir«, antwortete einer seiner Untergebenen. »Es wurde mehrfach angepeilt, hat aber nicht reagiert. Man hat versucht, das Ding über Standardfrequenzen zu erreichen. Keine Antwort. Es flog direkt über die Trident-Sub-Basis in Bremerton hinweg, und die hohen Tiere dort gingen fast an die Decke. Ein paar Jagdflieger unternahmen einen Annäherungsversuch. Leider konnten sie sich das Ding nicht einmal ansehen, weil es zu schnell flog. Sie behaupten aber, sie hätten es angeschossen.«

»So was behaupten sie immer. Wurde das von objektiver Seite bestätigt?«

»Offensichtlich ist der Flugkörper nicht beschädigt worden, also weiß niemand, ob die Piloten Glück hatten oder es einfach drauf ankommen ließen. Jedenfalls hat das Ding – aus welchem Grund auch immer – wieder mal den Kurs geändert.«

Fox zog die Brauen hoch. An seiner Seite murmelte Brayton: »Weltraummüll pflegt den Kurs nicht zu ändern, sobald er sich einmal in der unteren Atmosphäre befindet.« Sein Chef ignorierte ihn.

Der Mann wandte sich wieder zu der Konsole und studierte die ständig wechselnden Daten. »Jetzt ist das Ding reichlich unsanft gelandet.« Er hob den Kopf und wies auf die Karte der Vereinigten Staaten, die in leuchtenden Farben auf einem großen Bildschirm flimmerte und eine ganze Saalwand bedeckte. »Irgendwo über Nord-Wisconsin.«

»Verdammt!«, flüsterte Fox und starrte auf die elektronische Karte. »Wenn es in einem dieser riesigen Seen versunken ist, werden wir es niemals finden.« Unvermittelt sagte er zu Brayton: »Rufen Sie Mark Shermin an.«

 

Der TV-Schirm im Wohnzimmer war überdimensioniert, ebenso wie der Spieler, der mit dem Basketball dribbelte. Aus einem der Stereolautsprecher dröhnte das Gebrüll des Publikums und füllte den Raum. Der Kommentator hatte Mühe, die johlenden Fans zu übertönen. »...und nun führt New Jersey mit hunderteins Punkten vor den Washington Bullets, die hundert erzielt haben. Wenn Ruland diese beiden Freiwürfe ins Netz bringt, hat er fünf Punkte in ununterbrochener Reihenfolge für die Bullets geschafft.«

An der äußeren Erscheinung des Mannes, der gerade ins Wohnzimmer kam, war nichts Bemerkenswertes. Was ihn auszeichnete, war unsichtbar. Er besaß einen außerordentlich komplexen Verstand und die Fähigkeit, gewisse Einzelheiten scheinbar unzusammenhängender Fakten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und daraus einen oder zwei so simple, offensichtliche Schlüsse zu ziehen, dass sich alle Leute fragten, warum sie das nicht sofort erkannt hatten.

Jetzt fragte sich dieser ungewöhnliche Geist, ob Jeff Ruland, einer der überdurchschnittlichen, hochgewachsenen Werfer in der Basketball-Nationalliga, dem Druck, der auf ihm lastete, standhalten würde oder nicht. Immerhin konnten seine beiden Würfe über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Mark Shermin benutzte seinen rechten Unterarm, um den Papierkram von seinem Schreibtisch zu fegen. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, weil er beide Hände voll hatte. In einer ein matschiges Sandwich aus altem französischen Weißbrot, in der anderen eine Bierflasche – Hinano-Exportbier. Manchmal bekam er eine Kiste von einem Freund, der Amseln zum französischen Atomtestlabor auf dem Muroroa-Atoll im Südpazifik flog.

Er setzte sich, während die Papiere zu Boden flatterten. Einige waren mit kühnen, schablonenartigen Buchstaben beschriftet – Geheim und Vertraulich. Dass er so achtlos damit umging, war nicht weiter verwunderlich, wenn man wusste, dass nur wenige Menschen auf dieser Welt den Inhalt der Papiere deuten konnten. Und seine Putzfrau gehörte nicht zu ihnen. 

Er biss in das Sandwich, trank einen Schluck Bier und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Fleischsauce rann über sein Kinn. Er wischte sie mit dem Handrücken weg.

Rulands erster Freiwurf gelang – das war der Ausgleich, und die Menge tobte. Als der zweite Wurf danebenging und das Spiel deshalb verlängert werden musste, drang ein kollektives Aufheulen aus dem Lautsprecher. Shermin fügte seine eigene Ansicht hinzu, die er ernsthaft seinem Sandwich erläuterte.

Das Scheißfon klingelte. Für Shermin war es immer nur das Scheißfon, niemals das Scheißtelefon. Es klingelte immer noch, beharrlich, fordernd, wie eine elektronische Bettgenossin. Die Augen immer noch auf den Bildschirm fixiert, stöhnte er leise und nahm den Hörer ab. »Ich rufe in zwanzig Minuten zurück, jetzt will ich...«

Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war – es gelang ihm, ein Wort zu sagen, bevor Shermin auflegen konnte. Er schnitt eine Grimasse, griff nach der Fernbedienungsbox und stellte den Fernseher leiser. Es gab nur wenige Leute, die es schafften, ihn zu derlei zu veranlassen. Nicht, wenn die Bullets in die Verlängerung gingen.

»Ja, Sir? Was? Klar, kein Problem. Nein, ich habe mir nur gerade das Bullets-Spiel angesehen. Eine Verlängerung. Ja, mir tut's auch leid. Die Chequamegon Bay? Wo ist das denn, zum Teufel? Bei Baltimore? Wisconsin?« Aufseufzend legte er das Sandwich beiseite. »Ja, Sir. Wie Sie wünschen, Sir.«

Er legte auf, blieb eine ganze Weile nachdenklich sitzen, dann stellte er den Fernseher wieder lauter. Ganz egal, was da los war – es musste noch ein paar Minuten warten. So wichtig wie der Ausgang des Spiels konnte es gar nicht sein.

 

Das Häuschen war klein und modern eingerichtet, rustikal, ohne primitiv zu wirken, gemütlich, aber nicht vollgestopft mit irgendwelchen Sachen. Es passte zu der etwa fünfundzwanzigjährigen Frau, die mitten im Wohnzimmer auf dem Boden saß. Der Film, der über die kleine Leinwand flimmerte, fesselte sie ebenso wie ihre Weinflasche. Die Flasche war fast leer und Jenny Hayden mehr als voll. Aber sie sah sich weiterhin den Film an und trank weiter, weil sie nicht wusste, wie sie mit beidem aufhören sollte.

Das Bild auf der Leinwand war körnig. Trotzdem erkannte sie die Bucht, die vor ihrer Hütte lag. Die Kamera beobachtete einen Mann, kaum älter als Jenny. Er paddelte in einem Kanu auf die Linse zu und redete mit einem freundlichen Lächeln dummes Zeug.

Plötzlich stand er auf, kehrte der Kamera den Rücken zu, zog seine Hosen runter und bückte sich. Diesem komplizierten Manöver war sein Gleichgewichtssinn nicht gewachsen, im Gegensatz zu seinem Sinn für Humor. Er fiel prompt über Bord und fuchtelte heftig mit beiden Armen, als er im See versank.

Die Kamera suchte die leere Wasserfläche ab. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, tauchte sein Gesicht auf und spuckte eine Fontäne direkt in die Kamera, worauf ein schiefes, wenn auch sehr liebenswertes Grinsen folgte.

Jenny schaute reglos zu, bis sich die Leinwand weiß färbte. Das Ende der Filmrolle rannte durch den Projektor und klatschte mehrmals gegen die Spule. Als sie den Apparat ausschaltete, musste sie ein paar Tränen wegblinzeln. Das Licht erlosch, zusammen mit etwas anderem, das nicht so sichtbar gewesen war. Sie presste die Fingerknöchel beider Hände an die Augen und rieb in entgegengesetzten Richtungen. Dann kreuzte sie die Arme vor der Brust und holte tief Atem. Ihre Lippen zitterten.

Sie stolperte zum Schlafzimmer und versuchte, sich einzureden, dass sie sich in Wirklichkeit gar nicht betrunken hatte. So kindisch konnte sie einfach nicht gewesen sein. Ihre Depression war nicht auf den übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen, sondern auf den Verlust eines tiefempfundenen Glücks. Sie war nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, die Filme noch einmal anzusehen. Der Wein umnebelte ihre Gedanken ebenso wie ihre Emotionen, was sich ungünstig auf ihren Seelenfrieden auswirkte.

Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich – aus reiner Gewohnheit und völlig grundlos – und ging zum Bett. Auf dem Nachttisch wartete ein Fläschchen mit Schlaftabletten. Sie schüttete ein paar in die Hand, dann zögerte sie und starrte die Flasche an. Rasch verdrängte sie, was ihr durch den Kopf gegangen war, stellte die Flasche wieder auf den Nachttisch und schraubte den Verschluss mit entschiedener Sorgfalt zu.

Die Tabletten rutschten durch ihre Kehle, ohne dass sie einen Schluck dazu trank. Der Wein war eine zu große Versuchung. Außerdem war sie nicht mehr durstig. Sie taumelte ein wenig, als sie aus ihren Jeans schlüpfte, fiel aufs Bett und begann ihren Pullover auszuziehen. Dann fragte sie sich, warum sie sich eigentlich diese Mühe machte, und sank auf das Kissen zurück. Ihr Bewusstsein schwand beglückend schnell.

Weit draußen auf dem See stieß ein Haubentaucher einen verstörten Schrei aus. Im Schilf und in den Büschen raschelte es beängstigend, als plötzlich eine unnatürliche Brise aufkam. Eulen flatterten aufgeschreckt zu ihren Bäumen, um sich in Sicherheit zu bringen, nächtliche Nahrungssammler eilten zu ihren Höhlen. Etwas Blitzschnelles, Weißglühendes schoss über den Himmel und nahm Kurs auf den Wald.

Es näherte sich den Wipfeln und schwankte hin und her, durchpflügte die ersten Bäume, als wären sie aus Pappmaché, entzündete Funken in den Baumkronen, die es nur streifte, während es jene, die es mit voller Wucht traf, in Brand steckte.

In Windeseile breitete sich das Feuer aus, als der Forscher aus seiner zerstörten Raumkapsel stieg. Er begutachtete den brennenden Wald, den Erdwall am Rand des Kraters, den sein Flugkörper in den Boden gebohrt hatte. Ringsum waren nur Flammen, und um die brauchte er sich nicht zu kümmern.

Nach einer Weile stieg er zur Ebene hinauf. Über den humusreichen Waldboden trieben dichte Rauchschwaden. Das Feuer griff immer weiter um sich, verschlang Bäume und Büsche.

Ein anschwellendes Wimmern übertönte das heftige Knistern der Flammen und steigerte sich zu einem Dröhnen, als mehrere Jagdbomber über den Krater hinwegrasten. Sie verschwanden am westlichen Himmel. Der Forscher war sicher, dass sie zurückkehren würden. Er inspizierte seine Umgebung, überdachte, welche Möglichkeiten sich ihm jetzt boten, dann setzte er sich in Bewegung.

Er rannte durch die Flammen, unglaublich schnell. Der einzige Zeuge dieser unvorstellbaren Leistung war ein verwirrtes Reh, das in wilder Panik einen Fluchtweg suchte.

Die vier Flugzeuge kamen zurück und überflogen das lodernde Waldgebiet ein zweites Mal. Sie flogen so schnell, dass die Piloten keine Details ausmachen konnten. Außerdem hatte sich die Einzelheit, die ihnen am interessantesten erschienen wäre, inzwischen weit von der Feuersbrunst entfernt.

Kleinere Bäume schob der Forscher beiseite, unter schweren, tiefhängenden Ästen duckte er sich hindurch, folgte einem instinktiven Gefühl für Volumen und Position der Objekte, die ihm den Weg versperrten. Schließlich lichtete sich das Dunkel, und er gelangte zu einem langen, baumlosen Streifen, ein hartes, flaches Band, das links und rechts den Wald durchschnitt. An dem einen Ende der Straße erschienen Lichter und kamen auf ihn zu.

Neugierig stieg er auf und schwebte jetzt in der Luft; er nahm sich Zeit, um das sonderbare, erdgebundene Vehikel zu betrachten, das aus nördlicher Richtung heranrollte.

Der junge Förster versuchte, möglichst tief in den Wald hineinzuschauen, während er den Lastwagen steuerte. Mit einer Hand hielt er das Lenkrad fest, mit der anderen den Hörer des Autotelefons. Er bemühte sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber was in ihm vorging, beeinflusste ungewollt seinen Bericht, der nicht so professionell und leidenschaftslos ausfiel, wie er eigentlich sein sollte. Das durfte man ihm nicht übelnehmen, denn er hatte in seinem ganzen Leben noch nichts gesehen, was sich mit dem vergleichen ließ, was er jetzt zu beschreiben versuchte. Niemand hatte je etwas Vergleichbares gesehen, doch das wusste er nicht.

»Ich habe keine Ahnung, was es ist!«, schrie er in die Sprechmuschel. »Ich konnte nur einen großen Feuerball sehen, sonst nichts. Ein brennendes Flugzeug vielleicht. Ihr solltet Hubschrauber herschicken und vielleicht auch ein Löschflugzeug. Das Feuer breitet sich blitzschnell aus, der Rauch wird immer dichter. Zum Glück weht kein allzu starker Wind, aber ihr wisst ja, wie trocken es hier oben ist, und das Unterholz brennt wie Zunder. Gerade habe ich einen brennenden Zweig über die Straße fliegen sehen.«

Der Forscher blieb an seinem Aussichtspunkt und beobachtete nachdenklich das Geschehen, bis der Laster verschwunden war. Dann checkte er seine Position anhand des Waldbrands, der sich immer rascher ausdehnte, der noch unversehrten Gebiete und des nahen Sees. Er setzte seinen Weg fort; hätte in jener Nacht noch jemand im Tiefflug den See überquert, hätte er einen sonderbaren goldenen Glanz auf dem Wasser tanzen sehen. Oder vielleicht war es nur der Mond.

Der See war nicht groß, und der Forscher erreichte bald das gegenüberliegende Ufer. Dort stieß er auf ein einsames, kleines Gebäude, eine Art Unterschlupf mit spitzem Dach. Er schwebte darüber hinweg, studierte die Struktur und die Bäume ringsum. Winzige Pelzgebilde bewegten sich am Boden und im Gebüsch. Sie reagierten nicht auf seine Anwesenheit. Methodisch wies er jedem einzelnen einen Platz in seinem geistigen Katalog zu, schätzte die Intelligenz aller Lebewesen ab, die er sah, sowie die Einflüsse, die ihre Umwelt auf sie ausübte.

Nachdem das erledigt war, glitt er langsam auf die künstliche Behausung zu und umkreiste sie vorsichtig. Drinnen rührte sich nichts. An einer Außenfront hing ein Schild, mit ungelenken Buchstaben bemalt: Zu verkaufen. 

Der Forscher hielt an einer Seitenwand inne, wo er eine kleinere, separate Struktur entdeckte, nicht so kompakt gebaut wie die andere. Darin stand wieder eines der simplen, erdgebundenen Vehikel, ein Mustang Baujahr 1977, mit übergroßen Hinterrädern und Rennreifen, Chromröhren und einem glitzernden Metallicanstrich. Irgendjemand hatte sehr viel Liebe und Sorgfalt an dieses Auto verschwendet, doch das machte keinen besonderen Eindruck auf den Forscher. Er identifizierte es nur als Maschine, die, was ihren Typus und Zweck betraf, dem Lastwagen des Försters glich.

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn erstarren. Es klang scharf und metallisch, aber nicht unangenehm. Er flog darauf zu und entspannte sich, als er sah, dass lediglich die meteorologischen Bedingungen die Ursache dieser Laute waren und keine Absicht dahinterstand. Die Windglöckchen bimmelten wieder, hallten laut durch die Nacht. Eine simple Vorrichtung, aber nicht ohne Reiz.

Die Glöckchen störten Jenny Hayden. Leise stöhnte sie im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Ihr Arm streckte sich auf der Decke aus, als wollte sie nach jemandem tasten, der nicht da war. Dann gewannen der Alkohol und die Tabletten erneut die Oberhand, und sie versank wieder im Tiefschlaf.

Der Eingang zu dem Gebäude war verschlossen, aber nicht übermäßig sorgfältig abgedichtet. Nachdem der Forscher eine ausreichend große Öffnung entdeckt hatte, drang er ein, indem er durch den Spalt unter der Vordertür glitt und einer Route folgte, die oft von Käfern und Moskitos benutzt wurde, aber er wandte eine grundsätzlich andere Fortbewegungsmethode an.

Sobald er sich wieder zusammengeballt hatte, stieg er zur Decke empor und inspizierte das Innere des Bauwerks.

Wäre er mit der lokalen Zivilisation vertraut gewesen, hätte er sofort erkannt, dass hier jemand mitten im Umzug war. Kartons, halb gefüllt mit Büchern, Kleidern und Küchengerät, standen auf dem Boden, im ganzen Raum verteilt. Andere waren säuberlich in einer Ecke gestapelt, mit Klebeband verschlossen und mit schwarzen Schriftzeichen versehen, die Auskunft über den Inhalt gaben.

Aber noch war nicht alles eingepackt. Der Forscher glitt zum Boden hinab und begann die Dinge zu untersuchen, die noch übrig waren. Eine fast leere Weinflasche, ein Projektionsgerät, ein Mixer, ein kleiner Mikrowellenherd und mehr... Der Forscher schenkte jedem Objekt gebührende Aufmerksamkeit. Gelegentlich verschob er einen Gegenstand, um die Rückseite oder das Innere betrachten zu können. Dieses Suchen war keineswegs dem Zufall überlassen.

Er suchte etwas ganz Bestimmtes, suchte es sogar voller Eifer – und fand es nicht.

Nebenan lag Jenny Hayden in ihrem Bett und bewegte sich unruhig im Schlaf, doch das merkte er nicht.

Er schwebte zu einer Kiste, die auf der Frühstücksbar stand. Es war ein Spezialbehälter, was er allerdings vorerst nicht wissen konnte, und enthielt eine sehr bezeichnende Auswahl von Gegenständen – Angelzeug, ein Tennisracket, abgenutzte Bälle, alte Turnschuhe, mehrere ausgefranste T-Shirts und eine hübsche blaue .45er Automatic. Für den Forscher war das alles höchst interessant, ein Objekt erschien ihm ebenso bedeutsam wie das andere. Seiner Ansicht nach lag der wesentliche Unterschied zwischen dem Racket und der Handwaffe in der chemischen Zusammensetzung.

Auf der Frühstücksbar lagen mehrere Sachen, die noch eingepackt werden mussten. Aufmerksam inspizierte er eine Schreibmaschine, einen kleinen Farbfernseher, Kleidungsstücke und einen Bücherstapel. Ein Buch war aufgeschlagen – ein merkwürdiges Buch, das keine Wörter enthielt, nur Bilder, auf ansonsten leere Seiten geklebt.

Der Forscher hielt inne und begann, alle Seiten des sonderbaren Buchs zu studieren. Ein schwacher Wind schien sie in regelmäßigen Abständen umzublättern. Die meisten Bilder im ersten Teil des Buches stellten einen Jungen dar – zunächst als Baby, dann wurde gezeigt, wie er allmählich heranwuchs. Neben einem Bild klebte ein durchsichtiger Umschlag, in dem blondes Haar war.

Mit jeder Seite wurde der Junge älter, entwickelte sich zum Teenager und schließlich zum jungen Mann. Das letzte Porträt zeigte einen attraktiven Burschen Mitte zwanzig. Es war derselbe Mann, dessen Herumalbern Jenny an diesem Abend auf der Filmleinwand beobachtet hatte.

Das wusste der Forscher natürlich nicht, aber er verstand den natürlichen Prozess, der zwischen dem ersten und dem letzten Bild stattgefunden hatte. Als er das Fotoalbum betrachtete, geschah etwas sehr Seltsames mit jenem letzten Bild. Ein Duplikat löste sich von dem Foto, dehnte sich in drei Dimensionen aus und rotierte gehorsam, während es vom Forscher analysiert wurde. Dann kehrte es zu seinem Platz im Album zurück und verschmolz mit dem Original. 

Die Seiten bewegten sich wieder, eine unsichtbare Hand schien in dem Album zurückzublättern, bis zu der Seite, wo der durchsichtige Umschlag mit den Haaren befestigt war. Der Umschlag löste sich, öffnete sich. Die Locke fiel nicht zu Boden, sondern teilte sich, und ein Haar nach dem anderen kehrte in den Behälter zurück, bis nur noch ein einziges übrigblieb. Auf dieses Haar konzentrierte sich der Forscher, examinierte und bewertete es, schaute tief hinein in seine Substanz.

Jenny wusste nicht, was sie geweckt hatte. Sie blinzelte verschlafen und hob den Kopf vom Kissen. Wahrscheinlich versucht wieder mal ein Vogel in die Mansarde zu fliegen, dachte sie, oder es sind die Eichhörnchen... Ihr Kopf sank wieder auf das Kissen, als ein Geräusch aus dem Wohnzimmer herüberdrang – ein ziemlich lautes Geräusch, das unmöglich von einer verirrten Waldmaus stammen konnte. 

Jetzt hörte sie es wieder – einen knisternden Laut. Ihr Blick wanderte zu der Ritze unter der Tür. Grelle Funken zuckten durch das Wohnzimmer, als würde jemand eine Blitzlichtaufnahme nach der anderen machen.

War sie nicht allein in der Hütte?

Sie wollte weiterschlafen... wie müde sie war... Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich ärgerlich. Zu viel Wein und die verdammten Schlaftabletten... Sie war allein hier draußen an der Bucht – ganz allein. 

Kinder... Ja, das musste es sein. Ein paar Kinder wollten ein bisschen Geld für Videospiele klauen. Doch sie durfte kein Risiko eingehen.

Sie schwang die Beine über den Bettrand, setzte sich auf und versuchte die Nebelschleier in ihrem Gehirn zu vertreiben. Die Lichtblitze beleuchteten immer noch den Boden vor der Schlafzimmertür. Aber welcher Dieb würde wohl den Schauplatz seines Einbruchs fotografieren? Schwankend stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen um das Bett herum, zum Nachttisch auf der anderen Seite. Sie musste zweimal nach dem Knauf tasten, bevor sie ihn zu fassen bekam, dann zog sie die Schublade auf.

Sie war leer. Natürlich. Sie hatte ja schon gepackt.

Jenny schloss das Schubfach wieder und wandte sich ängstlich zur Tür. Aus dem Wohnzimmer drangen noch immer Geräusche zu ihr. Es klang nicht so, als wäre ein Einbrecher am Werk, der ihre Sachen durchwühlte und alles, was er nicht brauchen konnte, auf den Boden warf. Was da drüben geschah, hörte sich viel zu ruhig an, viel zu regelmäßig. Vielleicht hatte sich ein Autostopper verletzt und in ihrer Hütte Zuflucht gesucht. Womöglich lag er am Boden, versuchte zur Spüle zu kriechen. Ja, ganz sicher...

Aber die merkwürdigen Lichter?

Nun ertönten neue Laute, ein dünnes, klägliches Wimmern, als würde ein Kind weinen. Das gab den Ausschlag. Jenny lief zur Tür und öffnete sie, versuchte immer noch, die Nachwirkungen des Alkohols und der Tabletten abzuschütteln und einen klaren Kopf zu bekommen.

Eine Gestalt lag am Boden – klein und offensichtlich unverletzt. Sie hatte also doch recht gehabt. Es war ein Kind – aber viel zu klein, um allein in den Wald zu laufen. Ein Kind, das man auf ihrer Schwelle ausgesetzt hatte, wie im Kino. Sie wollte zu ihm gehen...

...und begann am ganzen Körper zu zittern.

Es wuchs. Das Kind wuchs zusehends, wand und krümmte sich, stöhnte vor Anstrengung. Vor Jennys Augen verlängerten sich Arme und Beine, der Körper dehnte sich aus. Die Gesichtszüge traten immer schärfer hervor, und in jeder Phase des Wachstums sandte das seltsame Geschöpf einen grellen Lichtblitz aus.

Das ergab einfach keinen Sinn. Es war unmöglich. Sie stand in der Tür, versuchte vergeblich einen Sinn in dem Vorgang zu erkennen, den sie beobachtete. Den rechten Handrücken an die Lippen gepresst, schien sie plötzlich unfähig zu sein, den Mund zu schließen – ebenso, wie sie nicht imstande war, den Blick von diesem Wesen am Boden ihres Wohnzimmers loszureißen.

Jetzt war es größer, viel größer. Im trüben Mondlicht konnte sie keine Einzelheiten erkennen, und jeder Lichtblitz blendete sie. Das Kind war längst verschwunden. Nun wand sich ein Mann auf dem harten Bretterboden.

Die Energie, die diese Verwandlung bewirkte, begann nachzulassen, die Lichtblitze funkelten schwächer und immer seltener auf. Schließlich erloschen sie ganz. Der Mann lag keuchend auf dem Rücken. Mit sichtlicher Anstrengung erlangte er die Kontrolle über seine Atemzüge, drehte sich ungeschickt zur Seite und richtete sich auf Händen und Knien auf. Eine Hand öffnete sich, sieben kleine, schimmernde hellgraue Kugeln fielen heraus, wie Silbermurmeln. Jenny glaubte Farben in der Tiefe des Silbers zu sehen, aber im schwachen Licht konnte sie nicht sicher sein, und in ihrer wachsenden Verwirrung hatte sie die Fähigkeit verloren, zwischen wirklichen und unwirklichen Dingen zu unterscheiden.

Der Mann stand auf, schaute zur Tür und stolperte darauf zu. Er bewegte sich plump und unbeholfen, als wüsste er nicht, was er mit seinen Armen und Beinen anfangen sollte. Keine Lichtblitze mehr. Etwa eine Minute lang schien sich ein kaum wahrnehmbarer, kalter Glanz um seinen Kopf zu legen, dann erlosch auch dieses Licht.