Am nächsten Morgen, es war ein Samstag, erwachte ich von dem Geruch nach frisch gekochtem Kaffee. Tobi besaß eine dieser schicken Maschinen, bei denen die Bohnen zuerst gemahlen und dann mit fast kochendem Wasser überbrüht wurden. Es roch wie in einem Café.
Ich öffnete die Augen und richtete mich auf.
Tobi brachte mir den Kaffee ans Bett, krabbelte dann auch wieder unter die Decke und wir nippten an unseren Heißgetränken. Meist las er in seinem Handy die neuesten Nachrichten, während ich vor mich hinstarrte. Heute starrte ich besonders heftig. Es musste etwas geschehen. Ich kannte mich. Wenn ich noch lange herumgrübelte, konnte ich darüber total unleidlich werden. Nun entscheide dich. Hopp oder Top. Nach Langeoog und ›Die Spelunke‹ anschauen, oder nicht? Ja oder nein?
Ich sah zur Seite, betrachtete Tobis Profil, seinen konzentrierten Blick aufs Handydisplay. Eben nahm er die Kaffeetasse von dem Immobilienkatalogstapel neben dem Bett und trank leise schlürfend einen Schluck.
»Würdest du mit mir hinfahren?«, fragte ich leise.
»Hm?« Er wendete den Kopf. »Was?«
»Würdest du mit mir nach Langeoog fahren?«
Er stellte die Tasse ab und ließ das Handy auf die Bettdecke plumpsen. Aufmerksam betrachtete er mich, beugte sich zu mir herüber und küsste mich. »Du würdest es wirklich tun? Über deinen Schatten springen?« Er grinste. »Großartig.«
Ich schluckte den Brocken, der sich in meiner Kehle festgesetzt zu haben schien, hinunter.
»Ja«, krächzte ich heiser.
Wir fuhren mittags los. Opa saß auf dem Beifahrersitz, ich hinten. Ich hatte meinen Großvater angerufen und gefragt, ob er mitkommen wollte. Erstens konnte ich meine Fahrt nach Langeoog sowieso nicht vor ihm geheim halten, und zweitens wäre es unfair gewesen, diese Fahrt ohne ihn anzutreten. Er, der seine Heimat von Herzen liebte und mich seit zweieinhalb Jahren zu überzeugen versuchte, zurückzukehren, hatte es nicht verdient, ausgeschlossen zu werden.
Von Oldenburg nach Bensersiel, von wo die Fähre nach Langeoog übersetzt, dauert es etwa eine Stunde. Tobi hatte ein Müsli im Stehen gefrühstückt, ich selbst bekam keinen Bissen hinunter.
Opa wiederholte in regelmäßigen Abständen einen einzigen Satz: »Dass ich das noch erleben darf.«
»Ja, Opa«, erwiderte ich jedes Mal.
Wir erreichten den Parkplatz zur Fähre um kurz vor halb zwölf. Bei guter Sicht erkennt man von Bensersiel aus den Wasserturm, das Wahrzeichen der Insel. Unterhalb des Turms steht Opas Haus im Dorf. Heute sah man den Wasserturm nicht, es war diesig und schien kurz davor zu regnen. Es war kalt für die Jahreszeit, noch kälter als üblich, und wir trugen unsere Winterjacken, obwohl es Anfang Mai war.
Während wir der ankommenden Fähre entgegensahen, fragte ich mich, ob ich mich bei dem Pächter hätte ankündigen sollen. Noch war ›Die Spelunke‹ ja nicht auf mich überschrieben, dazu gehörten noch ein paar Formalitäten. Möglicherweise war es aber auch klug, dem Pächter inkognito gegenüberzutreten und mir erst einmal ein Bild von der Lage zu machen.
Für den Nachmittag hatte Opa uns bei Frauke, seiner Nachbarin, angekündigt, die vermutlich bereits mit Kaffee und Kuchen sehnsüchtig auf uns wartete. Ich hoffte nur, Opa behielt die Neuigkeiten für sich – sowohl in der ›Spelunke‹ als auch bei Frauke, sonst wusste im Nu halb Langeoog von der Sache. Und ich stand wirklich nicht gern im Zentrum der Aufmerksamkeit, schon gar nicht als neue Barbesitzerin.
Mich übermannten Fluchtgedanken. Ich konnte unmöglich nach Langeoog übersetzen. Was wollte ich auf der Insel? Zog ich ernsthaft in Erwägung, dort eine Tapasbar zu eröffnen? War ich eigentlich noch gescheit?
»Tobi, Opa, ich glaube, das Ganze hier ist gar keine gute Idee«, sagte ich heiser.
Vermutlich war ich schon ganz grün im Gesicht, so besorgt, wie Tobi mich ansah.
»Du schaffst dat, min Deern«, meinte Opa und klopfte mir liebevoll auf den Arm.
Tobi gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Du wirst so stolz auf dich sein, wenn du es geschafft hast, mal wieder rüberzufahren. Und wenn du es einmal konntest, wird es dir immer wieder gelingen, du wirst sehen.«
Ich blinzelte die aufkommenden Tränen fort. Tobi fand einfach immer die richtigen Worte.
Als die Fähre mit einem knirschenden Geräusch anlegte und wir mit unserem leichten Gepäck über die stählerne Schwelle auf die schwankende Fläche traten, biss ich die Zähne zusammen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Tobi und Opa stellten sich an die Reling, während ich ins Innere huschte. Die beiden unterhielten sich angeregt – vermutlich waren sie zutiefst erleichtert darüber, dass ich sicher an Bord war und ihnen nicht mehr davonlaufen konnte. Ich versuchte, das stärker werdende Unwohlsein in den Griff zu bekommen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als entgleite mir alles. Je näher der Fährhafen kam, je mehr dort angelegte Segelboote ich ins Auge fasste, desto übler wurde mir.
Doch als ich eine Dreiviertelstunde später den ersten Fuß an Land setzte, fühlte ich mich wie befreit: Ich hatte die Überfahrt in meine Vergangenheit und in die Erinnerung an die schwärzesten Stunden meines Lebens überlebt. Und nicht nur das: Statt an den Schmerz vor zweieinhalb Jahren erinnerte ich mich an die glücklichen Urlaube meiner Kindheit, die ich hier bei Opa und Oma verbracht hatte. Als einziges Enkelkind hatte ich den Garten, der von Rosen und Sanddorn eingewachsen war, ganz für mich allein. Opa hatte ein Baumhaus für mich gebaut, in dem ich mit Fraukes Enkelin spielte, wenn sie wie ich in den Ferien zu Gast war.
Bedächtig atmete ich aus und blickte in die angespannten Gesichter von Tobi und Opa.
»Allns kloor, min Deern?«, fragte mein Großvater und deutete zur bunten Inselbahn, die bereits darauf wartete, uns ins Dorf zu bringen.
Ich nickte. Es ging mir erstaunlich gut. Ich freute mich sogar, hier zu sein. Die Geister der Vergangenheit schien ich endgültig abgeschüttelt zu haben.