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Über dieses Buch:

Ein spektakulärer Mordfall erschüttert München! Der Erzbischof wird tot aufgefunden – erschlagen mit einer bronzenen Heiligenstatue. Schon bald muss Kommissar Jürgen Sonne feststellen, dass die Liste der Verdächtigen lang ist: Das Konklave in Rom steht kurz bevor und der Erzbischof wurde bereits als nächster Papst gehandelt. Waren seine Ansichten zu liberal? Für den erbarmungslosen Machtkampf im Vatikan scheint er nun den höchsten Preis gezahlt zu haben … Oder gibt es eine mysteriöse Verbindung zum bayerischen Kanzlerkandidaten? Als der Sensationsreporter Frank Litzka dem Kommissar pikante Informationen zuspielt, stellt sich Sonne bald die Frage, wer in den höchsten Rängen von Politik und Kirche noch keine Schuld auf sich geladen hat …

»Ein großes Talent. Der Mann kann schreiben.« Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf

Über den Autor:

Harry Luck wurde 1972 in Remscheid geboren, ist ausgebildeter Redakteur und studierte in München Politikwissenschaften. Er berichtete viele Jahre für verschiedene Medien über Politik, Kultur und Wirtschaft in München und Bayern. Heute lebt er mit seiner Familie in Bamberg, wo er an weiteren Kriminalromanen arbeitet und als Pressesprecher für das Erzbistum tätig ist.

Die Website des Autors: www.harryluck.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/luck.harry und www.instagram.com/luck_harry/

Harry Luck veröffentlichte bei dotbooks in der »Tod in München«-Reihe folgende Kriminalromane:
»Rachelust. Der erste Fall für Sonne und Litzka«
»Schwarzgeld. Der zweite Fall für Sonne und Litzka«
»Angstspiel. Der dritte Fall für Sonne und Litzka«
»Machtbeben. Der vierte Fall für Sonne und Litzka«
»Rufmord. Der fünfte Fall für Sonne und Litzka«

Auch bei dotbooks veröffentlichte Harry Luck:

»Kaltes Lachen – Ein Fall für Schmidtbauer und van Royen« »Kaltes Spiel – Ein Fall für Schmidtbauer und van Royen«

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe September 2020

Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel »Absolution« im KBV Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2007 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Madrugada Verde / ALEXSANDER ZUBKOV / BABAROGA / Groundback Atelier

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-962-6

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Harry Luck

Tod in München – Machtbeben

Sonne und Litzka ermitteln

dotbooks.

»Das fünfte Gebot verwirft den direkten und willentlichen Mord als schwere Sünde. Der Mörder und seine freiwilligen Helfer begehen eine himmelschreiende Sünde.«

Katechismus der Katholischen Kirche

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»Ihr heiligen Nothelfer, ihr treuen Nachfolger Christi, der zum Heil aller Menschen Todesangst, Schmerz, Leid und Tod auf sich genommen hat. Wir bitten euch um Fürsprache für die Nöte, die uns überfallen.«

Gebet zu den heiligen vierzehn Nothelfern

Prolog

Ost-Berlin, 1970

»Misereatur tui omnipotens deus, et dimissis peccatis tuis, perducat te ad vitam aeternam. Amen ...« So oft hatte er schon im Beichtstuhl gesessen und die Lossprechungsformel des Pfarrers gehört. In der wie immer leicht miefigen Luft schienen noch Reste des Weihrauchduftes vom vergangenen Hochamt zu hängen. Er fühlte sich zu Hause in diesem Geruch, der zur Kirche Heilige Familie in Prenzlauer Berg gehörte, und er war einer der wenigen Jungen in seinem Alter, die sich anstatt der atheistischen Jugendweihe für die Erstkommunion und die heilige Firmung entschieden hatten. Seitdem war das Sakrament der Beichte an jedem ersten Samstag des Monats für ihn zu einem Ritual geworden. Manchmal hatte er nicht gewusst, was er außer den üblichen Alltagsverfehlungen beichten sollte, und sich daher auch schon mal eine mehr oder weniger lässliche Sünde ausgedacht. Doch diesmal hatte er sich nichts zurechtlegen müssen. Er war sogar schon eine Woche früher gekommen, als es eigentlich fällig gewesen wäre. Und nun kniete er in dem hölzernen Kasten vor dem Gitter, das ihn von dem Priester trennte. Er lauschte den lateinischen Worten des Geistlichen, dem er soeben einen Mord gebeichtet hatte. Den Mord am eigenen Vater.

»Indulgentiam, absolutionem, et remissionem peccatorum tuorum tribuat tibi omnipotens et misericors dominus. Amen.«

Obwohl das Zweite Vatikanische Konzil, das die Landessprache in der Liturgie zuließ, schon fünf Jahre zuvor beendet worden war, pflegte Pfarrer Bauer immer noch das Lateinische, besonders dann, wenn es feierlich wirken sollte. Latein war die Sprache der Weltkirche, zu der auch die wenigen katholischen Kirchgänger hier im Osten Berlins neun Jahre nach dem Mauerbau gehörten.

Die Beichte ist heilig. Das Beichtgeheimnis ist unantastbar. So hatte er es im Religionsunterricht oder in der Erstkommunionvorbereitung immer wieder gehört. Der Pfarrer hatte dann immer die Geschichte des heiligen Johannes Nepomuk erzählt, der das Beichtgeheimnis mit seinem Leben verteidigte. Einmal hatte ein anderes Kind dem Pfarrer die Frage gestellt, was er denn täte, wenn ihm jemand einen Mord beichten würde. Ob er dann die Polizei rufe. »Es spielt überhaupt keine Rolle, welche Sünde gebeichtet wird«, hatte er geantwortet. Kein Sterbenswort darüber würde einem Priester über die Lippen kommen, egal zu wem.

»Dominus noster Jesus Christus te absolvat«, ertönte es wieder hinter dem Holzgitter, wo eine kleine Glühbirne neben dem Ewigen Licht im Tabernakel die einzige Lichtquelle im gesamten Innenraum der Kirche darstellte. Die Worte schienen dem Pfarrer nicht so leicht zu fallen wie sonst. »Et ego auctoritate ipsius te absolvo ab omni vinculo excommunicationis et interdicti, in quantum possum, et tu indiges.«

Das Bekenntnis seiner Sünde war eine Erleichterung für ihn. Denn er hatte mit niemandem über die Tat sprechen können. Und er war überzeugt davon, dass Gott ihm verzeihen würde. Denn es war Notwehr gewesen. Immer wieder hatte sein Vater ihn geschlagen und gedemütigt. Der todbringende Stoß auf der Kellertreppe war nur ein schneller Reflex gewesen. Der Vater, der vorher mehrere Flaschen Bier getrunken hatte, war gestürzt und mit dem Kopf auf eine Steinstufe geschlagen. Alle waren von einem tragischen Unglück ausgegangen.

»Deinde ego te absolvo a peccatuis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen«, sprach der Priester.

»Amen«, wiederholte der Sünder, während er andächtig ein Kreuzzeichen schlug.

»Der Vater hat dir deine Sünden verziehen. Gehe hin in Frieden.«

»Dank sei Gott, dem Herrn«, antwortete er so, wie er es gelernt hatte. Dann stand er auf und verließ den Beichtstuhl.

***

Pfarrer Johannes Bauer hielt die Augen geschlossen und vernahm die Schritte auf dem Steinboden der Kirche. Erst als er hörte, wie die schwere Kirchentür hinter dem Jungen ins Schloss fiel, öffnete er wieder seine Augen.

»Der Vater hat die Sünden verziehen«, murmelte er leise. »Der Vater!« Niemals hätte er geglaubt, dass dieser Junge, einer der engagiertesten Besucher der Glaubensstunden und Meditationsabende im Offenen Pfarrhaus, ihm einen Mord beichten würde. Jesus selbst hatte seinen Jüngern die Vollmacht gegeben: Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben. Würde Gott wirklich einem Mörder vergeben? War dieser Jugendliche überhaupt ein Mörder? Hatte er im Beichtstuhl die Wahrheit gesagt? Oder war es vielleicht eine Mutprobe? Eine Wette? Zwanzig Mark für den, der sich traut, dem Pfarrer einen Mord zu beichten? Nein, dafür war der Junge zu gewissenhaft, zu ehrlich. Er kannte ihn schon seit mehreren Jahren und hielt viel von ihm. Sie hatten ein besonders vertrauliches Verhältnis zueinander.

Pfarrer Bauer war überzeugt, dass die Reue des Beichtlings aufrichtig war. Und er hatte ihm ins Gewissen geredet, seine Tat auch bei der Polizei zu gestehen. Nur dann könne auch die Absolution gültig sein. Durch das Holzgitter hatte er erkennen können, wie der Junge langsam genickt hatte. Es gab daher keine Veranlassung, auch bei dieser schwersten aller Todsünden die Vergebung zu verweigern.

Bauer verließ den Beichtstuhl. Es waren keine weiteren Gläubigen in der Kirche, die das Sakrament empfangen wollten. Die Beichte war nicht sehr populär. Er kniete nieder in der ersten Kirchenbank. Sein Blick blieb an dem vergoldeten Hochaltar hängen, aus dessen Mitte ein vollbärtiger Gottvater mit zornigem Blick lehrmeisterlich auf das auf einer Weltkugel stehende Jesuskind hinabschaute. Das göttliche Antlitz, das durch einen Lichtstrahl, der durch eines der bunten Glasfenster fiel, erleuchtet wurde, erinnerte ihn ein bisschen an den in der säkularen DDR allgegenwärtigen Karl Marx.

Bauer fühlte sich unsicher. Hatte er richtig gehandelt? Was wäre, wenn der Junge nicht zur Polizei ging? Dann würde er als Pfarrer einen Mörder decken. Wie sollte er bei der nächsten Bibelrunde reagieren, wenn er einem Mörder in die Augen blicken müsste, ohne sich etwas anmerken zu lassen? Vielleicht war es gut, dass er bald die Gemeinde HF, wie die Pfarrei Heilige Familie kurz genannt wurde, verlassen würde. Erst vor wenigen Tagen war der Brief aus Rom gekommen. Er war für das Promotionsstudium im Kirchenrecht an der Gregoriana zugelassen worden. Sie galt als die härteste aller akademischen Schmieden. Und auch die Berliner Behörden hatten die Genehmigung für die Ausreise aus der DDR erteilt. Die Ausbildung umfasste Kirchendiplomatie und diplomatische Schriftkunde sowie Praktika in einer Nuntiatur und im vatikanischen Staatssekretariat. In zwei bis drei Jahren, dann wäre er siebenunddreißig, könnte er vielleicht eine Karriere im diplomatischen Dienst der Kirche beginnen. Die Welt stünde ihm offen. Der Goldene Westen. Als Priester hatte er keine Familie, die er hinter dem eisernen Vorhang zurücklassen müsste, seine Eltern waren beide im Krieg umgekommen. Seit Monaten schon lernte er Italienisch, um so seine Chancen zu erhöhen, nach Abschluss seiner Promotion in Rom bleiben zu können.

»Herr, erbarme dich!«, betete er, »Christus, erbarme dich! Herr, erbarme dich!«

Kapitel 1

Es war ein kalter, aber sonniger Herbsttag in Rom. Von außen betrachtet, lag eine gespenstische Ruhe über den vatikanischen Hügeln. Doch hinter den verschlossenen Türen des Apostolischen Palastes herrschte geschäftiges Treiben. Vier Tage nach dem völlig überraschenden Tod von Papst Hadrian IX. liefen die Vorbereitungen für die Beisetzung und das darauffolgende Konklave auf vollen Touren. Am letzten Oktobertag hatte der Pontifex maximus während einer Rosenkranzandacht in seiner Privatkapelle einen Hirnschlag erlitten und war am Allerheiligentag gestorben, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Der Substitut des vatikanischen Staatssekretariats, Kardinal Cutrona, war einer der wenigen Purpurträger, die in der Todesstunde bei dem Papst gewesen waren, der die Kirche in das neue Jahrtausend geführt hatte. Der Substitut war der Leiter der ersten Abteilung für allgemeine Angelegenheiten des Staatssekretariats. Der Stabschef des Papstes war ein der Öffentlichkeit weitgehend unbekannter, aber trotzdem hinter den Kulissen sehr einflussreicher Mann im römischen Machtgefüge. Jetzt kam Cutrona, ein aus Süditalien stammender Mittfünfziger mit kräftiger Figur, grauen Schläfen und einer kleinen, runden, goldenen Brille, aus dem Büro des Kardinalstaatssekretärs, wo die routinemäßige Besprechung mit den beiden Abteilungsleitern dieser päpstlichen Regierungszentrale stattgefunden hatte. Der Vatikan war schließlich nicht nur das Zentrum einer Weltreligion, sondern auch ein souveräner Staat mit allem, was dazugehört, einschließlich einer eigenen Regierung.

Cutronas Schritte hallten durch den Flur im dritten Stock des Apostolischen Palastes, an dessen Wänden Ölgemälde mit in Lebensgröße porträtierten Päpsten der vergangenen Jahrhunderte hingen. Gregor der XIII., der 1582 den nach ihm benannten Kalender eingeführt hatte, blickte besonders streng auf Cutrona und den anderen Kardinal, der ihm aus einem der zahlreichen Seitengänge entgegenkam. Eintausendvierhundert Räume, fast tausend Treppen und zwanzig Innenhöfe beherbergte das Gebäude, das die Künstler der Renaissance und des Barock zu einem prächtigen Palast gemacht hatten.

»Wir müssen die Wahl des Deutschen verhindern«, sagte Kardinal Manuel Hidalgo ohne jegliche Vorrede, als er sich zu Cutrona gesellte und ihn durch den Gang begleitete, in dem das durch die großen Fenster einfallende Sonnenlicht lange Schatten auf dem Fußboden verursachte. In den Lichtstrahlen tanzten Staubkörner. Hidalgo war bis zum Tod des Papstes Präfekt der Bischofskongregation gewesen und damit ein einflussreicher Strippenzieher im Vatikan. Mit dem Beginn der Sedisvakanz hatten alle Kurienkardinäle automatisch ihre Ämter verloren, ihre Macht und ihr Einfluss waren ihnen jedoch geblieben. Als Kardinalsdekan stand Hidalgo dem Kollegium als Primus inter pares bis zum Konklave vor. Er würde auch derjenige sein, der nach der Papstwahl von der Mittelloggia des Petersdoms aus das Habemus papam verkünden sollte.

Er sprach in einem fast flüsternden Tonfall, der in diesen Tagen immer wieder innerhalb der ehrwürdigen Gemäuer des Vatikans zu hören war. In dem hohen Gang mit dem Marmorfußboden ertönte jeder Schritt wie ein Peitschenschlag.

Mit einem Nicken forderte Cutrona Hidalgo auf weiterzureden.

»Wir sind es der heiligen katholischen Kirche schuldig. Und wir sind es Seiner Heiligkeit, dem verstorbenen Papst Hadrian, schuldig, dafür Sorge zu tragen, dass sein Nachfolger die Kirche in seinem Sinne weiterführt, sein Werk vollendet. Ein liberaler Papst wie der Deutsche auf dem Heiligen Stuhl würde die Kirche ins Unglück stürzen.« Der spanische Kardinal ereiferte sich und bemerkte nicht, wie seine Stimme lauter wurde.

»Kardinal Bauer hat viele Anhänger und Verehrer in der Kurie«, stellte Cutrona nüchtern fest. Seine Stimme verriet nicht, ob er dies als Gefahr empfand oder nicht.

»Das ist es ja«, sagte Hidalgo, jetzt wieder leise. »Wir haben den Kulturkampf gegen Modernismus und Liberalismus doch nicht deshalb geführt, um jetzt von einem Papst aus dem Land Luthers wieder alles zunichte machen zu lassen! Bauer hat sich in der Deutschen Bischofskonferenz gegen den Ausstieg der Kirche aus der Schwangerenberatung ausgesprochen. Er hat die Zulassung von Kondomen empfohlen ...«

»... für verheiratete Aidskranke in Afrika«, fiel ihm Cutrona ins Wort. »Und in dieser Angelegenheit, so glaube ich, hat er zahlreichen Bischöfen aus der Dritten Welt aus der Seele gesprochen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, egal wie unser Standpunkt dazu aussieht.«

»Und auch das, was er zum Frauenpriestertum und zum Zölibat geäußert hat, steht konträr zur Lehre unserer heiligen Kirche.«

»Wenn ich mich nicht irre«, bemühte sich Cutrona um einen sachlichen Ton, »so hat Kardinal Bauer eine Stärkung der Rolle der Frau innerhalb der Kirche angemahnt und darauf hingewiesen, dass die Ehelosigkeit des Priesters kein Dogma ist, sondern eine kirchenrechtliche Vorschrift, die jederzeit änderbar sei. Theoretisch.«

»Seine Theorien sind häretisch!«, schimpfte Hidalgo, der mit seinen pechschwarzen Haaren und seinem sonnengebräunten Teint ein bisschen wie ein alternder Hollywoodschauspieler im Kardinalskostüm wirkte.

»Es gibt vierunddreißig Kardinäle, die angeblich Bauer zum Papst wählen wollen. Wir werden sie kaum öffentlich der kollektiven Häresie beschuldigen können, ohne damit einen empörten Aufschrei in der Weltkirche auszulösen«, stellte Cutrona fest. »Von der Gefahr einer Spaltung des Episkopats will ich gar nicht erst reden.«

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte eine Nonne im weißen Ordensgewand, die den beiden Kardinälen entgegenkam.

»In Ewigkeit, Amen«, erwiderten Hidalgo und Cutrona wie aus einem Mund.

»Wir müssen eine Wahl des deutschen Kardinals verhindern. Um jeden Preis!« Hidalgo war stehen geblieben, um so seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Sein Blick war ernst. Hinter seinem Rücken hing das Gemälde von Johannes XXIII., der das Konzil einberufen hatte, das noch heute viele konservative Geistliche für eines der größten Ärgernisse der Kirchengeschichte hielten.

Auch Cutrona blieb stehen, nahm seine Brille ab und blickte sein Gegenüber aus zusammengekniffenen Augen an. »Um jeden Preis?«, fragte er. »Wie meinen Sie das, Eminenz?«

»So, wie ich es sage«, antwortete Hidalgo. Dann fragte er den Substitut: »Eminenz, auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, wenn ich das fragen darf?«

»Natürlich dürfen Sie das«, sagte Cutrona, setzte seine Brille wieder auf, wandte sich von Hidalgo ab und schritt weiter den Gang entlang. Dann drehte er den Kopf zur Seite und sagte: »Ich stehe auf der Seite des Heiligen Geistes!«

***

»Dreiunddreißig Komma vier, dreiunddreißig Komma vier.« Immer wieder murmelte Julius Scharfenstein die Zahl vor sich hin, während sich die Türen des gläsernen Fahrstuhls wie in Zeitlupe langsam schlossen. In der Hand hielt er den Ausdruck der neuesten Forsa-Umfrage, die – im Auftrag eines großen Privatsenders erhoben – zu dem ernüchternden Ergebnis kam, dass der schon sicher geglaubte Sieg bei der bevorstehenden Bundestagswahl in immer weitere Ferne rückte.

»Die Schwarzen haben auch verloren«, startete Sandro Ohl, Scharfensteins Wahlkampfmanager, den Versuch, etwas Optimismus zu verbreiten, während er im Lift den Knopf mit der Fünf drückte.

»Ja, einen halben Prozentpunkt«, brummelte der fünfzigjährige Kanzlerkandidat. »Und wir haben anderthalb Punkte verloren. Der Abstand wächst von Woche zu Woche.«

»Es muss aufwärts gehen, und zwar schnell«, sagte Ohl, und Scharfenstein wusste nicht, ob sein Wahlkampfstratege die Umfragewerte meinte oder den Fahrstuhl, der sich im Schneckentempo zum fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses in Kreuzberg bewegte. Scharfenstein konnte durch die gläserne Tür die ebenfalls verglasten drei Etagen sehen, auf denen die Kampa eingerichtet war. Wie in einem Bienenstock wuselten dort unzählige Genossen aus der ganzen Republik, die hier für wenige Monate zusammengepfercht waren, um auf einen Wahlsieg der Sozialdemokraten und damit einen Regierungswechsel hinzuarbeiten.

Die kämpfen alle für mich, dachte Scharfenstein und blickte wie ein Feldmarschall auf seine Truppen. Zugleich spürte er Angst. Angst vor der Enttäuschung, die nicht nur er selbst, sondern auch die fleißigen und engagierten Kampa-Leute empfinden würden, wenn es nach der Schlacht am Wahlabend um achtzehn Uhr nicht für den Sieg reichen sollte.

Sanft stoppte der Fahrstuhl und öffnete langsam seine Türen.

»Komm mit in mein Büro, Sandro. Ich will wissen, welche Pläne du hast.«

Sandro Ohl war ein gelernter Fernsehjournalist, der jedoch seinen Beruf nie ausgeübt hatte. Schon früh hatte er sich politisch bei den Jusos engagiert, wo er schon bald verschiedenste Funktionärsposten innehatte und es innerhalb weniger Jahre zum Bundesvorsitzenden brachte. Als jüngster Abgeordneter der Bundesrepublik war er schon mit zwanzig in den saarländischen Landtag eingezogen. Jetzt, mit dreiunddreißig und als Wahlkampfmanager der SPD, war ihm im Falle eines Wahlsieges ein Kabinettsposten sicher. Scharfenstein hatte ihm versprochen, ihn zum Kanzleramtsminister zu machen. Doch die Umfragewerte sprachen derzeit eine andere Sprache. Nicht zuletzt die Vorgänge, die in der Boulevardpresse unter dem Schlagwort Bikini-Affäre täglich mit neuen pikanten Details ausgebreitet wurden, kosteten einige wertvolle Prozentpunkte, vielleicht die entscheidenden.

»Setz dich!«, sagte Scharfenstein und nahm selbst hinter seinem gläsernen Schreibtisch Platz, auf dem es sehr ordentlich und nicht nach Arbeit aussah. Denn Scharfensteins eigentlicher Arbeitsplatz war in Potsdam, wo er seit sieben Jahren ein beliebter und volksnaher brandenburgischer Ministerpräsident war. Das Büro in der Berliner Parteizentrale war ihm nur für die Zeit des Wahlkampfes eingerichtet worden. An den Wänden hingen Bilder, die er sich nicht ausgesucht hatte. Abstrakte Malerei in grellen Farben, die im Kontrast zum dunklen Blau des Teppichbodens standen. Die Neonröhren und die Halogenleuchte auf dem Schreibtisch erzeugten ein unangenehmes Zwielicht. Er legte den Berliner Kurier zur Seite, den ihm seine Sekretärin wie jeden Morgen mit einem Stapel anderer Zeitungen auf den Schreibtisch gelegt hatte. Mit halbem Auge sah er den Aufmachertext mit der Überschrift Wird ein Deutscher der nächste Papst? Darunter ein Foto des Münchner Erzbischofs Johannes Maria Kardinal Bauer. Daneben sah Scharfenstein einen Artikel, in den ein kleines Porträtfoto von ihm eingeklinkt war. Anhand der Autorenzeile erkannte er, dass sein alter Schulkamerad Bodo Rauch den Text geschrieben hatte. Er beschloss, ihn später zu lesen.

»Den hier bräuchten wir als Unterstützer«, sagte Ohl und deutete auf das Foto des Kardinals. »Ein Wahlaufruf des kommenden Papstes würde die Solidaritätsadressen sämtlicher Kabarettisten, Literaten, Schlagerbarden und Soap-Sternchen in den Schatten stellen.«

»Träum weiter«, winkte Scharfenstein ab. »Mal abgesehen davon, dass garantiert wieder ein Italiener zum Papst gewählt wird. Eher verkauft der Papst im Puff Pariser als dass ein katholischer Bischof zur Wahl der Roten aufruft.«

»Sag das mal nicht«, erwiderte Ohl. »Hast du das Hirtenwort der Bischofskonferenz zur Wahl mal genau gelesen? Da wimmelt es zwischen den Zeilen nur so von Kritik am Wahlprogramm der Regierungskoalition. Gegen Sozialabbau und Kürzung der Arbeitnehmerrechte wettern sie und fordern Solidarleistungen der Besserverdienenden für die sozial Schwachen.«

»Ein bisschen anders formuliert haben sie es schon, die hochwürdigsten Herren.«

»Aber inhaltlich könnte es genauso in unserem Wahlprogramm stehen. Es muss ja nicht gleich ein Wahlaufruf sein. Das ist wohl tatsächlich unrealistisch. Aber vielleicht können wir irgendwie von dem Hype um den deutschen Kardinal profitieren«, sagte der Kampa-Chef, der seinen Namen gerne mit »O H L – wie Oberste Heeresleitung« buchstabierte.

»Was stellst du dir vor? Soll ich öffentlich nach Rom pilgern? Oder nach Lourdes? Und anschließend zusammen mit Hape Kerkeling und Frank Elstner den Jakobsweg gehen?«

»Ein Shake-hands-Foto würde vollkommen reichen. Ich glaube, viele wissen gar nicht, dass du ein Katholik bist, der brav seine Kirchensteuer zahlt. Gehst du eigentlich noch zur Kirche?«

Scharfenstein war die Frage unangenehm. Er war tatsächlich in seiner Jugend kirchlich recht engagiert gewesen. Das Jesus-Wort von dem Kamel, das eher durch ein Nadelöhr geht als dass ein Reicher in den Himmel kommt, hatte schon früh sein politisches Denken geprägt. Doch eine Kirche hatte er von innen zuletzt bei der Beerdigung seiner Mutter gesehen, die vor einigen Monaten nach langer Krankheit in einer Nervenklinik gestorben war.

»Selten«, antwortete er. »Und ich glaube auch, es wäre etwas geheuchelt, wenn ich jetzt für den Wahlkampf den Herz-Jesu-Marxisten mimen würde.« Er merkte, wie sich Ohl für seine eigene Idee immer mehr begeisterte.

»Hat nicht der Kölner Kardinal erst vor Kurzem wieder die CDU aufgefordert, das C in ihrem Namen zu streichen? Ich glaube, dass immer mehr Christen von den C-Parteien und deren neoliberalem Kurs der kalten Reformen enttäuscht sind. Vielleicht können wir hier das eine oder andere Prozent wieder zurückgewinnen.«

Scharfenstein dachte an die Dreiunddreißig Komma vier. »Ich denk mal drüber nach. Vielleicht lässt sich ja ein Anlass für ein feierliches Händeschütteln vor den Pressefotografen finden.«

»Na also, Scharfi«, strahlte Ohl, »das ist der Kanzlerkandidat, den ich kenne. Wir schaffen es noch, da bin ich sicher. Du, ich muss los. In zwei Minuten ist die Kampa-Besprechung. Bis später.«

Im selben Augenblick hatte Ohl schon die Bürotür hinter sich geschlossen. Scharfenstein griff zum Kurier und las den Text von Bodo Rauch. Wirbel um Scharfenstein und das Bikini-Mädchen lautete die Überschrift, die in großen Lettern in bester Boulevard-Manier auf der Seite platziert war. Dann folgte der Artikel:

Die intimen Skandalfotos des Kanzlerkandidaten sorgen weiter für Zündstoff. Jetzt schaltete sich auch die SPD-Zentrale ein. Als »infame Kampagne« bezeichnete die Pressestelle des Willy-Brandt-Hauses die Veröffentlichung pikanter Strandfotos, die den brandenburgischen Ministerpräsidenten und SPD-Kanzlerkandidaten Julius Scharfenstein mit einer unbekannten Bikini-Schönheit am Strand von Menorca zeigen. Die Verbreitung heimlich in der Privatsphäre aufgenommener Fotos sei ein grober Verstoß gegen die guten Sitten und ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht. Es handele sich hier um eine gezielt gesteuerte Diffamierungskampagne, die vor der Bundestagswahl den Spitzenkandidaten diskreditieren solle, sagte ein Parteisprecher und drohte mit juristischen Schritten gegen jeden, der diese Fotos weiterverbreitet. Unterdessen forderte CDU-Generalsekretär Thomas Frank den Kanzlerkandidaten auf, sich zu der sogenannten Bikini-Affäre zu erklären: »Wer im Wahlkampf ständig eine ehrliche und offene Politik einfordert, muss dieselben Maßstäbe auch an sein Privatleben anlegen lassen«, sagte Frank dem Kurier.

Kapitel 2

Regen prasselte gegen die Fensterscheiben der Büroräume der ersten Mordkommission. Die Hauptkommissare Jürgen Sonne und Renate Blombach waren in die Lektüre der Tageszeitungen vertieft, im Hintergrund röchelte die Kaffeemaschine wie ein Asthmapatient.

»Wusstest du das mit Steini?«, fragte Jürgen und zeigte auf einen kleinen Bericht im Lokalteil der ATZ. Gemeint war Horst Steinmayr, Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte im Münchner Polizeipräsidium und damit ihr direkter Vorgesetzter.

»Du meinst, dass er für den Posten des Kreisverwaltungsreferenten kandidiert? Das steht hier auch in der Süddeutschen«, sagte Renate. »Und zwar auf SPD-Ticket. Ich wusste gar nicht, dass er ein Parteibuch hat.«

»Und dann auch noch das falsche«, sagte Jürgen schmunzelnd, »zumindest für bayerische Verhältnisse.«

»Du musst aber mal die Seite drei in der SZ lesen. Hochinteressant. Eine Reportage über die Strippenzieher im Vatikan vor der anstehenden Papstwahl.«

Jürgen gähnte demonstrativ. Dem Sechsunddreißigjährigen war alles irgendwie suspekt, was heilig, übersinnlich und vor allem katholisch war. Renate hingegen war im tiefsten Oberbayern in einer erzkatholischen Familie aufgewachsen und fühlte sich auch heute noch mit der Kirche verbunden, auch wenn sie längst nicht mehr zu den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern zählte.

»Die schreiben hier, dass der spanische Kardinal Manuel Hidalgo die größten Chancen auf die Papst-Nachfolge hat. Er sei erzkonservativ und gehöre dem Opus Dei an.«

»Kaffee?«, fragte Jürgen und signalisierte damit sein Desinteresse am Papst-Thema. Die Maschine hatte zu Ende geröchelt, und ein aromatischer Kaffeeduft machte sich in dem Zwei-Personen-Büro im vierten Stock des Neubautrakts im Präsidium an der Ettstraße breit. Eigentlich hätten beide Hauptkommissare Anspruch auf ein eigenes Büro gehabt. Dass eine Mordkommission von einer Doppelspitze geleitet wurde, war ein in den Vorschriften eigentlich nicht vorgesehener Sonderfall. Dazu war es gekommen, als vor wenigen Monaten das Morddezernat im Zuge der Polizeireform neu strukturiert, eine Mordkommission gestrichen und das Personal neu verteilt wurde. So fand sich Jürgen, der vorher die MK4 geleitet hatte, an der Seite von Renate an der Spitze der neu zusammengewürfelten MK1 wieder. Auch wenn sie immer wieder aneinandergerieten und so manchen kleinen Kompetenzstreit mit Genuss ausfochten, war es noch nie zum großen Krach gekommen. Bei aller Verschiedenheit ergänzten sie sich in ihrer Arbeitsweise.

Renate mochte Jürgen, auch wenn er ihr mit seiner manchmal etwas nassforschen Art einerseits und seiner Pedanterie andererseits immer wieder ziemlich auf den Keks ging. Jeden Tag amüsierte sie sich aufs Neue darüber, dass er pünktlich um halb zehn einen grünen Apfel schälte, in vier Stücke schnitt und aß. Er begründete dies immer damit, dass er im Alltag seine Fixpunkte brauchte. Sie hatte zwei erwachsene Töchter, obwohl sich ihr Mann Heinz so sehr einen Sohn gewünscht hatte. Manchmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass Jürgen vom Alter her fast ihr Sohn sein könnte. Und in diesen Momenten kam sie sich so unwahrscheinlich alt vor. Andererseits wurde sie aufgrund ihres pfiffigen Kurzhaarschnitts oft jünger geschätzt als vierundfünfzig Jahre.

»Danke«, sagte sie, als Jürgen ihr den heißen Kaffee in ihre Tasse goss.

»Bitte sehr. Im Factum-Magazin habe ich übrigens gelesen, dass auch der Münchner Kardinal gute Karten im Papst-Poker hat. War ein sehr langer Bericht, ich habe aber nur die Bildtexte gelesen. Wenn's dich interessiert ...«

»Ja, sehr«, antwortete Renate sofort. »Bringst du mir das Heft mit?«

Er nickte und blätterte seine Zeitung weiter durch und gelangte zum Lokalteil. »Autoknacker in Freimann unterwegs. Ein Tankstellenüberfall in der Landsberger Straße, ein versuchter Bankraub am Harras und eine vorgetäuschte Vergewaltigung in einer Disco in der Domagkstraße. Ganz schön langweilig für eine Millionenstadt.«

»Ist doch gut. Da haben wir Zeit, uns mal wieder um unsere ungelösten Altfälle zu kümmern.« Renate deutete mit der Hand auf ein Regal mit Aktenordnern, die jene Fälle enthielten, die dem erfolgverwöhnten Dezernat bei der Aufklärungsquote die Hundertprozentmarke verdarben. »Ich nehme nicht an, dass du zur Polizei gegangen bist, um Abenteuer zu erleben und den starken Macker zu markieren.«

Es reicht, wenn du deine Abenteuerlust im Privatleben auslebst, wollte sie hinzufügen, biss sich dann aber lieber auf die Zunge.

»So einen richtig spektakulären Fall würde ich aber schon gerne mal wieder miterleben, mit Sonderkommission, Presserummel und so weiter. So was wie Moshammer, Sedlmayr oder den Isarbullen hatten wir schon lange nicht mehr ...«

»Kommt schon noch«, sagte Renate. Sie wandte sich wieder der Seite-drei-Reportage zu.

Jürgen rührte seinen Kaffee um.

»Wusstest du eigentlich, dass jeder katholische Mann theoretisch zum Papst gewählt werden kann? Steht hier. Er muss nicht einmal Priester sein.« Ihr Finger landete auf einem grau unterlegten Infokasten auf der Zeitungsseite.

»Dann komme ich aber trotzdem absolut nicht in Frage«, erwiderte Jürgen. »An dem Tag, als ich meine erste Gehaltsabrechnung in den Händen hielt, bin ich sofort aus der Kirche ausgetreten. Und zwar aus der evangelischen.«

In diesem Moment bellte Jürgens Handy. Er hatte sein Mobiltelefon so eingestellt, dass der Empfang einer Kurzmitteilung mit Hundegebell signalisiert wurde. Dies nervte Renate manchmal, denn wenn Jürgen mal wieder ein Frauenproblem hatte, hörte das Gebell gar nicht mehr auf. Sie hatte schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass er – obwohl nach allgemeingültigen Kriterien nicht außergewöhnlich attraktiv – durch seinen trockenen Charme auf die Frauenwelt sehr anziehend wirkte. Umso erstaunter war sie gewesen, als sie erfuhr, dass er Single war, was aber wiederum dem gängigen Klischee des Kripo-Ermittlers als einsamem Wolf entsprach.

»Ich glaube, du kämst noch aus einem anderen Grund für diesen Job nicht in Frage«, sagte sie lachend und deutete auf sein Telefon.

»Elena«, murmelte er und zog genervt eine Augenbraue nach oben, während er die SMS las.

Renate versuchte sich zu erinnern und den Namen Elena der richtigen Story zuzuordnen. Wenn sie sich nicht täuschte, war sie Mitte zwanzig und ein One-Night-Stand, den er seitdem nicht mehr loswurde, obwohl er ihr deutlich gemacht hatte, dass nichts Ernsthaftes draus werden könnte. Natürlich kannte Renate von Jürgens Frauengeschichten immer nur seine Sichtweise, doch die schilderte er immer wieder gerne und ausführlich, meist während langweiliger Observationen im Auto oder im Büro beim Kaffee.

»Du solltest endlich mal Ordnung in dein Liebesleben bringen. Du bist kein Teenager mehr!«

»Ja, Mama«, reagierte er mit seiner Standardfloskel auf ihre unerwünschten mütterlichen Ratschläge. »Zum Heiraten und Kinderkriegen fühle ich mich aber noch ein bisschen zu jung.« Und dann fügte er hinzu: »Und auf eine Ehe, wie du sie führst, habe ich absolut keinen Bock.«

Renate schluckte. Das hatte gesessen.

***

Das Gesicht der heiligen Barbara war voller Güte. Kardinal Johannes Maria Bauer nahm die bronzene Statue vorsichtig in die Hand, betrachtete sie wenige Augenblicke und legte sie dann zufrieden wieder in die leicht vergilbte Pappschachtel. Im Regal standen bereits zwei weitere Skulpturen, die im gleichen Stil geschaffen waren.

»Ein schönes Stück«, sprach Manfred Heuser, der in diesem Moment das erzbischöfliche Wohnzimmer betrat und einen Stapel Briefe in der Hand trug. Heuser war seit fünf Jahren der persönliche Sekretär von Kardinal Bauer, der genauso lange Erzbischof von München und Freising war. »Haben Sie wieder bei Frau Böker zugeschlagen?«

Bauer war ein Kunstliebhaber. Und weil er als Kardinal nicht einfach so, wie früher als Gemeindepfarrer, durch die Antiquitätenläden stöbern konnte, steuerte er gelegentlich nach Geschäftsschluss seine Dienstlimousine in die Lothringer Straße, um sich dort einen exquisiten Antiquitätenladen aufschließen zu lassen, dessen Inhaberin Petra Böker ihn schon heimlich zu ihren Stammkunden zählte.

»Noch ein echter Pasadelski«, sagte der Kardinal und deutete auf den Karton. »Aber das gute Stück muss noch gründlich gereinigt werden. Dieses Kleinod stand jahrelang in einem Keller der bayerischen Schlösserverwaltung, bevor es zufällig ins Regal von Frau Bökers Laden gelangte.« Als er Heusers fragenden Blick bemerkte, erläuterte er: »Ischariot Pasadelski, ein polnischer Künstler, der im achtzehnten Jahrhundert in Krakau gelebt hat. Er hat sein gesamtes künstlerisches Leben über eine Reihe von Heiligenfiguren in diesem Stil geschaffen, insgesamt achtundzwanzig: die zwölf Apostel, die vierzehn Nothelfer und das Heilige Paar Maria und Josef. Es gab schon damals in der DDR richtige Pasadelski-Sammler in der Kunstszene. Nur wenige seiner Werke sind in den Besitz von Sammlern gelangt, die meisten stehen in Kirchen oder Museen. Es ist ein großer Glücksfall, wenn man solch eine Figur in die Hände bekommt.«

»Dann gratuliere ich Ihnen zu diesem Glücksgriff«, sagte Heuser höflich, der von Kunst genauso wenig verstand, wie sie ihn interessierte. »Die heilige Barbara wird dem Heiligen Paar sicher eine gute Gesellschaft leisten.«

Heuser war dreiundvierzig Jahre alt, groß und schlank. Er hatte stets geföhnte, dunkelblonde Haare, war immer glatt rasiert, und seine tiefblauen Augen schauten durch eine moderne, randlose Brille. Wie immer im Dienst trug er einen schwarzen Priesteranzug mit weißem römischen Kragen, den die Seminaristen gerne als »Tipp-Ex-Kragen« bezeichneten. Der siebzigjährige Kardinal war dagegen leger gekleidet. Den Kragen seines Priesterhemdes hatte er geöffnet, dazu trug er eine Strickjacke, die man fast als schmuddelig bezeichnen konnte. Seine Füße steckten in ausgelatschten Filzpantoffeln. Das Bischofskreuz hatte er auf ein dafür vorgesehenes rotes Samtkissen gelegt. Daneben lag seine moderne Lesebrille. Die hatte er erst vor wenigen Monaten nach langem Drängeln des erzbischöflichen Pressesprechers widerwillig gegen die Hornbrille eingetauscht, die jahrzehntelang als sein Markenzeichen gegolten hatte. In Rom hatten sie ihn – auch wegen seiner ostdeutschen Herkunft – immer nur den »Kardinal mit der Honecker-Brille« genannt. Von einem normalen Dorfpfarrer im Freizeitlook unterschied er sich im Moment nur durch den goldenen Bischofsring. Er schaute trotz seines faltigen Gesichts wesentlich jünger aus, als er war, was möglicherweise mit seinem vollen Haar zu tun hatte. Gelegentlich wurde über ihn behauptet, er trüge ein Toupet. Doch darauf konnte er immer wahrheitsgemäß antworten, dass an ihm alles echt sei, bis auf die Zähne.

»Etwas Wichtiges in der Post?«, fragte er seinen Sekretär.

»Ein Brief aus Rom. Ich habe ihn oben auf den Stapel gelegt«, antwortete Heuser. »Wenn Sie nichts anderes für mich zu tun haben, würde ich dann wie besprochen den Dienstwagen in die Werkstatt zur Inspektion fahren. Und denken Sie an Ihren Termin um sechzehn Uhr?« Heuser war Kammerdiener, Sekretär, Assistent und persönlicher Referent des Bischofs in einer Person. Außerdem erledigte er ungefragt viele Kleinigkeiten, die eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehörten. Sicherlich wäre es dem Kardinal sehr unangenehm, wenn er wüsste, dass sein Sekretär gelegentlich die Haushälterin früher heimschickte und dann zum Staublappen griff oder den Abwasch erledigte. Doch Heuser erwartete dafür weder Dank noch Anerkennung.

»Sie können dann gehen«, sprach der Kardinal und hob die Hand zu einem flüchtigen Segenszeichen. Dann setzte er sich an seinen schweren Schreibtisch aus Eichenholz und öffnete den obersten Brief. Der Umschlag war größer als normal und aus kräftigem, wertvoll ausschauendem Papier. Verschlossen war er mit einem Siegel, das ihm nur zu gut bekannt war. Schließlich war er vor seiner Berufung auf den Münchner Bischofsstuhl sechs Jahre lang Vorsitzender des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen und damit einer der wichtigsten Kurienkardinäle im Vatikan gewesen. Außerdem hatte er vor vielen Jahren in Rom promoviert, bevor er in seine Heimat zurückkehrte und Sekretär der Ost-Berliner Ordinarienkonferenz geworden war. Erst Ende der Siebzigerjahre wurde er als Theologieprofessor nach Augsburg berufen. Es war selten, aber nicht unmöglich, dass DDR-Theologen in den Westen gingen. In Augsburg wurde er später auch Regens des Priesterseminars und schließlich sogar Bischof. Im Osten war er seitdem nicht mehr gewesen.

Der Kardinal öffnete den Umschlag sehr vorsichtig mit einem scharfen Brieföffner. Denn er wusste: Eine Einladung zum Konklave würde er in seinem Alter vermutlich nie wieder erhalten. Er hatte sich geschworen, keinen Gedanken an die absurde Möglichkeit zu verschwenden, selbst zum Papst gewählt zu werden. Gewiss, die Medien nannten seinen Namen gelegentlich. Vielleicht, weil manche seiner Ansichten ganz anders klangen als das, was immer wieder offiziell aus Rom verlautbarte. Aber aus seiner Sicht war genau diese Popularität, die er in sogenannten progressiven Kreisen genoss, eher ein Grund, der gegen eine Chance im Konklave sprach. Bauer vermutete, dass die Kardinäle einen Hardliner zum Nachfolger von Papst Hadrian wählen würden, um damit ein Zeichen gegen den Werteverfall und den Modernismus zu setzen. Jemanden wie Hidalgo oder den Präfekten der Glaubenskongregation, den amerikanischen Kardinal Patrick Donnelly. Er selbst pflegte, wenn ihn Journalisten oder Kardinalskollegen auf das Konklave ansprachen, immer zu antworten: »Um das Amt des Papstes bewirbt man sich nicht.«

Der Kardinal schaute auf seine silberne Taschenuhr. Ein Besucher hatte sich für den Nachmittag angekündigt. Er wusste nicht, ob er sich darauf freuen sollte.

***

Jürgen Sonne schloss hinter sich die Wohnungstür im dritten Stock des Miethauses in der Ursulastraße. Er genoss es, neuerdings hier mitten in Schwabing unweit der Münchner Freiheit zu wohnen. Nach seinem Wechsel vom Kölner Drogendezernat zur Münchner Mordkommission hatte er acht Jahre lang im nördlichen Stadtteil Freimann gewohnt, der vor allem durch die Autobahnabfahrt zur A9, die Kläranlage, den Euro-Industriepark und den Straßenstrich an der Freisinger Landstraße bekannt und berüchtigt war. Dafür hatte er sich in Freimann für dieselbe Miete noch zweieinhalb statt jetzt nur noch zwei Zimmer leisten können. Er war gerne vom Rhein an die Isar gewechselt. Anders als viele seiner früheren Mitschüler hatte er nie den Drang verspürt, nach Hamburg, Berlin oder gar ins Ausland zu gehen. Auch Urlaub hatte er schon immer lieber in den Bergen als an der Nordsee gemacht. Ein Ortswechsel war für ihn schon lange undenkbar geworden. Er war inzwischen Wahl-Münchner aus Überzeugung. Und auch beruflich hatte er keinen Grund, sich eine Veränderung zu wünschen. Mit seiner Kollegin Renate kam er inzwischen einigermaßen gut zurecht, auch wenn sie ihn gelegentlich mit ihren mütterlichen Ratschlägen nervte. Manchmal hatte sie ja sogar recht mit ihren mahnenden Worten, was er ihr gegenüber aber niemals eingestehen würde. Und manchmal konnte er ihr auch Ratschläge geben, wenn sie als Mädchen vom Lande mal wieder mit den Dimensionen der Millionenstadt überfordert war und er den München-Kenner raushängen lassen konnte.

Jürgen steckte den Wohnungsschlüssel von innen ins Schloss und drehte ihn zweimal um. Dann zog er seine neuen gelben Turnschuhe aus, hängte sein graues Anzugjackett auf einen Kleiderbügel und drückte den hektisch flimmernden roten Knopf seines Anrufbeantworters.

»Sie haben fünf gespeicherte Nachrichten«, sagte die metallisch klingende Frauenstimme, während er in das Wohnzimmer schritt und sich in sein schwarzes Ledersofa fallen ließ. Er griff mit der rechten Hand zur Fernbedienung seiner Stereoanlage. Zugleich kündigte sein Anrufbeantworter die erste gespeicherte Nachricht an.

»Hi, Jürgen, ich bin's«, ertönte eine weibliche Stimme, die ihm wohl bekannt war. »Elena«, fügte sie überflüssigerweise hinzu. »Ich wollte dich fragen, ob wir uns nicht mal wieder ...«

Er wollte nicht wissen, was Elena ihn fragen wollte. Das heißt, er wusste es eh schon genau. Aber er hatte jetzt nicht im Geringsten Lust, sich mit der Frage zu beschäftigen, warum sie ihn immer wieder anrief, obwohl er ihr mehr als einmal deutlich gemacht hatte, dass er an einer festen Beziehung nicht interessiert war. Elena war vierundzwanzig und eine recht hübsche Verkäuferin in einem Schwabinger Teeladen, in dem er mehrfach Kräutertee gekauft hatte – natürlich als Geschenk, denn er selbst war passionierter Kaffeetrinker. Sie waren gelegentlich ins Gespräch gekommen, und irgendwann hatte sie ihm gesagt, dass sie jetzt Feierabend habe und ob er noch etwas vorhabe. In ihrer Wohnung hatte sie zuerst Räucherstäbchen angezündet und ihn dann nach allen Regeln der Kunst verführt. Am nächsten Morgen hatte er natürlich nicht Nein gesagt, als sie ihn nach seiner Handynummer fragte. Den Austausch der Telefonnummern hatte sie jedoch offenbar mit dem Überreichen von Verlobungsringen verwechselt. In einer Reihe jener »klärenden Gespräche«, die er so sehr hasste, hatte er versucht, ihr deutlich zu machen, dass sie eine nette und attraktive Frau sei, dass er jedoch nicht an einer Beziehung interessiert war. Dass sie ihm auch viel zu jung für etwas Festes gewesen wäre, hatte er sich nicht zu sagen getraut, um sie nicht zu verletzen.

Jürgen schaltete mit der Fernbedienung das Radio ein und erhöhte die Lautstärke von Joe Cockers When the night comes