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Alfred Böswald

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 edition a, Wien
www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer
Satz: Sophia Stemshorn

Gesetzt in der Ingeborg
Gedruckt in Deutschland

Vermittelt durch die Agentur Stefan Linde

1234525242322

ISBN 978-3-99001-586-5

ALFRED BÖSWALD

KENNE DICH
SELBST

UND DU WIRST
SCHÄTZE FINDEN

Ein Bekenntnis von
Hans Freiherr von Schoen

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Ich möchte gerne der sein, der ich bin.
Der, der ich bin,
ist meist verdeckt durch eine Außenwelt,
der ich mich unwissend unterworfen habe.
Dies zu erkennen, ist der erste Schritt
zu meiner Bestimmung
.

– Hans von Schoen

Ein Erlebnis, ein erschütterndes Erlebnis –
ich werde nicht ewig leben –
in diesem Leben.
Wie viel schöner ist die Rose,
die ich nicht pflücke!

– Hans von Schoen

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Die größte Freiheit
ist die Freiheit,
den anderen zu respektieren
.

– Hans von Schoen

Inhalt

ABSICHT

NACHSICHT

ANSICHT

UMSICHT

EINSICHT

WEITSICHT

RÜCKSICHT

ÜBERSICHT

AUSSICHT

ZUVERSICHT

PINSELNOTIZEN

ALTER

ANGST

ERKENNTNIS

EROS

FAMILIE

FÜHRUNG

GANZHEITLICHKEIT

GLAUBE

LIEBE

MENSCHSEIN

PFERDE

PHILOSOPHIE

POLITIK

REALITÄT

TOD

STAMMBAUM

DANK

ABSICHT

Heute stehe ich in meinem einundneunzigsten Reifejahr und will mich mitteilen, weil ich das Bedürfnis empfinde, mich dem Leben, das ich liebe und das mich geliebt hat, mitzuteilen. Es soll eine Geste des Dankes sein. Dank ist ein Gefühl, das das Herz erfüllt, den Verstand klar macht. Dank ist ein Teil der Liebe. Ich will mich Kindern und Kindeskindern mitteilen, weil ihnen die eine oder die andere Aussage nützlich oder unterhaltsam sein könnte. Dabei geht es weniger um mein Leben, sondern um mein Denken.

Leben ist vergänglich. Gedanken aber bleiben. Leben bindet, der Geist aber ist frei. Daher muss ich alle Bande lösen, um frei zu sein und glücklich sterben zu können.

Dieses Buch soll mir dabei helfen, dem Tod in heiterer Gelassenheit die Hand zu reichen. Unser westeuropäisches Verhältnis zum Tod ist zu subjektiv, zu sehr auf das menschliche Individuum gerichtet. Dabei übersehen wir, dass wir wohl eher nicht Zweck und Ziel der Schöpfung sind. Der Tod aller individuellen Wesen ist wesentlicher Teil der Schöpfungsmechanik der Evolution, die das Leben ausmacht. Ohne Tod kein Leben!

Und damit schließt sich der Bogen zur Religion, zum Glauben: Die Gestaltung der »Religion als Mythos« darf man nicht den Theologen überlassen. Mit denen wird das nichts. Vielleicht wären die Theologinnen besser, das sei dahingestellt. Wahre »Religion« ist Philosophie, ist Liebe zur Weisheit, ist in jedem von uns als angeborene Ehrfurcht vor der Natur, dem Universum, dem Unfassbaren angelegt. Aus dieser natürlichen Religion erwachsen Demut, Staunen und Liebe. Jede religiöse Lehre, jede Theologie und Dogmatik, verwandelt Demut, Staunen und Liebe in Hochmut, Selbstgerechtigkeit und Hass.

Daher möchte ich nicht an meinen Taten und schon gar nicht an jenen meiner Vorfahren gemessen und bewertet werden, sondern mit meinen Gedanken dazu beitragen, dass ein wenig mehr Demut, Staunen und Liebe in die Herzen jener gelangen, die diese Zeilen, die ungemein fruchtbaren Gespräche, die ich mit Alfred Böswald führen durfte, lesen. Gelingt dies, bin ich unendlich dankbar dafür. Gelingt es aber nur bedingt, so war es jedenfalls für mich ein großes Vergnügen, die Gedanken meines reichen Lebens gemeinsam mit einem Freund zu sortieren und mich des von mir geschaffenen Sinns meines Seins am immer erahnbarer werdenden Ende einer wunderbaren Reise zu erfreuen.

Dass mir Alfred Böswald seine Sprache, sein schriftstellerisches Können, sein Wissen um Zusammenhänge und tiefere Bedeutungen lieh, vor allem aber seine Zeit und als Krone dessen seine Freundschaft schenkte, ist ein Glück für mich. Dieses Buch wäre nicht entstanden, hätte er nicht Ja gesagt, als ich ihn fragte, ob er es schreiben wolle. Jedes Wort darin atmet den Geist, der uns eint.

Ob es ein Vergnügen sein wird, dieses Buch zu lesen, wer weiß? Vielleicht aber trägt der eine oder andere Gedanke ja doch dazu bei, dass sich Menschen gerne an mich erinnern, wenn ich nicht mehr bin. Mehr kann man schließlich vom Leben nicht verlangen, als dass man nicht vergessen wird - zumindest nicht zu schnell …

Großschwaig, am 2. Februar 2022

Hans Freiherr von Schoen

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Geschichte ist der sichtbare
Teil der Zukunft
.

– Hans von Schoen

NACHSICHT

Als an einem regnerischen und unangenehm kalten Septemberfreitag des Jahres 2011 eine stattliche, aus einem alten Ganghoferroman herausgefallene Gestalt in Pelzmantel und Seidenschal, genagelten Schuhen, eine Karakulmütze auf dem Kopf und einen kostbaren Gehstock in der Hand die Schwelle meiner Praxis in Weilheim in Oberbayern überschritt, stellte sie sich mit sonorer Stimme als »Schoen« vor. Er sei bald achtzig, habe mein Buch »Das Geheimnis des Meisters« gelesen und wolle nun den Therapeuten respektive Autor kennenlernen, der in eben diesem Buch von einer Frau erzähle, die zu ihm gekommen sei, um »glücklich zu sterben«. Dies nämlich wolle er auch. Der alte Mann blickte mich dabei aus neugierigen, unter buschigen Brauen blitzenden Augen an, und ein kaum sichtbares, fast bubenhaftes Lächeln ließ sich hinter einem dichten, weißen Bart vermuten. Als er ein paar Minuten später auf dem gelben Sessel in meinem Therapiezimmer Platz genommen und mit anerkennendem Kopfnicken die prall gefüllten Bücherregale goutiert hatte, fragte ich ihn, was ich in all den Jahren jeden Klienten gefragt habe, wenn ich die erste Sitzung mit ihm begann:

»Was fehlt Ihnen denn, um wirklich glücklich zu sein?« Das zu ergründen, sei er hier, antwortete Hans von Schoen, lehnte sich zurück und wartete gespannt auf meine Fragen.

Und damit begann etwas, das ich getrost als Geschenk bezeichnen darf. Denn von da an kam dieser alte Mann in regelmäßigen Abständen über zehn Jahre zu mir und ließ sich »durchs Leben begleiten«, wie er es nannte. Wenn der eine den anderen begleitet, geht man ein Stück des Lebensweges gemeinsam. Ehe man sich versieht, wird man miteinander vertraut, werden aus Fremden Gefährten, aus Gefährten Freunde. Die Gespräche mit Hans von Schoen waren von solcher Dichte und Lebendigkeit, atmeten in solch beeindruckender Weise Gelassenheit, Klugheit und Weisheit, dass irgendwann der gemeinsame Wunsch reifte, sie nicht dem seelenlosen Aktenschrank der Klientenkarteien zu überlassen, sondern sie zu verdichten und einem größeren Kreis suchender Menschen zugänglich zu machen. Es entstand die Idee, aus seinen Gedanken und Weisheiten, aus den Fragen des Seins und Nichtmehrseins ein »sprechendes« Buch werden zu lassen, das den Leser an einer inneren Entwicklung teilhaben lassen und ihm die Möglichkeit der Selbstreflexion am Beispiel eines anderen Lebens geben sollte. Wie ein Wortbildhauer wollte ich aus gestaltlosem Gestein, eingebettet in existenzielle Fragen und nachdenkliche Antworten, umgeben von Mythen, Erzählungen und Philosophie, den Sucher, Denker und Fühler hinter dem Aristokraten Hans von Schoen herausarbeiten und daraus etwas gestalten, das zwischen zwei Buchdeckeln als ein »bleibendes Gesicht«, als »Vermächtnis des Herzens und des Kopfes«, aber auch als Kompendium erworbener reifer Weisheit in andere Hände gegeben werden darf. »Gelassen loslassen!« Wer möchte dies nicht? Sorgen, Probleme, ein Leid, das Leben?

Es würde ein wirkliches »Livre d’heures« werden, meinte ich, als ich Hans von Schoen kurz vor der Fertigstellung dieses Buches erzählte, dass mir die Arbeit mit ihm und an ihm unglaublich viel Freude machen würde: Ein »Stundenbuch«, in das man sich versenken und das Leben in all seinen Facetten mit Händen greifen, aber auch die Liebe erahnen und den Tod annehmen könne, wenn man sich darauf einlasse. Das freue ihn, sagte er und lächelte, während mich seine trüb gewordenen Augen ungemein bescheiden ansahen.

»Ich danke Ihnen dafür!«, nickte er bescheiden.

»Oh nein, ich danke Ihnen«, wehrte ich ab und fühlte für einen Moment jene stumme Traurigkeit des Abschieds in mir, die immer dann leise anklopft, wenn im Leben etwas Besonderes zu Ende geht: der letzte Akkord, der letzte Pinselstrich, das letzte Wort …

Hans von Schoen nannte mich in all den Jahren nur »Böswald«, während ich ihn stets mit »Baron« ansprach. Wenn er mir aber E-Mails schrieb, verwendete er eine andere Anrede: »Lieber Freund!« Und als er mich im Herbst 2021 zu einem festlichen Abendessen zu sich nach Hause einlud und eine namhafte Gesellschaft des bayerischen Adels anwesend war, stellte er mich auf die freundliche Frage einer Gräfin, wer ich, der einzige Bürgerliche an diesem Abend, denn sei, kurz und bündig vor: »Alfred Böswald - mein Freund!« Ich fühlte mich – man mag darüber schmunzeln – gerade dadurch geadelt! Denn in über zehn Jahren waren wir genau dies geworden: Freunde, die ein ungleiches Leben und dreißig Lebensjahre trennt, aber ein großes Herz und ein suchender Geist eint. Deshalb ist dieses »Stundenbuch« auch das Buch eines Freundes für einen Freund geworden: Eine Hommage an jenen tiefen Glauben, der über aller Religion und jeglicher Institution, über aller Ideologie und jeglichem Fanatismus steht: Nämlich, dass das eigene Leben bestenfalls oder jedenfalls eine Chance ist, ihm aus sich heraus und in gewollter Bereitschaft zum Wachstum einen echten Sinn zu geben. Für das Vertrauen in mich bin ich Hans von Schoen ungemein dankbar, für die Ausführung bitte ich ihn um Nachsicht, da Subjektivität immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit bieten kann.

Solche Begegnungen wie die mit Hans von Schoen hat man selten, gar mancher hat sie nie. Sie prägen und machen das Herz ein klein wenig heiterer, wenn man sich an sie erinnert, aber auch schwerer, wenn man die Gewissheit spürt, dass man alles hergeben muss, was man im Leben besitzt: Erinnerungen, Gefühle, Materielles – und vor allem eines Tages auch einen lieben Freund, der es geschafft hat, im Alter derart zu reifen, dass man ihn festhalten möchte, während er »gelassen loslässt«. Oder wie er selbst sagt: »Menschen können sein wie Früchte. Wenn sie ausgereift sind, sind sie am besten - und am Ende ihrer Bestimmung.« Und keiner weiß so gut wie er, dass reife Früchte fallen, wenn der Herbst dem Winter die Welt überlässt.

Wer am Ende seiner Bestimmung wagt, sein eigenes Leben und Denken in fremde Hände zu geben, um durch deren Pinselstriche ein neues Portrait entstehen zu lassen, hat verstanden, dass von uns Menschen nur das überlebt, was an uns unsterblich ist: Geist und Weisheit, niemals aber die Torheit der Eitelkeit und die Vergänglichkeit unserer Person. Ich danke daher von ganzem Herzen meinem Freund Hans von Schoen. Es war mir eine persönliche Ehre, aber auch eine aufrichtige Freude und Lust, mit ihm und für ihn dieses Buch entstehen zu lassen. Es mag nicht verwundern, dass Hans von Schoen in seiner ersten Nachricht, in der er mich einlud, Gespräche mit ihm bei sich zu Hause zu führen, etwas preisgab, was nur ein Mensch formulieren kann, der das Leben nicht mehr als wichtig, sondern in seiner Fülle als bereichernd begriffen hat. Er genieße das Leben, denn er habe »…losgelassen, um sich fortan treiben zu lassen!« Wohl dem, der dies von sich sagen kann, wenn schwächer werdende Augen unerbittlich die letzten Jahreszeiten kommen und gehen sehen und man ahnt, dass man bald nur noch Erinnerung sein wird, verblassend bei den einen, nachhaltig im Gedächtnis und nachhallend im Herzen bei den anderen. Ein derart losgelöster Mensch kennt sich, hat seinen Schatz gefunden, das Leben verstanden - und mit ihm den Tod.

Hans von Schoen wird in diesem Buch jedem zum echten Freund, der ihm über Zeit und Raum hinweg die Hand reicht, bis wir selbst eines Tages bereit sind, gelassen loszulassen, was uns gehalten hat. Dann, wenn wir, wie er, sagen können, dass es herrlich ist, sich treiben zu lassen, wohin auch immer. Seien wir uns dessen bewusst: Eigenes Leben ist immer nur eine Geschichte, die irgendwann andere von uns erzählen, bis sie eines Tages vergessen sein wird und wir mit ihr.

»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«? Wie gut, meinte Hans von Schoen, dass das Leben kein Märchen ist …

Weilheim in Oberbayern, am 31. Januar 2022
Alfred Böswald

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Suche nicht das Göttliche jenseits der Natur.
Du wirst es nicht finden.
Suche es in Dir
und es wird sich Dir offenbaren
.

– Hans von Schoen

ANSICHT

»Er nahm die Büchse, schlug sie an den Baum. Und sprach: Das Leben ist ja nur ein Traum!« – Diese, den meisten Menschen heute sicher nicht mehr vertraute Zeile des angeblich um 1900 vom Berliner Max Oscheit komponierten Jagdlieds »Im grünen Wald«, sang Michael Pfaffel aus dem ärmlichen Dorf Unterstall in der Nähe von Neuburg an der Donau mit besonderer Inbrunst und wischte sich dabei jedes Mal heimlich eine Träne aus dem Auge. Es rührte ihn. Und erinnerte ihn verstohlen an sein Leben, das dahinging fast ohne Höhen, aber mit vielen Tiefen. Als er 1965 viel zu früh mit vierundsechzig Jahren nachts nach schweren Träumen einem Herzinfarkt erlag, konnten die zwei kleinen Kinder seiner Tochter abends in ihren Bettchen hören, wie die Mutter immer wieder leise sämtliche Strophen dieses rührseligen Liedes im Andenken an ihren geliebten Vater sang. Und auch ihr Weinen hörten die Kinder, ihre Trauer um einen Menschen, der ihr sehr fehlte. Sie vermisste den Gleichmut und die Liebe eines bewundernswert selbstlosen Mannes, dessen Leben ganz und gar kein Traum war, allenfalls eine einzige große Pflichterfüllung, da er 1934 nach dem Tod seines Halbbruders, der nach langem Leid einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg erlegen war, dessen Witwe heiratete, um deren drei kleinen Kindern den Vater zu ersetzen. Sechs Hektar Landwirtschaft, ein Kaltblütler, vier Stück Vieh im Stall und ein paar Hühner - das war alles! Nichts Aufsehenerregendes, nichts Lautes, nichts Spektakuläres. Er nahm an, was ihm das Leben ungefragt zur Pflichterfüllung hinwarf. Sicher hatte er als junger Mann sein Leben anders geplant, hatte Wünsche gehabt, Träume von der großen Liebe, Hoffnungen auf ein selbstkreiertes Glück, Ziele. Aber anstatt zu klagen, ergab er sich stoisch einem Schicksal, das alle Planung zunichtemachte, alle Träume wie Seifenblasen platzen ließ, alle Luftschlösser einriss und stattdessen die brutale Realität des Überlebenskampfes zum Lebensinhalt werden ließ: »Das Leben ist ja nur ein Traum…« klang plötzlich melancholisch, leise resignativ, einem verpassten Zug nachsinnend und nachtrauernd. Geblieben von diesem asketischen Mann, dessen Leben viel größer war als es scheint, ist nichts außer der vagen Erinnerung an eben dieses Lied und dessen Melodie der Vergänglichkeit. Sein Bild verblasst, sein Andenken verweht. Wenn einer leise kommt und noch viel leiser geht, gerät er schneller in Vergessenheit als viel Unbedeutenderes vor und nach ihm.

Michael Pfaffel war mein Großvater mütterlicherseits. Meine einzige Erinnerung an ihn sind köstliche Winteräpfel, die er mir schenkte, und ein furchterregend riesiges Kaltblut, auf das er mich setzen wollte, es aber sein ließ, als ich um mein Leben schrie.

Warum erzähle ich das? Warum bin ich derart anmaßend, ein »Stundenbuch«, das über einen so außergewöhnlichen Mann wie Hans Freiherr von Schoen erzählen soll, aus dem er in tiefsinnigen Gesprächen zu hören sein und in dem er lebendig bleiben soll, mit einem Pinselstrich meiner eigenen Ahnengeschichte zu beginnen? Was soll das in Vergessenheit geratene Leben eines selbstlosen und viel zu früh verstorbenen Kleinbauern aus dem Donaumoos mit dem von Weltläufigkeit und Selbstbewusstsein geprägten langen Leben eines Freiherrn aus dem beschaulich herrschaftlichen Gut Großschwaig bei Irschenberg gemeinsam haben? Der eine ein Mann der Entbehrung und des Verzichts, von dem schon bald keine Lebenden mehr wissen werden, dass es ihn je gegeben hat, der andere eine nicht zu übersehende Persönlichkeit, ein kluger und lebensfroher Philanthrop, ein resilienter Philosoph, der beschließt, der Nachwelt ein Kompendium seiner Ansichten, Aperçus und Aphorismen zu hinterlassen, damit noch Generationen nach ihm von seinen Lebensweisheiten erfahren können und er Menschen damit zum Nachdenken anregt und sie in seinen Bann zieht, auch wenn er längst nicht mehr ist. Warum diese Provokation, warum dieser scheinbare Vergleich zweier unvergleichbarer Menschen, die sich nie begegneten, nicht kannten, nichts voneinander wussten? Darf man so etwas überhaupt? Das vermeintlich »unbedeutende« Leben des einen und das scheinbar »bedeutende« Leben des anderen gegenüberstellen? Oder ist es nicht bereits Hybris, im Zusammenhang mit »menschlichem Leben« von »unbedeutend« und »bedeutend« zu sprechen? Was ist es wert, unser Leben? Was ist sein Sinn? Was macht es aus?

Eben gerade, weil man »Leben« nicht vergleichen darf und tatsächlich an nichts messen kann und auch nie sollte, eben weil jedes Leben für sich einzigartig ist, stellt sich diese Frage nicht. Sie bleibt rhetorisch und fordert heraus, emotional und existenziell. Denn der Wert eines Lebens misst sich nicht an Erfolgen, Ansehen oder Macht, nicht an Schönheit, Attraktivität und Popularität und schon gar nicht an Besitz und Geld. Leben ist nach Erich Fromm nicht »Haben«, sondern »Sein«. Und dieses »Sein« misst sich ausschließlich an einer einzigen Fähigkeit, die nicht erlernt werden kann, sondern zugelassen werden muss: zu lieben! Wer liebt, ist reich, auch wenn er bettelarm ist. Er besitzt einen Schatz, den er nicht erwerben kann, sondern von sich selbst geschenkt bekommt. Dies sind die wahren »Schätze«, die jener findet, der sich selbst zu kennen wagt, wozu uns Hans von Schoen im Titel dieses Buches so wunderbar einlädt. Er möchte verführen, ein Geheimnis zu entschlüsseln, das im wahrsten Sinn des Wortes »über Leben und Tod« entscheidet. Über das Leben eines jeden einzelnen Menschen und über sein Sterben zumal. Wer verstehen lernen will, was Hans von Schoen mit zunehmendem Alter bewegte und beseelte, muss zu außergewöhnlicher Betrachtung bereit sein - zur Versenkung, zur Kontemplation. Und genau aus diesem Grund gab es im Mittelalter »Stundenbücher«: Um die kalte Welt des Vergleichens und Wertens für eine »gute Stunde« auszublenden und bereit zu sein, sich zu besinnen und in Gedanken zu versenken. Wer also dieses Buch in der Hoffnung auf schnelle Ergebnisse mal eben rasch zur Hand nimmt, sollte es gleich wieder weglegen. Es hat nur sehr wenig mit aneinandergereihten Fakten und biographischer Chronologie zu tun, kümmert sich nur leidlich um Zahlen und Daten, interessiert sich herzlich wenig für Wichtigkeit und Weihrauch. Es hat mit dem nackten Menschen und seinem Dasein zu tun, mit dem Sinn seines Lebens, der Suche nach der Liebe, der unweigerlich entstehenden Schuld und dem unausweichlichen Tod. Deshalb betrifft es jeden von uns: Hans von Schoen, mich, Sie!

Alle Betrachtung über das menschliche Dasein führt uns stets zur großen Frage: Was ist dieses »Leben« überhaupt? Eine Aneinanderreihung von Zufällen? Nur scheinbar geordnetes Chaos? Die Erfüllung eines Plans? Eine Zeitspanne zwischen Geburt und Tod? Oder vielleicht doch nur »…ein Traum«? Steckt im Sinne Platons und der auf ihn indirekt zurückgehenden Heilsreligionen hinter jedem Leben eine größere ordnende Hand, die es ausschließlich gut mit uns meint, oder versteckt sich dahinter doch nur jener gnostische Demiurg, der uns bewusst Leid zufügt, der für das Böse in der Welt und die Brüche in unserem Leben verantwortlich ist und sich darüber sadistisch freut? Oder ist im Sinne der Existenzialisten schlicht rein gar nichts hinter allem, weil nichts ist, wo nie etwas war? Ist unser Leben eine Kette sich scheinbar voneinander ableitender Koinzidenzen oder doch ein großes kausales Kunstwerk, wo sich eins aus dem anderen ergibt, weil über allem so etwas wie ein gewolltes »Schicksal« steht? Ist es hilfreich, wenn wir dem Leben einen größeren Sinn geben wollen und uns fiebrig wie Schatzsucher auf die Suche nach eben diesem Sinn begeben? Oder ist der einzige Sinn unseres Lebens eben doch nur jener, den wir ihm selbst zu geben imstande und vor allem bereit sind? Haben wir eine moralische, eine spirituelle, eine religiös begründete Verpflichtung, unser Leben zu planen und zu ordnen, damit es uns nicht aus den Händen gleitet oder gar aus den Fugen gerät? Oder sind der vermeintlich gute Plan und die dahinterstehende gute Absicht nur Teil der Versuchung selbst, sich rückblickend als Opfer widriger Umstände zu sehen? Ist unser Leben am Ende nur eine Laune der Evolution, eine ungeplante Reise der ängstlichen Kreatur »Mensch«, die sich stolpernd von Schmerz zu Schmerz, von Versuch zu Versuch, von Irrtum zu Irrtum, von Enttäuschung zu Enttäuschung, von Geburt zu Tod hangelt? Ist alles nichts? Doch nur eine große Illusion? »Nur ein Traum«? Unterscheidet sich das Leben einer Ameise von dem unsrigen nur, weil wir glauben, die Ameise sei ein unbedeutendes Insekt, willenlos und geistlos, wir aber beseelte Wesen voller Ideen und Esprit sind, kulturschaffend und innovativ, Großes hinterlassend, Bleibendes schaffend? Aber was, wenn die Ameise von uns kopfschüttelnd das gleiche denkt, wie wir von ihr? Wer hat recht?

»Viele, die sich auf den Weg der Selbstfindung machen, sind ängstlich, sie könnten ankommen«, sagt der 2016 verstorbene Publizist Roger Willemsen und berührt damit eine echte Wunde menschlicher Sehnsucht. Denn möglicherweise öffnet sich ein Zugang zum Sinn unseres Lebens von ganz anderer Seite: dass wir ihn erst finden, wenn wir ihn auch sehen wollen?

Mythologisch betrachtet sind wir alle Helden unserer einzigartigen Geschichte, denn der Helden gibt es viele und selbst die unbedeutendste Geschichte hat ihre Helden. Und wie im richtigen Leben sind es eben nicht nur die strahlenden Hochglanzkrieger in den Mythen und Sagen, die uns packen und faszinieren, sondern vor allem die tragischen Gestalten, die für eine größere Sache jung ihr Leben lassen oder es zumindest riskieren, weil sie nicht anders können: Achilleus von Thessalien, Jesus von Nazareth, Johanna von Orleans … Wer es wagt, mythologisch zu denken, in den Geschichten von vieltausend Jahren Menschheit zu lesen, mag erahnen, was ein vermeintlich großes oder ein kleines, ein so gesehen bedeutendes oder unbedeutendes Leben ausmacht. Alle Mythen der Völker dieser Welt erzählen von einem eher unbedeutenden Menschen, der in einer streng strukturierten Welt aufwächst. Er ist Teil des Ganzen und als Individuum nicht wichtig. Er funktioniert als Rädchen unter Rädchen, das nach dem individuellen Tod durch ein anderes ersetzt wird. Nicht der einzelne ist bedeutsam, sondern das Ganze, die Gesellschaft, die Ordnung. Dem hat sich alles unterzuordnen: eigenes Denken oder gar umstürzlerische Ideen, Aufbegehren und Revolution sind verwerflich, weil sie Strukturen zerbrechen, Systeme zerstören und damit alle und alles gefährden. Damit wäre die Geschichte auch schon erzählt, wenn es nicht um Helden ginge, die sich der Banalität entgegenstellten. Denn aus der unbedeutenden Normalität des nicht individuellen Daseins kommend, dort, wo alles seinen gewohnten Gang geht und der Mensch zwischen dem Gefühl von Langeweile und der Ablenkung der Welt dahinvegetiert, passiert etwas Unerhörtes, das ihn aus der Bahn wirft: Eine leidenschaftliche, spontan hereinbrechende Liebesaffäre, eine völlig unerwartete Kündigung am Arbeitsplatz, eine schwere Krankheit, ja der Tod eines geliebten Menschen, oder einfach nur ein Buch, das einem zufällig in die Hände fällt und derart verstört, dass man anfängt, sich und sein Leben grundsätzlich in Frage zu stellen. Dann beginnt, was wir »Leben« nennen.

Oberflächlich besehen scheinen großen Leben große Entwürfe und misslungenen Leben stümperhafte Skizzen zugrunde zu liegen. Die Schuld für die Niederlage wird beim Verursacher des eigenen Schicksals gesucht, dem erbärmlichen Menschen, der gar gegenüber seinem Schöpfer versagt und nicht geliefert hat. Tausende von Jahren und für Milliarden von Menschen heute noch wird ein gutes Leben diesseits und jenseits des Todes als Lohn dafür angesehen, den Geboten und Verboten Gottes gefolgt zu sein, ein missratenes Leben und gar die ewige Verdammnis als Strafe dafür, Gottes Lebensentwurf widersprochen zu haben. Der Fall aus dem Paradies ist selbstverschuldet, der Wiedereintritt bedarf der Gnade. Und dazwischen liegt die große Unbekannte »Leben«? Wahrlich kein Rezept für Lebenslust und schon gar keine Ermutigung, ein individuelles Leben zu wagen, in dem man Erfolg haben, aber auch krachend scheitern kann.

Glücklicherweise begnügten sich furchtlose Bösewichte nicht mit Fatalismus und Götterglaube, sondern wollten wie Prometheus wissen, was hinter allem steckt. Und so war es dem Zufall und vor allem dem Ungehorsam des Suchenden geschuldet, dass der Mensch dahinterkam, dass das Geheimnis des Lebens größer und vor allem faszinierender ist als eine dramatische, aber letztlich trostlose Geschichte von zornigen Göttern und ihren missratenen Geschöpfen: Nein, es war kein verärgerter Gott, der uns aus dem Paradies der Ahnungslosigkeit hinausgeworfen hat, weil wir nach Erkenntnis von Gut und Böse strebten, sondern etwas, das sich irgendwann im Frontallappen des Gehirns anthropomorpher Primaten und pelziger Nagetiere nach und nach entwickelte und uns heute befähigt, zu hinterfragen, zu reflektieren, zu lieben und zu verzeihen: das komplexe Denken!

»Das Leben ist eine Zumutung«, lasse ich in einer meiner eigenen Erzählungen die Protagonistin sagen, und das trifft es tatsächlich ziemlich genau, da jedem von uns etwas zugemutet wird, dem wir nicht zustimmen oder es gar ablehnen können. In welche Familie werden wir hineingeboren? Haben wir fürsorgliche und liebevolle Eltern? Eine Mutter, die uns ein Nest baut, uns behütet und Geborgenheit schenkt, bis unsere Flügel stark genug geworden sind, um uns selbst zu tragen? Einen Vater, der uns annimmt, so wie wir sind, seine Freude daran hat, das Besondere und Andersartige seines Kindes als Bereicherung zu empfinden und nicht als Beleidigung seines eigenen Egos? Wachsen wir in Armut auf, die uns viel zu früh die Ungerechtigkeit der Welt am eigenen Leib spüren lässt, oder fehlt es uns an nichts und leben wir den Überfluss und dürfen aus einem reichen Früchtekorb wählen, wonach uns gerade ist? Werden wir in Friedenszeiten geboren und erleben sorglos das Älterwerden von Eltern, Geschwistern, Freunden, Geliebten, Nachbarn? Oder wirft uns das Schicksal in einen sinnlosen Krieg, der den Vater, den Bruder, den Freund, die Geliebte, ganze Familien hinwegmäht, weil es die grausame Lust des Krieges ist, wahllos im Namen einer größeren Sache zu töten? So wie es einem etwa auf dem Weg zu Hans von Schoens Gestüt Großschwaig sprachlos vor Augen geführt wird, fährt man am Durnbach War Cemetry vorbei, wo fast dreitausend steinerne Namen die namenlose Sinnlosigkeit des Krieges anprangern? Schenkt uns das Schicksal Gesundheit und Verstand, um uns des Lebens freuen zu können und seine Geheimnisse entdecken zu dürfen, oder schleicht Krankheit in unser Haus und nimmt uns früh liebe Menschen, zehrt uns aus und legt sanfte Nebel des Wahns über unsere Stirn? Finden sich Menschen, die uns fördern, wenn wir der Förderung bedürfen, oder verlangt das Leben von uns den ewigen Kampf ums Überleben, weil da keine Hand ist, die sich uns entgegenstreckt? Und werden wir liebende Menschen um uns haben, wenn wir die letzten Wege gehen, oder werden wir ein einsamer Wanderer sein, der sich am Ende müde und zerschunden fallenlässt und schlafen möchte, einfach nur noch schlafen …?

Nein, das Leben ist nicht fair.

Es ist grausam und charmant, tödlich und schöpferisch, theatralisch und spießig, launisch wie die Natur, unverschämt schön wie ein Sonnenaufgang am Meer, spöttisch und zynisch wie eine Fata Morgana, die uns etwas schenkt und doch nichts gibt. Das Leben ist entweder ein ungezähmtes Ungeheuer, immer auf dem Sprung, uns aufzufressen, oder es plätschert in gähnender Langeweile dahin, nicht bereit, auch nur einen Finger dafür zu rühren, dass es sich lebendig anfühlt. Gehen wir nicht achtsam mit unserer eigenen Geschichte um, ist sie erzählt, ehe wir uns versehen. Geben wir ihr nicht Gestalt und Kontur, verlaufen sich ihre Linien im Sand und verlieren sich im Nirgendwo.

»Die Tage kommen, die Tage gehen, vorhersehbar, als hätte ich keine Aufgabe als auf den Tod zu warten. Wird etwas geschehen, sich wandeln in mir, mir Verantwortung geben, Sinn enthüllen?«, fragt 1996 ein vierundsechzigjähriger Hans von Schoen und fleht um Bedeutung, um zu spüren, dass sein Leben trotz allem »sinnvoll« ist. Trotz allem, was geschah, trotz allem, was gelang und misslang. Trotz allem! Seltsam, denn glaubt man der Werbung von Versicherungsprodukten und privaten Renten, aber auch der Vorstellung von Ruhestand unserer Wohlstandsgesellschaft, dann soll der Mensch Vorsorge dafür treffen, dass er ein »sorgloses« Alter genießt, in dem er endlich »sinnbefreit« in den Tag hineinleben und tun und lassen kann, was immer er möchte, unbehelligt von anderen, für die er als nicht mehr produktives Wesen eh keine Rolle mehr spielt. Das Ziel des Alters ist demnach die Befreiung vom Ziel, die Ziellosigkeit, die nur der Übelmeinende als Orientierungslosigkeit bezeichnen würde. Kein Weg ist das Ziel? Ist es das?

Geht man Hans von Schoens banger Frage auf den Grund, verbirgt sich dahinter viel mehr als nur Unruhe und Getriebenheit, nämlich die große Angst vor der Bedeutungslosigkeit, das Klammern an eine »Bedeutung«, die man zu haben glaubt, zu haben hofft. Ganz sicher aber verbirgt sich dahinter auch die existenzielle Angst des Menschen vor dem ewigen Tod, die jeden Sinnsucher irgendwann gegen Ende des aktiven Lebens aufschreckt, weil der aktive Mensch lieber wie Bismarck als »braves Pferd in den Sielen sterben« möchte als ohne Anerkennung und Bedeutung dahinsiechen zu müssen. Erich Fromm würde ihm zurufen: »Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe? Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise!« Es hilft nichts: Wir verlieren immer, was wir haben! Spätestens mit dem Tod ist alles Schall vergangener Lobeshymnen und Rauch längst erloschener Freudenfeuer. Daher bedarf es der Weisheit, alles gehen lassen zu können, gelassen werden zu dürfen: »Je pense que les naïfs ne seront pas déçus après la mort!« – »Ich denke, dass es die Unbefangenen sind, die nach dem Tod nicht enttäuscht sein werden,« hören wir Hans von Schoen gar nicht mehr ängstlich fast achtzigjährig sagen – und jetzt ist es Narrenspiegel und Weisheit zugleich! Denn wer kennt nicht jenen unter Agnostikern so beliebten Scherz, dass diejenigen, die auf ein Paradies im Jenseits hoffen, sich nach ihrem Tod bitter beschweren würden, wenn sie erführen, dass da nichts wäre außer Nichts! Sie fänden nur niemand, bei dem sie sich beschweren könnten …

Ist es nicht erfüllender, den Sinn des Lebens im eigenen Leben zu sehen, als in einem höchst ungewissen Danach, im Jenseits, im Paradies? Also doch ein Auftrag an einen jeden von uns, sein Leben immer und immer neu zu entwerfen, um es »nach Plan« werden zu lassen und mit »Sinn zu füllen«? Auch wenn es für einen Architekten grotesk klingen mag, aber eine solche »Planung« käme einer Katastrophe gleich. Auf dem Reißbrett gibt es keine Widersacher. Das Leben aber ist voll von ebendiesen, die eine exakte Planung ad absurdum führen und den großen Augenblick zu einer einzigen abgrundtiefen Enttäuschung werden lassen, jener ins Bodenlose fallenden Resignation, dass man einem schönen Plan auf den Leim gegangen ist, einer Erwartung, die sich nicht erfüllen konnte oder wollte. Da aber auch die stärkste Psyche nur ein bestimmtes Maß an existenziellen Enttäuschungen zu ertragen vermag und irgendwann darunter erschöpft zusammenbricht, ist es ratsam, einem Plan die Anerkennung der Unplanbarkeit und der Hoffnung die Erwartungslosigkeit vorzuziehen. Das mag unmenschlich klingen, ist aber das genaue Gegenteil. Denn Hoffnung ist ein süßes Gift, das abhängig macht wie Absinth, aber genauso krank, und am Ende den Geist verwirrt und den Körper verwelken lässt. Hoffnung tötet!

Unplanbar ist es, unser kleines Leben, aber gestaltbar, formbar, vor allem aber notwendigerweise annehmbar. Die menschliche Kreatur ist ungefragt angehalten, das anzunehmen, was ihr aus unsichtbarer Hand ohne jeden Sinn und durch eine Kette von wahllosen evolutionären und biographischen Zufällen scheinbar gewollt gegeben wird. Denn im Annehmen und Gestalten liegt eine Kunst, die aus dem Formlosen ein Werk werden lässt, wenn man es denn will und wenn man es denn kann.

»Werk« aber meint nicht »Großartigkeit« im Sinne von »Vorbild« und »Leuchtfeuer«. Es meint das Arbeiten mit Werkzeugen, das Erlernen und Anwenden von in der Meisterschaft sich offenbarenden Fertigkeiten und Fähigkeiten, die in einem angelegt sind. »Werk« meint vor allem die Bereitschaft und den Mut des Meisters, aus dem, was gegeben ist, etwas werden zu lassen, das mehr und einzigartig ist. Den groben Marmorblock zu behauen und aus dem vielleicht hässlich-fleckigen Stein ein makellos anmutiges Gesicht entstehen zu lassen. Farbe auf weißer Leinwand zu verteilen, um mit dem Pinsel gekonnt dem Nichts ein Bild zu entlocken. Tonlose Noten auf dürre Zeilen zu kritzeln, die zu einer unsterblichen Melodie werden, aber auch Worte zu wägen, zu wählen und so zusammenzusetzen, dass aus der Stille des Unausgesprochenen Weisheit und Wahrheit werden. Um jene Meisterschaft des Lebens zu erlangen, aber auch jene Genügsamkeit zu verinnerlichen, bedarf es der lebenslangen Bereitschaft zu lernen. In die Lehre zu gehen, heißt in die Knie zu gehen. Vor dem Leben das Knie zu beugen, wenn es verächtlich grinsend brutal zuschlägt, kostet ungemein Kraft und lehrt Demut. Wem aber jene fehlt, dem bricht der Hochmut, der den Fall vors Scherbengericht bringt, das Genick. Dem hochmütig Verurteilten bleibt dann nur das trostlose Exil, der stumme Ausweg des Todes, das Ende jeglicher Gestalt. Wer aber in Demut annimmt und sich redlich müht, dem eigenen Leben selbst seinen besonderen Sinn zu geben, kommt als Lernender an einen Punkt, an dem er einfach wagt, loszulassen. Wie Josef Knecht in Hermann Hesses »Glasperlenspiel« lässt sich der Mensch am Ende seines Lebens treiben und lässt geschehen, was immer kommen möge.

Und genau diesen Satz – ohne je Hesse gelesen zu haben – sagte mir Hans von Schoen neunundachtzigjährig im Juli 2021: »Wissen Sie, ich wage es gar nicht zu sagen: Ich lasse mich einfach treiben! Ist das nicht herrlich? Es bedarf keiner Anstrengung mehr. Was immer kommen mag, es ist gut!«

Was in den Ohren der Frommen und noch Frömmeren geradezu häretisch klingen mag, ist nichts anderes als – Weisheit! Wer sich vom Leben lösen kann, erlöst sich selbst, wird zum »Meister« und vollendet das Werk, das man von einem namenlosen Schicksal unendlich vieler Zufälle in die Hände gelegt bekommen hatte, als man geboren, gezeugt wurde. Aber Hans von Schoen wäre nicht Hans von Schoen, wenn dazu nicht noch ein guter Schuss sokratischer Selbstironie hinzukäme: »Irony, what a lovely way to indulge one’s pride!« – »Ironie, welch köstlicher Weg, um jemandes falschen Stolz zu streicheln!« Damit lässt er dem Ernst des Lebens das Lachen über den törichten Stolz folgen, jenes lausbübische Augenzwinkern gegenüber dem Gevatter Tod, der solchen Menschen dann großzügig lächelnd den Wunsch, noch ein wenig weiterzuleben, nicht abschlagen kann, denn der selbstgerechten Sauertöpfe gibt es eh viel zu viele auf der Welt …

»Kenne Dich selbst und Du wirst Schätze finden« – Hans von Schoen lehnt sich damit an jenen von Philosophen, Theologen und Psychologen gedrehten und gewendeten Spruch aus der Vorhalle des delphischen Orakeltempels des Apollon an, der dort laut Plutarch im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf einer Säule stehend den Eintretenden begrüßte: »Γνῶθι σεαυτόν!« – »Erkenne Dich selbst!« Angeblich soll der vollständige Spruch gelautet haben: »Erkenne Dich selbst, dann erkennst Du Gott in Dir!« Ist »Gott« also des Rätsels Lösung? Ist er jener Schatz, den jeder Mensch in sich zu finden imstande ist, wenn er zu wahrhaftiger und vor allem aufrechter Suche bereit ist? Nicht in der Welt, in der es sich bequem ein Leben lang nach Schuldigen suchen ließe und man so, alle Verantwortung für das eigene Leben von sich weisend, »Gott und die Welt« für das Scheitern verantwortlich machen könnte, sondern ausschließlich in der Armseligkeit des eigenen Wesens, bei uns selbst?

Der demütig Suchende findet das, was wir als »Liebe« und als »Glück« bezeichnen, tatsächlich nur über den Umweg seiner selbst. Dort, an der Pforte des Glücks, trifft der Mensch nach Auffassung von C. G. Jung auf die Dämonen und Trolle, auf die Wesen der Unterwelt, die feuerspeienden Drachen als Hüter des Schatzes im Verborgenen. Gegen sie alle muss er sich durchsetzen, indem er sie anerkennt und damit jenen Teil seines Wesens annimmt, den er nicht sehen möchte: die Schattenseite! Wer also jene »Schätze« finden möchte, die Apollon und Hans von Schoen uns verheißen, muss durch den Schatten zum Licht. Und da wären wir wieder beim Erkennen »Gottes«, vor allem bei dem, was mit »Gott« gemeint sein könnte, denn wer durch den eigenen Schatten, durch das Erkennen der eigenen Kleinheit und Fehlbarkeit gegangen ist, wird großzügig und gütig. Er findet die »Güte« in sich und schenkt sie jenen, die ihrer bedürfen. Er wird nachsichtig und barmherzig mit denen, die guten Willens sind, aber scheitern. Er verzeiht, wo andere richten und reicht die Hand, wo andere das Schwert ziehen. Das ist Großmut und zeugt von Reife. Und es zeugt von der Fähigkeit zur bedingungslosen Liebe.

Einen religiösen »Gott« über alles zu stellen, um ihn über Lebende und Tote richten zu lassen, ist so besehen nur ein hilfloser Versuch, davon abzulenken, dass man zur Liebe nicht fähig ist und sie deswegen auf ein Über-Ich projiziert. Die Suche nach der Liebe, dem einzig wahren Schatz, beginnt beim erwachsenen Menschen immer zuerst bei sich selbst. Erst der, der fündig geworden ist, kann Liebe geben, verschenken, verschwenden. Wer als »einsichtiger« Mensch diesen Schatz der Liebe in sich sucht, findet zuallererst den eigenen »Fehler«, jene große Sehnsucht, die in jedem Menschen ist und ihn spüren lässt, dass ihm zum Glück die Liebe »fehlt«. Warum wohl muss der Held im Mythos den Drachen besiegen, der den Schatz in den Tiefen des Berges bewacht? Warum muss er die Mächte der Finsternis bezwingen, um die Herrlichkeit des Lichts zu sehen? Warum muss er das schöne Mädchen aus den Klauen des Ungeheuers befreien, ehe er es aufs Pferd hieven und mit ihm der Sonne entgegen reiten darf? Weil der, der seinen eigenen Fehler nicht sehen möchte und seinen Zorn, seine Wut, nicht selten seinen Hass gegen die ganze Welt richtet, darin umkommt. Der aber, der seinen Fehler anerkennt und sich ihm stellt, wird mit der Liebe belohnt: Der Liebe zu sich selbst und der Fähigkeit, diese Liebe zu verschenken!

»Γνῶθι σεαυτόν!«- »Erkenne Dich selbst!« Um Hans von Schoen wirklich gerecht zu werden und um seinen bewusst oder unbewusst gewählten Bezug zu dieser großen attischen Weisheit zu verstehen, muss man wissen, dass in Delphi neben diesen beiden Worten zwei weitere in Stein gemeißelt waren: »Μηδὲν ἄγαν« - »Nichts im Übermaß!« Das ist der Schlüssel! Denn auch, wer im Übermaß Selbsterforschung betreibt, endet keineswegs im Glück und in der Liebe, sondern viel wahrscheinlicher in der Depression oder im Hass, möglicherweise auch im Wahn und in schizophrener Selbstüberhöhung. »Übermaß« bedeutet »Eifer«, »Fanatismus«. Dem Eiferer aber fehlt die Heiterkeit, die Gelassenheit und Leichtigkeit, am Ende die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Und letztlich die Bereitschaft zur Demut, die es im Leben zu erlernen gilt, will man nicht erbarmungslos zerstören, statt schaffen, Brunnen vergiften, statt sich an ihnen zu laben.

Was also ist die Quintessenz des Seins, auf die es dem Initiator dieses Buches, Hans Freiherr von Schoen, ankommt? Philosophen der aristotelischen Schule würden sie am ehesten die »Mondseite des Lebens« nennen, die Welt des Fühlens und Mitfühlens. Alchemisten dagegen sprächen viel lieber vom »Himmlischen im Irdischen« und gäben dieser Quintessenz damit ihre Verwurzelung in einem größeren Wesen als dem unseren. Und die Theologen wären da nicht weit, gingen den nächsten Schritt und würden es »Gott« nennen. So gäbe ihr jeder einen Namen, ganz wie es gefällt. Aber wie immer wir es bezeichnen mögen, dies Vielbenannte ist ausschließlich in uns und nicht im Äußeren zu suchen, schon gleich gar nicht in einem Leben nach dem Leben oder in einem Garten namens Eden: Es ist die Art, wie wir unser Leben betrachten, wie wir es annehmen und anerkennen, der »modus operandi« des eigenen Seins, der zum »modus vivendi« wird, zur Art, das eigene Leben zu gestalten.

Wenn uns Hans von Schoen dazu verführen möchte, er, der wahrlich immer ein liebenswerter Verführer gewesen ist, Schätze in uns durch Selbsterkenntnis zu finden, so würde ihm Heraklit anerkennend die Hand reichen und sagen: »Genau darin liegt das Geheimnis und das Privileg des Menschen, dass er im Gegensatz zum Tier über sich nachdenken und sich verstehen lernen kann!« Aber nicht nur Heraklit, sondern auch Cicero und Seneca würden ihm rechtgeben, zugleich aber – wie im Tempel des Apollon - vor dem »Übermaß« warnen: Denn manche vom Ego geleitete Selbsterkenntnis verliert sich mangels Ernsthaftigkeit in Selbstbeweihräucherung oder mangels Heiterkeit in Selbstmitleid. Und weder das eine noch das andere rechtfertigt die besondere Beachtung und Betrachtung des eigenen Lebens durch Dritte, es sollte vielmehr traurig machen, wenn der Mensch entweder meint, sich erhöhen zu müssen, um bewundert zu werden, oder aber sich erniedrigt, um bedauert und beklagt zu werden. Beides sind jämmerliche Kopfgeburten eines Egos, das sich über andere stellt, sei es als verehrungswürdiger Heiliger, sei es als beklagenswerter Märtyrer.

Das »Ego« ist nicht das Wesen, das den Menschen ausmacht, sondern das Unwesen, das er sein möchte. Nicht zu verwechseln mit dem »Schatten«, der unsere Wildheit und Triebe, unsere Sehnsüchte und verbotensten Wünsche abbildet, nicht das Monster in uns. Unser