Bernhard Kürzl wurde in Frankfurt am Main geboren und lebt heute in Oberbayern. Seine Begeisterung zum Geschichtenerzählen zeigte sich bereits in der Grundschule. Mit zwölf Jahren begann er Romane zu schreiben, veröffentlichte aber seine erste Geschichte aufgrund einer sehr langen Schreibpause erst viele Jahre später. So erschien 1997 das Pferde-Fantasy-Abenteuer Mac Mountain als Debüt-Roman.

Zehn Jahre später veröffentlichte er die Fantasy-Geschichte Prinzessin Sina als Hochzeitsgeschenk für seine Frau. 2010 folgte das spirituelle Abenteuer Der Lichtgarten von Helgoland, das nach einer kompletten Überarbeitung 2016 in einer neuen Version herauskam. Mit der Kurzgeschichte Mein zweites Leben beteiligte sich Bernhard Kürzl 2018 an der Weihnachtsanthologie der Rosenheimer Autoren. 2019 erschien der 1. Teil der Science-Fiction-Reihe Rebekkas Erbe mit dem Untertitel Das Luftschiff, 2021 die Fortsetzung Verlorener Planet.

www.kuerzl.de

www.pegasus-schwestern.de

Bernhard Kürzl

Für meine Kinder Paulina und Sara

1. Zwei vor zwölf

Bella trieb ihren Schimmel noch mehr an. Im fliegenden Galopp fegten sie über die Wiese auf den Wald zu. Ihre langen kastanienbraunen Haare flatterten im Wind. Sie blinzelte kurz in das Sonnenlicht, bevor die Bäume es verschluckten, und galoppierte auf einem schmalen Waldweg weiter. Dieses berauschende Gefühl der Freiheit auf ihrem Traumpferd war das Größte. Ein riesiger Baum versperrte ihnen den Weg, aber Bella hatte keine Angst. Sie wusste, dass sie das schaffen würden. Der Schimmel setzte zum Sprung an und –

»Bella!«

Die Zwölfjährige zuckte zusammen. Augenblicklich erstarb ihr verträumtes Lächeln. Sie saß wieder im Klassenzimmer. »Äh, ja?«

»Was habe ich gerade gesagt?«, fragte ihr Deutschlehrer.

»Pferd?«

Milan, der direkt am Tisch neben ihr saß, prustete los. Auch die anderen Schüler stimmten in den Lachanfall ein. Der Lehrer lief rot an. »Du glaubst also, ich erzähle hier etwas vom Pferd?«

Bella grinste verlegen wegen der unbeabsichtigt erhaltenen Aufmerksamkeit, aber ihren Deutschlehrer wollte sie eigentlich nicht verärgern. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr: noch zwei Minuten bis Zwölf. Konnte der Schulgong nicht ein paar Sekunden früher kommen? »Entschuldigung, nein, ich hatte gemeint -«

Die Sonne brannte auf die Gebäude des Carl-Zeiss-Gymnasiums in Jena und erwärmte die Luft auf über dreißig Grad. Noch war kein einziges Kind auf dem Schulhof. Frau Mertens, Klassenlehrerin der Klasse 5b, schrieb die Formel an das Digiboard und atmete tief durch. Die Aufmerksamkeit der Kinder war inzwischen auf dem Nullpunkt. Früher hätte es längst Hitzefrei gegeben, aber heute gehörten diese hohen Temperaturen schon zum Alltag. Frau Mertens drehte sich wieder zur Klasse. »Wir haben also ausgerechnet, dass ein Maurer, der in einer Stunde fünf Quadratmeter mauert, in drei Stunden fünfzehn Quadratmeter schafft. Wenn aber zwei Maurer zusammen fünfzehn Quadratmeter mauern, brauchen die dann sechs Stunden?« Lustlos kauerten die Schüler auf ihren Stühlen, als hätten sie Bauchschmerzen. Die Noten standen sowieso schon fest. In anderthalb Wochen begannen die Sommerferien. Kein Finger ging hoch. Kein Finger? Doch, einer, immer derselbe! Zeitweise schien Frau Mertens mit ihrer besten Matheschülerin den Unterricht allein zu machen. »Ja, Nora?«

Die kleine, fast schon unscheinbare Elfjährige strahlte und senkte ihre Hand. »Klar! Die stehen sich ja dauernd gegenseitig im Weg.«

Frau Mertens lächelte. »Und weißt du auch die richtige Antwort?«

»Das ist umgekehrt proportional. Also anderthalb Stunden.«

Frau Mertens atmete hörbar erleichtert auf, als hinge es von Nora ab, ob sie als Lehrerin geeignet war. »Richtig! Ich hätte ja gerne noch den Rechenweg an der Tafel, aber es gongt gleich. Ihr könnt leise zusammenpacken.«

Da war endlich der ersehnte Gong. Der Deutschlehrer verzog nur genervt das Gesicht und kämpfte sich zwischen den aufgesprungenen Schülern zurück zum Lehrertisch. Bella packte flink ihre Sachen zusammen, lächelte kurz Milan zu und war mit ihren Gedanken schon bei der nächsten Stunde, Sport. Das machte sie am liebsten. Die durchtrainierte Zwölfjährige war die Jahrgangsbeste der 7. Klassen im Geräteturnen. Auf dem Schulhof traf sie sich mit ihrer Schwester Nora.

»Bei der Hitze macht der Unterricht keinen Spaß«, sagte Bella grummelig.

»Aber du hast doch jetzt Sport«, antwortete Nora gutgelaunt. »Ich darf jetzt keinen Sport machen.«

Bella schubste ihre kleine Schwester und versuchte ihr Grinsen trotzdem noch mürrisch aussehen zu lassen. »Du hast ja auch frei und kannst nach Hause, Eis essen, du Scherzkeks!« Nora lachte und schubste zurück, worauf Bella ihre mürrische Show aufgab und mitlachen musste. »Ich freue mich aber schon aufs Reiten morgen Nachmittag.«

»Ja, ich mich eigentlich auch«, sagte Nora ohne erkennbare Freude. »Bis auf Gloria und Lydia.«

»Stimmt, die können einem das Reiten vermiesen.«

»Aber dann ist es nur noch eine gute Woche bis zu den Sommerferien. Und das heißt: Zwei Wochen reiten bei Papa, ohne Zicken und dumme Tussis.« Nora strahlte wieder.

»Und weißt du, was noch toll ist?«

»Was?«

»Na, was ist am übernächsten Wochenende?«

»Samstag? Sonntag?« Nora lachte und rannte davon. »Bis später!«

»Tschüss!« Auch wenn Nora, wie jede kleine Schwester, manchmal richtig nerven konnte, liebte Bella sie und war froh, sie als Verbündete zu haben. Nora hatte bestimmt nicht wirklich ihren Geburtstag vergessen. Oder doch?

So, und nun Sport. Heute ging es an den Barren. Ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ja, jetzt würde sie es den Jungs wieder einmal zeigen können, deren Gehirn scheinbar nur aus einem Fußball bestand, außer bei Milan, der war ganz nett.

»Und, was macht ihr so in den Sommerferien?«, fragte Milan, der vor der Turnhalle stand.

»Wartest du auf mich?« Bella zog ihre Augenbrauen hoch.

Milans Gesicht rötete sich leicht. »Äh, nein, nicht direkt. Ich bin auch gerade erst angekommen, und dann habe ich dich gesehen und gewartet.«

»Aha!« Dieses Aha war übertrieben langgezogen. »Die ersten zwei Wochen sind wir wieder bei meinem Vater auf Amrum.«

Milan öffnete die Glastür und ließ Bella den Vortritt. »Da hätte ich auch gerne ein Haus. Der muss ganz schön reich sein.«

»Na klar, der hat einen Pferdehof, ein paar Hotels, eine Yacht und zwei Flugzeuge.«

Milan blieb stehen und sah sie mit großen Augen an. »Wirklich?«

»Nein, du hast das echt geglaubt?« Bella lachte laut los.

»Was jetzt?«

»Mein Papa hat da ein kleines Haus gemietet. Nach der Trennung sind wir von Niebüll hierhergezogen und mein Vater nach Amrum. Er schreibt Fantasy-Bücher, die meistens an der Nordsee spielen. Daher wollte er unbedingt auf einer Insel wohnen.«

»Ach ja, Christopher Ahrens, Die Prophezeiung von Rungholt. Das Buch hast du mir mal gezeigt. Ich kenne den Norden überhaupt nicht. Wir fahren immer in die Berge oder zu meinem Onkel nach Griechenland.« Für einen Moment wirkte er nachdenklich, als ob er gerne mal etwas anderes kennenlernen würde. Dann sah er wieder Bella an. »Hoffentlich ist unser Sportlehrer bald wieder gesund.«

»Magst du keinen Sport mit Mädchen?« Bella klimperte mit den Augenliedern.

»Doch … ja, schon … aber ich mag kein Turnen. Fußball ist mir lieber.«

Vor den Umkleidekabinen trennten sie sich, zogen sich um und trafen sich wieder in der Halle – als Letzte.

»Ah, Frau Ahrens, schön, dass Sie uns auch die Ehre geben«, begrüßte sie der Sportlehrer, Herr Fischer. »Und Herr Keller hat sich auch eingefunden. Nun dann fangen wir mit euch auch gleich an. Was haben wir beim letzten Mal gemacht, Bella?«

Bella grinste. »Schwingen und Grätschsitz!«

»Machst du es bitte vor?«

Bella strahlte, nichts machte sie lieber, als ihr Können beim Geräteturnen unter Beweis zu stellen. Sie ging zum Barren, umgriff mit ihren Händen beide Holme und schwang zweimal hin und her. Dann landete sie perfekt im Grätschsitz auf den Holmen.

»Gut!«, kommentierte Herr Fischer und drehte sich zur Gruppe. »Wer ist der Nächste?«

Plötzlich fingen die Kinder an zu kichern. Irritiert drehte sich Herr Fischer wieder zum Barren und sah, wie Bella einen Handstand auf den Holmen machte und in dieser Position verharrte, als wäre es die leichteste Übung überhaupt.

»Bella!«

2. Reitstunde

Sorgsam und liebevoll striegelte Bella ihr Welsh Pony. Seit einem halben Jahr war Felix ihr festes Schulpferd, auch wenn es natürlich noch viele andere Schüler ritten. Sie warf einen kurzen Blick zu Rascal, der bereits fertig geputzt und gestriegelt dastand. Nora streichelte ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Wie konnte sie immer nur ihr Pony so schnell fertigmachen? Bella kratzte noch Felix‘ Hufe aus und ging dann zu ihrer Schwester. »Was erzählst du ihm eigentlich?«

Noch bevor Nora antworten konnte, tauchten die vierzehnjährigen Zwillinge Gloria und Lydia mit ihren Oldenburgern auf. »Nora, die Pferdeflüsterin!«, rief Gloria abfällig. Auf den ersten Blick hätte man die beiden nicht für Zwillinge gehalten. Gloria war einen Kopf größer und Lydia etwa genauso groß wie Bella. Allerdings hätte Bella sich zweimal hinter ihr verstecken können. Lydia wirkte eher wie eine Junioren-Ringerin oder Kugelstoßerin.

»Die Looser-Schwestern und ihre Baby-Ponys«, ergänzte Lydia. »Wir haben wenigstens eigene, richtige Pferde.«

»Wissen wir«, antwortete Nora betont gelangweilt ohne eine von ihnen anzusehen.

Bella kochte vor Wut. Ließ Nora alles an sich abprallen? Jedenfalls merkte man ihr nichts an. Bella wollte von den älteren Mädchen anerkannt werden. Mit verkniffenem Gesicht schüttelte Gloria ihren Kopf, als könnte sie nicht verstehen, dass es Nora scheinbar egal war.

»Tja, das könnt ihr euch eben nicht leisten«, sagte Gloria. »Bella, wenn du dazugehören willst, musst du dich mal langsam vom Bag-Lady-Stile verabschieden. Auf Dauer wirst du so nicht akzeptiert.« Sie führte ihr Pferd weiter, während Lydia ihr kommentarlos folgte.

»Bag-Lady?«, fragte Nora, als die Zwillinge außer Sichtweite waren.

»Obdachlose«, sagte Bella. »Macht dir das eigentlich nichts aus?«.

»Klar ärgert es mich, aber wenn sie das merken, freuen sie sich noch mehr. Ich finde die beiden einfach nur nervig und überflüssig.«

»Abteilung links um – marsch!«, rief Alex Ziegler, die Reitlehrerin. In zwei Monaten sollte ihr Baby kommen. Nora warf einen kurzen Blick auf den immer dicker werdenden Bauch und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Pony. Rascal und sie waren ein tolles Team. Von Alex abgesehen kam sie mit dem recht klein geratenen Pony am besten klar. Wenn Nora die Augen schloss, hatte sie das Gefühl, Rascal spüren zu können. Ein eigenes Pferd zu haben war ihr nicht wichtig. Sie liebte Pferde, und dafür brauchte sie keins zu besitzen, was Bella leider nicht verstehen konnte. Eigentlich war es ihr nicht mal sonderlich wichtig auf einem zu reiten, aber Spaß machte es trotzdem. Über ihren besonderen Draht zu Pferden machten sich Gloria und Lydia gerne lustig. Und die zwei Zicken ritten auch noch in derselben Gruppe. »Zügel kürzer fassen, Schenkel zurücknehmen und Galopp – marsch!«, rief Alex. Als würde Rascal das Kommando verstehen, parierte er augenblicklich. »Super Nora, ganz toll. Nur die Hände etwas tiefer. Gloria, Oberkörper zurück! Lydia, gerade sitzen!« Gloria biss die Zähne zusammen und Lydia lief leicht rot an.

Bella hatte zwar Felix in den Galopp gebracht, war aber mit ihren Gedanken bei ihrem weißen Traumpferd. Es sollte ein großes Pferd sein, kein Pony. Ein Pferd, wie sie es aus Filmen her kannte, wenn Reiter und Pferd eine Einheit bildeten, sich sofort verstanden. Sie brauchte keinen Prinzen, das war etwas für kleine Mädchen. Ein weißes elegantes Pferd würde ihr schon reichen. Da würden die beiden Zicken ganz blass vor Neid werden. Sie könnte mit ihm über die Wiesen galoppieren, ihre langen rotblonden Haare würden im Wind flattern …

»Bella!«, rief Alex.

Bella zuckte zusammen. Ach ja, sie war ja in der Reithalle. Hatte sie etwas falsch gemacht?

»Wie hängst du denn im Sattel? Du hast ja gar keine Körperspannung. Sie dir mal deine Schwester an.«

Für eine Sekunde war Bella sauer. Gloria und Lydia kicherten, während die anderen Kinder nur guckten. Ja, Nora ritt besser. Irgendwie war sie wirklich eins mit ihrem Pony. Bestimmt war Rascal viel leichter zu reiten als ihr Felix. Vielleicht war ihr deshalb auch ein eigenes Pferd nicht wichtig. Aber dann lächelte Bella. Sie korrigierte ihren Sitz und war in Gedanken schon wieder bei ihrem Traumpferd.

Auf dem Heimweg radelten die Schwestern eine Weile stumm nebeneinander her. »Bist du ärgerlich?«, fragte Nora schließlich.

»Mh«, brummte Bella.

»Auf mich oder auf Alex?«

»Ach, irgendwie auf euch beide und auch wieder nicht. Es tut schon weh, wenn Alex meint, dass du einen besseren Sitz hast.«

»Und irgendjemand hat einen besseren Sitz als ich, und noch jemand anderes sitzt noch besser und –«

»Ist gut! Ich hab’s verstanden.«

»Wir können nicht in allem gleich sein. Im Turnen bist du viel besser.«

»Und du in Mathe.«

»Und du in Deutsch.«

»Und du in Gloria verprügeln.

»Und du in … Milan knutschen.«

»Ich habe noch nie mit Milan geknutscht!«

Nora lachte laut los und trat in die Pedale. Bella hatte Mühe, ihre kleine Schwester einzuholen, aber sie schaffte es. Nora strampelte wild, doch plötzlich verlangsamte sie abrupt ihr Tempo und bremste.

»Was ist los?«, fragte Bella.

»Wollen wir einen Abstecher zum Haus machen?«

Bella strahlte. »Super Idee! Wer zuerst da ist!« Damit trat sie los und erlangte schnell einen großen Vorsprung.

»Das ist unfair!«, rief Nora und folgte ihr so gut es ging. In einem Neubaugebiet hatte sie Bella wieder erreicht, die nur noch ganz langsam fuhr und die neuen Häuser begeistert betrachtete.

»Das da sieht toll aus!«, meinte Nora und deutete auf ein Haus mit zwei Stockwerken und riesigen Fenstern.

»Ja, aber das kann ja keiner bezahlen. Es wäre schon toll, wenn es noch mit dem kleinen klappt, bevor es verkauft ist.«

»Nur endlich raus aus dem Hochhaus.«

Nach hundert Metern blieben sie vor einem Doppelhaus stehen. Im Garten spielten zwei Kinder. Ein fünfjähriger Junge kam an den Zaun gerannt. »Hallo Bella, hallo Nora. Zieht ihr jetzt doch ein?« Seine jüngere Schwester spielte weiter im Sandkasten.

»Nein«, antwortete Bella etwas traurig. »Ich glaube, so viel Geld haben wir nicht. Mama hat ja schon mit der Bank gesprochen. Aber es reicht auch mit einem Kredit nicht.«

»Schade. Gestern waren wieder Leute da und haben es sich angeguckt. Die hatten einen großen Jungen. Der war aber nicht nett.«

»Ja, wirklich schade«, sagte Nora. »Aber ich glaube an Wunder.«

»Na klar, du Wundertüte!«, scherzte Bella, gab ihrer Schwester einen leichten Schubs und radelte schon wieder los.

»Tschüss«, rief der Junge.

»Tschüss«, antwortete Nora und versuchte ihre Schwester wieder einzuholen.

3. Sommerferien

Endlich Ferien! Am Bahnhof Hamburg-Altona wurden Bella und Nora von Papa abgeholt. Mit dem Wagen, einem neuen elektrischen Skoda Enyaq, ging es jetzt noch zwei Stunden weiter bis nach Dagebüll. Dann auf die große Fähre und nochmal anderthalb Stunden bis Amrum.

»Wozu brauchst du so einen großen SUV, Papa?«, fragte Nora.

»Ich fahre ja nicht immer allein, und hin und wieder muss ich auch einen Hänger ziehen.«

»Einen Hänger? Was willst du transportieren? Weihnachtsbäume?«

Papa schmunzelte. »Das wäre auch eine Idee. Ich verkaufe Weihnachtsbäume vom Festland auf Amrum. Nein, das erkläre ich euch später.«

»Ob wir wieder dieselben Ponys, wie beim letzten Mal haben können?«, fragte Bella?

»Leider nicht«, antwortete Papa, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen. »Vier Ponys wurden verkauft, darunter auch eure.«

»Das ist gemein!«, schoss es aus Bella sofort heraus.

»Der Reiterhof lebt in erster Linie von der Pferdezucht und dem Verkauf. Vom Reitunterricht können die nicht leben.«

»Aber du reitest doch auch dort«, sagte Nora.

»Ich reite einmal in der Woche und habe auch kein eigenes Pferd, für das sie Stallmiete nehmen könnten. Meine paar Euro helfen sicher nicht viel.«

»Ich hatte mich so auf Woyzeck gefreut«, grummelte Bella und sah aus dem Fenster. Stimmte das? War ihr das Pony so wichtig? Auf jeden Fall fühlte es sich richtig an, sauer zu sein. Wiedermal die Reichen, die sich einfach alles kaufen.

Nachdem Papa den Wagen auf der Fähre geparkt hatte, stiegen die Mädchen sofort aus. »Aufs Oberdeck!«, forderte Bella ihre Schwester auf und eilte los.

»Ich halte euch unten einen Tisch frei!«, rief ihnen Papa noch hinterher.

Eigentlich war es Routine, aber da sie das Meer nur in den Ferien sahen, blieb das Verladen der Fahrzeuge und das Ablegen der großen Fähre immer wieder spannend. Bella stütze sich auf die Reling. Kaum hatte das letzte Auto seinen Platz gefunden, wurden die Schiffsdieselmotoren lauter. Während sich die Norderaue vom Anleger entfernte, klappte sich ganz langsam das Bugvisier herunter.

»Ich freue mich schon auf Weihnachten«, sagte Bella.

»Warum das? Dann können wir doch gar nicht ins Wasser.«

»Aber dann ist es hier nicht so voll. Jetzt passt kein einziges Auto mehr auf die Fähre. Komm, wir suchen Papa, sonst sind unsere Sitzplätze auch noch weg!«

Am frühen Abend legte die Fähre in Wittdün an. Es dauerte eine Weile, bis sie mit dem Wagen vom Schiff kamen, aber dann waren es nur zehn Minuten bis Steenodde. Kaum hatte Papa den Wagen vor dem Haus geparkt, sprangen die Mädchen schon mit ihren Rucksäcken aus dem Auto und eilten zur Haustür. Papa schleppte sich mit den beiden Koffern ab.

»Ich will nach oben!« rief Bella, noch bevor sie überhaupt das Zimmer erreicht hatte.

»Nein!«, rief Nora hinter ihr her. »Du warst in den Osterferien oben!« Mürrisch verlangsamte Nora ihr Tempo, ließ den Kopf hängen und warf schließlich ihren Rucksack in eine Ecke des Kinderzimmers.

Bella saß triumphierend auf der oberen Etage des Doppelstockbetts. »In den Osterferien waren wir aber nur eine Woche hier und jetzt sind es zwei.«

»Warum haben wir nicht zwei Zimmer?«, fragte Nora, als Papa mit den Koffern ins Zimmer kam.

»Wo soll ich das zweite hernehmen? Dafür ist das Haus zu klein. Aber wenn ihr wollt, können wir das Doppelbett auseinanderbauen. Dann stehen die beiden Betten nebeneinander, aber ihr habt weniger Platz zum Spielen.«

Es blieb alles beim Alten. Bella und Nora vertrugen sich wieder, schnappten sich nach dem Abendessen ihre Fahrräder und fuhren durch die Straßen der umliegenden Häuser. Dabei spielten sie, ihre Räder wären Pferde, und sie galoppierten um die Wette. Eine Stunde durften sie noch in der Nähe herumfahren, dann mussten sie zurück.

Am nächsten Morgen radelten sie zu dritt zum Peters-Hof nach Westerheide. Papa hatte mit der Reitlehrerin Maren Peters, der Tochter des alten Besitzers, vereinbart, dass Bella und Nora an den kommenden fünf Tagen jeden Vormittag reiten und ihre Zeit auf dem Hof verbringen durften. Heute sogar den ganzen Tag. In dieser ersten Woche wollte er ausnahmsweise auch jeden Tag eine Reitstunde nehmen. Nachmittags waren Meer und kurze Ausflüge geplant. Nora lehnte ihr Fahrrad an die Stallwand, eilte los und war verschwunden.

»Wo will sie denn hin?«, fragte Papa verwundert. »Ihr altes Pony ist doch nicht mehr da.«

»Ich kann‘s mir schon denken«, sagte Bella und stellte ihr Fahrrad neben Noras. »Sie ist bestimmt in den alten Stall.«

»Aber da sind doch nur die Gnadenbrotpferde. Ach, jetzt verstehe ich.«

Bella nickte und eilte ihrer Schwester hinterher. Natürlich stand sie wieder bei Pegasus. Was hatte sie nur mit diesem alten Kläpper? Pegasus war ein Schimmel, ein Araber, eigentlich sogar ein Vollblutaraber. Ihre Reitlehrerin hatte behauptet, er wäre ein ehemaliges Springpferd und hätte an vielen Turnieren teilgenommen. Nun war der Hengst jedenfalls alt und schwach. Hier fand er eine Art Gnadenhof. Eigentlich war es genau so ein Pferd, von dem Bella immer geträumt hatte, aber eben nicht mehr jung und frisch. Außerdem hatte sie Respekt vor seiner Größe. Ein Araber war zwar kein sehr großes Pferd, aber doch etwas größer als ihr Pony.

»Du bist ja schon wieder hier«, sagte Bella, als sie näherkam.

»Er ist immer noch so allein«, antwortete Nora, ohne ihre Schwester anzusehen. »Keiner mag ihn, aber ich finde ihn so hübsch.«

»Hübsch?« Bella stellte sich neben ihre Schwester an das Gatter der Box und betrachtete Pegasus. »Ich finde ihn nicht hübsch. Vielleicht war er das früher mal.« Sie beobachtete Nora, wie liebevoll sie den Schimmel streichelte und er ihre Hand ableckte. »Ja, irgendwie süß ist er schon, aber …«

»Kommt ihr?«, rief Sabrina. »Die Reitstunde beginnt.« Sabrina war siebzehn und ganz in Ordnung. Sie war die Tochter der Reitlehrerin, half hier immer wieder aus und verdiente sich dabei etwas Taschengeld. Sabrinas Opa, der alte Herr Peters, war zwar erst Anfang sechzig, aber er jammerte oft über starke Rückenschmerzen und kümmerte sich nur noch um die Verwaltung. Manchmal himmelte Bella Sabrina ein bisschen an, weil sie so gut mit Pferden umgehen konnte. Klar gab es auf dem Hof auch einige Mädchen, die viel besser reiten konnten, aber Sabrina war die Einzige, die man wirklich als Pferdeflüsterin hätte bezeichnen können. Außer natürlich Nora, aber die war ja ihre Schwester.

Nora und Bella lösten sich sofort vom Gatter, rannten zu Sabrina und umarmten sie. Sabrina lächelte und legte ihre Arme um die Mädchen. »Ich habe euch ganz schön vermisst.«

»Wir dich auch«, sagte Bella. »Papa hat gesagt, dass unsere Ponys verkauft wurden. Wirklich?«

Sabrina lies die Mädchen wieder los. »Ja, das passiert immer mal wieder. Wenn die ausgebildeten Ponys nicht sofort verkauft werden, laufen sie erst einmal im Schulbetrieb. Und oft wollen dann Reitschüler ihr Pferd ganz behalten. Wenn die Eltern das Geld dazu haben …«

»Aber stehen sie dann noch hier?«, fragte Nora.

»Bellas Pony, Woyzeck, steht noch bei uns«, erklärte Sabrina. »Es darf aber nur noch von der Tochter des neuen Eigentümers geritten werden. Und deins, Nora, ist gar nicht mehr hier. Das steht jetzt in der Nähe von Berlin. Aber ihr bekommt zwei andere, ganz tolle Jungs. Die gehen super.« Sabrina ging mit den Mädchen in den neuen Stall und zeigte ihnen ihre Ponys. »Das hier ist Alberto, den reitest du, Bella. Und in der Nachbarbox steht Fleckchen. Beides sind Connemaras.« Dann begann die Reitstunde.