Annette Streeck-Fischer
Jugendliche zwischen Krise und Störung
Herausforderungen für die psychodynamische Psychotherapie
Prof. Dr. med. habil. Annette Streeck-Fischer
Stromstraße 3
10555 Berlin
annette.streeck-fischer@ipu-berlin.de
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Schattauer
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-40058-8
E-Book: ISBN 978-3-608-12139-1
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20510-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Wenn man Jugendlichen1 im Alter von etwa 13 bis 18 Jahren begegnet, kann man gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass die Lebensphase der Adoleszenz für sie völlig ohne Probleme verläuft. Das kann leicht täuschen. Tatsächlich sind sie meist – ob nur innerlich verborgen oder von außen erkennbar – mit Fragen beschäftigt, die sie erheblich umtreiben. Die Adoleszenz ist eine Zeit, in der sich vieles verändert und kaum noch etwas so bleibt wie bis dahin gewohnt. Der Körper verändert sich in einer Weise, die beunruhigt und deshalb oftmals abgetan oder verleugnet wird. Jugendliche fragen sich, wer und wie sie eigentlich sind, wer sie sein wollen und was es damit auf sich hat, Mann oder Frau zu werden oder nicht zu wissen, welchem Geschlecht sie eigentlich zugehören. Sie beschäftigen sich damit, wie sie mit Gleichaltrigen in Beziehung treten können und wie sie sich dort geben wollen. Plötzlich schämen sie sich scheinbar grundlos ihrer selbst oder haben mit Ängsten zu tun, beschämt zu werden. Sie suchen Orientierungen, die jetzt weniger bei den Eltern, sondern im Internet oder bei Gleichaltrigen gefunden werden. Zumal die sozialen Medien jetzt den Ort bieten, der am ehesten Sicherheit verspricht.
Solche für das Alter typischen Fragen und Verhaltensweisen können leicht ins Krisenhafte geraten und zu einem Wegbereiter von psychosozialen Störungen werden. Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens können manchmal wie in einer Art Modellsituation veranschaulich, wie die ohnehin kritische und störanfällige Entwicklung in der Adoleszenz in ungünstige Entwicklungsverläufe münden kann. So bringen die Einschränkungen des Lockdowns während der Corona-Pandemie für Jugendliche in der Adoleszenz unter Umständen spezifische zusätzliche Belastungen mit sich: Wenn etwa soziale Kontakte eine Distanz von einem oder zwei Metern und das Anlegen einer Maske verlangen, werden dadurch nicht selten die für die Adoleszenz typischen sozialen Ängste verschärft; das Verbot von Freizeitvergnügungen wie Discos oder Partys begünstigt die Suche nach Randale; wenn Sport, Musikveranstaltungen oder der Besuch von Actionfilmen untersagt sind, fehlen zentrale Aktivitäten und Herausforderungen, an denen sich Jugendliche reiben und erproben können. Geraten sie in einen Zustand von Vereinzelung, halten sie sich vor allem im Internet auf oder verfallen – eventuell begleitet von Drogenkonsum – in eine von Ideologien geprägte Pararealität. Die Adoleszenz gerät allzu leicht zur Krise. Psychische Störungen werden begünstigt, es kommt zum sozialen Rückzug, problematische Orientierungen aus dem Internet werden unkritisch übernommen; in der Folge entwickeln sich Abhängigkeiten, sie schließen sich Protestaktionen an, manchmal verbunden mit Zerstörung und Gewaltanwendung.
Um diese Krisen und Störungen verständlich zu machen, stelle ich in diesem Buch grundlegende Entwicklungsprozesse der Adoleszenz dar. Dabei habe ich u. a. aus der Vielzahl meiner früheren Arbeiten zur Adoleszenz, die zu einem Teil bereits in anderem Kontext2 veröffentlicht sind, Texte in überarbeiteter Form übernommen. Im Weiteren werden adoleszente biopsychosoziale Umstrukturierungen dargestellt, die zur Erklärung der Krisenanfälligkeit von Jugendlichen in der Adoleszenz wichtig sind. Ihre Labilisierungen fasse ich als eine Problematik zwischen Krise und Störung im Grenzbereich zwischen Normalität und Pathologie auf. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an den Umgang mit Jugendlichen und insbesondere an die Therapie. An dem von Freud (1905) dargestellten Fall der Jugendlichen Dora zeige ich, wie ein an einer Ein-Person-Psychologie orientiertes therapeutisches Vorgehen in eine Sackgasse führt. Schließlich gehe ich auf Fehler ein, die sich in der Behandlung von Jugendlichen in der Adoleszenz nicht selten einschleichen, bislang aber meist schamhaft verschwiegen werden.
Mein Dank gilt den vielen Jugendlichen, deren Entwicklungen ich begleiten konnte. Danken möchte ich auch Frau Nadja Urbani für ihre hilfreiche Lektoratsarbeit.
Berlin im Winter 2020 |
Annette Streeck-Fischer |
Jugendliche halten Erwachsenen einen Spiegel vor Augen. Nicht wenige Eltern empfinden diese Zeit als besonders schwierig, werden sie doch oftmals mit unerkannten und ungelösten eigenen und transgenerationalen Konflikten(1)(1) konfrontiert. Jugendliche machen auf gesellschaftliche Probleme und Mängel aufmerksam und reagieren auf die Hypokrise der Elterngeneration(1)(1). Sie demonstrieren gegen eine Politik, die sich nur unzureichend um ihre Belange und ihre Zukunft kümmert und falsche Versprechungen macht. Unüberhörbar zeigt sich das aktuell in der Jugendbewegung Fridays for Future. (1)Die neuen Medien verleihen der Stimme von Jugendlichen Gewicht. Mit dem Klimawandel und den neuen klimaneutralen Technologien sowie der Digitalisierung werden überkommene alltägliche Lebensstile infrage gestellt.
Es stellt sich die Frage: Sind Jugendliche heute anders als früher? Wird die Adoleszenz(1) mit ihren Herausforderungen heute anders bewältigt? Taugen vertraute Konzepte nicht mehr zum Verständnis dieser Entwicklungsspanne? Ist ein grundlegendes Umdenken erforderlich, um aktuelle Erscheinungsformen von Adoleszenzkrisen und adoleszenten Störungsbildern zu verstehen?
Während der Begriff Pubertät (1)die Zeit der Geschlechtsreifung(1) bezeichnet, (1)(2)gilt die Adoleszenz als die Zeit der psychischen und sozialen Entwicklung(1)(1)(1)(1). Wenngleich diese Unterscheidung vordergründig naheliegt, ist sie doch mit Skepsis zu betrachten, sind die biologischen doch kaum von den psychosozialen Entwicklungen(1)(1) zu trennen. Die Adoleszenz(1) als eine eng umgrenzte Zeitspanne, die einen Anfang und ein Ende hat, ist zunehmend in Auflösung begriffen.
Hinzu kommt, dass Verlauf und Erscheinungsformen der Adoleszenz vom sozialen Ort abhängig sind, von der kulturellen Umgebung, der zeitlichen Verortung und nicht zuletzt vom Geschlecht. Je unterschiedlicher die kulturellen Hintergründe sind, umso mehr Diversifizierung(1) weisen auch die adoleszenten Entwicklungen auf.
Margaret Mead (2002) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Art und Weise, wie sich die Übergänge zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gestalten, ein Indiz des sozialen Wandels darstellt. Beschreibungen der Adoleszenz der 50er Jahre(1) sind aus heutiger Sicht veraltet und sind allenfalls noch geeignet, einige Grundzüge dieser Entwicklungsphase abzubilden. Angelehnt an die Unterscheidung von kalten und heißen Kulturen(1)(1) (Levi-Strauss 1981)3 sprach Mario Erdheim (1983) mit Blick auf die westlichen Kulturen von einer heißen Adoleszenz. Während bei einer kalten Adoleszenz(1) die vorgegebenen Werte der Großelterngeneration(1) unhinterfragt übernommen werden und tradierte Werte – wie in sogenannten indigenen Kulturen – in einer zeitlich begrenzten Zeitspanne mit Hilfe von Initiationsriten gleichsam in Körper und Seele eingeschrieben werden, haben sich die Werte und Normvorstellungen der Enkel heute von denen der Großelterngeneration weit entfernt.
Die Lebensbedingungen(1), die Umwelt(1) ebenso wie kulturelle Orientierungen(1) haben Einfluss auf die menschliche Biologie. Im 19. Jahrhundert kamen weibliche Jugendliche gewöhnlich mit 16 Jahren in die Geschlechtsreife(1); heute tritt die Menarche(1) in der Regel im Alter von 11 oder 12 Jahren ein. Damals wurden weibliche Jugendliche früh verheiratet. Ihre Aufgabe war es, Kinder zu gebären und für den Haushalt zu sorgen. Heute sind derartige normative Vorgaben in den westlichen Kulturen(1) für weibliche Jugendliche kaum noch vorstellbar. Aber sie begegnen uns in Familien mit muslimischem Hintergrund, in denen die Töchter oft schon im Alter von 14 Jahren verheiratet werden, um sich früh in die Rolle der Frau und Mutter einzufinden. Adoleszenz als Durchgangsphase(1) findet hier nicht oder allenfalls peripher statt; die Adoleszenz nimmt einen gänzlich anderen Verlauf.
Einhergehend mit der Globalisierung und neuen Schicht-, Milieu- und kulturellen oder subkulturellen Differenzen(1) ist es zu einer Vielfalt unterschiedlicher Lebensstile und damit auch von Verläufen der Adoleszenz gekommen. Versuche, für die Jugend gegenüber solcher Diversität einen gemeinsamen Nenner zu finden, etwa als »Generation X«, »Generation Golf«, »Generation Internet«, »Global« oder »Facebook« sind in ihrer Pauschalität zweifelhaft.
Wie verläuft Adoleszenz heute? Ist es trotz aller Diversität und aller Differenzen möglich, in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur und Gesellschaft gemeinsame Entwicklungslinien aufzuzeigen? Ist die Adoleszenz tatsächlich eine Avantgarde (Erdheim 1993), mit der die Entwicklung von Neuem einhergeht?
Freud (1905) schrieb der Adoleszenz vor dem Hintergrund der Zweiphasigkeit(1) der sexuellen Entwicklung(1)(1) eine zentrale Rolle für kulturelle Entwicklungen und eine verändernde Kraft zu. Das zeigt sich in gesellschaftlichen Kontexten, aber auch in biologischen, psychischen und sozialen Ausdrucksformen der Adoleszenz(1). Abhängig vom sozialen Ort bietet die Adoleszenz(1) einen Übergangsraum, einen Möglichkeitsraum, in dem die Entstehung von Neuem zugleich eingebettet ist in die »Potentialität der Verhinderung« (King 2013, S. 52). Die Bedeutung der »zweiten Chance(1)«, also des Neuen, die Eissler (1995) der Adoleszenz attestiert hat, in der infantile Konflikte überwunden, bewältigt oder kreativ neu gestaltet werden können, kann leicht über-, aber auch unterschätzt werden. Neben der Entwicklung von Neuem können Entwicklungen in der Adoleszenz auch behindert und verhindert werden, in Sackgassen und Krisen münden und psychische Störungen(1) zur Folge haben.
Erikson (1976) sieht weniger die verändernde Kraft, die mit der Adoleszenz einhergeht, als vielmehr den Freiraum, den die Gesellschaft dem Jugendlichen einräumt, ein psychosoziales Moratorium(1)(1), einen Aufschub von erwachsenen Verpflichtungen und Bindungen und einen Raum zum Ausprobieren, Suchen und Experimentieren.
Die weitreichenden Veränderungen, die mit der Digitalisierung(1) einhergehen, sind bislang noch kaum zu überschauen. Noch lässt sich nur schwer beurteilen, ob und wie sich die digitale Welt auf die Persönlichkeit und deren Entwicklung auswirkt und wie zu beurteilen ist, dass die Jugendlichen in die Sphären von Instagram(1), Facebook(1), Snapchat(1) oder Twitter(1) eintauchen. Werden sie damit tatsächlich in narzisstische Entwicklungen(1)(1) gedrängt wie Kulturpessimisten behaupten? Bieten Chatrooms(1), in denen Themen wie das dritte Geschlecht und Geschlechtsumwandlung(1) verhandelt werden oder über Suizidalität(1) und Suizid gechattet wird, ein Forum zur Auseinandersetzung mit altersüblichen Konflikten(1)? Oder werden Jugendliche damit auf problematische Fährten gelenkt oder gar pathologisiert? Wie wirken sich die zunehmenden und neuen Möglichkeiten der körperlichen und kognitiven Selbstoptimierung(1)(1)(1) aus? Und was bedeutet es, wenn Neuro-Enhancements(1) (z. B. Methylphenidat) wie selbstverständlich für Zwecke der Leistungssteigerung(1) eingesetzt werden oder – in manchen gesellschaftlichen Gruppen – nicht mehr das eigene Auto Belohnung für das bestandene Abitur ist, sondern körpermodifizierende Eingriffe wie Brustvergrößerung oder -verkleinerung?
Um den Begriff der Adoleszenzkrisen(1) ist es heute still geworden. In den gängigen diagnostischen Klassifikationssystemen sucht man vergeblich nach dem Begriff »Adoleszenzkrise«. Stattdessen besteht die Gefahr, mit den in den diagnostischen Klassifikationssystemen vorgegebenen Begriffen Prozesse der Adoleszenz zu pathologisieren, etwa als Anpassungsstörung(1) oder Störung des Sozialverhaltens(1). Ich halte hier ausdrücklich an dem Begriff der Adoleszenzkrise fest. »Krise« ist potentiell eine Quelle des Neuen, ebenso wie »Krise« eine Reproduktion des Alten bedeuten kann. Gefährdungspotential beinhaltet die Krise in der Adoleszenz insofern, als existenzielle Selbstverständlichkeiten durch biologische, körperlich-geschlechtliche und mentale Veränderungen eine tiefgreifende Erschütterung erfahren. Selbstverständnis(1) und Körperlichkeit(1) fallen in irritierender Weise auseinander. Die Destabilisierung ist begleitet von neuronalen Veränderungen. Eine Krise ist zumeist auch ein Wende- oder Umschlagspunkt, der in ein neues Gleichgewicht münden muss. Das bisherige Verständnis der eigenen Person muss aufgegeben und ein neues Selbstbild(1) erarbeitet werden. Der Entwicklungsschritt vom Körpersein(1) zum Körperhaben(1) (Young 1992) wird durch die körperlichen Veränderungen des Jugendlichen massiv erschüttert. Die bis dahin erlebte »Unaufdringlichkeit des Körpers(1)(1)« (King 2013) wird in der Adoleszenz außer Kraft gesetzt. Die Veränderungen der eigenen Körperlichkeit werden unausweichlich krisenhaft durchlebt, zumal diese Veränderungen nicht alleine das Körpersein betreffen, sondern sich auf das gesamte Dasein auswirken. Fragen der Identität werden laut: Wer bin ich, was will ich? Fragen der sozialen Verortung tauchen auf, das bislang Gewohnte muss aus neu gewonnener Perspektive verarbeitet und mit Blick auf die Zukunft eine neue Positionierung in der sozialen Welt gefunden werden.
Im ersten Kapitel des Buches werden psychische, neurobiologische und soziale Prozesse sowie damit zusammenhängende Entwicklungsaufgaben(1), Mittel und Wege der Bewältigung, Chancen und Risiken dargestellt, die die Adoleszenz kennzeichnen. In Kapitel 2 werden die Adoleszenz- und Identitätskrisen(1) behandelt, wie sie im psychotherapeutischen Kontext erkennbar werden. Hier werden veränderte Ausgestaltungen von Adoleszenzkrisen sowie krisenhafte Entwicklungen(1) entlang einzelner typischer Entwicklungsaufgaben dargestellt. Im letzten Teil werden die besonderen Anforderungen an die Psychotherapie(1) von Jugendlichen sowie psychotherapeutische Techniken behandelt, die sich in Abhängigkeit von der psychischen Struktur der Jugendlichen unterscheiden. Anhand einzelner Beispiele aus Therapien mit Jugendlichen sollen schließlich häufige therapeutisch-technische Fehler diskutiert werden.
Das Jugendalter ist eine Zeit rapider körperlicher, psychischer und sozialer Veränderungen. Es umfasst mittlerweile einen Zeitraum von 12 bis 15 Jahren und länger. So beginnt die Pubertät mit 9 bis 12 Jahren, die Adoleszenz endet oft erst mit 23 bis 25 Jahren, oder auch später. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Pubertät durch die biologische Reifung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale deutlich früher beginnt, zum anderen damit, dass sich die Adoleszenz mit den psychosozialen Veränderungsprozessen immer weiter in das Erwachsenenalter (vgl. Arnett 2000) hinein verschiebt.
Tabelle 1-1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz(1)(1)(2)(2)(1)(1) (vgl. Spano 2004; Christie, Viner 2005).
Tab. 1-1 Die verschiedenen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz.
Veränderungen |
Biologisch |
Psychisch |
Sozial |
Frühe Adoleszenz |
Pubertät ♀ Brust- wachstum, Schamhaare, Wachstums- schub, Menarche ♂ Hoden- vergrößerung, Penis- wachstum |
Konkretes Denken, aber frühe moralische Konzepte, Auseinander- setzung mit sexueller Identität (sexuelle Orientierung), Neubewertung des Körperbildes |
Emotionale Trennung von den Eltern, Beginn ausgeprägter Identifikationen mit Gleichaltrigen, exploratorisches Verhalten, ggf, Rauchen, Gewalt |
Mittlere Adoleszenz |
♀ Ende des Wachstums- schubs, Ausprägung eines weiblichen Körpers, Umverteilung des Fettgewebes ♂ Spermarche, nächtliche Pollutionen, Stimmbruch, Wachstums- schub |
Abstraktes Denken, Selbst noch eher gepanzert, wachsende verbale Fähigkeiten, Identifikation mit moralischen Werten, Begeisterung für Ideologien (religiös, politisch) |
Emotionale Trennung von den Eltern, starke Identifikation mit Gleichaltrigen, gesteigerte Gesundheits- risiken (Rauchen, Alkohol), beginnende berufliche Pläne |
Späte Adoleszenz |
♂ Körper- behaarung, Muskel- wachstum |
Komplexes abstraktes Denken, Differenzierung zwischen Gesetz und Moral, verstärkte Impuls- kontrolle. Identitäts- bildung |
Entwicklung von sozialer Autonomie, intime Beziehungen, berufliche Perspektiven |
Psychotherapeuten und Jugendforscher entwerfen unterschiedliche Bilder der Adoleszenz. Während in der psychoanalytischen Literatur die Adoleszenz als eine Phase der Krise, des »Sturm und Drang« und des Aufruhrs dargestellt wird, die mit einer gewissen Ich-Schwäche(1) einhergeht, wird in der akademischen Psychologie das Bild eines Jugendlichen beschrieben, der einen emotionalen und kognitiven Reifungsprozess durchläuft und vorwiegend adaptive Fähigkeiten zeigt, ein Jugendlicher, der neue Strategien des Umgangs mit und der Bewältigung von sozialen Bedingungen(1)(2) entwickelt und der über vielfältige Potenziale verfügt (Olbrich u. Todt 1984, Flammer, Alsaker 2002). Tatsächlich ist die Adoleszenz eine Zeit der biopsychosozialen Umstrukturierung(1), die sowohl mit der Entwicklung neuer Fähigkeiten als auch mit dem Verlust eines bisherigen inneren und äußeren Gleichgewichts einhergeht, eine Phase des Übergangs oder ein psychosoziales Moratorium(2)(2)4 im Sinne von Erikson (1976). Wenngleich die meisten Jugendlichen die Entwicklungsaufgaben dieser Zeitspanne erfolgreich bewältigen, geht die Adoleszenz in der Regel mit mehr Unruhe(1) einher als die Kindheit und das Erwachsenenalter (Cicchetti, Rogosch 2002), so dass die Grenzen zwischen Normalität und Pathologie unklarer sind. Die Shellstudie (2019) kommt zu dem Ergebnis, dass die Jugend pragmatisch und tolerant in die persönliche Zukunft schaut. Das Internet ist allgegenwärtig, wird aber von zwei Drittel der Jugendlichen auch skeptisch betrachtet. Hervorgehobene Themen sind Umwelt und Klimawandel.
Die unterschiedlichen Sichtweisen spiegeln nicht nur die Vielfalt der Bilder wider, die Jugendliche bieten. Sie zeigen auch, dass Psychotherapeuten und Jugendforscher jeweils eine andere Seite des Jugendlichen erfassen. Die akademische Psychologie hat mit ihren Fragebögen vor allen Dingen Zugang zu den kognitiven Strategien(1), den Copingstrategien(1) und der Beschäftigung der Jugendlichen mit aktuellen gesellschaftlichen Themen. Demgegenüber beschäftigen sich Psychotherapeuten in erster Linie mit den emotionalen Bedingungen der Adoleszenz, die – wie epidemiologische und neurobiologische Studien zeigen – mit einigen Turbulenzen einhergeht (Dahl 2004; Blakemore et al. 2010).
Lange wurde die Adoleszenz als ein Stiefkind der Psychoanalyse(1) bezeichnet. Das ist insofern erstaunlich, als Freud (1905) zu Beginn seiner psychoanalytischen Tätigkeit mit Jugendlichen (Dora 18 Jahre, Katharina 16 Jahre sowie der namenlosen homosexuellen Jugendlichen) (Glenn 1980) gearbeitet hat. Allerdings fehlten damals sowohl Konzepte zum Verständnis dieser Entwicklungsphase und ihren Besonderheiten als auch praktische therapeutisch-technische Strategien zum Umgang mit Jugendlichen. Ab Ende der 50er Jahre verhalfen wichtige Beiträge wie die von A. Freud (1980a), Blos (1973), Erikson (1976) und Eissler (1966) der Psychotherapie Jugendlicher zu einem Durchbruch. Probleme, die sich aus dem adoleszentären Umstrukturierungsprozess(1) und den damit verbundenen Labilisierungen(1) ergeben, konnten nun in die Psychotherapie aufgenommen werden.
In diesen frühen psychoanalytischen Beschreibungen wurde vermieden, eine klare Grenze zwischen krisenhaften und pathologischen Verläufen dieser Altersspanne zu ziehen, ein Umstand, der der Psychoanalyse(2) wiederholt vorgeworfen wurde. Psychotische Schübe(1) oder schwere Verhaltensstörungen(1) wurden als »adolescent breakdown(1)« gekennzeichnet, um diagnostische Festlegungen zu vermeiden (z. B. Laufer u. Laufer 1989; Nicolo 2003). Das war insofern sinnvoll, als damit den Entwicklungspotentialen dieser Zeitspanne Rechnung getragen und vermieden wurde, den Jugendlichen voreilig zu stigmatisieren, etwa mit der Diagnose einer Psychose. Die Vorstellung, eine Adoleszenzkrise(2) könne sich auch in schweren Störungen der Persönlichkeitsentwicklung(1) zeigen, ist nach heutigen Erkenntnissen obsolet (Streeck-Fischer 2014). So gehen etwa Fonagy und Target (2004) und andere davon aus, dass ein adoleszentärer Zusammenbruch das Resultat früher Entwicklungsstörungen(1) bei einer mangelhaften Konsolidierung der Symbolisierungsfähigkeit ist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Begriff der Adoleszenzkrise aus der Literatur verschwunden ist. Man hat damit allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, weil nun manche normalen Prozesse der Adoleszenz als psychische Störungen(2) (etwa als Störung des Sozialverhaltens(2)(1)(1), F 91 oder als Anpassungsstörung(2), F 43,2) klassifiziert werden.
Vergegenwärtigen wir uns das anschauliche Bild, das Dahl für die Adoleszenz vorschlägt, dann können wir erahnen, was diese Zeitspanne kennzeichnet: »Starting the engines with an unskilled driver« (Dahl 2001; s. Abb. 1-1).
Der Vergleich mit einer Maschine oder Lokomotive, die von einem unausgebildeten Fahrer in Bewegung gebracht wird (Dahl 2004), bringt anschaulich die Situation des Jugendlichen zum Ausdruck, der unter Trieb- und Impulsdruck steht und vielleicht einmal zu schnell, dann wieder zu langsam fährt, der Signale übersieht oder vielleicht auf Nebengleisen landet – beschämende Erfahrungen, die bewältigt werden müssen.
Morbidität(1) und Mortalität steigen zwischen mittlerer Kindheit und später Adoleszenz um 300 % an. Unfälle, Suizide, Depressionen(1)(2), Alkoholkonsum, Substanzmittelmissbrauch(1), Aggression, Gewalt, HIV- sowie Hepatitis-C-Infektionen, unerwünschte Schwangerschaften, Magersucht und Bulimie nehmen in dieser Zeit erheblich zu. Ein großes Gesundheitsproblem ist in diesem Alter insbesondere der Alkoholmissbrauch(1) (Dahl 2001; Eaton et al. 2006). Diese Gefährdungen machen deutlich, wie wichtig es ist, zu verstehen, warum Jugendliche zu risikoreichem Verhalten neigen. Weiter kommt es häufig zu Konflikten mit Erwachsenen und Eltern (Steinberg 2004). Die Zunahme der emotionalen Reaktionsbereitschaft führt möglicherweise zu affektiven Störungen(1) in dieser Zeitspanne (Steinberg 2005).
Für Jugendliche ist es häufig schwierig, ihr Verhalten und den Ausdruck ihrer Emotionen(1) zu kontrollieren. Diese Dysregulationen kennzeichnen das krisenhafte Verhalten in dieser Zeitspanne. Dabei gilt das »ungesteuerte«, auf Grenzüberschreitung(1) ausgerichtete Verhalten als wichtig für die Ablösung(1) und Individuation in der adoleszentären Entwicklung.
In einer repräsentativen kanadischen Studie an 669 städtischen Jugendlichen (Korenblum et al. 1990) zeigten 46 % der 13-jährigen, 33 % der 16-jährigen und 42 % der 18-jährigen Jugendlichen auffällige Persönlichkeitsmerkmale. Korenblum et al. (1990) gehen davon aus, dass die frühe und späte mehr noch als die mittlere Adoleszenz eine besondere Risikoperiode für Störungen darstellt. Sie stellen weiter fest, dass Jugendliche, die in der frühen und mittleren Adoleszenz als antisozial eingestuft wurden, in der späten Adoleszenz sich mehr dem histrionischen, narzisstischen oder Borderline-Cluster(1) näherten. Andere epidemiologische Studien sprechen dafür, dass die Hälfte der psychiatrischen Erkrankungen im Erwachsenenalter ihren Beginn um das 14. Lebensjahr herum haben (Kessler et al. 2005), also in der biologischen und sozialen Reifungsphase(1)(1) der Adoleszenz. Das sind Befunde, die einmal mehr auf die Bedeutung dieser Übergangsperiode verweisen.
Es ist deshalb angebracht, an dem Begriff der Adoleszenzkrise(3) festzuhalten (vgl. Kap 2.1), ohne dessen Bedeutung übermäßig auszuweiten. So sollte der Zeitfaktor, der jeweilige (adoleszenzspezifische) Auslöser für das krisenhafte Geschehen, der den Jugendlichen daran hindert, die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, und der Tatbestand, dass keine schwere psychische Dekompensation bzw. Psychopathologie vorliegt, bei der Bewertung, ob eine Krise oder Störung vorliegt, eine Rolle spielen (Streeck-Fischer et al. 2009). Grundsätzlich ist die Trennschärfe zwischen Noch-Normalität und Pathologie in der Adoleszenz noch schwächer ausgeprägt, als das schon üblicherweise der Fall ist (Streeck-Fischer 2014).
Die Phasen der Adoleszenz sind Meilensteine der Entwicklung(2)(3) (Flammer, Alsaker 2002). Oft werden sie aber zu Hemmschwellen, an denen sich Entwicklungsstörungen verdichten.
Havighurst (1953) benennt acht Aufgaben: Aufbau neuer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts, Übernahme der männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle(1), Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, effektive Nutzung des eigenen Körpers, emotionale Unabhängigkeit(1) von den Eltern und anderen Erwachsenen, Vorbereitung auf Ehe- und Familienleben, Vorbereitung auf die berufliche Karriere, Entwicklung von Wertorientierungen(1)(1) und eines ethischen Systems sowie Aneignung sozial verantwortlichen Verhaltens(1). Diese Aufgaben sind gesellschaftlichen Wandlungsprozessen – etwa späterer Ablösung, neuen Formen des Zusammenlebens – unterworfen, jedoch immer auch Herausforderungen für den einzelnen Jugendlichen. Bei der Entwicklung von charakteristischen Störungsbildern der Adoleszenz wie Pubertätsmagersucht(1), Alkohol(2)- und Drogenabusus(1), Nesthockersyndrom(1), schulischem oder beruflichem Scheitern und schweren Störungen der Identitätsbildung werden sie gleichsam zum Angelpunkt der Krise oder Störung. Corey (1946) hebt fünf verschiedene altersspezifische Entwicklungsaufgaben hervor, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Dabei ist wichtig zu sehen, dass die körperlichen und psychischen Umwandlungsprozesse immer auch mit äußeren Bedingungen wie dem sozialen Umfeld, der Kultur und gesellschaftlichen Bedingungen in Verbindung stehen.