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Emma Bieling

RÜGENJAGD

Luna Maiwalds erster Fall


Meinem Fels in der Brandung. Danke, Junior!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

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Emma Bieling

 

 

RÜGENJAGD

 

Ein Rügen-Krimi

 

 

 

 

 

 

 

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Über das Buch:

 

Ein mysteriöser Mord durchkreuzt die Urlaubspläne der Kriminalhauptkommissarin Luna Maiwald. Zurück auf Rügen steht sie nicht nur vor einer Mordermittlung ohne jeglichen Ansatz, sondern auch vor einem privaten Desaster. Ihr Exfreund und Vater der gemeinsamen Tochter Marcia lässt sich spontan auf der Insel nieder und dringt zunehmend in Lunas Leben ein. Kein guter Zeitpunkt also, um sich in den vertretungsweise zum Leiter der Rechtsmedizin berufenen Ingmar Wolff zu verlieben, der mit Luna Hand in Hand an der Aufklärung des Falles arbeitet. Als ein weiteres Mordopfer gefunden wird, ist die Katastrophe komplett und die Jagd nach einem Serientäter eröffnet, an den scheinbar nur die Ermittlerin selbst glaubt.

 

Regional, spannend und strandkorbtauglich, mit einem Hauch Chick Lit a la Emma Bieling.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Meine Recherchen wurden hilfreich unterstützt von:

Kutterfisch-Manufaktur Sassnitz,

dem LKA Berlin,

sowie der Kriminaldienstelle in Bergen.

Danke!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright ©Emma Bieling

Neuausgabe 7/ 2020

Deutsche Erstausgabe 2015 ©Luzifer Verlag

unter dem Titel »Sonne, Strand und Tod«

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung und Vervielfältigung, auch nur auszugsweise, sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

 

 

Bildmaterialien: lekcej@bigstockphotos.com, martinm303@depositphotos.com

Umschlaggestaltung: Coverdesign by A&K Buchcover

Lektorat/Korrektorat: Sabine Kirste

Satz: Emma Bieling

Druck und Digital: BookRix GmbH & Co. KG

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Der Lebenslauf des Menschen besteht darin, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tod in die Arme tanzt.« 

 

Arthur Schopenhauer

 

 

 

 

Kapitel 1

Sonntag

 

Rastplatz A1, Richtung Hamburg-Reinfeld

20. Juli, 10.17 Uhr

 

»Nun mach schon!«, mahnte Luna ihre Tochter. »Wenn wir noch länger Pause machen, stehen wir im allergrößten Stau.«

»Ich mach ja schon!«, maulte Marcia, würgte den letzten Bissen ihres Hotdogs hinunter und stieg zurück in den Wagen. Sie kannte die Rastlosigkeit ihrer Mutter in der Urlaubszeit. Als würde sie ganz schnell die freien Tage hinter sich bringen wollen, damit sich die Rügener Kriminellen nicht zu lange in Sicherheit wiegen.

Wie jedes Jahr zuvor steuerte Luna die Eifel an, um Marcia in der Ferienzeit bei ihrem Vater abzuliefern und um selbst ein paar Tage vor dem überschäumenden Störtebeker-Tourismus zu fliehen, der die Insel Rügen vereinnahmt hatte.

Luna blickte in den Rückspiegel. Ihre Tochter war seit dem letzten Urlaub um einiges gewachsen, ja fast schon zur jungen Frau geworden. Wie doch die Zeit vergeht, dachte Luna und knipste das Radio an. Ihre Gedanken schweiften, wie unzählige Male zuvor, in die Vergangenheit, an den Tag zurück, an dem Fred ihr einen Ring an den Finger steckte, auf die Knie fiel und in alttraditioneller Form um ihre Hand anhielt, mitten im Hafen von Ralswiek, einem der romantischsten Orte auf Rügen, wie Luna fand. Das Feuer in seinen Augen, das Funkeln der Bootslichter, die sich auf den Wellen brachen, das hintergründige Open Air, das sich mit der Geräuschkulisse unzähliger Störtebeker-Fans vermischte. Ein unglaublicher Augenblick, in dem ihr Herz für wenige Sekunden schneller schlug. Luna seufzte. Oftmals hatte sie bereut, nicht »Ja« gesagt zu haben, damals vor fünfzehn Jahren, als Fred gottverloren zu ihren Füßen kniete, ihren Babybauch küsste und sie erwartungsvoll anstarrte. Stattdessen hatte sie nach Luft gerungen, nach Gründen gesucht, weshalb sie den Antrag nicht annehmen konnte. Letztendlich hatte sie ihren Karrierewunsch davorgeschoben, aber in Wirklichkeit war alles weitaus komplizierter.

Immer noch in Gedanken versunken drückte sich Luna durch die Radiosender ihres Wagens. Bei einer Ballade von Silbermond stoppte sie.

»Untersteh dich, diesen Herz-Schmerz-Mist zu hören!«, protestierte Marcia und riss Luna aus dem schönsten Augenblick ihres Lebens. »Du hast versprochen, meine CDs einzulegen, und zwar bis zum bitteren Ende der Fahrt.«

Ein Anruf auf dem Diensthandy unterbrach die Einwände ihrer Tochter und den Song des Familienzwists.

Marcia verdrehte die Augen und ließ sich zurück ins Sitzpolster fallen.

»Maiwald.«

»Wir haben hier einen Fall, den Sie sich ansehen sollten«, tönte es aus der Lautsprecheranlage des Autos. »Keine verwertbaren Spuren, keine Zeugen, nichts als Muscheln und Sand.«

»Was ist passiert, Schröder?«

»Ein junges Mädchen, nicht älter als siebzehn-achtzehn, mit aufgeschnittener Kehle, obwohl man hier nicht wirklich von einem Schnitt reden kann.«

Luna atmete tief ein. »Sie wissen, dass ich gerade auf dem Weg in die Eifel bin?«

Stille.

»Schröder?«

»Ja, aber dieser Fall ist genau Ihre Kragenweite. Mysteriös und ohne jeglichen Ansatz für eine Ermittlung.«

»Weiß man schon, wer das Opfer ist?«

»Noch nicht.«

»Keine Papiere oder Hinweise?«

»Sie trug einen Bikini, ohne Taschen.«

»Sehr witzig, Schröder! Schon die Vermisstenanzeigen abgecheckt?«

»Gerade dabei.«

Luna steuerte ihr Auto auf einen nahegelegenen Rastplatz.

»Das kannst du nicht bringen, hörst du, Mom? Du hast versprochen …«

»Ich bin Kriminalhauptkommissarin, verdammt noch mal! Und dieses Mädchen hättest auch du sein können!«, unterbrach Luna die Vorwürfe ihrer Tochter.

»Bin ich aber nicht!« Marcia öffnete die Autotür und stieg wütend aus. »Immer ist der Job wichtiger! Jedes Mal!« Dann verschwand sie zwischen den parkenden Autos.

Luna blickte kopfschüttelnd hinterher, während sie in ihrer Handtasche wühlte. »Schröder? Sind Sie noch dran?«

»Ja! Und ganz Ohr, Chefin.«

»Ich werde mir jetzt eine Zigarette gönnen, meine Tochter einsammeln und umkehren.«

»Okay, ich gebe den anderen Bescheid, dass Sie kommen.«

Luna spitzte ihre Lippen, steckte eine Zigarette dazwischen und nahm einen kräftigen Zug. »Und Schröder?«

»Ja?«

»Sie haben mir gerade den Urlaub versaut.«

»Tut mir leid, Chefin. Beim nächsten Mal geben wir vorab eine Pressemitteilung an alle Irren heraus, die mörderischen Absichten auf nach Ihrem Urlaub zu verlegen.«

Luna lachte. »Schröder, Sie hätten echt Komiker werden sollen.«

 

Polchow, 20. Juli, 15.00 Uhr

 

Luna Maiwald huschte in ihrem sommerlichen Urlaubsoutfit über den sandigen Weg, entlang der Dünen, die zur Fundstelle des Opfers führten. Die Pumps hatte sie gegen knallrote Gummistiefel getauscht, die so gar nicht zum minzigen Ton ihres Kleides und dem übergroßen Hut passten. Sie dachte an Marcia, die sie wie unzählige Male zuvor sich selbst überlassen und schnell daheim abgesetzt hatte. Ihr Job war zweifelsohne nicht immer mit den Pflichten einer Mutter zu vereinen, das wusste Luna vom Tag ihrer Schwangerschaft an. Dennoch hatte sie sich für Marcia entschieden. Vielleicht wäre ja ein Posten in der Stadtverwaltung weitaus konformer gewesen, einfacher zu realisieren mit einem Kind. Aber stattdessen traf Luna schon frühzeitig ihre Berufswahl und schockierte damit selbst ihren Vater, einen Reusen-Fischer, der sich mittlerweile im Ruhestand befand. Was? Du willst zur Kripo? – hatte er damals nur schroff wiederholt, um kurz darauf mit einer eindeutigen Geste abzuwinken. Kurt Maiwald war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen. Herzlich, aber dennoch wortkarg. Erst recht, wenn es um die Berufung seiner einzigen Tochter ging. Aber Luna hatte sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, zu groß war ihr Ehrgeiz. Und da für sie keinesfalls ein Jurastudium infrage kam, manifestierte sich der Gedanke, Kriminalistin zu werden.

 

»Hier rüber! Sie liegt hier drüben, Boss«, rief einer ihrer Kollegen und manövrierte sie an die Fundstelle des Opfers.

Luna huschte, so elegant es in Gummistiefeln möglich war, über den Strandabschnitt, auf ihren winkenden Kollegen zu. Der Wind hatte zugenommen und erschwerte das Vorwärtskommen. Sie senkte ihren Kopf, um den Hut vorm Wegwehen zu bewahren. Schritt für Schritt kam sie dem ungewöhnlichen Leichenfundort näher. Und mit jedem Meter verschwanden ihre Gedanken an Fred, den abgebrochenen Urlaub und jede noch so bedeutsame Erinnerung.

»Schröder? Ich will einen Namen!«, kommandierte Luna. In diesem Moment spürte sie, warum sie sich gegen ein Familienleben entschieden hatte. Dieser Drang nach Aufklärung, dieses Streben nach Vollkommenheit in ihrem Job, das waren ihre Verbündeten, mit denen sie die Täter aufspürte, und die ihr den nötigen Respekt bescherten.

»Negativ! Keine Vermisste dieses Alters.«

»Das ist mir egal! Dieses Mädchen muss einen Namen haben, also finden Sie ihn heraus!«

Luna wandte sich um. »Bärchen, ich brauche die Auswertung der Spuren! Und ich will sie sofort!«

»Geht klar«, erwiderte Peter Bäriger. Er und Luna kannten sich seit ihrer Schulzeit. Schon früher hatten sie oft auf dem Pausenhof zusammengestanden und über ihren beruflichen Werdegang debattiert. Und schon damals wusste der gut beleibte Sohn eines Medizinerpärchens, dass sein Weg in die Kriminaltechnik führt. Luna schmunzelte. Wie Recht er doch damals hatte.

Peter Bäriger beschriftete die letzte Spurentüte, machte ein abschließendes Foto und verstaute alles in seinem Koffer. »Ich mache mich sofort auf den Weg ins Labor und melde mich, sobald es erste Ergebnisse gibt.«

Luna nickte ihm zufrieden zu. Sie wusste, dass er einer der besten forensischen Spurenanalytiker war und dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Dann trat sie zum sandigen Grab, in dem der leblose Körper der unbekannten Toten lag. Lunas Kollegen hatten das Mädchen vorsichtig vom Sand befreit und jedes Sandhäufchen eingetütet. Ebenso die Muschelschalen, die das Grab zierten.

»Ist das hier der Tatort, Möllemann?«

Der junge Kriminalkommissar, der erst seit einem Jahr zu Lunas Team gehörte, zuckte gelassen mit den Schultern. »Schwer zu sagen.«

»Dann stehen Sie hier nicht länger herum! Ich brauche einen Tatort!«

Luna blickte auf den aufgerissenen Hals des Mädchens. Was um alles in der Welt hat man mit dir gemacht, Kleines? Dabei geriet ein Passant in ihren Blickwinkel. »Sie da! Sie mit der grünkarierten Mütze! Sind Sie ein Zeuge?«

Der ältere Herr blickte sich erschrocken um. »Ich? Nein!«

»Dann gehen Sie bitte weiter, bevor Sie mir verdächtig werden.«

»Aber, aber …«, stammelte der Senior und verschwand mit zügigen Schritten hinter den Dünen. Luna sah kopfschüttelnd hinterher. Immer diese Sensationsgaffer! Dann blickte sie erneut ins Grab. Das Gesicht des Mädchens war blass. Ihre geöffneten Augen starrten ins Leere, als sei der Tod eine Erlösung für sie gewesen. Schröder hatte Recht, dachte Luna. Von einem Schnitt war diese Verletzung weit entfernt, als hätte ihr der Mörder mit einem stumpfen Gegenstand den Hals aufgerissen. Luna trat einige Schritte zurück. Was um alles in der Welt würde eine derartige Wunde verursachen und doch scharf genug sein, um die Halsschlagader zu durchtrennen? Während sie vor sich hin grübelte, eilte ein Fremder auf die abgesperrte Stelle des Strandes zu.

»Tut mir leid, dass ich so spät komme. Aber man hat mich gewissermaßen aus meinem Urlaub gerissen«, rief er. Er war ebenso elegant gekleidet wie Luna selbst. Seine Hand, die er ihr zum Gruß entgegenstreckte, fühlte sich verschwitzt an.

»Wolff, mit Doppel-F, Rechtsmedizin.«

»Maiwald, Kriminalhauptkommissarin. Kommen Sie, das Opfer liegt hier drüben.«

Luna wies auf die Vertiefung im Sand, einige Meter von sich entfernt. Ohne zu zögern schritt der Rechtsmediziner mit ihr zum Leichnam, öffnete seinen Koffer und begann mit der Arbeit. Luna hockte sich neben ihn. Dabei hielt sie ihren Hut fest, der mit jeder Windböe abzuheben drohte.

»Und? Was denken Sie?«, fragte sie den Mediziner, der außergewöhnlich gut duftete. Sein Parfum erinnerte sie an Fred, der niemals ohne seinen Wohlgeruch das Haus verlassen hatte.

»Ich denke, dass der Tod vor mehr als zwölf Stunden eintrat. Allerdings ist das nur eine erste ungefähre Angabe.«

»Ursache?«

»Blutverlust, aufgrund einer massiven Verletzung am Hals. Genaueres kann ich erst nach der Autopsie sagen.«

Luna musterte den Neuling. »Was ist mit Professor Schönborn? Weshalb ist er nicht hier?«

»Der Professor hatte einen Herzinfarkt.«

»Wann?«

Wolff wandte sich vom Leichnam ab.

»Gestern Abend, während eines Referates, soviel ich weiß.«

Luna schluckte sichtbar ihr Entsetzen hinunter. Sie konnte nicht glauben, dass der Professor, ein Mann so stark wie ein Baum, einfach umgefallen war.

»Er hatte einen Herzinfarkt? Wieso erfahre ich das erst jetzt? Wo liegt der Professor?«

Wolff zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, aber das entzieht sich meiner Kenntnis. Man berief mich lediglich für die Zeit seiner Abwesenheit zu seinem Vertreter.«

Dann wandte sich Wolff wieder seiner Arbeit zu. »Die Pupillen sind geweitet und lichtstarr. Die Totenflecken seitlich der linken Körperhälfte lassen darauf schließen, dass sich das Opfer nicht sofort nach Eintritt des Todes in der jetzigen Position befunden hat.«

»Sie wurde bewegt?«

»Bewegt oder transportiert. Wenn Sie bitte mal den unteren Teil der Füße drehen würden?«, wies der Rechtsmediziner Luna an, während er den Oberkörper der Toten zu sich neigte. »Ah, das dachte ich mir. Sehen Sie die unterschiedlichen Liegemuster am Rücken? Einige davon sind post mortem entstanden. Diese allerdings vor Eintritt des Todes.« Er zeigte auf zwei Stellen im Schulterbereich.

Luna nickte erschüttert. »Ja, ein wirklich grauenhaftes Verbrechen, zumal sie noch so jung war. Was denken Sie, was für ein Tatwerkzeug benutzt wurde?«

Wolff zuckte mit seinen Schultern. »Schwer zu sagen. Wie schon erwähnt, genaueres erst nach der Autopsie.«

»Könnte es sich um ein sexuell motiviertes Verbrechen handeln?«

»Hm, ausschließen kann ich das derzeit noch nicht, aber ich denke nein.«

»Danke, Doktor Wolff.«

Luna blickte hinaus auf den Jasmunder Bodden. Was, um alles in der Welt, tat das Mädchen an dieser versteckt gelegenen Stelle des Strandes? Wollte sie hier baden gehen und wurde überrascht? Oder legte sie der Täter nur hier ab? Wenn ja, woher kam sie? Weshalb vermisste bisher niemand dieses Mädchen?

»Ach übrigens, hier ist meine Visitenkarte«, sagte der Rechtsmediziner und riss Luna aus ihren Gedankengängen.

»Sie sind auch Entomologe?«

Wolff nickte, während er seinen Koffer schloss. »Ja, nur wird uns das in diesem Fall nicht weiterhelfen.« Er streifte sich die Handschuhe ab und reichte ihr die Hand. »Ich denke, so in zwei Tagen habe ich den Bericht fertig.«

Luna spürte die Kraft, die in seinem Händedruck steckte. Sie lächelte ihm zufrieden zu. »Danke nochmals, Doktor Wolff.« Instinktiv wusste sie, dass er ein guter Ersatz für den Professor war, dennoch hoffte sie, dass der alte Doc bald wieder gesund und dienstfähig sein würde, auch wenn er sich gewiss in Zurückhaltung üben müsste. Für einen Workaholic wie Professor Dr. Schönborn bestimmt nicht so einfach, dachte Luna, während sie dem Neuen hinterherblickte.

 

Kapitel 2

Montag

 

Kriminaldienststelle Bergen, 21. Juli, 4.00 Uhr

 

Luna schob kopfschüttelnd die neu angelegte Akte beiseite. »Ich weiß nicht, dieses Mädchen kann doch kein Phantom sein.«

»Tut mir leid, aber ich habe die Datenbanken durch. Keine Vermisste, die auf unsere unbekannte Tote passt.«

»Vielleicht ist sie gar nicht aus Deutschland, war nur im Urlaub hier gewesen. Ich meine, immerhin kommen die Menschen von überall hierher während der Störtebeker-Festspiele.«

Schröder nickte zustimmend. »Gut möglich.«

»Irgendwas haben wir übersehen, da bin ich mir sicher.« Luna klopfte mit einem Stift gegen ihren leeren Kaffeebecher. »Besorgen Sie uns noch einen davon? Und schicken Sie Kommissar Möllemann zum Schlafen nach Hause.«

»Und was ist mit Ihnen? Sie sollten sich auch hinlegen.«

Luna seufzte berührt auf.

»Ihre Sorge ehrt mich, Schröder. Aber denken Sie nicht, dass dieses junge Mädchen wollen würde, dass wir ihren Täter ganz schnell finden und bestrafen?« Dabei trommelte sie unruhig mit ihren Fingern auf dem Tisch herum. »Ich werde nicht eher ruhen, bis er lebenslänglich hinter Gittern sitzt.«

Schröder nickte zustimmend, dann wandte er sich um und öffnete die milchige Glastür, die Luna von ihrem Kripoteam trennte.

»Ach, Schröder, bringen Sie mir noch eine Packung Aspirin mit, wenn Sie einmal unterwegs sind.«

Schröder blickte fragend zurück. »Vom Kaffeeautomaten aus der ersten Etage?«

»Natürlich nicht! Vielleicht schauen Sie mal bei Kommissar Sandiego in die obere Schublade seines Schreibtisches …«

»Aber, Chefin!«, protestierte er. »Ich kann doch nicht …«

»Doch, können Sie! Das ist eine dienstliche Anweisung!« Luna fuhr sich mit der Hand über den schmerzenden Nacken. »Sie wissen doch, dass mir namenlose Opfer immer auf die Genickmuskel schlagen. Soll ich mich etwa die ganze Nacht herumquälen?«

»Auf Ihre Verantwortung«, stammelte Schröder beim Verlassen des Büros. Luna blickte ihm hinterher. Sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Schon viele Jahre ermittelte er an ihrer Seite. Ja, man konnte ihn wahrlich als ihre rechte Hand bezeichnen, als guten Berufsfreund und loyalen Partner. Dennoch waren sie sich privat immer aus dem Weg gegangen – Schröder und sie. Ein Schutzmechanismus, der das kriminalistische Duo Maiwald-Schröder vor emotionalen Einflüssen bewahrte.

Luna griff nach ihrer Tasche und ließ sich zurück in den ledernen Sessel fallen. Sie kramte ihr Handy heraus, auf dem neunzehn neue Nachrichten und unzählige Anrufe in Abwesenheit eingegangen waren. Fred ist unterwegs nach Rügen? Luna scrollte auf die Empfangszeit der Mitteilung und sprang panisch auf. Oh mein Gott! Er muss schon fast da sein! Sie griff ihre Autoschlüssel und lief aus dem Büro, den Flur entlang, die Treppen hinunter. Auf der unteren Ebene des notbeleuchteten Ganges kam ihr Schröder entgegen, jonglierend mit zwei heißen Kaffeebechern und den gewünschten Schmerztabletten aus Sandiegos Schreibtisch.

»Vergessen Sie den Kaffee und das Diebesgut, Schröder! Und machen Sie für heute Schluss.«

»Ist was passiert, Chefin?«

»Nichts weiter, nur etwas Ärger im Anmarsch.«

 

Einige Minuten später

 

Die Alleestraße, die von Bergen ins heimatliche Randgebiet von Putbus führte, war gottverlassen und ungewöhnlich still an diesem Morgen. Luna legte den fünften Gang ein, um noch vor Fred anzukommen. Für einen kurzen Moment glaubte sie, einen Menschen im Lichtschein zu erkennen. Sie bremste ab, konnte aber keine Person ausmachen. Dann sah sie ein Fahrzeug, das am Rande der Straße stand. Der Motor lief, aber es war kein Fahrer zu sehen. Luna überlegte auszusteigen. Doch plötzlich riss jemand ihre Wagentür auf.

»Was tun Sie denn hier, Boss?«

Luna griff sich ans Herz. »Verdammt nochmal, Kommissar Sandiego! Sie hätten mich fast umgebracht!«

»Ich dachte, Sie wären im Urlaub«, sagte er in ruhiger, gelassener Art.

»Das dachte ich auch! Aber was tun Sie um diese Uhrzeit hier? Und wo ist der Fahrer von diesem Auto?«

Sandiego lachte. »Er steht gewissermaßen vor Ihnen.«

»Sie? Ich dachte, Sie fahren einen dieser monströsen Geländewagen?«

Sandiego winkte ab. »Dieses Auto ist ein Montagsauto, sage ich Ihnen. Ständig in der Werkstatt. Das ist der Wagen meiner Frau, bis ich meinen Großen zurückhabe. Ich komme von der Jahreshauptversammlung der Fischer und war nur eben schnell pinkeln.«

Luna blickte ihn erstaunt an.

»Sie sind Fischer?«

»Nein, ich gehe nur gelegentlich ganz gern mal fischen; aber mein Vater war es. Er hat mir vor vielen Jahren seinen alten kleinen Fischkutter vererbt. Erst wollte ich ihn verkaufen, doch dann brachte ich es nicht übers Herz und bin mit der alten Brunhilde raus aufs Meer geschippert. Einfach so. Mittlerweile tu ich das öfters.«

Luna lauschte ungeduldig Sandiegos Ausführungen.

»Verstehe.«

»Übrigens, ich habe von der Toten am Strand gehört«, fuhr er fort. »Üble Sache. Gibt es denn schon was Verwertbares?«

»Tut mir leid, Kommissar Sandiego, aber ich muss jetzt wirklich nach Hause.«

Der ergraute Kriminalist, der kurz vor seiner Pensionierung stand, verabschiedete sich verständnisvoll und schloss Lunas Wagentür.

»Gute Heimfahrt, und grüßen Sie Ihren Vater.«

 

Als Luna in die kleine Nebenstraße einbog, die zu ihrem Haus führte, stand der Ärger schon in Form eines enttäuschten Kindesvaters vor ihrer Tür. Keine Möglichkeit auszuweichen oder unbemerkt an ihm vorbei zu huschen. Luna überlegte, was sie ihm sagen sollte, weshalb sie ihn nicht zurückgerufen hatte. Als Fred ihren Wagen erblickte, lief er auf sie zu.

»Da will man einmal im Leben mit seiner Tochter eine Abenteuer-Radtour machen, aber nein, dein Job verhindert es mal wieder!«

»Woher willst du das denn wissen? Und was tust du überhaupt um diese Zeit hier?«

»Woher ich das weiß?« Fred lachte höhnisch auf. »Marcia informierte mich. Aber selbst, wenn sie das nicht getan hätte, wäre der Grund nicht schwer zu erraten gewesen!«

»Okay, lass uns das drinnen ausdiskutieren.«

Luna fröstelte ein wenig, was sie unweigerlich auf ihren Schlafmangel schob. Mit zittrigen Händen öffnete sie die Tür und knipste das Licht an. Fred blieb wie angewurzelt stehen.

»Was ist? Willst du draußen übernachten?«, zischte Luna ihn an. Manchmal verstand sie selbst nicht, warum sie ihm diese aufgesetzte Härte entgegenbrachte.

»Nein, das hatte ich nicht vor. Aber ich will dir keinesfalls auf die Nerven fallen.«

»Tust du nicht! Also komm rein und mach endlich die Tür zu.«

Fred schloss die Tür, zog sein Sakko aus und hing es an den Kleiderständer im Flur.

»So geht das nicht weiter, hörst du? Wir müssen eine handfeste Lösung im Sinne unserer Tochter finden.«, begann er sein Kommen zu erklären.

»Ach ja, müssen wir das? Und was schlägst du vor?«, rief sie ihm aus der Küche zu. »Als wenn wir nicht schon dutzende Male darüber nachgedacht hätten.«

Fred trat zu Luna und räusperte sich.

»Ich dachte dabei an einen Ortswechsel meinerseits. Einen dauerhaften Wechsel auf die Insel, für immer quasi.«

»Umzug? Du willst umziehen?«

Luna knallte den Deckel vom Wassertank der Kaffeemaschine zu.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Sie mochte Fred, keine Frage. Aber sie scheute auch seine Nähe, zog sich schon weit vor Marcias Geburt von ihm zurück, bis die einst so innige Liebe verflogen war.

»Ich habe mich vor einiger Zeit in einer Gemeinschaftspraxis hier auf Rügen beworben. Und ich bin angenommen«, begann Fred sein Vorhaben zu untermauern. »Die suchten dringend einen Kardiologen mit Erfahrung.«

Luna konnte nicht glauben, was sie hörte.

»Du hast was? Ohne vielleicht mal vorher mit mir darüber zu reden?« Sie zog die Kanne ungeduldig aus der vor sich hin blubbernden Kaffeemaschine. »Du auch? Oder bist du immer noch der Milch-mit-Honig-Trinker?«

»Dad? Was machst du denn hier?«, tönte es verschlafen aus dem Flur, in dem Marcia im Pyjama stand. Sie rieb sich die Augen. »Und ich dachte, ich hätte geträumt, dass es an der Tür geläutet hat. Aber das warst du, nicht?«

»Wow! Du bist mindestens zehn Zentimeter gewachsen«, erwiderte Fred und öffnete freudig seine Arme. »Komm her, Kleines, lass dich drücken.«

Luna schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge brannten, hinunter. Stattdessen lächelte sie beim Anblick der Vater-Tochter-Begrüßungszeremonie. Und während sie überlegte, wie sie Fred von seinem Vorhaben abbringen konnte, klingelte das Telefon und riss sie aus ihrem ganz privaten Chaos. 

 

Kapitel 3

Dienstag

 

Polchow, 22. Juli, 8.08 Uhr

 

Luna näherte sich der Strandstelle, an der das namenlose Opfer gefunden wurde. Ihre Müdigkeit vermischte sich mit Aufregung, als sie Peter Bäriger erblickte. Er hockte im Sand und schien vor sich hin zu grübeln.

»Was hast du herausgefunden?«

Bäriger zeigte aufs Wasser hinaus. »Siehst du die Möwen, wie sie über die blutigen Abfälle vom Fischkutter herfallen?«

Luna nickte. »Ja, und? Was hat das mit unserer Toten zu tun?«

Bäriger erhob sich. »Der Mörder wollte nicht, dass sie von ihnen gefunden und angefressen wird.«

»Deshalb das Sandgrab«, führte Luna seine Ausführung weiter. »Und die Muscheln sind eine Art Abschiedsritual?«

Peter Bäriger nickte zustimmend und fuhr sich mit seiner Hand über den Dreitagebart. »Ich denke, dass der Täter vielleicht in irgendeiner Beziehung zum Opfer stand.«

»Ihr Freund?«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch ein Bekannter, der mehr von ihr wollte, und mit dem sie eine Vorliebe teilte. Das Sammeln ausgefallener Muscheln beispielsweise. Immerhin lagen dutzende auf und um das Grab herum. Wir haben eine Spur sichern können, die von einer männlichen Person stammt. Das hat die PCR Auswertung ergeben.«

»Ihr habt eine heiße Spur, die zum Täter führt?«

»Nicht direkt. Nur etwas Blut auf einer der Muschelschalen. Der Vorabtest ergab, dass es sich um menschliches Blut handelt, das dem Opfer jedoch nicht zugeordnet werden konnte. Grundsätzlich könnte es aber von jedem Mann sein. Ihn zu finden, ist wie die Suche nach der Stecknadel im Heu.«

Luna schloss die Knöpfe ihrer Strickjacke. Ihr fröstelte und sie war müde. »Das bedeutet, sie hat sich gewehrt, ihn verletzt und …«

»Nicht wirklich«, fuhr Bäriger ihr ins Wort. »Keinerlei Hautabrieb oder sonstige Spuren, die auf einen Abwehrkampf hindeuten, einfach nichts!«

»Du willst mir sagen, das Mädchen hat sich nicht gewehrt, während ihr der Hals aufgeschlitzt wurde?«

»Jedenfalls deutet nichts darauf hin, so Doktor Wolffs Voruntersuchung.«

»Und die Proben unter ihren Fingernägeln?«

»Auch negativ! Nichts, außer Sand. Wir haben nur diesen Blutstropfen, der aus einer Höhe von fünfzig Zentimetern auf die geriffelte Schalenoberfläche getropft sein muss.«

»Der Täter hinterlässt also keinerlei Spuren, tötet sein Opfer offensichtlich ohne Gegenwehr, begräbt sie dann in aller Ruhe zeremoniös, ohne gesehen zu werden, und begeht dann den Fehler, sein Blut zu hinterlassen?« Luna lachte auf. »Nee, Bärchen! Dafür ist der Täter zu organisiert vorgegangen, als dass er uns sein Blut auf dem goldenen Tablett serviert.« Luna blickte auf den Jasmunder Bodden hinaus. Sie fixierte das kleine Fangboot, auf dessen Deck drei Männer in Schutzwesten das Netz grob aussortierten.

»Ob dieser Fischkutter jeden Morgen dieselbe Route nimmt?«

Peter Bäriger schaute ebenfalls hinaus auf das morgendliche Treiben, das gut vom Strand aus zu verfolgen war. Er zuckte mit seinen kräftigen Schultern. »Finden wir es heraus!«

 

Luna hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten. Zur Sicherheit hatte sie ihren Wagen auf dem nahegelegenen Parkplatz eines Fischrestaurants stehen lassen und war zu Peter Bäriger ins Auto gestiegen, um zum Glower Hafen zu fahren. Sie lehnte sich entspannt zurück und seufzte auf. Bäriger musterte sie über den Rand seiner Brille. »Alles okay mit dir«, fragte er besorgt.

»Klar, alles okay.«

»Und wann hast du das letzte Mal geschlafen?«

Luna zuckte gähnend mit den Schultern. »Keine Ahnung, nach dem Kofferpacken, glaube ich.«

Peter Bäriger schüttelte verständnislos den Kopf. »Du hättest nicht umkehren sollen, einfach mal nein sagen müssen, deiner Tochter zuliebe. Sie braucht dich, und du brauchst mal Ruhe, Abstand von all dem hier.«

»Da vorne links, da müssen wir reinfahren«, erwiderte Luna, ohne weiter auf seine Bedenken einzugehen. Wenn es um Verdrängung ging, war sie eine der Besten.

»Halt mal da vorne am Hafenbecken«, wies sie an, stieg aus und lief auf eine Handvoll Männer zu, die gerade ihren Kutter entluden.

Luna stieg auf eine leere Kiste, zückte ihren Ausweis und hielt ihn in die Höhe.

»Kripo, Maiwald! Alle mal hergehört! Wer kann mir etwas über die Route der WERRA II sagen?«

Ein Raunen ging durch die Menge. Einige schüttelten die Köpfe, andere blickten sich hilfesuchend um.

»Was denn nun?«, forderte Luna. »Ich kann auch gerne meine Kollegen hinzuziehen, die jeden einzelnen von euch befragen. Sehr langwierige Prozedur, die euch einige Stunden kostet.«

»Das ist doch der Kutter vom Wolters«, rief einer zögerlich.

»Die fangen derzeit in Küstennähe, nahe des Jasmunder Bodden«, rief ein weiterer.

»Wo legt die WERRA II an?«, fragte Luna in die Runde.

»Dort drüben, an Pier 32«, sagte ein bärtiger Mann, der zu Luna nach vorne getreten war. »Gibt es denn Probleme?«

»Nur eine allgemeine Befragung zu einem Fall«, erklärte Luna.

Der Bärtige grinste mies. »Wenn Sie keinen Durchsuchungsbefehl für das Hafengelände vorweisen können, bitte ich Sie, die Leute nicht länger auszufragen und das Gelände zu verlassen, Frau Kommissarin.«

»Maiwald, Kriminalhauptkommissarin, Herr …?«

»Bergdorfer, Harry Bergdorfer«, erwiderte er feixend und fügte hinzu: »Ich bin der Hafenmeister hier, um weiteren Fragen vorzugreifen.« Dann klatschte er in seine rauen, schmutzigen Hände. »So, die Party ist zu Ende! Ich denke, die wehrte Kollegin von der Kripo findet alleine den Weg hinaus.«

 

»Hast du das mitbekommen?« Luna war zurück ins Auto gestiegen. Sie war wütend über den fehlgeschlagenen Versuch, an Informationen zu gelangen. »Dieser Idiot von einem Hafenmeister! Ausgerechnet jetzt, wo sie redselig wurden.«

Peter Bäriger schmunzelte. »Er hat sich nur an die Regeln gehalten, nach denen du nicht gespielt hast.«

»Vielen Dank! Sonst noch Kommentare zu meinen Ermittlungsmethoden?«

Er startete wortlos den Motor und fuhr langsam vom Gelände des Hafens. Kurz vorm Ende stoppte er, wendete das Auto und fuhr zurück.

»Was hast du vor?«, wollte Luna wissen.

»Diese Kiste auf der du gestanden hast, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie gehört zu einem Raubdelikt von vorletztem Monat, der in einer Messerstecherei geendet hat.«

Ein Lächeln flog über Lunas Gesicht. »Eine der noch vermissten Kisten, denkst du?«

Er nickte.

»Bärchen, du bist jeden Euro wert.«

Ein Anruf von der Dienststelle unterbrach jedoch die aufkeimende Freude.

»Nicht jetzt, Schröder! Was ist denn?«

»Morgen erst mal, Chefin. Und liebe Grüße von den Jungs aus der Zentrale.«

»Schröder! Ich bin müde, verdammt müde! Also sagen Sie, was Sie zu sagen haben, bevor ich einschlafe.«

»Sorry, Chefin. Apropos Schlaf, haben Sie denn nicht …«

»Schröder!«

»Okay, hören Sie zu: Ein Verleiher aus Polchow hat eines seiner Fahrräder als gestohlen gemeldet, als ich gerade mit den Jungs einen Kaffee getrunken habe.«

»Und deshalb rufen Sie mich an? Sollen sich doch die Kollegen der Polizei darum kümmern und den Diebstahl aufnehmen.«

Schröder hüstelte ins Telefon, so wie er es immer tat, wenn an einer Information mehr dran war.

»Okay, Schröder, spannen Sie mich nicht auf die Folter, das ist ein Befehl!«

»Ich habe den Namen der Frau, die das Fahrrad gemietet und nicht zurückgebracht hat, mal in die Google-Suche eingegeben und heraus kam unter anderem ein Foto unserer Toten.«

»Ist das wahr? Wer ist sie, Schröder?«

»Inga Bergström, 17 Jahre, Schwedin, stammt aus Ystad.«

»Eine Schwedin also! Schröder, greifen Sie sich Kommissar Möllemann, schwingen Sie ihren Hintern ins Auto und finden Sie das Fahrrad. Haben wir das Fahrrad, dann haben wir vermutlich auch den Tatort des Übergriffes. Und, Schröder, sagen Sie Kommissar Sandiego, er soll die Eltern des Mädchens informieren. Sie müssen kommen, um ihre Tochter zu identifizieren.«

 

Der Hafenmeister musterte das Ermittler-Duo skeptisch von seinem Stapler aus. Als Luna ausstieg, fuhr er auf sie zu und versperrte den Weg.

»Haben Sie vielleicht Ihre Ohrringe verloren, oder was suchen Sie jetzt noch?«

Luna lachte höhnisch. »Sie sind witzig, das gefällt mir.« Dann zeigte sie auf die Kiste am Pier. »Sehen Sie diese Kiste dort drüben? Die, auf der ich vor exakt …« Sie schob den Ärmel ihrer Jacke über die Uhr am Handgelenk. » …dreizehn Minuten gestanden habe.«

»Ja, und?«

»Um es Ihnen zu verdeutlichen: Diese Kiste erlaubt es mir, das gesamte Gelände zu durchsuchen, weil sie Bestandteil eines Verbrechens ist.«

»Ähm, ich verstehe nicht«, stotterte der bärtige Hafenmeister.

»Ein anfänglicher Verdacht, der mich leider zwingt, kriminaltechnische Ermittlungen aufzunehmen.«

»Was? Die könnte doch jeder hier abgestellt haben«, schrie er erzürnt. »Das ist doch nur Schikane!«

»Ach ja, finden Sie? Dann halten Sie mich doch auf. Ich würde Sie zu gerne in Handschellen abführen lassen.«

Der Bärtige starrte auf Peter Bäriger, der sich mittlerweile neben Luna mit seinem Spurenkoffer positioniert hatte.

»Also gut, was wollen Sie?«, fragte er und sprang aus dem Stapler.

Luna grinste. »Ich will alles über die WERRA II wissen und alle Verträge und Unterlagen einsehen.«

»Da bin ich nicht der richtige Ansprechpartner, Frau Kriminalhauptkommissarin. Alles selbstständige Unternehmer hier, die lediglich eine Stelle am Pier mieten.«

»Oh, wie schade.« Luna wandte sich Peter Bäriger zu. »Würdest du bitte das Gebiet um die Kiste weiträumig absperren, und die Kollegen zum Großeinsatz rufen?«

»Schon gut!«, rief Harry Bergdorfer, schmiss seine ledernen Handschuhe auf den Boden und spuckte seinen Kautabak aus. »Sie kriegen die verdammten Informationen!«

 

Fischerdorf Polchow, einige Stunden später

 

Lunas Team hatte sich im kleinen Fischerdorf Polchow, nahe des Glower Hafens versammelt, auf der Suche nach dem vermissten Fahrrad. Der Fahrradverleiher, welcher der Schwedin das Rad verliehen hatte, war im Fischerdörfchen ansässig. Jetzt galt es, ihn zu befragen und die aufgenommenen Daten der Schwedin einzusehen. Auch Kommissar Sandiego war gekommen, mit weiteren Nachrichten im Falle Inga Bergström. Luna war mit ihm in ein anliegendes Restaurant gegangen, um ungestört bei einer Tasse Kaffee zuzuhören.

»Ihre Mutter ist regelrecht zusammengebrochen, als der Übersetzer auf ihre Tochter zu sprechen kam«, begann er das emotionale Telefongespräch zu schildern.

»Und der Vater?«, fragte Luna berührt.

Sandiego schüttelte den Kopf. »Seit vier Jahren tot.«

»Wusste sie, was ihre Tochter auf Rügen wollte?«

»Leider nein. Sie erzählte nur, dass Inga Bergström seit ihrem Studium aus dem elterlichen Haus ausziehen wollte. Es gab wohl häufiger Streit deswegen, und vor fünf Tagen ist ihre Tochter nach einem eskalierten Streit abgehauen, mit ein paar gepackten Sachen. Die Mutter dachte, sie wäre bei ihrer engsten Freundin und hat deshalb keine Vermisstenanzeige aufgegeben.«

Luna fuhr sich durchs Haar. »Was studierte sie?«

»Ihrer Mutter zufolge Sprachwissenschaften.«

»Meine Güte, die arme Frau muss Qualen gelitten haben, als sie erfuhr, was mit ihrer Tochter passiert ist.«

Sandiego nickte.

»Ich habe schon dutzend Male die Nachricht vom Tod übermittelt. Aber einer Mutter erklären zu müssen, dass ihr Kind nicht mehr heimkommt, ist das Allerschlimmste an unserem verfluchten Job. Auch wenn ich ihrer Sprache nicht mächtig bin, so habe ich doch den Schmerz darin gefühlt.«

Luna ergriff seine Hände, die zitternd auf dem Tisch ruhten.

»Ja, er ist hart, unser Job! Aber wir, Sie und ich, und jeder gottverdammte Kripo-Beamte da draußen sorgen für Gerechtigkeit, indem wir diese scheiß Irren in den Knast sperren.«

Sandiegos Augen füllten sich mit Tränen. »Ja, das tun wir!«

»Okay! Dann lassen Sie uns denjenigen finden, der dafür verantwortlich ist.«

Er nickte, zog seine Hände aus Lunas, und leerte die übergroße Tasse Cappuccino, dessen Sahnehäubchen sich mittlerweile zu einem weißen Schaumteppich verwandelt hatte.

 

Das Ambiente des urigen Restaurants verführte Luna einen Blick in die Speisekarte zu werfen. Das Angebot war klein, aber extravagant. Ihr fiel die frische Krabbensuppe ins Auge, die zuvor am Nebentisch serviert wurde.

»Wir sollten mit dem Personal sprechen«, murmelte sie leise über den Tisch. »Vielleicht hat das Mädchen hier gegessen. Vielleicht sogar mit dem Täter. Ich meine, wenn sie sich ein Fahrrad nebenan auslieh, dann kannte sie vielleicht auch das Lokal.«

Sandiego winkte die Kellnerin heran. Er trug ein Foto von Inga Bergström mit sich, dass er bei einem sozialen Netzwerk gefunden und ausgedruckt hatte.

»Sagen Sie, kennen Sie dieses Mädchen hier?«

Die Kellnerin schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Aber vielleicht unser Chef, der alle Tage durchweg im Restaurant ist.« Sie drehte sich suchend um. »Herr Witt, wenn Sie mal bitte kommen könnten?«

Luna musterte den kräftig gebauten Inhaber, der mit einem freundlichen Lächeln zum Tisch kam.

»Arne Witt«, stellte er sich mit einem Händedruck Luna und ihrem Kollegen vor. »Was kann ich denn für Sie tun?«

Sandiego schob das Foto über den Tisch. »Kennen Sie das Mädchen?«

Arne Witt wurde nachdenklich. »Warten Sie mal, wenn ich mich recht erinnere, dann war sie vor einigen Tagen hier. Aber sie war nicht allein.«

»In Begleitung eines Mannes?«, fragte Luna.

Arne Witt verzerrte seine Mimik zu einem Grübeln. »Hm, es war kein Mann, sondern ein Mädel. Blond, hübsch, schlank, und sie hatte so ein Dings in ihrer Oberlippe stecken. Sie wissen schon, so ein neumodisches Zeugs.«

»Ein Oberlippen-Piercing?«, fragte Luna.

»Ja, ich denke schon. Es war eine silberne Kugel, soweit ich mich erinnern kann.«

Luna schob Arne Witt eine Visitenkarte zu. »Wenn Ihnen noch was einfällt oder Sie das andere Mädchen sehen, dann rufen Sie mich sofort an.«

Der Restaurant-Inhaber nickte und ging zurück hinter den Tresen.

Kurz darauf kam Kommissar Möllemann aufgeregt ins Restaurant gelaufen. »Wir haben da was!«

Luna atmete tief ein. »Wir kommen, Möllemann!«

Sie kramte Geld aus ihrer Jackentasche, legte es auf den Tisch und lief zügig hinaus. Sandiego folgte ihr.

»Sagen Sie mir, dass Sie das Fahrrad gefunden haben«, forderte Luna von ihrem jungen Kollegen.

»Positiv! Ein Damenrad mit der Aufschrift des Verleihers.«

»Noch andere Spuren oder Hinweise?«

»Jede Menge, würde ich sagen. Und wir haben Blut gefunden, dort drüben in einer Vertiefung des angrenzenden Wäldchens.«

Luna folgte Möllemann mit einem flauen Gefühl in der Magengegend den Radweg entlang, über eine kleine Holzbrücke.

»Hier geht’s nach Glowe, zum Ostseestrand«, sagte Schröder, mit einem Inselplan in der Hand.

Luna blickte sich um. »Dieser Wegabschnitt wäre für den Täter perfekt gewesen. Nicht einsehbar von der Wirtschaft und den übrigen Häusern.«

»Sie glauben, dass er sie hier getötet hat?«, fragte Sandiego, der sich ebenfalls umblickte.

»Ich denke, er hat sie hier überfallen«, erwiderte Luna. Dann wandte sie sich wieder Schröder und Möllemann zu. »Sperren Sie den Fundort des Rades weiträumig ab. Ich will in einem Umkreis von zweihundert Metern nicht mal mehr eine Möwe fliegen sehen, bis die Kriminaltechnik hier ist.«

 

Am späten Nachmittag kehrte langsam wieder Ruhe in das kleine Fischerdorf ein. Luna saß auf der Kante ihres Kofferraums und sah den Spurensuchern zu, wie sie ihre Koffer und Gerätschaften zurück in die Autos trugen. Peter Bäriger verabschiedete seine Kollegen und schlenderte auf Luna zu.

»In einigen Stunden wissen wir, ob das Blut von unserem Opfer stammt.«

Luna nickte.

»Diese glitzernde Substanz, die wir einem Schuhabdruck neben dem Fahrrad entnehmen konnten, wird vielleicht auch einen Hinweis liefern.«

Luna registrierte in Gedanken versunken Bärigers Ausführungen.

»Du, Bärchen, darf ich dich was fragen?«

Er lächelte und setzte sich neben sie. »Klar, schieß los.«

»Denkst du, dass ich es Fred hätte sagen müssen, damals, bevor er die Insel verließ?«

»Was? Das du vergewaltigt wurdest und Marcia vielleicht nicht von ihm ist?«

»Ja«, seufzte Luna. »Manchmal frage ich mich, ob diese Wahrheit mein Leben verändert hätte.«

Bäriger legte seinen Arm um Luna. »Natürlich hätte sie das! Du würdest jetzt am Herd stehen, anstatt zu ermitteln, und Grießbrei für eine Horde kleiner Freds und Frederiken kochen.«

Luna musste Schmunzeln. »Stimmt, ich erinnere mich. Fred plante ein Haus voller Kinder, die alle seine Eigenschaften besitzen sollten. Dabei hatte er damals bei all seiner Planung völlig vergessen, mich zu fragen.«

»Es ist gut, so wie es ist. Also grübele nicht über alte Entscheidungen nach. Du hast dich damals aus gutem Grund gegen die Hochzeit entschieden.«

»Aber …«

»Nix aber! Du hast einen Weg gefunden, damit umzugehen. Nur das zählt doch. Und wenn du soweit bist …« Er schlug sich vor die Brust. »… dann bin ich da, dein Ansprechpartner Nummer Eins, wenn es um Gewissheit und einen heimlichen Vaterschaftstest geht.«

Luna lächelte ihn an. »Danke, Bärchen.«

 

Bevor Luna selbst in den wohlverdienten Feierabend fuhr, wollte sie noch mit dem Fahrradverleiher sprechen. Kommissar Schröder war vorausgegangen und hatte bereits die ersten Informationen notiert. Luna grüßte und kam gleich zur Sache. Dabei interessierte sie sich nur für ein einziges Detail: Ob das Opfer in Begleitung eines Mannes war. Aber auch er verneinte und erinnerte sich nur an eine weibliche Begleitung, die vor dem Geschäft mit einem scheinbar eigenen Fahrrad wartete. Gemeinsam waren die beiden Mädchen dann davongefahren, so der Inhaber, Jens Nass, der nicht älter als das Opfer selbst wirkte. Ein Blick in seine Personalien ließ Luna jedoch wieder an den Jungbrunnen der Insel glauben, der das Älterwerden zwar nicht verhinderte konnte, aber offensichtlich einen salzigen Hauch hinauszuzögern vermochte. Luna bedankte sich für seine Hilfe und reichte ihm die Visitenkarte.

»Wenn Ihnen noch was einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

 

Randgebiet Putbus, Haus Luna Maiwald

22. Juli, 18.23 Uhr

 

Es roch nach Essen im Haus, als Luna den Flur betrat. Sie warf die Sweatjacke über die Garderobe, stellte die Tasche ab und schlüpfte aus ihrem unbequemen Schuhwerk. Ihre Füße waren nach dem anstrengenden Einsatz gerötet und angeschwollen. So gut es auch duftete, und so sehr ihr Magen auch rebellierte, Luna wollte nur noch eines: ins Bett und schlafen.

»Fred hat Pfannkuchen gemacht«, empfing Marcia sie. »Mit einer Blaubeerfüllung, die noch leckerer als Großmutters ist. Probier mal.«

»Lass mich einfach schlafen gehen, bevor ich umkippe.«

Marcia nickte. »Okay, dann verpasst du eben die leckersten Blaubeer-Pfannkuchen der Welt. Und du verpasst Dad in Schürze.«

»Ich werde es überleben«, murmelte Luna auf dem Weg zum Bett. Selbst ein George Clooney in Reizwäsche hätte sie nicht vom Weg ins Schlafzimmer abbringen können. Und obgleich sie überlegte, was Fred tatsächlich mit seiner plötzlichen Häuslichkeit und seinem Umzug verfolgte, schlief sie sofort ein.