Für jede Sehnsucht eine Insel

FÜR JEDE SEHNSUCHT EINE INSEL

FÜNF INSELROMANE IN EINEM BAND

STINA JENSEN

SÓTANO

INHALT

Vorwort

Über die Autorin

INSELblau

Das Buch

Ohne Titel

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Vier Monate später

Sveas Rezept für vier Krabbenburger

Nachwort

INSELgrün

Das Buch

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Drei Monate später

Adriennes Rezept für Kerry Lamb Pie

Nachwort

INSELgelb

Das Buch

Prolog

Ein Jahr später

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Josh

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Jóhanns Rezept für Gulrótarkaka

Nachwort

Dank

INSELpink

Das Buch

Prolog

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Drei Monate später

Xavis Rezept für Kaninchen mit Oliven und Tagliatelle

Nachwort

INSELgold

Das Buch

Vorwort

Alles begann an einem Samstagmorgen Anfang Dezember

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Allein

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Zusammen

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Vier Monate später

Alle Bücher von Stina Jensen

VORWORT

Liebe LeserInnen!

Dieses eBook-Bundle enthält die ersten fünf Teile der INSELfarben-Reihe.

Am besten, Sie lesen die Reihe in der vorgegebenen chronologischen Reihenfolge.

Sie werden in den jeweiligen Folgebänden lieb gewonnene Figuren wiedertreffen und sollten sich dieses Vergnügen nicht nehmen. Grundsätzlich ist aber jeder Roman in sich abgeschlossen – wenn Sie eine andere Reihenfolge wählen möchten, ist das ohne Weiteres möglich.


Viel Freude mit meinen Romanen

wünscht Ihnen


Stina Jensen

ÜBER DIE AUTORIN

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Sie möchten gern über weitere Projekte, Veröffentlichungen und Gewinnspiele informiert werden oder Vorab-Leseproben erhalten? Dann abonnieren Sie den Newsletter der Autorin.

Alle Newsletterabonnenten erhalten die Möglichkeit, sich einmalig ein eBook ihrer Wahl aus Stina Jensens Feder zu wünschen. Wenn Sie Newsletter-AbonnentIn sind, schreiben Sie einfach eine E-Mail an stina.jensen.autorin@gmail.com und nennen Sie den gewünschten Titel und das gewünschte Format (Kindle oder ePub). Ausgenommen sind Neuveröffentlichungen der letzten zwölf Monate.

Zum Schluss noch eine persönliche Bitte:

Ich freue mich sehr über Ihre Rezension auf der Plattform, auf der Sie dieses Buch gekauft haben. Eine Rezension ist eine wichtige Rückmeldung für Autoren, aber auch eine Orientierungshilfe für Leser. Vielen Dank!

Außerdem freue ich mich über jede Email oder Kontaktaufnahme über Facebook.

Die Rückmeldung meiner Leser bedeutet mir viel!

Ihre/Eure


Stina Jensen


www.stina-jensen.de

info@stina-jensen.de

INSELblau

DAS BUCH

Schon lange träumt Svea von einer Bar unter Palmen, im Hintergrund spanische Flamenco-Klänge. Stattdessen erbt sie eine schummrige Kneipe auf einer ostfriesischen Insel. Sehr zur Freude von Opa Hannes, denn der hätte seine Enkelin am liebsten die ganze Zeit bei sich. Und nicht nur er: Auch Wattführer Jan, der Svea mit seiner ostfriesischen Gelassenheit fasziniert, scheint etwas an ihr zu liegen. Doch soll sie wirklich auf diesem Stück Land mitten in der Nordsee sesshaft werden?


Um dem Durcheinander ihrer Gefühle zu entgehen, flieht Svea für ein paar Tage auf ihre Lieblingsinsel im Mittelmeer. In der kleinen Bucht ihres Urlaubsortes trifft sie ausgerechnet auf den Mann, dessen Temperament ihr schon einmal den Boden unter den Füßen weggerissen hat.

Und auf eine mit Brettern vernagelte Strandbar …


Ein Roman, romantisch wie ein Sommer am Meer.

Wie sehr ich diese Insel liebte. Den Wind, der mir das Haar zerzauste und mir alle miesen Gedanken aus dem Kopf zu wehen schien, bis nur noch Freude übrig blieb.

Den Sand, der unter meinen Füßen und in meinen Wimpern kitzelte.

Das Wasser, das meine Zehen umspielte.

Den Geruch des Meeres.

Meine Insel.

1

Tobi ließ meine Hand los und sah mich niedergeschlagen an. »Du willst nicht.«

»Ich …«, begann ich, erwischte endlich mein Weinglas, nach dem ich gerade hatte greifen wollen, doch stattdessen stieß ich es um. Mein Lieblingswein ergoss sich über die weiße, gestärkte Tischdecke, floss plätschernd von der Kante.

Hilfesuchend sah ich mich nach dem Kellner um, versuchte zu retten, was zu retten war, benetzte mir die Finger mit Rioja und wünschte mich auf einen anderen Planeten.

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie unsere Bedienung statt eines Lappens einen Sektkühler brachte. Sein Gesicht war zu einem strahlenden Lächeln verzogen, das mein Freund mit einem »Den brauchen wir jetzt nicht mehr« wegwischte.

»Tobi, es tut mir wirklich leid«, sagte ich endlich und nahm in Ermangelung des Weins einen Schluck Mineralwasser. »Wir können doch immer noch heiraten.«

Tobi schüttelte den Kopf. »Du wirst nie Ja sagen. Nie.«

Vielleicht hatte er mit dieser Vermutung sogar recht. Es war schon sein zweiter Antrag. Beim ersten Mal hatte ich ihm geantwortet, ich wollte erst abwarten, bis das mit meiner Anstellung als Grundschullehrerin in trockenen Tüchern sei. Ich hatte so gehofft, in Oldenburg mit meiner Freundin Wiebke, die ich aus dem Studium kannte, diese Stelle zu bekommen – sie hatte Kunst und Englisch, ich Deutsch und Mathematik auf Lehramt studiert. Zum neuen Schuljahr hatte es tatsächlich geklappt, und nun, nach acht Monaten, unternahm Tobi bereits den zweiten Anlauf, mich zu heiraten. Dabei gab es doch gar keinen Anlass zur Eile! Es war alles prima so, wie es war.

»Ich bin einfach noch nicht soweit«, hauchte ich und trocknete meine feuchten Finger an der Tischdecke ab.

»Bitte überleg es dir noch mal, Svea.« Er sah mich flehend an. »Bitte.«

Doch für mich gab es da nichts zu überlegen. Und wenn ich ehrlich war, wusste ich auch ganz genau, warum das so war. Es lag eigentlich gar nicht an Tobi.


Den Rückweg verbrachten wir schweigend nebeneinander im Auto. Bestimmt begehe ich einen riesigen Fehler, dachte ich. Tobi würde sich bald eine andere suchen. Eine erwachsenere Frau, als ich sie mit achtundzwanzig war. Eine, die sich bereit fühlte, ihre familiäre Zukunft zu gestalten. Stattdessen hing ich seit Jahren einem Traum hinterher, den ich sowieso niemals im Leben verwirklichen würde: eine Tapasbar auf Mallorca zu eröffnen. Als ich Tobi zum ersten Mal von meinen Fantasien erzählte, betrachtete er mich, als sei ich ein pummeliges x-beiniges Mädchen, das eine berühmte Ballerina werden wollte. Und es war ja auch ein kindischer Wunsch. Ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal auf der Baleareninsel gewesen, ich sprach bis auf ein paar wenige Brocken kein Spanisch, und ein Tapa hatte ich bis dato auch noch nie zubereitet. Aber der Traum hielt sich hartnäckig.

Vermutlich, weil dieser Urlaub, den ich als Fünfzehnjährige auf Mallorca verbracht hatte, einer der schönsten meines Lebens gewesen war. Ich hatte mich in einen spanischen Jungen verliebt, der dort offenbar wie ich seine Ferien verlebte. Miguel. Ein drahtiger, braungebrannter Junge mit hochgegeltem Haar und einem umwerfenden Lächeln. In der kleinen Bucht Cala Santanya gab es eine Tapasbar, in der meine Eltern und ich gelegentlich aßen. Der Junge und seine Freunde, mit denen er die Tage am Strand zubrachte, ebenso. Nur ein einziges Mal hatten wir miteinander geredet. Oder besser gesagt: etwas zusammen angestellt. Ich hatte mir in der Tapasbar an der Kühltheke ein Eis holen wollen, als er dazukam. Die Chefin war nicht im Laden, und Miguel stahl uns einfach zwei Eis aus der Kühltruhe. Wir wechselten nur kurz ein paar Worte, ich erinnere mich nicht einmal mehr, welche, so aufgeregt war ich, einen Diebstahl begangen zu haben.

Die Tage danach ließ ich ihn nicht aus den Augen, doch wir sprachen nicht mehr miteinander. Und das, obwohl ich mir einen Sprachführer gekauft hatte und eifrig lernte. Neben dem Lernen lenkte ich mich mit dem guten Essen und der gemütlichen Atmosphäre dieser Bar mit dem Tresen aus bunten Kacheln ab. Lediglich eine Promenade trennte sie vom Meer. Ich konnte nicht genug von dieser Leichtigkeit bekommen, die alles ausstrahlte, von der sanften Meeresbrise, die so ganz anders war, als die raue Luft meiner Heimat.

Den Großteil meiner Ferien hatte ich bis dato bei meinen Großeltern auf Langeoog verbracht – und bis zu diesem Urlaub auf Mallorca gedacht, es gäbe keine schönere Insel. Ich hatte alles an Langeoog geliebt. Die Dünen, das Watt, die Luft. Die Pferdefuhrwerke. Bis ich Mallorca kennenlernte. In diesem Sommer vor dreizehn Jahren war ich der ostfriesischen Insel innerlich untreu geworden.

Natürlich hatte ich trotzdem viele weitere Jahre gern meine freien Tage auf der Nordseeinsel zugebracht. Inzwischen jedoch hatte sich das verändert. Schon seit zweieinhalb Jahren hatte ich keinen Fuß auf Langeoog gesetzt. Aus einem Grund, über den ich jetzt auf keinen Fall nachdenken wollte.

Ich sah aus dem Beifahrerfenster und betrachtete die vorbeiziehenden Häuser Oldenburgs auf unserem Weg zu meiner Wohnung. Was war nur mit mir los? Hier führte ich doch ein schönes Leben. Ich kannte mich aus. Hatte die ersehnte Stelle an der Grundschule ergattert. Führte eine glückliche Beziehung. Mein Freund hatte mir soeben zum zweiten Mal einen Antrag gemacht. Ich hatte doch solches Glück! Wieso quälte mich so oft die Frage, ob ich tatsächlich für immer hier bleiben sollte oder mal ganz woanders hingehen? Etwas Verwegenes tun?

Eine spöttische Stimme in meinem Kopf meldete sich zu Wort: Meinst du etwa so etwas Verwegenes, wie es deine Eltern getan haben?

Ich straffte die Schultern und schüttelte diesen Gedanken ab. Selbst wenn ich es wagen wollte: Ich verfügte zwar über ein wenig Kapital, aber es hätte nicht dafür gereicht, woanders ein neues Leben zu beginnen. Meine Eltern hatten mir ein nicht abbezahltes Einfamilienhaus hinterlassen, das ich verkaufen musste, weil ich es nicht halten konnte. Und dann war da – neben Tobi natürlich – Opa Hannes, den ich unmöglich zurücklassen konnte. Wir brauchten einander. Zurzeit war er auf Besuch bei mir – er kam regelmäßig von Langeoog, um mir Gesellschaft zu leisten. Allein der Gedanke an ihn zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Opa Hannes war der liebste, wenn auch einzige Verwandte, der mir noch geblieben war. Seit Ende meines Studiums versuchte er, mich zu überreden, zu ihm auf die Insel zu ziehen. Er besaß direkt hinterm Deich am Wasserturm – dem Wahrzeichen und der Landmarke für die Seeleute – ein Haus, in dem er alleine lebte. Die kleine Wohnung unterm Dach vermietete er gelegentlich an Feriengäste. Früher hatte ich darin mit meinen Eltern übernachtet, wenn wir die Ferien dort verbrachten. Nach Oma Inges Tod waren wir auch noch regelmäßig bei ihm gewesen, bis …

Der Wagen kam vor meiner Wohnung zum Stehen und Tobi legte seine Hand auf mein Knie. »Ist schon gut«, sagte er.

»Es tut mir leid«, antwortete ich. Wir sahen einander an, er strich mir sachte über die Wange, anschließend beugte er sich zu mir und küsste mich. Es fühlte sich nicht so an wie sonst. Als wäre da plötzlich eine Barriere.

Während ich zur Haustür lief, sah ich mich nach ihm um und winkte. Er musste doch einsehen, dass wir schon deshalb nicht heiraten konnten, weil wir noch nicht einmal zusammenwohnten. Man konnte doch unmöglich den zweiten Schritt vor dem ersten tun.

2

Svea bist du das?«, rief Opa Hannes, als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss.

»Ja, Opa. Früher als gedacht, was?«

Ich hängte meine Jacke an die Garderobe, streifte die Schuhe von den Füßen und tappte zu meinem Großvater ins Wohnzimmer. Jetzt noch ein Schlückchen Wein und dann die Augen zumachen. Opa hörte wie immer Klassik, er liebte die brandenburgischen Konzerte von Bach.

»Wie war dein Abend?«, wollte er wissen, als ich mich endlich mit einem halbvollen Glas neben ihm aufs Sofa plumpsen ließ.

»Durchwachsen«, murmelte ich und legte die Beine auf dem Couchtisch ab. Genüsslich nippte ich am Rioja und erfreute mich am fruchtigen Aroma. Stellte mir vor, ich säße irgendwo am Strand. Nein, nicht irgendwo. In der Strandbar der Cala Santanya auf Mallorca. Das Meeresrauschen im Ohr, eine sanfte Brise kitzelte an meinen Füßen. Die Gäste der Bar unterhielten sich angeregt. Im Hintergrund lief Flamenco-Musik.

Wie gut, dass Opa meine Gedanken nicht lesen konnte. Er hätte es sicher viel lieber gehabt, wenn ich von Langeoog träumte.

»Hast du den Brief im Flur entdeckt?«, fragte er mitten in meine Träumereien hinein.

Ich hob den Kopf. »Welchen Brief?«

»Vom Nachlassgericht in Bremen.«

»Wie bitte?«

Mit einem Mal war mir flau im Magen. Briefe von Nachlassgerichten verhießen nichts Gutes. Zumindest war das meine Erfahrung. Aber wieso bekam ich nach all der Zeit noch mal Post von denen?

Ich stellte mein Glas ab und ging in den Flur, riss den Umschlag auf, den Opa dort auf dem Beistelltisch abgelegt hatte, und starrte verdutzt auf die Zeilen. Da entschuldigte sich jemand vom Nachlassgericht bei mir, dass er sich jetzt erst meldete. Das Testament einer Mathilda Petersen aus Fischerhude habe man bei der Räumung ihres Hauses gefunden. Mit mir als Begünstigte. Die Dame sei schon vor vier Wochen beerdigt worden. Ich sollte mich dringend melden.

»Opa«, sagte ich, als ich zurück ins Wohnzimmer kam, »sagt dir der Name Mathilda Petersen etwas?«

»Nie gehört«, antwortete Opa und sah versonnen in die Ferne. »Oder doch«, widersprach er sich dann. »Mathilda ist meine Cousine. Eine hübsche Deern. Was ist mit ihr?«

»Sie ist offenbar gestorben«, murmelte ich und studierte wieder den Brief. »Anscheinend hat sie mir etwas vererbt.«

Was das wohl sein mochte? Ein heruntergekommener Hof vielleicht? Verschuldet, wie das Haus meiner Eltern?

Opa kratzte sich am Kopf. »Ist die tatsächlich schon tot? Wie alt wird Mathilda gewesen sein? Ich glaub, die war sogar jünger als ich.«

Ich erinnerte mich dunkel an die Besuche in Fischerhude aus meiner Kindheit. Irgendein Fest. Kapuzinertorte. Der weiche Schoß einer Dame mit Maiglöckchenduft. Mochte das Tante Mathilda gewesen sein? Irgendetwas kitzelte an meiner Hirnrinde. Dieser Name. Der kam mir so bekannt vor. Allerdings auf unangenehme Weise.

Doch in diesem Moment wollte mir nicht einfallen, wieso.

3

Wirst du am Ende bald reich?«, fragte Wiebke, meine Freundin und Kollegin, am anderen Morgen im Lehrerzimmer, als wir die Lernmaterialien für unsere Klassen zusammenstellten. Wir standen neben dem Kopierer, ich hatte ihr gerade von dem Brief vom Nachlassgericht erzählt. Noch am Abend hatte ich nach Mathilda Petersen gegoogelt, allerdings keinen einzigen Eintrag gefunden. Und heute Morgen hatte ich beim Nachlassgericht noch keine Menschenseele erreicht. Das würde mir hoffentlich im Laufe des Tages gelingen.

»Ich glaube, reich ist in Fischerhude niemand«, antwortete ich auf Wiebkes Frage. Obwohl ich das natürlich nicht wissen konnte. Was seltsam war: Warum hatte diese entfernte Verwandte ausgerechnet mich mit ihrem Erbe bedacht? Sie musste mich zuletzt als Kind gesehen haben. Und laut Opa hatte sie eigene Kinder.

»Und wie war dein Wochenende sonst so?«, unterbrach Wiebke meine Gedanken, während sie die Loseblattsammlung aus dem Kopierer in ihre schicke Umhängetasche stopfte, die genau zu ihrem Etuikleid passte. Wiebke war immer herausgeputzt. Sie trug das Haar schulterlang und föhnte es sich in einer hübschen Welle, die perfekt auf ihrer Schulter landete. Dazu trug sie ein paar dezente Perlenohrringe und ein zierliches Armband. Ihre Eltern waren sehr stolz auf sie, besonders zu ihrer Mutter hatte sie ein inniges Verhältnis, und wann immer Wiebke über irgendetwas unsicher war, und sei es nur darüber, wie viel Salz ins Nudelwasser gehörte, rief sie sie an. Wiebke lebte in einer ›Erwachsenen-WG‹. Zurzeit stand ein Zimmer frei – möglicherweise fanden sich nicht so viele Erwachsene, die gern in einer WG wohnten. Ich beispielsweise auch nicht, obwohl die Miete viel günstiger gewesen wäre als für meine Zweizimmerwohnung. Und weniger einsam. Doch ich war nicht besonders ordentlich, und früher oder später hätte es Konflikte gegeben, die unsere Freundschaft gefährdet hätten.

Ich knabberte an einem Fingernagel. Sollte ich Wiebke sagen, dass ich schon wieder einen Heiratsantrag von Tobi abgeschmettert hatte? Sie würde aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommen. Wiebke hielt Tobi für eine erstklassige Partie – dieses altmodische Wort hatte sie im Zusammenhang mit meinem Freund schon mehrfach verwendet. Tobi war als Immobilienmakler bei Lürsen & Partner angestellt und in seinem Beruf erfolgreich. So zumindest bestätigten es auch ihre Eltern, die Tobis Chef gut kannten und ebenfalls in Oldenburg wohnten. Das Einzige, worüber Tobi sich ab und an beschwerte, war die Tatsache, dass er für die Einarbeitung der Praktikanten zuständig war. Das hielt ihn wohl mehr von seiner Arbeit ab als alles andere.

Tobi und ich hatten uns auf einer Party vor zwei Jahren kennengelernt. Zusammen mit anderen standen wir in der Küche des Gastgebers herum, und Tobi bemerkte sofort, dass mit mir etwas nicht stimmte. Meine Eltern waren im Herbst zuvor verunglückt, und an diesem Abend war die Rede aufs Segeln gekommen. Manchmal brauchte es nur ein Stichwort, um mich zum Weinen zu bringen. Er kam zu mir herüber, betrachtete sorgenvoll meine traurigen Augen und fragte, ob er irgendetwas für mich tun könnte.

Ich nickte und bat: »Könntest du mich nach Hause bringen?«

Und das tat er.

»Erde an Svea«, sagte Wiebke und stupste mich an. »Wie dein Wochenende sonst so war, hab ich gefragt.«

»Ach.« Ich winkte ab. »Ein paar Probleme mit Tobi.«

Wiebke sah mich erwartungsvoll, wenn nicht sogar besorgt, an und ich erzählte ihr von Tobis erneutem Antrag.

Wider Erwarten erklärte sie mich nicht für verrückt. Im Gegenteil, sie murmelte: »Der hat ja Nerven«, und kramte in ihrer Tasche.

»Wieso?«, fragte ich irritiert.

Sie schüttelte den Kopf. »Na, weil er dich schon mal gefragt hat, natürlich. Und da hattest du auch Nein gesagt.«

Ich sah sie verblüfft an. Irgendwie hatte ich mit einer anderen Reaktion gerechnet.

Lange konnte ich jedoch nicht darüber nachgrübeln, denn der Gong zum Stundenbeginn ertönte. Und während ich die Gänge in Richtung meiner zweiten Klasse entlanglief, sehnte ich mich mit einem Mal nach Tobi. Ich wollte ihm so gern von dem Brief vom Nachlassgericht erzählen. Und ihm sagen, wie sehr ich hoffte, dass er sich jetzt nicht von mir trennte. Hatte ich ihn gestern Abend vielleicht so tief gekränkt, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte?

Piep, tönte mein Handy. Eine Nachricht.

Ich zog es aus meiner Tasche und blickte aufs Display.

Ich vermisse dich schrecklich, schrieb mein Freund. Ich atmete auf. Alles war gut. Er schien mir nicht böse zu sein.

Ich dich auch!, schrieb ich zurück.

Erleichtert verstaute ich mein Smartphone in der Handtasche und machte mich auf den Weg zum Unterricht.

4

Am nächsten Morgen fuhr ich mit Opa nach Bremen zum Nachlassgericht. Ich hatte am Nachmittag des Vortags endlich jemanden erreicht, und wir konnten heute kurzfristig vorbeikommen, wofür ich dankbar war. Ansonsten hätte sich meine Aufregung sicher ins Unendliche gesteigert. Vielleicht war es gar nichts Wertloses, das ich erbte. Möglicherweise etwas ganz Persönliches. Eine silberne Kette oder einen Armreif. Ich besaß so gut wie gar keinen Schmuck. Die ganze Nacht hatte ich mich hin- und hergewälzt und war unausgeschlafen.

Opa hingegen genoss die Spazierfahrt durch die flache Landschaft Niedersachsens mit ihren Alleen und vereinzelten Gehöften und entdeckte auf jedem Hof mindestens einen Traktor, dessen nähere Bezeichnung er genau kannte.

»Ich vermisse die See«, brummte er dennoch nach einer Weile und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Als wären wir nicht unterwegs nach Bremen, sondern als entführte ich ihn in den Grand Canyon. Aber ich wusste, worauf er wieder einmal anspielte: darauf, dass ich endlich meinen Job in Oldenburg aufgeben und zu ihm nach Langeoog ziehen sollte. Er lebte nicht gern allein. Fürchtete immer, er könnte eines Tages stürzen und ins Krankenhaus müssen – der schlimmste Gedanke. Seiner Erfahrung nach kamen ältere Menschen, wenn sie einmal in einer Klinik waren, nicht wieder heraus. Er hatte mir sogar ans Herz gelegt, mir sein Haus zu überschreiben. Er begriff einfach nicht, dass ich noch nicht mal zu Besuch nach Langeoog kommen konnte – geschweige denn dorthin umziehen. Überhaupt wollte ich jetzt nicht darüber nachdenken.

Tobi hatte mir angeboten, mitzukommen. Er war abends noch bei mir vorbeigekommen und hatte den Brief vom Nachlassgericht studiert. Zu gern hätte er mir heute zur Seite gestanden, sich sogar dafür freigenommen. Aber Opa war ja bei mir. Und der war schließlich mit mir und Mathilda Petersen verwandt.

»Kurz bevor Ihre Mutter gestorben ist, war sie bei Mathilda Petersen, wussten Sie das?«, fragte mich wenig später der Beamte, nachdem Opa und ich endlich das richtige Gebäude gefunden und die Stufen nach oben in den ersten Stock erklommen hatten.

»Bevor meine Mutter starb, war sie in Fischerhude?«, fragte ich. »Was hat sie da gewollt?«

Der Beamte, ein blonder hochgewachsener Mann, sah mich über seine Brillengläser hinweg an. »Sie kennen das Testament nicht, richtig?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich würde es Ihnen eigentlich gern vorlesen, befürchte aber, dass es Sie etwas mitnehmen könnte.«

»Mitnehmen?« Ich schluckte. So langsam wurde mir die Sache unheimlich. Opa nahm meine Hand und sagte: »Jetzt mal Butter bei die Fische. Worum geht es, junger Mann?«

Der ›junge Mann‹, den ich auf Mitte vierzig schätzte, nahm ein Blatt Papier mit handschriftlichem Gekritzel. Er räusperte sich und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann begann er:


Liebe Svea!

Ich werde wohl tot sein, wenn du diese Zeilen liest. Wäre ich mutig genug gewesen, hätte ich mich schon längst bei dir gemeldet, aber ich habe mich nicht getraut, bin ich doch eine alte Frau, die viel Schuld auf sich geladen hat. Es geht um deine Mutter und wie sie und dein Vater gestorben sind.

Deine Mutter hatte mich um die Jolle gebeten, weißt du. Sie verstaubte doch sowieso nur da in meinem Schuppen. Also hab ich ihr erlaubt, sie zu nehmen. Ich hab ihr gesagt, das Ding taugt nichts mehr. Aber deine Mutter hat sich direkt in die ›Mathilda‹ verliebt.


Eine Gänsehaut machte sich auf meinen Unterarmen breit. Daher war mir der Name Mathilda bekannt vorgekommen. Es war der Name des Bootes, mit dem meine Eltern verunglückt waren. Tief Christian hatte es am 28. Oktober 2013 auf die See hinausgetrieben, und dann war es mit meinen Eltern an Bord einfach auseinandergebrochen. Sie ertranken im Sturm. Dieses Unglücksboot war Mathildas Boot gewesen? Mama hatte Papa mit dieser Segeltour zu seinem Geburtstag überraschen wollen – und hatte an ihrem Vorhaben festgehalten, obwohl es eine Sturmwarnung gab. Niemand hatte mir je sagen können, wem dieses Boot eigentlich gehört hatte.

Ich sah zu Opa hinüber, der in sich zusammengesunken dasaß. Eine Träne rann über sein Gesicht.

Mir zog sich das Herz zusammen. Ich hatte ihn bisher nur zwei Mal weinen sehen. Einmal nach Oma Inges Tod, die an Krebs gestorben war, und nach dem Tod meiner Eltern. Schnell wischte ich meine eigenen Tränen fort, sprang auf und umarmte ihn. Meinen geliebten Opa Hannes, der nach Maggi und Rasierwasser roch. Ich gab ihm einen Kuss auf die stopplige Wange.

Der Beamte räusperte sich und zog mit geübtem Handgriff ein Papiertaschentuch aus seiner Schublade.

»Soll ich weiterlesen?«, fragte er.

Opa schnäuzte sich kräftig und nickte.

Ich setzte mich wieder und der Nachlassverwalter fuhr fort:


Es tut mir entsetzlich leid, was geschehen ist, aber es lässt sich nun einmal nichts rückgängig machen, schon gar nicht der Tod.

Jedenfalls erzählte mir deine Mutter, liebe Svea, dass du von einer Tapasbar auf Mallorca träumst. Ich fand das eine hervorragende Idee, aber die liebe Sylke hing nun mal so an dir. Eine Bar auf Mallorca kann ich dir zwar nicht hinterlassen, Svea, dafür aber eine Pinte auf Langeoog. Sie hat meinem verstorbenen Mann Fiete gehört, der sie vor Jahrzehnten beim Sanddornschnapstrinken gewonnen hat. Seither ist sie verpachtet. Meine Kinder wollten sie nie haben, viel zu viel Mühe für das bisschen Lohn, sagen sie. Ich hoffe sehr, du trittst dein Erbe an und eröffnest die erste Tapasbar auf meiner Heimatinsel.


Opa zog die Augenbrauen hoch. »Was?«

Ich sah ihn verständnislos an. Eine Pinte auf Langeoog? Opa kannte auf der Insel jeden Stein. Hatte er etwa nicht gewusst, dass einer seiner Verwandten dort eine Bar besaß?

»Wie heißt der Schuppen?«, fragte mein Großvater nach und hielt sich eine Hand hinters Ohr.

Der Beamte warf einen Blick in seine Unterlagen. »Die Spelunke«, antwortete er schließlich.

Opa lachte auf. »Die Spelunke gehörte denen? Das ist doch das Letzte …! Wer geht da rein?«

Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Horde Seeräuber mit Augenklappen im Zwielicht an einem Tresen sitzen.

»Darf ich weiterlesen?«, fragte der Beamte und räusperte sich.

Ich nickte und griff nach Opas Hand.


Nun, wie gesagt, es ist nicht Mallorca. Und du müsstest mit meinem Pächter reden, er ist ein guter Kerl. Ich vermache dir die Bar, meine liebe Svea, sie ist schuldenfrei, mach das Beste daraus. Viel Glück auf Langeoog.

Deine Mathilda

5

Aber das ist doch eine Riesensache!«, rief Wiebke, als ich ihr am nächsten Morgen in der Schule von meinem Erbe erzählte. Mit Tobi hatte ich nur telefonieren können, er war nachmittags auf einer Schulung gewesen und anschließend mit den anderen Teilnehmern etwas trinken. Was seltsam war – normalerweise ließ er alles stehen und liegen, wenn ich ein Problem hatte. Besonders bei einem solch schwerwiegenden: Ich besaß eine Kneipe auf Langeoog und wollte sie nicht.

»Du musst hin, das ist ja wohl klar«, redete Wiebke leise auf mich ein. Wir standen im Lehrerzimmer, die anderen Kollegen schauten schon.

»Man kann ein Erbe auch ablehnen«, gab ich zu bedenken.

Ich tauschte doch nicht meinen sicheren Job mit Aussicht auf Verbeamtung gegen eine ›Spelunke‹ auf Langeoog ein. Dass ich sie auch weiter verpachten konnte, wie Opa auf der Rückfahrt eingewandt hatte, stimmte natürlich – aber weshalb sollte ich mir diese Verantwortung ans Bein binden? In mir regte sich Widerwille. Mit ihrem Erbe verdammte Mathilda mich ja förmlich dazu, mich mit Langeoog auseinander zu setzen!


»Schau dir den Laden doch wenigstens mal an«, bekniete Tobi mich abends, als wir uns endlich trafen. Ich war mit zwei Schachteln Pizza zu ihm gefahren, eben öffnete er eine Flasche Rotwein.

»Du weißt genau, dass ich keinen Fuß mehr auf die Insel setze«, widersprach ich.

»Du wiederholst dich«, sagte er und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Du solltest das Private vom Geschäftlichen trennen. Du fährst nicht nach Langeoog, den Ort, wo du deine Eltern verloren hast, sondern du fährst an den Ort, an dem dir nun eine Bar gehört.«

›Bar‹ klang in meinen Ohren übertrieben. Damit wollte er mich doch nur ködern.

Er füllte mein Glas und schob es mir zu. »Jetzt stoßen wir erst mal auf dein Erbe an. Ich finde das großartig.«

»Du meinst, ich soll meinen Job als Grundschullehrerin an den Nagel hängen und eine Tapasbar auf einer ostfriesischen Insel eröffnen?« Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, mir an die Stirn zu tippen. Diese Vorstellung entsprach so gar nicht der Romantik, die ich mit einer Tapasbar auf Mallorca in Verbindung gebracht hatte. Auf der spanischen Insel sah ich mich als Svea, die alles aus ihrer biederen Heimat Niedersachsen über Bord geworfen hatte und ein neues, aufregendes Leben führte.

Auf Langeoog hingegen sah ich mich als verlebte Barfrau, die sich schon morgens ein paar Sanddornschnäpse genehmigte, um den Tag zu überstehen, und die nachts mit verquollenen Augen den Laden zusperrte.

Und wo sollte ich dort überhaupt wohnen?

Bei Opa natürlich, antwortete meine innere Stimme. Für ihn wäre es ideal. Er wäre versorgt und auf seiner geliebten Insel.

Tobi knuffte mich liebevoll in die Seite. »Wieso eigentlich nicht? Ich meine, die Idee mit der Tapasbar auf Malle war ja total übertrieben. Aber die von einer auf Langeoog ist abgefahren.«

»Ich möchte aber nicht über Langeoog nachdenken«, protestierte ich. Wieso verstand er das nicht?

Er küsste mich auf die Stirn und zog mich an sich. »Dann denken wir eben mal für eine Weile an etwas anderes«, flüsterte er, strich mit seiner Hand über meinen Rücken, suchte sich seinen Weg unter mein Shirt und streichelte sanft meine Haut.

Ich hob den Kopf und wir küssten uns.

»Gute Idee«, murmelte ich.

Die Pizza würde wohl warten müssen.

6

Am nächsten Morgen, es war ein Samstag, erwachte ich von dem Geruch nach frisch gekochtem Kaffee. Tobi besaß eine dieser schicken Maschinen, bei denen die Bohnen zuerst gemahlen und dann mit fast kochendem Wasser überbrüht wurden. Es roch wie in einem Café.

Ich öffnete die Augen und richtete mich auf.

Tobi brachte mir den Kaffee ans Bett, krabbelte dann auch wieder unter die Decke und wir nippten an unseren Heißgetränken. Meist las er in seinem Handy die neuesten Nachrichten, während ich vor mich hinstarrte. Heute starrte ich besonders heftig. Es musste etwas geschehen. Ich kannte mich. Wenn ich noch lange herumgrübelte, konnte ich darüber total unleidlich werden. Nun entscheide dich. Hopp oder Top. Nach Langeoog und ›Die Spelunke‹ anschauen, oder nicht? Ja oder nein?

Ich sah zur Seite, betrachtete Tobis Profil, seinen konzentrierten Blick aufs Handydisplay. Eben nahm er die Kaffeetasse von dem Immobilienkatalogstapel neben dem Bett und trank leise schlürfend einen Schluck.

»Würdest du mit mir hinfahren?«, fragte ich leise.

»Hm?« Er wendete den Kopf. »Was?«

»Würdest du mit mir nach Langeoog fahren?«

Er stellte die Tasse ab und ließ das Handy auf die Bettdecke plumpsen. Aufmerksam betrachtete er mich, beugte sich zu mir herüber und küsste mich. »Du würdest es wirklich tun? Über deinen Schatten springen?« Er grinste. »Großartig.«

Ich schluckte den Brocken, der sich in meiner Kehle festgesetzt zu haben schien, hinunter.

»Ja«, krächzte ich heiser.


Wir fuhren mittags los. Opa saß auf dem Beifahrersitz, ich hinten. Ich hatte meinen Großvater angerufen und gefragt, ob er mitkommen wollte. Erstens konnte ich meine Fahrt nach Langeoog sowieso nicht vor ihm geheim halten, und zweitens wäre es unfair gewesen, diese Fahrt ohne ihn anzutreten. Er, der seine Heimat von Herzen liebte und mich seit zweieinhalb Jahren zu überzeugen versuchte, zurückzukehren, hatte es nicht verdient, ausgeschlossen zu werden.

Von Oldenburg nach Bensersiel, von wo die Fähre nach Langeoog übersetzt, dauert es etwa eine Stunde. Tobi hatte ein Müsli im Stehen gefrühstückt, ich selbst bekam keinen Bissen hinunter.

Opa wiederholte in regelmäßigen Abständen einen einzigen Satz: »Dass ich das noch erleben darf.«

»Ja, Opa«, erwiderte ich jedes Mal.

Wir erreichten den Parkplatz zur Fähre um kurz vor halb zwölf. Bei guter Sicht erkennt man von Bensersiel aus den Wasserturm, das Wahrzeichen der Insel. Unterhalb des Turms steht Opas Haus im Dorf. Heute sah man den Wasserturm nicht, es war diesig und schien kurz davor zu regnen. Es war kalt für die Jahreszeit, noch kälter als üblich, und wir trugen unsere Winterjacken, obwohl es Anfang Mai war.

Während wir der ankommenden Fähre entgegensahen, fragte ich mich, ob ich mich bei dem Pächter hätte ankündigen sollen. Noch war ›Die Spelunke‹ ja nicht auf mich überschrieben, dazu gehörten noch ein paar Formalitäten. Möglicherweise war es aber auch klug, dem Pächter inkognito gegenüberzutreten und mir erst einmal ein Bild von der Lage zu machen.

Für den Nachmittag hatte Opa uns bei Frauke, seiner Nachbarin, angekündigt, die vermutlich bereits mit Kaffee und Kuchen sehnsüchtig auf uns wartete. Ich hoffte nur, Opa behielt die Neuigkeiten für sich – sowohl in der ›Spelunke‹ als auch bei Frauke, sonst wusste im Nu halb Langeoog von der Sache. Und ich stand wirklich nicht gern im Zentrum der Aufmerksamkeit, schon gar nicht als neue Barbesitzerin.

Mich übermannten Fluchtgedanken. Ich konnte unmöglich nach Langeoog übersetzen. Was wollte ich auf der Insel? Zog ich ernsthaft in Erwägung, dort eine Tapasbar zu eröffnen? War ich eigentlich noch gescheit?

»Tobi, Opa, ich glaube, das Ganze hier ist gar keine gute Idee«, sagte ich heiser.

Vermutlich war ich schon ganz grün im Gesicht, so besorgt, wie Tobi mich ansah.

»Du schaffst dat, min Deern«, meinte Opa und klopfte mir liebevoll auf den Arm.

Tobi gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Du wirst so stolz auf dich sein, wenn du es geschafft hast, mal wieder rüberzufahren. Und wenn du es einmal konntest, wird es dir immer wieder gelingen, du wirst sehen.«

Ich blinzelte die aufkommenden Tränen fort. Tobi fand einfach immer die richtigen Worte.


Als die Fähre mit einem knirschenden Geräusch anlegte und wir mit unserem leichten Gepäck über die stählerne Schwelle auf die schwankende Fläche traten, biss ich die Zähne zusammen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Tobi und Opa stellten sich an die Reling, während ich ins Innere huschte. Die beiden unterhielten sich angeregt – vermutlich waren sie zutiefst erleichtert darüber, dass ich sicher an Bord war und ihnen nicht mehr davonlaufen konnte. Ich versuchte, das stärker werdende Unwohlsein in den Griff zu bekommen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als entgleite mir alles. Je näher der Fährhafen kam, je mehr dort angelegte Segelboote ich ins Auge fasste, desto übler wurde mir.

Doch als ich eine Dreiviertelstunde später den ersten Fuß an Land setzte, fühlte ich mich wie befreit: Ich hatte die Überfahrt in meine Vergangenheit und in die Erinnerung an die schwärzesten Stunden meines Lebens überlebt. Und nicht nur das: Statt an den Schmerz vor zweieinhalb Jahren erinnerte ich mich an die glücklichen Urlaube meiner Kindheit, die ich hier bei Opa und Oma verbracht hatte. Als einziges Enkelkind hatte ich den Garten, der von Rosen und Sanddorn eingewachsen war, ganz für mich allein. Opa hatte ein Baumhaus für mich gebaut, in dem ich mit Fraukes Enkelin spielte, wenn sie wie ich in den Ferien zu Gast war.

Bedächtig atmete ich aus und blickte in die angespannten Gesichter von Tobi und Opa.

»Allns kloor, min Deern?«, fragte mein Großvater und deutete zur bunten Inselbahn, die bereits darauf wartete, uns ins Dorf zu bringen.

Ich nickte. Es ging mir erstaunlich gut. Ich freute mich sogar, hier zu sein. Die Geister der Vergangenheit schien ich endgültig abgeschüttelt zu haben.