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Vor Tagesanbruch an einem Maimorgen: Das Schwarz des Himmels geht in Blau über, der Duft des Weißdorns liegt in der Luft und die ersten Vögel singen, als es auf einer Landstraße zwischen zwei Feldern zu einem schrecklichen Unfall kommt – und die Schicksale von vier Menschen kollidieren.

Howard und Kitty sind nach dreißig gemeinsamen Jahren in London in das kleine Dorf Lodeshill gezogen. Während Kitty glücklich zu sein scheint, sehnt Howard sich nach dem pulsierenden Leben in der Metropole. Der Einzelgänger Jack war einst ein Rebell, der seit jeher nur eines will: in Freiheit leben. Nachdem er eine Haftstrafe wegen Hausfriedensbruchs abgesessen hat, macht er sich mit seinem Rucksack auf den Weg Richtung Norden. Jamie ist vor neunzehn Jahren in Lodeshill geboren. Seine Kindheit hat er damit verbracht, mit seinem Großvater angeln zu gehen und durch die Wälder zu streifen; heute träumt er davon, der dörflichen Enge zu entkommen.

Einfühlsam und poetisch erzählt Melissa Harrison von vier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch das gleiche suchen: einen Platz im Leben.

autor

© Melissa Harrison

Melissa Harrison ist Schriftstellerin, Kritikerin und Kolumnistin, u. a. für The Times, die Financial Times und den Guardian. Für ihren hochgelobten Roman ›Vom Ende eines Sommers‹ (DuMont 2021) erhielt sie den European Union Prize for Literature 2019.

Melissa Harrison

Weißdornzeit

Roman

Aus dem Englischen
von Werner Löcher-Lawrence

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Ich fühle mich wie ein Geist in einer fremden Welt.

Sergei Rachmaninow

Prolog

Hier endet es, auf einer langen, geraden Straße zwischen Feldern. Um halb fünf an einem Maimorgen, Schwarz wird zu Blau, und irgendwo hinter den Bäumen im Osten sammelt sich die Dämmerung.

Stell dir eine römische Straße vor. Nein, geh noch weiter zurück: Stell dir einen breiten Pfad vor, der jahrhundertelang von den Stämmen benutzt wurde, die auf diesen Inseln lebten, kämpften und starben und deren Blut in unseren Adern weiterfließt. Als die Römer kamen, haben sie den Pfad gepflastert, und für eine Weile zogen ihre Armeen und Händler darüber. Als sie fortgingen, verfiel ihre Straße, geriet aber nicht in Vergessenheit, sondern markierte die Grenze, hinter der die Wikinger mit ihrem eigensinnigen dänischen Glauben lebten. Später nutzten sie Tierhändler und Viehtreiber, Schafe und Kühe trotteten darüber. Dann wurde sie zur Mautstraße für Reisende und für Post bis nach Wales und darüber hinaus. Heute ist sie eine Landstraße, in diesen Breiten als Boundway bekannt, auf Karten aber nur mit einem Buchstaben und einer Zahl verzeichnet.

Stell dir vor, du fährst über diese alte Straße. Das Morgenlicht steigt hinter dir auf, die verschatteten Felder links und rechts liegen noch im Schlaf. Bald erreichst du die Abzweigung mit dem Schild nach Lodeshill – jedes Mal wenn du hier vorbeikommst, siehst du dieses Schild, folgst ihm aber nie. Dann scheint etwa einen Kilometer voraus etwas die Straße zu versperren, etwas, das du noch nicht genau erkennen kannst, obwohl ein Teil von dir bereits weiß, was es ist, denn was sollte es sonst sein? Wie ein Pfeil läuft die Straße darauf zu, und als du näher kommst, als du langsamer wirst und anhältst, wird aus dem Traumgleichen das Unglaubliche und schließlich Realität.

Du machst den Motor aus, und während sein Geräusch verklingt, begreifst du, wohin dich all die Tage deines Lebens getragen haben – zu diesen zwei Autos vor dir, zerstört, zerschmettert, Gewalt wabert in der Stille um sie herum. Ein Rad ragt in die Luft und dreht sich noch.

Deine Hände zittern, du machst einen Anruf. Du kämpfst gegen deine Angst an, öffnest die Tür und trittst in Millionen winzige Glasscherben. Zögerlich tragen dich deine Beine zum Unfallort. Wer sonst soll es tun, wenn nicht du?

Ich sehe alles von dort, wo ich bin, die Bremsspuren, das zerdrückte Blech, Münzen und CDs auf dem Asphalt. Der kleinere Wagen mit dem riesigen Spoiler und der knalligen Lackierung liegt auf dem Dach und präsentiert dem Himmel sein martialisches Fahrwerk. Der andere, ein großer Audi, steht mit halb offener Tür da, und ich kann den banalen persönlichen Inhalt der Seitentasche sehen: Tempos, eine Thermoskanne, eine CD von Simon & Garfunkel.

Der scharfe Grasgeruch des aufgerissenen Randstreifens steigt mir in die Nase, und ich sehe, was dich erwartet: ein junger Bursche in einem getunten Wagen, kopfüber hängend, blutüberströmt, im Audi eine in sich zusammengesunkene, völlig reglose Gestalt und neben der offenen Tür ein dritter Körper, bäuchlings auf der Straße.

Sieben endlose Minuten sind seit dem Zusammenstoß vergangen. Der Himmel hellt weiter auf. Das Rad wird langsamer und kommt schließlich zum Stehen. Vögel, einer nach dem anderen, kehren in die Weißdornhecken zurück und schütteln schwere Blüten zu Boden. Ohne zu singen. Leben ringt und zaudert, Zukunft steht neben Zukunft, entfaltet sich. Der Unfall beherrscht die Szenerie.

Ich sehe zu, wie du von einem zum andern gehst, ob verletzt oder tot. Du hältst eine Hand, sanft, und fast holt es mich zurück. Ich verweile noch, als die Sirenen erklingen, als wir alle versorgt werden, auch du. Am Ende werde ich Teil des Sirenengeheuls, Teil des Flimmerns der Luft über der Haube des Krankenwagens, weder erdgebunden noch ganz frei.

Später wirst du dich nur in Bruchstücken an die Dinge erinnern, die du gesehen hast. Und ich mich an gar nichts.

1

Die Kirschblüte ist vorbei, Narzissen welken. Weißdornknospen bersten.

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Es war ein milder, klammer Aprilabend, als er aus der Stadt floh, aber die Wettervorhersage war gut. Es hatte früher am Tag ein wenig geregnet, und die feuchte Abendluft lockte Tausende unselige Schnecken auf die schmutzigen Londoner Gehsteige.

Er zog seinen uralten Armeemantel an, holte seinen Rucksack hinter der Tür hervor und füllte eine Plastikflasche mit Wasser aus dem Hahn in der Gemeinschaftsküche. Der Rucksack war voller Buttons und Anstecknadeln, drinnen steckten siebzehn zerfledderte Notizbücher, ein paar Kochutensilien und ein kleines Zelt. Sein alter brauner Schlafsack war auf den Rucksack gebunden, und an Gurten hingen verschiedene Kleidungsstücke herab wie Gebetsfahnen.

Er verließ das Hostel und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Ging nach Norden. Wenigstens trug er diesmal keine Fußfessel, und er wusste, für die Mobilfunkmasten, an denen er vorbeikam, war er unsichtbar genauso wie für die Satelliten hoch über sich. Nach drei Monaten des Eingesperrtseins loszuziehen gab ihm ein Gefühl, wie ein Flugzeug vom Boden abzuheben, hinauf in die Höhe, weg von aller Erdenschwere.

Wer wollte, konnte in der Zeitung über Jack lesen. Er war bei den Protesten am Greenham Common dabei gewesen, bevor er von den Frauen dort vertrieben wurde. Er gab einem örtlichen Radioreporter in Newbury eine kurze Erklärung, und sein Gesicht ist auch auf Bildern von den Poll-Tax-Krawallen zu erkennen – allerdings ziemlich körnig, da muss man schon wissen, wonach man sucht. Zudem kursierte sein Name unter den zwangsgeräumten Travellern in Dale Farm, wobei es sich da auch um jemand anderen gehandelt haben mag.

Jack war ein Autodidakt und überzeugter Bibliotheksgänger, er wanderte von Stadt zu Stadt, über vergessene Wege und alte Pfade, die niemand mehr benutzte, blieb meist allein und lebte, wenn er konnte, vom Land. Er wurde immer wieder festgenommen, wegen Landstreicherei oder weil er Hasch verkaufte, dann wieder, weil er gegen Bewährungsauflagen verstieß, und so hatte er schon fast überall zwischen Brixton und Northumberland eingesessen, Knasttätowierungen gesammelt und die Vorzüge eines rasierten Schädels und selbstsicheren Auftretens kennengelernt. War er draußen, arbeitete er meist auf Farmen, pflückte Obst und half bei der Ernte. Er mied Städte, schlief unter freiem Himmel und vergaß nach und nach, dass er einmal ein Protestler gewesen war – vielleicht verkörperte er seinen Protest heute auch ganzheitlicher. Geboren war er, wie er sagte, in Canterbury, aber über sein Leben vor der Straße war kaum etwas bekannt.

Jack entfernte sich immer weiter von allem, was dem Rest von uns Halt zu geben scheint, wurde mit jeder Verhaftung sturer, sonderbarer und elliptischer in seinem Denken. Über die Jahrzehnte entwickelte er sich von einem Menschen unserer Zeit zunehmend zu so etwas wie einem flüchtigen Geist des englischen Bauernaufstandes. Oder, zumindest für manche, zu einem Verrückten.

Nicht lange nach der Jahrtausendwende spürte ihn ein wohlwollender Journalist in einem Wald bei Otmoor auf. Aber Jack hatte mittlerweile kaum noch etwas zu erzählen – ganz sicher nicht die große Geschichte von Protest und Ausgrenzung, auf die der Journalist gehofft hatte. Der Mann verbrachte zwei Tage mit Jack, unterbrochen von einer Nacht im Premier Inn, wo eine sehr betrunkene Hochzeitsgesellschaft ihn kaum schlafen ließ, und in seinem Artikel kam Jack am Ende kaum vor.

Fern von den Hauptstraßen war es nachts ruhig. Hier und da sah Jack jemanden mit einem Hund, ein paar Feiernde, Füchse, Taxis. Mitunter nickten ihm aus den Vorgärten Blumen zu, vom Licht der Laternen mit einer einheitlichen Blässe überzogen: Schwertlilien, Tulpen und Pfingstrosen, die ihre Blüten über die Mauern hängen ließen.

Er kam auf die Vauxhall Bridge und blieb einen Moment lang stehen, um hinunterzusehen ins schwarze Wasser voller Schiffsnägel, Tonrohre, zerbrochener Flaschen und Knochen. Kurz wünschte er sich, dass er die Schlüssel mitgenommen hätte, um sie hineinwerfen zu können, als eine Art Opfergabe oder Abschiedsgeschenk – wobei sie, noch bevor der Fluss sie hätte aufnehmen können, von der Dunkelheit verschluckt worden wären. Und von so weit oben hätte er sie auch nicht ins Wasser platschen hören können. Woher diese seltsamen Impulse kamen, war unmöglich zu sagen.

Durch die Stadtmitte zu finden war ein Leichtes. Pimlico war ruhig. Er machte einen Bogen um die geschäftige Victoria Station, und weiter ging es, Green Park hinter einer hohen Mauer zu seiner Rechten. Wie kam es, dass die Namen so viel mehr hermachten als die Straßen oder Straßenkreuzungen, die sie bezeichneten? Belgravia, Park Lane, Marble Arch, Marylebone: Man sollte nicht glauben, dass solche Orte so leicht hinter sich zu lassen waren, aber einer nach dem anderen blieb im Straßengewirr zurück.

In den frühen Morgenstunden machte er an einer Tankstelle in Hendon halt, ging über den erleuchteten Platz an das kleine Fenster vorn und gab einem Mann aus Bangladesch, der durch die schusssichere Scheibe zwischen ihnen umso verletzlicher wirkte, ein paar Münzen. Zwei Jungen und ein Mädchen mit riesigen Pupillen hockten auf dem Bordstein am Rand des Vorplatzes und redeten hastig und abgehackt aufeinander ein. Das Mädchen hatte Glitter an den Schläfen, und einer der Jungen knetete geradezu manisch seine Wange.

Jack aß die Chips und die Schokolade, die er gekauft hatte, und ging weiter. Lange Zeit waren kaum Passanten zu sehen, nur Schichtarbeiter, Taxifahrer und Müllmänner. Er blieb auf derselben nach Norden führenden Route, überquerte Straße um Straße, bog kein einziges Mal ab.

Als es hell wurde, sah er, dass er die Stadt langsam hinter sich brachte. Später, fast schon taub für den Lärm des Berufsverkehrs, kam er an Superstores, Produktionshallen, Fußballfeldern, Golfplätzen und Ödland vorbei. Schließlich, er vernahm vor ihm schon das Dröhnen der M1, machte die Straße zwischen Feldern eine Kurve nach Nordwesten.

Es reichte. Er verließ den Asphalt und durchquerte das Unterholz eines Waldstreifens, in dem sich der sonnengebleichte Müll vieler Jahre gesammelt hatte: Bierdosen, Beutel mit Hundedreck, Chipstüten und Radkappen. Etwa zwanzig Schritte weiter kam er auf ein Stück Grasland, von dem Karnickel flohen. Ihre weißen Stummelschwänze verschwanden hoppelnd zwischen ein paar Bäumen auf der anderen Seite. Er ließ sein Gepäck von der Schulter rutschen, sank zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Eiche.

Er lauschte dem Verkehr hinter sich, spürte, wie eine Brise mit den Haaren auf seinen Armen spielte, und sah langsam die Sonne aus einem fernen Wolkenriff aufsteigen. Da er den Blick nicht gleich abwandte, tanzte und zuckte ein blauer Fleck vor seinen Augen, und er schüttelte den Kopf wie ein Pferd, das eine lästige Fliege loszuwerden versucht, kniff die Augen zusammen und wartete, dass die Störung auf seiner Netzhaut verging. Als er die Augen wieder öffnete, war der Horizont einen Moment lang verschwommen, und das Licht schien sehr hell.

Einfach nur dahin gehen zu dürfen, wo ich sein mag, dachte er. Einfach zu leben, wie es mir beliebt. Ich tu doch weiß Gott keinem was, anders als viele da draußen. Lasst mich also bitte gehen, lasst mich in Ruhe.

Nach einer Weile begann eine Grasmücke, am struppigen Rand des Feldes zu singen, und die Morgensonne trocknete den Tau auf dem Gras. Jack nahm sein Bündel und sah sich nach einem Schlafplatz um.

Das Feld war öde und nichtssagend, ein trapezförmiges Stück Land mit verwilderten Hecken an den Seiten. Hier hatte schon lange kein Tier mehr gegrast und keine Mähmaschine mehr ihre Runden gedreht. Schösslinge – Eichengebüsch, Ahorn und Eschen – stahlen sich langsam vor. Es gab keinen Pfad, nur Spuren von Karnickeln und Füchsen, und auch keinen besonderen Blickfang, keine Orchideen oder seltenen Schmetterlinge. Aber im Sommer schäumte Mädesüß in den Ecken, und im Herbst sprossen Pilze wie blasse goldene Eier aus dem Boden.

Jack entschied sich für eine Stelle bei einer Hecke weit weg von der Straße, rollte seine Matte aus und holte ein Sandwich und eine Cola aus dem Rucksack, seinen letzten gekauften Proviant. Zum Essen setzte er sich mit dem Rücken zur Stadt.

Es war immer noch möglich, Arbeit auf dem Land zu finden, fast das ganze Jahr über. Das Narzissenpflücken begann im Februar, und die Bauern suchten oft Hilfe in der Ablammzeit. Im Sommer galt es, Heu zu machen und Obst zu pflücken, sosehr er die Folientunnel mit ihrer stickigen, abgestandenen Luft hasste. Im September gab es Arbeit bei der Apfelernte, und später beim Weihnachtsbaumschlagen. Einmal hatte er fast den ganzen Dezember mit dem Flechten von Stechpalmenkränzen zugebracht. Aber die Feldarbeit mochte er am liebsten, und jetzt war Frühling, fast schon Spargelsaison. Er dachte an die Farmen, die er kannte und auf denen man ihn kannte. Er wollte den Kopf unten halten und keine Papiere unterzeichnen, was die Möglichkeiten etwas einschränkte.

Im Januar war er in Devon aufgebrochen und grob nach Nordosten gewandert. Nach London hatte er gar nicht gewollt, aber die Festnahme und Verurteilung – weil er auf Privatbesitz gewandert war, dabei wollte er doch nur einen alten Feldweg zwischen zwei Dörfern nehmen – hatten ihn vom Kurs abgebracht.

Jetzt beschloss er, die alte Römerstraße hinaus aufs Land zu nehmen. Sie würde ihn nach Norden zu einem kleinen Dorf namens Lodeshill bringen, in dem es vier Farmen mit Spargelbeeten gab. Eine von ihnen hatte er gelobt, nie wieder zu betreten, doch er war sich sicher, dass ihn eine der anderen für ein paar Wochen nahm, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Es gab ein paar schöne Ecken in der Richtung, ruhig und ungestört und nicht zu voll mit Tagesausflüglern, nicht so wie in Cumbria oder Cornwall. Es war eine eher abgelegene, unscheinbare Gegend.

Neben den Geräuschen von der Straße war das leise Pritzeln in der aufgerissenen Coladose das Lauteste, was Jack hören konnte. Schließlich legte er sich hin, dankbar für das Essen und das Wetter, und fragte sich, wann er wohl einschlafen würde. Und schon schlief er.

Während die Sonne langsam über Jacks Kopf aufstieg, spürte ein Weißdorn in der Hecke hinter ihm das Licht auf seinen frischen grünen Blättern und dachte mit seinem grünen Geist ans Blühen.

2

Rosskastanien, Schwalben, Schwarzdorn (Schlehen).

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Kaum dass seine Frau das Haus verlassen hatte, ging Howard von Zimmer zu Zimmer und schloss die Fenster. Es war ein warmer Tag, aber nicht so warm, dass sie alle offen sein mussten, und er ertrug den Lärm der Straße nicht. Fliegen mussten auch nicht unbedingt hereinkommen, er hatte schon eine in der Küche erschlagen. Kitty würde sich zur Schlafenszeit nur beschweren, wenn Insekten in ihrem Zimmer waren.

Es war nicht die Straße durch Lodeshill, gegen die er etwas hatte. Auf der fuhr kaum jemand. Warum auch, es gab keinen Laden mehr im Ort, und der Green Man war nicht unbedingt der Pub, der die Leute von außerhalb anzog. Selbst die Kirche hatte kaum noch Anhänger, und die wenigen verbliebenen Gläubigen kamen zu Fuß. Kitty gehörte natürlich dazu.

Es war die Landstraße, die ihn nervte. Schnurgerade wie ein Lineal führte sie keine achthundert Meter am Dorf vorbei, und die örtlichen Rowdys knüppelten mit ihren aufgemotzten Karren darüber, besonders am Wochenende. Selbst wenn sie noch kilometerweit entfernt waren, konntest du hören, wie sie ihre Motoren hochtrieben, dieses irrsinnige Aufheulen. Man sollte glauben, sie hätten bessere Dinge zu tun, aber nein. Trotzdem, dachte er und schob eine alte Kinks-CD in die Anlage im Wohnzimmer, es könnte schlimmer sein. Er hatte gehört, dass es in der Nähe früher mal Quad-Bike-Rennen gegeben hatte, aber die Strecke war, lange bevor sie hergezogen waren, wieder geschlossen worden. Arkadische Arschlöcher, dachte er und ging zur Vorratskammer, um sich etwas zu trinken zu holen.

Er wusste, es war noch ein Sixpack Bier da, vom letzten Besuch ihres Sohnes Chris, aber er wollte ein dunkles Ale. Im nächsten Monat mussten sie reichlich Alkohol kaufen, denn da kam ihre Tochter Jenny aus Hongkong zurück, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten würden beide Kinder wieder zu Hause sein. Wodka für Jenny, dachte er. Wahrscheinlich.

Kein dunkles Ale. Seufzend drehte er um und stieg hoch in den Radioraum. Da stand ein Marconi 264, das eine neue Röhre brauchte. Unten stieß eine Hummel zweimal gegen das Küchenfenster und flog davon in die warme Frühlingsluft.

Die meiste Zeit hatte Kitty das große Schlafzimmer für sich. Howard nächtigte auf der Schlafcouch unten im ehemaligen Arbeitszimmer. Bevor sie vor einem Jahr aus Nordlondon nach Lodeshill gezogen waren, hatten sie nur gelegentlich getrennt geschlafen. Aber jetzt blieb er unten – außer wenn die Kinder zu Besuch waren. Das war etwas, was sie nicht diskutierten.

Oben gab es drei Zimmer. Eines war Kittys, und eines war, bis sie mit der Uni fertig war, kurz Jennys gewesen – und das war es auch heute noch, wenn sie zu Besuch kam. Das Licht im dritten war gut, und so hatte Howard beim Einzug den alten rosa Teppich herausgerissen, an zwei Seiten Arbeitsflächen eingerichtet und seine Werkzeugkästen darunter verstaut. Er hatte eine Arbeitslampe und einen Hocker gekauft, seine Radios aus der Garage geholt – er hatte nur vier, eines davon in Einzelteilen – und sich an die Arbeit gemacht. Mittlerweile besaß er dreizehn alte Radios, alle von vor dem Krieg. Voll funktionsfähige Apparate, keinen Flohmarktschrott. Fünf weitere hatte er verkauft oder eingetauscht. Wo hört es auf? Es gab Leute, die hatten zweihundert.

Natürlich fand man so was im Internet, aber er fühlte – ohne dass er den Finger genau darauf hätte legen können, warum –, dass das nicht die richtige Art und Weise war. Er ging zu Tauschbörsen, mitunter auch zu kleinen Messen, kaufte aber lieber auf örtlichen Auktionen und von privat als von anderen Sammlern, auch wenn es mehr Aufwand bedeutete. Zugegebenermaßen gab es da meist nur Plunder, billig, vermurkst und nicht mehr zu reparieren, höchstens wegen der Einzelteile etwas wert. Aber es gab Ausnahmen.

Sich umzuhören hatte ihm schon mehr als einmal was Hübsches eingebracht. »Oh, ich kenne da jemanden, der so ein Ding hat.« So war er an ein Ferguson 366 Superhet gekommen, das eine Familie aus der Gegend oben auf dem Speicher des neu gekauften Hauses gefunden hatte. Es war völlig zugestaubt gewesen, fünf Pfund hatte er dafür bezahlt. Das Marconi, an dem er gerade arbeitete, stammte aus einer Scheune bei Deal und war ewig kaum angerührt worden, das Gehäuse voller Mäusekot, die Knöpfe voller Spinnweben und Häckselgut.

Soviel Spaß die Suche machte, die Arbeit selbst war das, was er wirklich liebte: die Knöpfe erneuern, gesprungenes Bakelit instand setzen, hier und da eine neue Röhre einbauen. Er war kein Experte, aber er kam zurecht, und seine Erfahrung mit Gitarren und Verstärkern half ihm dabei. Es hatte fast schon etwas Magisches, ein altes Radio zu nehmen und zu neuem Leben zu erwecken – es ganz gleich, in welchem Zustand es war, dazu zu bringen, lebendige Töne aus der Luft zu holen. Die alten Kästen enthielten so gut verstehbare Innereien. Und allein schon das Gewicht in den Händen zu spüren …

Es war nach vier, als der Briefkasten klapperte. Er versuchte gerade, an die Kondensatoren heranzukommen, die tief unter einem Block Widerstände saßen, arbeitete vorsichtig und konzentriert. Er überlegte, ob die Post warten konnte, doch da klapperte es wieder, und etwas landete auf der Fußmatte. Howard legte sein Werkzeug beiseite und ging nach unten. Himmel noch mal, ein Telefonbuch. Als würde irgendwer die Dinger noch benutzen.

Wieder oben, untersuchte er den Schaltkreis mit der Lupe, stellte aber fest, dass er ihn nicht wirklich scharf bekam, und so konnte er den Verlauf des einfach nicht fließen wollenden Stroms nicht richtig ausmachen und keine Fehler oder Hindernisse entdecken. Er setzte den Kondensator wieder ein und musste daran denken, wie er als Kind nach der Schule an Türen geklopft hatte und weggelaufen war, und auch daran, wie er einmal auf dem Kirchplatz Hagedorn mit seinem starken berauschenden Duft gepflückt und mit nach Hause gebracht hatte, worauf ihn seine Mutter schimpfend aus der Tür jagte. Ein halbes Jahrhundert war das her, und doch kam es ihm vor wie gestern. Dass sich solche Momente irgendwo in der Hirnrinde derart festsetzen konnten, dass er mit seinen fast sechzig Jahren immer noch ihren Nachhall zu spüren vermochte. Es war ein Mysterium.

Er drehte die Arbeitslampe zur Seite und dehnte den Rücken. Ein Bier, bevor Kitty nach Hause kam? Warum nicht? Aber nicht im Green Man mit seinen unfreundlichen Bauern und den örtlichen Nichtstuern. Lieber im Bricklayer’s Arms in Crowmere. Das waren nur zehn Minuten, und es war ein schöner Tag für einen Spaziergang. Er holte die Zeitung aus dem Wohnzimmer, stellte die Kinks aus und ging los.

Lodeshill war kaum ein Dorf, eher ein Dörfchen. Neben der Manor Lodge gab es ein herrschaftliches elisabethanisches Haus mit Koppelfenstern und einem Buchsbaumirrgarten am Ende einer langen privaten Zufahrt, eine hübsche Kirche, die in den einschlägigen Verzeichnissen kaum genannt wurde, ein georgianisches Pfarrhaus (der Pfarrer selbst war für etliche Gemeinden zuständig und wohnte woanders), den Green Man, ein Dutzend moderne Häuser unterschiedlicher Qualität und eine Sackgasse mit hässlichen Bungalows, in denen hauptsächlich Alte wohnten. Was einmal Laden und Postamt gewesen war, war heute ein Privathaus, auch wenn es den roten Briefkasten in einer der Mauern immer noch gab.

Hinter der Kirche folgten den Häusern Felder, die Straße stieg sanft an und führte an den Außengebäuden einer der vier Farmen von Lodeshill vorbei. Hier und da spross Moos in der Mitte der Fahrbahn, hier und da lag Dung, weitgehend getrocknet und von Autoreifen in den Asphalt gerieben. Glockenblumen und Schöllkraut schmückten die Straßenränder, und die Blätter des Schwarzdorns waren sattgrün.

Nach ein paar Hundert Metern nahm Howard links den Fußweg durch den Ocket Wood. Der Pfad folgte einem Graben, der früher einmal den Rand des Waldes gebildet hatte, aber die Bäume hatten ihn irgendwann übersprungen. Es waren hauptsächlich Eichen, Eschen, Erlen und Stechpalmen, die seit dem Mittelalter regelmäßig gestutzt und gefällt worden waren. Der Wald hatte das Gutshaus mit Holz und die Dorfbewohner mit Reisig für ihre Öfen versorgt. Zudem waren die Schweine jedes Jahr einmal hineingelassen worden, um Eicheln und Eichelmast zu fressen. Später dann wurde der Wald ein Jagdrevier, aus dem die Öffentlichkeit strikt ausgeschlossen war. Aber das alles war lange her. Heute gingen hier hauptsächlich Leute mit ihren Hunden spazieren, und das Unterholz war seit Jahren nicht mehr heruntergeschnitten worden.

Jenny sagte ihnen immer, sie sollten sich auch einen Hund zulegen. Sie meinte, die Bewegung würde ihnen guttun. Was seine Tochter noch nicht begriffen hatte, war, dass du dich von einem gewissen Alter an nicht mehr wirklich darum sorgtest, was gut für dich war, besonders wenn du dich, wie in Howards Fall, in jüngeren Jahren ziemlich gründlich zugrunde gerichtet hattest und mittlerweile darauf wartetest, dass der Schaden zutage trat. Jedes Jahr, das ohne Krebs – oder Schlimmeres – verstrich, war ein Bonus, sagte er sich. Wie auch immer, hier war er und machte einen Spaziergang. Und das tat er ein paarmal die Woche. Das ließ sich nicht wegreden.

Der Bricklayer’s Arms war aufwendig renoviert worden und innen voll mit hellem Holz und Schiefertafeln. Howard lehnte sich auf die Theke und nickte dem Wirt zu, der ihm ein Newcastle Brown Ale und ein Glas brachte.

»Die Frau nicht dabei?«, fragte er mit seinem gut gelaunten australischen Akzent. Kitty hasste den Bricklayer’s und war nur ein- oder zweimal mit hier gewesen, aber es gefiel sowohl dem Wirt als auch Howard, so zu tun, als wäre er öfter mit seiner Frau hier als allein.

»Sie ist einkaufen«, sagte Howard, und das winzige Anheben einer Braue ersetzte die abgedroschenen Bemerkungen zu Frauen und Einkaufen, die zwischen ihnen schon mehr als zur Genüge ausgetauscht worden waren. Tatsächlich war Kitty keine Frau, die gern einkaufen ging, und Howard hatte keine Ahnung, wo sie war. Gut möglich, dass sie ihre Staffelei dabeihatte, er hatte nicht nachgesehen.

Ein kurzes Gefühl von Trostlosigkeit war schnell beiseitegewischt, und er sah sich nach einem freien Tisch um, setzte sich ans Fenster und schlug die Zeitung auf.

Er ging kurz vor acht, als der Himmel dämmrig zu werden begann. Wenn Kitty malen gewesen war, würde sie nicht bis zum Dunkelwerden bleiben, und es schadete nicht, vor ihr nach Hause zu kommen.

Der Ocket Wood war eine verschattete Masse links und rechts des Weges, und obwohl Howard nur drei Flaschen Brown Ale getrunken hatte, gab ihm der Umstand, dass er nicht viel um sich herum erkennen konnte, das Gefühl, betrunkener zu sein, als er tatsächlich war. Es saß irgendwie in einem drin, dachte er, um eine Erklärung ringend. Wenn man nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Pub kam, sollte man wanken. Nicht dass es schon richtig dunkel war, aber trotzdem.

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er seine letzte leere Flasche mitgenommen hatte, spürte zunehmenden Harndrang, verließ den Weg und ging zu einem mächtigen, knapp zwei Meter breiten Wurzelstock, dem Überbleibsel eines Baumes, der über viele Jahre immer wieder beschnitten worden war. Neue Stämme waren aus ihm hervorgesprossen, jetzt selbst schon uralt, lehnten sich vor und reckten ihre Kronen dem Licht entgegen.

Den ganzen übrigen Weg zurück blieb ihm das Bild seiner sich heiß auf den toten Blättern zwischen den Bäumen sammelnden Pisse vor Augen stehen, als richtete sich ein Licht darauf im dunklen, versteckten Unterholz.

Kittys Auto stand rückwärts eingeparkt neben dem Audi. Sie war im Wohnzimmer und bügelte. »Schöner Tag?«, fragte er, drängte am Bügelbrett vorbei und schaltete den Fernseher ein. »Gin Tonic?«

»Nein danke«, sagte sie. »Warst du im Pub?«

»Kurz«, sagte Howard. »Hast du gemalt?«

»Nein, ich war bei Claire. Hatte ich dir doch gesagt.«

Claire war eine Malerin, die Kitty, lange bevor sie in die Gegend gezogen waren, kennengelernt hatte. Sie stellte in Galerien und auf Kunsthandwerkmärkten überall im County aus, meist Hundebilder, hier und da eine Gruppe Kühe. Sie trug Kupferreife an beiden Armen und Flipflops mit dicken Sohlen, von denen sie behauptete, sie ersetzten ein Fitnessstudio. Howard mochte sie nicht.

»Na dann«, sagte er sachlich. »Bist du sicher, dass du nichts trinken willst?«

»Absolut. Es steht noch Fleischpastete und etwas Kartoffelsalat im Kühlschrank. Ich war beim guten Metzger.«

»Danke.« Howard hatte sich einen Whisky eingeschenkt und ließ sich in einen Sessel sinken, von dem aus er genervt durch die Programme zappte. »Gott, es gibt mal wieder gar nichts.«

»Dann mach aus«, sagte Kitty.

»Nichts als verdammte Wiederholungen«, sagte er, bevor er sich, schlau, wie er fand, der langjährigen Meinung seiner Frau anschloss: »Ich weiß gar nicht, warum wir überhaupt einen Fernseher haben.«

Kitty antwortete nicht.

Howard stand vorm Kühlschrank und aß die Fleischpastete, als Kitty rief, Jenny habe angerufen. »Sie wollte mit dir sprechen. Ich habe ihr gesagt, ich dachte, du wärst im Pub.«

Jenny war für ein Jahr in Hongkong und machte ein Praktikum bei einer Investmentbank, und obwohl es keine drei Wochen mehr waren, bis sie zurückkam, vermisste Howard sie fürchterlich. Dass Kitty damit gewartet hatte, ihm von ihrem Anruf zu erzählen, war, das wusste er, eine subtile Rache dafür, dass er ein Bier trinken gewesen war. Warum es sie etwas angehen sollte, was er mit seinen Tagen anfing, verstand er nicht. Es war schließlich nicht so, dass er sich jemals übermäßig betrank. Nicht mehr.

»Und wie geht es ihr?«, rief er vorsichtig aus der Küche.

»Sie klang okay.«

»Sonst noch was?« Er bewegte sich in Richtung Wohnzimmer.

Kitty schien weich zu werden und sah zur Tür zu ihm hin. »Sie sagte, ich soll dir liebe Grüße ausrichten.«

»Hmm.« Er senkte den Blick. »Und … kommt sie noch?«

»Soweit ich weiß.« Kitty wandte sich wieder dem Bügeln zu. »Ich bügele übrigens gerade deine Hemden.«

Er schluckte den letzten Bissen Fleischpastete herunter, wischte sich die Hände an der Hose ab und ging an Kitty vorbei zum Sessel. »Danke. Was machst du morgen?«

»Oh, ich dachte, vielleicht einen Spaziergang. Willst du etwa mitkommen?«

»Nimmst du die Malsachen mit?«

»Erst mal nur die Kamera. Ich habe das Bild mit den Hasenglöckchen fertig und suche nach was Neuem. Ich hätte gerne etwas mit ein bisschen mehr Geschichte. Etwas Bedeutungsvolleres.«

Howard knurrte und wechselte zu einem anderen Programm. Seit sie hergezogen waren, interessierte sich Kitty für die örtliche Geschichte und wusste mittlerweile alles Mögliche über die Kirchen der Gegend, verfallene Burgen und darüber, wie Kopfeichen beschnitten wurden. Sie war es gewesen, die wollte, dass sie hierher aufs Altenteil zogen, zwanzig Jahre hatte sie davon geträumt, auf dem Land zu leben, und Howard hatte gewusst, dass ihre Zeit in Finchley nicht ewig dauern würde.

Die Kinder und das Geschäft hatten sie in London gehalten. Howard hatte eine kleine Transportfirma betrieben und lange Zeit jeden Tag im Depot sein müssen, hatte Fahrer und Mechaniker eingeteilt, Treibstoff gekauft und die Bücher geführt, hatte die gesamte Lastwagenflotte gemanagt, Lager und Autohof. Hätte er einen Geschäftsführer eingestellt, hätte er seine Arbeitsstunden reduzieren können, das stimmt, aber die Arbeit machte Spaß, und als es so weit war, fingen die Kinder gerade an, sich auf ihre Abschlüsse vorzubereiten, sodass keine Gefahr bestand, dass sie aus Finchley wegzogen. Trotzdem, Howard hatte immer gewusst, dass er Kitty von dem abhielt, was sie wirklich wollte, von einer obskuren Verwurzelung an einem Ort, die er nicht verstand. »Aber du stammst aus Hemel Hempstead«, hatte er mehr als einmal gesagt, während sie durch die Immobilienanzeigen der Times blätterte. »Du bist nicht vom Land. Du pickst dir einfach nur irgendwas Hübsches raus, ohne dass du je dort hingehören wirst, nicht wirklich. Du bist eine Stadtpflanze, ob du es magst oder nicht.« Aber sie schüttelte immer nur den Kopf und sah weg.

Chris hatte das Geschäft, etwa ein Jahr bevor sie nach Lodeshill zogen, übernommen. Da war er bereits seit fünf Jahren dabei und kannte sich aus. Es war nicht kompliziert, aber das sagte Howard seiner Frau nicht. Als Jenny nach ihrem Jahr Pause schließlich mit der Uni anfing, war Kitty ernsthaft auf Haussuche gegangen. Mit nur ihnen beiden darin fühlte sich ihr Zuhause in London merkwürdig ruhig an, und als Kitty die Manor Lodge fand, wusste Howard tief in sich drin, dass er ihr das schuldete: Sosehr er ihre verlotterte, laute Ecke in Nordlondon mochte, ihre Zeit dort ging zu Ende. Und war es so schlimm, irgendwo noch mal neu anzufangen? Ohne das Geschäft am Bein konnte er sich ernsthaft seinen Radios widmen, mit all der dafür nötigen Zeit. Und es war ja auch nicht so, als wäre er in London noch viel unterwegs gewesen. Er war praktisch Rentner, Himmel noch mal. Auch wenn er sich nicht so fühlte.

Die Lodge war schon sehr schön, das sah auch er. Der Vorbesitzer, ein Mr Grainger, hatte sie verkauft, um seine Pflegekosten zu bezahlen. Vorher hatte sie zum Manor House gehört, heute trennte ein Nadelgehölz ihren Garten von den verbliebenen zwei Morgen Grund des Anwesens. Die Lodge war nicht so alt wie das große Haus, sondern stammte aus der Zeit seines Umbaus. Wahrscheinlich war sie für Gäste gedacht gewesen oder auch für einen Jäger. Sie war aus warmem rotem Ziegel, hatte drei spitze Giebel und zwei reich verzierte Kamine. Wilder Wein bedeckte ein Drittel der Fassade bis hoch zum Giebel, grün im Frühjahr und im Herbst dunkelpurpurn, bis die Blätter fielen und das geisterhafte Muster der Reben auf den Ziegeln erkennen ließen. Der Gutachter hatte ihnen geraten, den Wein entfernen zu lassen, aber davon wollte Kitty nichts wissen.

Sie war in der ersten Zeit hier zu etlichen Auktionen in der Gegend gegangen und hatte alte Möbel gekauft, für die sie in London keinen Blick übrig gehabt hätte, die sich aber, das musste Howard zugeben, in ihrem neuen Haus gut machten: eine walisische Anrichte, zwei abgenutzte Eichentruhen und ein halbrunder Dielentisch mit staksigen Beinen. Dazu hatte sie ein halbes Dutzend Bilder mit altmodischen Rahmen erstanden, um die zusätzlichen Wände zu füllen, die sie nun hatten, botanische Drucke, eine Karte des Countys und das Ölbild eines alten Vorfahren von wem auch immer, der beim Essen missbilligend auf Howard herabsah. »Es passt zum Haus«, sagte Kitty mit einem Achselzucken. »Es hat Geschichte.«

Sie hatte recht. Die Lodge besaß eine eigene Spülküche mit einem angeschlagenen großen Keramikbecken, eine Kohlenrutsche mit einer Bleiabdeckung neben der Hintertür, und den Türstock der Küche hatten, bevor er neu gestrichen wurde, etliche Markierungen geziert, die offenbar die Größe ganzer Generationen kleiner Graingers dokumentierten, wahrscheinlich einschließlich der des alten Mannes, von dem sie das Haus gekauft hatten. Jetzt gehörte es ihnen, und es war klar, dass Kitty es über alles liebte genau wie die Landschaft rundum. Sie war hier glücklich, das konnte jeder sehen. Es war das, was sie sich immer gewünscht hatte.

Howard stand in der finsteren Einfahrt, ein leeres Glas in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand, als das gelbe Lichtviereck auf dem Kies vor seinen Füßen verlosch, das aus ihrem Schlafzimmer gefallen war. Damit drückte sich die Dunkelheit noch dichter um ihn. Er rauchte nicht mehr, nicht wirklich, steckte sich aber, wenn Kitty zu Bett gegangen war, dennoch hin und wieder draußen eine an, und selbst ohne kam er gerne vorm Schlafengehen noch für einen Moment hier heraus. Mitunter hörte er dabei, wie in der Ferne ein Auto von einem Gang in den anderen wechselte.

Mochte er es hier? Er war nicht sicher. Manor Lodge war eine Errungenschaft, sicher, etwas, das sich vorzeigen ließ für all die Jahre, die es gekostet hatte, ein Geschäft aufzubauen. Es war der Beweis, dass er etwas aus sich gemacht hatte, er, Howard Talling, der die Schule nach der mittleren Reife verlassen und zunächst als Roadie für Bands gearbeitet hatte, die heute keiner mehr kannte. Er dachte an das unsichtbare Dorf um sich herum, all die alten Leute in ihren Betten, das halbe Dutzend Familien, die Reichen im Manor House, die nie einer zu Gesicht bekam, die undurchschaubaren Farmen. Hatten Sie alle echte Gründe, hier zu sein, bessere Gründe als er?

Ein leichter Wind entlockte dem Laubwerk vom Ocket Wood ein Seufzen, und zwei jagende Fledermäuse ritten auf einem Luftzug übers Haus nach Lodeshill ein. Howard sah sie durch die dahingeworfenen Sterne der Milchstraße huschen, ihre feinen Rufe wie nasse Finger auf Glas, unhörbar für ihn, während er den Zigarettenstummel in die Schachtel drückte.

3

Bärlauch, Hain-Veilchen, Ahornblüte.
Ein Kuckuck ruft.

Abb

Jack schaffte mehr als dreißig Kilometer am Tag, wenn er wollte, aber als er London hinter sich hatte, wurde er langsamer. Wie Tausende vor ihm wanderte er die alte römische Straße in nördlicher Richtung hinauf, wie Fahrensleute, Kesselflicker, Propheten, Narren, die ganze fußlahme Armee, die einst auf der Suche nach Arbeit über Englands Nebenstraßen gezogen war.

Für gewöhnlich orientierte er sich mit einer Art tellurischem Instinkt, einem dunklen Wissen, auf das zurückzugreifen er gelernt hatte, wenn ihm die Gegend, durch die er kam, unbekannt war, spürte dem Wind in seinem Gesicht nach, den Kräften der Wasseradern tief in der Erde, dem Wechsel von Kalkstein zu Grünsand zu Lais unter seinen Füßen. Aber hier, direkt nördlich der Hauptstadt, war es schwierig, solche Dinge zu spüren, wobei er nicht hätte sagen können, warum. Es gab Städte, in denen er die Erde unter den Straßen fühlen konnte, die Narben des Landes, dessen listige Rückgewinne und erneutes Atmen. Hier jedoch war es, als wären die grünen Flächen stumm, und das gab ihm ein ungutes Gefühl.

Die Straße führte schnurgerade durch Wiesen und Weiden, Felder und Golfplätze. Aus einem Auto wirkte die Gegend wahrscheinlich bukolisch, zugänglich, tatsächlich aber war jedes einzelne Stück Land umzäunt, aufgeteilt, genutzt. Landstreicher waren nicht willkommen, und abgesehen von den windigen, gefährlichen Banketten der verkehrsreichen Straßen war alles Privatgrund.

Was ihn das letzte Mal hinter Gitter gebracht hatte: unbefugtes Betreten von Privatbesitz. Ende Januar war er von einer Farm am Rande von Dartmoor aufgebrochen, wo er den Winter über Trockenmauern geschichtet hatte, war grob nach Nordosten gelaufen, langsam, nur ein paar Kilometer die Stunde, und hatte auf Frühjahrswetter gehofft. Das erste Mal hatten sie ihn in Somerset festgenommen, wo er den Besitz eines, wie sich herausstellte, Rockstars durchquerte, das zweite Mal in Wiltshire, wegen Schädigung des dort angebauten Getreides – so zumindest sagten sie ihm. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Er war ziemlich sicher, dass die Polizei die Kollegen entlang des Wegs auf ihn vorbereitet hatte. Oder vielleicht hatte sich die Kunde von ihm auch einfach so unter den Leuten verbreitet, wer konnte es sagen? Am Ende hatten sie ihn mit einer Art Verfügung konfrontiert, dass er sich von Privatgrund fernzuhalten habe, was ihn aber nur noch entschlossener werden ließ. So landete er denn vor einem Amtsgericht in Berkshire und wurde zu vier Monaten verurteilt. Was ein Schock gewesen war, auch wenn er nur zwei abgesessen hatte.

Er hätte sich die Sache erleichtern und mit der Polizei kooperieren können, hätte sich schuldig bekennen und einwilligen können, eine Karte zu benutzen, auf der die öffentlichen Wege grün markiert waren – und sich an diese zu halten. Aber es ging ums Prinzip. Alles, was er wollte, war, durch das Land zu wandern, in dem er geboren war, friedlich und von niemandem abhängig. Wenn er diese Vorstellung aufgab, dachte er, könnte er es auch gleich bleiben lassen.

Vor Jahren hatte er ein paar Monate in einem Transporter gewohnt, der einem Marxisten namens Tommo gehörte. Der Wagen stand zusammen mit ein paar anderen auf dem heruntergekommenen Hof einer Elf-Tankstelle. Tommo arbeitete abends als Kloputzer in einer Tittenbar auf der anderen Seite der Straße, wo die Lkws hielten, und Jack hatte sich immer gefragt, wie er das Geld aus der Bar mit seinen Idealen von Freiheit und Gleichheit unter einen Hut brachte. Tommo redete eine Menge über Landeigentum, Privatbesitz, ZÄUNE und DEN MANN, der das englische Proletariat – womit hauptsächlich Jack gemeint war – unterdrückte. Passiver Widerstand, darum gehe es, sagte er. Schließlich war Jack weitergezogen, weil er es nicht ertrug, die Mädchen kommen und gehen zu sehen. Aber hin und wieder dachte er immer noch an Tommo und an die Dinge, die er gesagt hatte.

Jack fühlte die Frühlingssonne warm im Nacken, spürte den Anfang eines Gedichts aufflackern, verheißungsvoll, irgendwo am Rand seines Bewusstseins. Aber das war in Ordnung, er hatte Zeit. Vielleicht würde er später sein Notizbuch herausholen, falls es sich bis dahin ganz gezeigt hatte.