Kapitel 7

(I)

»Oh Gott, Chief!«, brach die Stimme aus dem Funkgerät.

Schnell drückte Steve auf die Taste des Sprechgeräts. »Was? Was ist los?«

Eine Pause. »Das sieht gar nicht gut aus ...«

»Was zur Hölle ist los?«, bellte Steve. »Wo sind Sie? Sind Sie schon im Gebäude?«

»Ich ...« Lautes Rauschen und Knacken. »Ich gehe die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich die Zimmer befinden. Unten im Rezeptionsbereich war niemand, aber ich habe mich nicht umgesehen. Ich dachte, ich hätte etwas von oben gehört.«

»Was denn?«

»Bin mir nicht sicher. Einen Schrei oder so.«

»Haben Sie jemanden im Gebäude angetroffen?«

»Nein, Sir, niemanden, aber ... aber ... mein Gott, Chief, da sind Fußspuren, die über den Flur führen.«

»Fußspuren.«

Ein lautes Rauschen. »Blut. Das muss Blut sein!«

»Gehen Sie hoch! Finden Sie raus, was da los ist!« Steve drückte eine andere Taste. »An alle Einheiten, hier spricht Wagen Eins. Code 3 zur Seaton-Mädchenschule, Ecke Vierte und Westmore! Verdächtiger ist ein männlicher Weißer, etwa 90 Kilo schwer, braunes Haar, trägt eine Postuniform. Er ist gefährlich.«

Fassungslos lehnte Jane sich in ihrem Sitz zurück. »Blutige Fußspuren? Hat er das gerade gesagt?«

»Das hat er gesagt.« Steve trat das Gaspedal durch.

Die Schule lag gleich hinter der nächsten Kurve, am Rand des Waldes, der sich bis zur Bucht erstreckte. In der Ferne hörte man bereits das Aufjaulen von Polizeisirenen. Jane wurde von der Fliehkraft in den Sitz gepresst, als der Streifenwagen um den Brunnen in der Mitte des Vorplatzes schleuderte. Das Fahrzeug erzitterte, die Bremsen quietschten. Jane wurde nach vorne und wieder zurück geworfen und endlich kamen sie zum Stehen.

Steve löste den Sicherheitsgurt und zog seine Waffe aus dem Schulterholster.

Jane war wie gelähmt. Hier geschah etwas sehr Ernstes, und sie steckte mittendrin. Sollte Carlton tatsächlich Marlenes Leiche ausgegraben haben? Und die Spuren? Konnten das wirklich Carltons blutige Fußstapfen sein, von denen der Polizist über Funk gesprochen hatte? Schließlich sagte sie nur: »Ich kann das alles nicht glauben ...«

Durch das offene Fenster hörten sie einen lang gezogenen, lauten Entsetzensschrei.

»Glauben Sie es ruhig«, sagte Steve und sprang aus dem Wagen.

Wie von einem Schlepptau fühlte Jane sich von seiner Eile mitgezogen. Jetzt rasten noch weitere Streifenwagen auf den Vorplatz. Polizisten sprangen aus den Fahrzeugen und rannten aus allen Richtungen auf den Eingang des Wohnheims zu. Jane konnte ihre Gedanken kaum sortieren vor lauter Lärm: Sirenen, Quäken aus den Funkgeräten, trampelnde Schritte.

Drinnen jedoch herrschte Totenstille.

»Vorsichtig«, befahl Steve. Er hielt den Lauf seiner Pistole nach oben gerichtet, den Finger nicht am Abzug. »Ist das dort Blut?«

Ein Polizist bestätigte es. Es ließ sich aber auch so nicht übersehen: Eine Spur, die nichts anderes als Blut sein konnte, führte vom Schreibtischstuhl weg. Alle Augen folgten dem verschmierten Streifen. Er endete vor der Tür eines Nebenbüros.

Zwei Cops bauten sich zu beiden Seiten der Tür auf. Einer drehte den Knauf, ein dritter Beamter drang mit vorgehaltener Waffe sichernd in den Raum ein.

Eine Sekunde Stille, dann: »Oh mein Gott ...«

Alle drängten hinein, und als Jane sah, was die Polizisten anstarrten, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen.

Eine Nonne hing an der gegenüberliegenden Wand. Dass es sich um eine Nonne handelte, erkannte Jane nur an dem Brusttuch, das über ihr Gesicht geschlungen war, und ihrem Schleier – der Rest der Frau war nackt, ihre weiße Haut mit blutroten Flecken übersät. Ihr Kopf hing zur Seite, der Mund weit geöffnet. Ihre Arme breiteten sich wie an einem Kreuz aus, fixiert von den Nägeln in ihren Handflächen. Zu ihren Füßen glänzte eine drei Meter breite Blutlache.

Jane verbarg das Gesicht in den Händen.

»Wer war als Erster vor Ort?«, fragte jemand.

»Jackson.«

»Aber wo zur Hölle steckt er?«, wollte ein anderer wissen.

»Er ist oben«, meinte Steve. »Sagte was vom Duschraum.«

Das Fußgetrappel verließ das Büro und hastete in einer Stampede die Treppe hinauf. Wieder fühlte Jane sich mitgezogen. Der erste Polizist, der oben ankam, blieb am Treppenabsatz stehen und hob eine Hand.

»Aufpassen«, warnte Steve.

Alle sahen, was er meinte: eine lederne Posttasche, die mit geöffneter Klappe auf dem Boden lag.

»Nicht anfassen!«, meinte jemand. »Das könnte eine Bombe sein.«

»Das ist keine Bombe ...« Der Polizist bückte sich und hob die Tasche auf. Steve trat zu ihm und schaute hinein. Die Umhängetasche war gefüllt mit Messern, Ahlen, Nägeln und ähnlichen Utensilien. Ein Dutzend messerscharfe Spitzen ragten nach oben.

Sie gingen den Flur entlang. Jane wollte nicht mitgehen, sie wollte nicht sehen, was hier sonst noch geschehen sein mochte – aber sie musste. Sie glauben, dass es Carlton war, ärgerte sie sich nach wie vor. Aber sie wusste auch, was das Schlimmste daran war:

Vielleicht ist er es ja wirklich gewesen.

Aber es gab kein Vielleicht mehr, als sie den Flur durchquert hatten.

Oh mein Gott, nein!

Carlton hatte sich in der Haupthalle des Wohnheims erhängt, an einer der Sprinklerdüsen an der Decke. Er sah aus, als sei sein ganzer Körper in Blut getaucht worden. Durch die Strangulation der Schlinge um den Hals war sein Gesicht fast schwarz, die Hände hingen schlaff herab, Blut tropfte von den Fingerspitzen.

»Heilige Scheiße«, flüsterte jemand.

»Das ist er, oder?«, fragte Steve.

»Ja«, antwortete Jane erstickt.

Sie starrte ihren toten Kollegen an. Der Druck der Schlinge hatte sein Gesicht aufgebläht; seine Augen waren verquollen und weit aufgerissen. Jane hätte nie gedacht, dass sich ein Gesicht derart verändern konnte. Er schien zu grinsen.

»Holt ihn runter«, befahl Steve.

Niemand hatte es sonderlich eilig, der Anweisung Folge zu leisten, aber schließlich traten zwei Polizisten vor. Einer legte mit verkniffenem Gesicht die Arme um Carltons Hüfte, der andere kappte das Seil mit einem Messer. Sie legten die Leiche auf den Boden und beide Polizisten starrten den reglosen Körper verwundert an.

»Was ist das?«, fragte schließlich einer von ihnen.

Der Cop, der ihn abgeschnitten hatte, kniete sich hin und betrachtete das abgeschnittene Ende des Seils. »Hey, Chief. Das ist kein Seil.«

Steve drängte sich ungeduldig nach vorn. »Was meinen Sie damit? Was ist es dann? Eine Art Draht oder so was?«

Der kniende Polizist wurde blass. Er schluckte schwer. »Ich glaube ... ich glaube, das ist ... Darm.«

Jane konnte es sehen, sie konnte sehen, dass das dünne, gedehnte Material unmöglich ein Seil sein konnte. Darm? Hat er das gerade gesagt? Aber wenn das tatsächlich Darm ist, dann ... von wem?

Steve schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn«, sagte er leise, dann lauter: »Jackson! Wo sind Sie?«

»Hier drin«, kam schließlich die Antwort.

Die Truppe eilte zur nächsten Tür. Jane erinnerte sich an das Gespräch über den Polizeifunk. Da gab es tatsächlich blutige Fußspuren, die direkt zu der Stelle führten, an der Carlton Selbstmord begangen hatte. Jane folgte den übrigen Spuren in den Raum ...

Eine Gemeinschaftsdusche, wie Jane sie von früher aus ihrem eigenen Wohnheim im College kannte. Ein lang gestreckter Raum mit hübschen rosa-weißen Kachelmustern an den Wänden und zehn Duschköpfen. Auf der gegenüberliegenden Seite Spinde und Bänke, links eine Nische mit mehreren Waschbecken. Absolute Stille durchdrang den ganzen Bereich, abgesehen von einem einzelnen Tröpfeln.

Aber das war nicht das Erste, was Jane auffiel, beileibe nicht. Die jüngste Verzierung des Duschraums war unmöglich zu übersehen.

Sechs Mädchen im Teenageralter hingen nebeneinander an der hinteren Wand, ebenso gekreuzigt wie die Nonne. Nackt, die Arme ausgestreckt, mit Betonnägeln durch Handflächen und -gelenke an den Fliesen befestigt. Ihre Köpfe waren blutüberströmt und offenbar mit einem Hammer zertrümmert worden. Ein Handtuch verstopfte den Abfluss in der Mitte des Raums. Eine zentimetertiefe Blutpfütze breitete sich unter ihnen aus.

Niemand sagte ein Wort. Jane glotzte nur, starr vor Entsetzen.

Draußen hörte man weitere Sirenen, weiteres Bremsenquietschen. Rettungswagen trafen ein. Eine Menschenmenge sammelte sich, Absperrungen wurden errichtet.

Jane und Steve wechselten einen Blick, wie er düsterer nicht hätte sein können. Alle starrten wortlos auf das letzte Detail dieses Schlachtfests: eine Glocke, in breiten Blutstreifen auf die angrenzende Wand geklatscht.

Jane wusste, dass sie es sich nur einbildete, aber als sie ein letztes Mal auf die Reihe der nackten Leichen blickte, die dort an der Wand hingen, meinte sie eine Bewegung wahrzunehmen. Falls sie das, was sie zu sehen glaubte, tatsächlich sah, mussten es doch auch alle anderen bemerken. Aber niemand sagte etwas.

Ich seh das nicht, ich seh das nicht, redete sie sich immer wieder ein. Es ist unmöglich. Es ist nicht da.

Für einen winzigen Augenblick öffneten die sechs toten Mädchen an der Wand alle gleichzeitig ihre Augen, sahen Jane an und lächelten.

Jane klappte zusammen.

(II)

Was ist denn da los?, wunderte sich Annabelle.

Sirenen heulten am Haus vorbei, wurden rasch lauter und verklangen genauso schnell wieder. Was ging da vor?

Annabelle war womöglich die zierlichste Frau der ganzen Stadt, einen Tick kleiner als 1,50 wog sie an einem ›fetten‹ Tag gerade mal 50 Kilo. Sie sah aus wie das, was sie war: eine elegante, vornehme Hausfrau, mit einem ansprechenden Gesicht, immer sorgfältig manikürt, genau die richtige Menge an Make-up. Das schimmernde, aber schlichte sorbetgrüne Strandkleid schien dank des hochwertigen Materials von innen heraus zu leuchten und hatte in der International Mall 300 Dollar gekostet. Dazu kamen weitere 100 Dollar für Designersandalen mit Strass auf den Riemchen. Ihr Körper besaß ausgeprägte weibliche Kurven, ihre Brüste waren fest, und wenn sie in der Sonne die Straße entlangging, schien ihr glattes zimtfarbenes Haar zu leuchten. Alles in allem war Annabelle das Musterexemplar einer Hausfrau in Florida, und wenn sie vorbeiging, starrten ihr viele Männer hinterher und bissen sich in blankem Neid auf ihren Ehemann auf die Lippen.

Noch mehr Sirenen wurden erst rasch lauter und verklangen kurz darauf wieder.

Sie hatte gerade durch die Automatiktüren die neue Westfiliale der Post betreten und genoss die kühle Luft, als das Geräusch quietschender Reifen hinter ihr sie zusammenzucken ließ. Sie fuhr herum und sah mehrere Streifenwagen die Rosamilia Avenue entlangrasen. Muss ein schlimmer Unfall sein, vermutete sie. Oder ein Feuer.

»Herrgott, immer dieser Lärm!«, hörte sie die Stimme einer anderen Frau. Mrs. Baxter, eine von Danelletons berüchtigtsten Klatschtanten, wog ein Paket am Selbstbedienungsschalter ab. Ein zerknautschter kleiner Griesgram von einer Frau mit hängenden Schultern, das Haar zu einem Dutt gebunden und mit einem Haarnetz gesichert. »So viele Polizeiautos auf einmal habe ich nicht mehr gesehen, seit letztes Jahr Corey Halverson seine Frau dabei erwischt hat, wie sie ihn betrog – das wissen Sie doch bestimmt noch, mit dem Mann, der immer herumfuhr und die Blätter aus den Dachrinnen putzte.

Erinnern Sie sich? Wie sich rausstellte, hat er sich wohl bei so einigen Frauen aus der Stadt die Hörner abgestoßen, und obendrein war er auch noch ein Exsträfling! Jedenfalls, der arme Corey Halverson erwischte die beiden zusammen in einer dieser billigen Absteigen drüben in St. Pete Beach und er war so deprimiert, dass er oben auf den alten Wasserturm von Danelleton kletterte und runterspringen wollte. Waren bestimmt 20 Polizeiautos da an dem Tag. Natürlich ist er nicht gesprungen, aber er hatte es vor. Sie erinnern sich doch bestimmt daran, Annabelle.«

Annabelle erinnerte sich nicht. Tatsächlich bezweifelte sie, dass diese Geschichte sich tatsächlich so ereignet hatte. Mrs. Baxter verfügte über eine blühende Fantasie. Doch draußen schossen noch mehr Streifenwagen vorbei. »Was es auch ist, es muss etwas Ernstes sein«, sagte sie.

»Auf dem Weg hierher habe ich noch mehr Polizeiautos die Main Street entlangfahren sehen. Sah aus, als ob sie zu dieser Seaton-Schule unterwegs sind, und ich kann Ihnen sagen, über die Schule hab ich Geschichten gehört!«

Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, dachte Annabelle.

»Die ganzen jungen Mädchen dort drinnen und kein Kontakt zu Jungen ihres Alters! Ich will gar nicht wissen, was in deren Köpfen vorgeht ...«

Annabelle verdrehte die Augen. Was für eine Nervensäge. Sie ignorierte das Geplapper der Alten so gut wie möglich, ging hinüber zum Briefmarkenautomaten und dann zum Briefkasten. Sie hoffte, dass die alte Dame endlich verschwand, doch dann hörte sie ein Rascheln aus der Ecke. Das glaube ich nicht! Mrs. Baxter durchwühlte den Papierkorb neben dem Selbstbedienungsschalter und öffnete Werbesendungen, die Postfachkunden weggeworfen hatten. Annabelle trödelte ein bisschen und tat so, als ob sie Briefmarken auf ihre eigenen Briefe klebte, bis Mrs. Baxter ging.

Annabelle wollte so schnell wie möglich nach Hause und sich ein bisschen hinlegen. Sie hatte gestern Abend bis spät in die Nacht mit ihrem Mann zusammen einen ziemlich haarsträubenden Horrorfilm angesehen, irgendwas über Siedler in der Kolonialzeit, die in der Erde eine bösartige Wurzel entdeckt hatten. Der Film war so geschmacklos und schlecht gemacht, dass Mark sich halb totgelacht hatte. Annabelle hatte auch gelacht, aber nicht ganz so herzlich. Sie hatte Albträume bekommen, war ein halbes Dutzend Mal aufgewacht, und am Morgen hatte sie sich ausgelaugt gefühlt. Mark musste heute arbeiten, er war Bauunternehmer. Ich habe den ganzen Tag für mich, stellte sie fest. Was für ein Luxus. Erst ein ausgiebiges, faules Schaumbad, dann ein Nickerchen, bevor Mark nach Hause kommt. Aber eine Sache muss ich vorher noch erledigen ...

Annabelle ging schnell zu ihrem Postfach. Sieben bis zehn Tage Lieferzeit. Heute war der zehnte Tag. Gott, ich hoffe, es ist da ...

Annabelle hatte das Postfach speziell für solche Fälle angemietet. Ein kleines Laster war ja nichts Schlimmes; im Gegenteil, sie fand, dass sie es sich verdient hatte. Es war ja nicht so, dass sie ihren Mann betrog oder so etwas. Das hatte sie noch nie getan, auch wenn es an Gelegenheiten nicht gemangelt hatte und manchmal, wenn primitive Begierden mit moralischen Bedenken kollidierten, Erstere dem Sieg sehr nahe gewesen waren.

Aber manchmal hielt Annabelle es einfach nicht mehr aus.

Deshalb dieser vertrauliche Versandhauskauf, dieses heimliche Laster.

Sie war ganz kribbelig, als sie zu ihrem Postfach ging, doch dann überfiel sie ein plötzlicher Missmut und eine tiefe Niedergeschlagenheit. Hoffe das Beste, aber mach dich auf das Schlimmste gefasst, sagte Mark immer.

Es wird nicht da sein, wusste sie. Wieder würde sie enttäuscht werden. Ich werde das Postfach öffnen, hineinschauen und es wird leer sein. Das blöde Ding ist sicher noch nicht mal abgeschickt worden, bestimmt kommt es erst nächste Woche an. Oder sie schicken es gar nicht. Vielleicht hat man mich übers Ohr gehauen ...

Sie drehte den Schlüssel, öffnete das Fach ...

Herrje!

... und riss den Kopf herum, als eine neue Salve von Polizeisirenen draußen vorbeischoss. Was ist da nur los?, rätselte sie.

Als die Sirenen verklangen, spähte sie in ihr Postfach.

Ihr Herz tat einen Sprung – fast hätte sie vor Freude aufgeschrien. In dem Fach lag ein Päckchen.

Sie nahm es heraus. Der Absender war Erotronica Inc. Das ist es! Endlich ist es da! Annabelle klemmte sich das Päckchen unter den Arm wie etwas Verbotenes, wie ein Kokaindealer, der gerade seine neue Lieferung abholte, und eilte davon, mit floppenden Sandalen zur Eingangstür hinaus und über den Parkplatz. Ihr brandneues meergrünes Mercedes-Cabrio wartete bereits auf sie.

Sie konnte es gar nicht abwarten, nach Hause zu kommen.

Aber ...

Oh, verdammt! Sie musste noch einmal zurück. Ich hab die Tür des Postfaches aufgelassen, und der Schlüssel steckt noch! Das Päckchen war eine verzeihliche Ablenkung, aber das änderte nichts an ihrer Frustration. Annabelle war der Sofortbelohnungstyp; sie war nicht bereit, auch nur eine Minute auf das zu warten, was sie sich herbeisehnte.

Sie warf das Päckchen in den Mercedes und floppte zurück ins Postamt. Da war das Fach, die Tür stand weit offen, der bronzefarbene Schlüssel steckte noch im Schloss. Sie streckte den Arm aus, um abzuschließen, hielt dann aber inne ...

Ein weiterer Streifenwagen jaulte vorbei, aber Annabelle hörte ihn nicht.

Sie starrte das offene Postfach an. Eigentlich wollte sie die Tür schließen und den Schlüssel herumdrehen, aber aus irgendeinem Grund war es ihr unmöglich. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Hatte sie sich zu lange in der Sonne aufgehalten oder lag es am fehlenden Frühstück heute Morgen? Dazu noch der unruhige Schlaf wegen der Albträume von diesem Horrorfilm gestern – kein Wunder, dass sie nicht auf dem Damm war.

Aber vielleicht lag es auch an etwas völlig anderem.

Annabelle dachte nur in kurzen Gedankenblitzen. Ihr war flau im Magen und sie roch etwas so Widerliches – etwas wie Müll und verwestes Fleisch und ungewaschene Hinterteile zusammengemischt. Sie war drauf und dran, sich zu übergeben, aber ein anderer Teil von ihr fühlte sich leidenschaftlich erregt. Ihre Nippel rieben sich schmerzhaft am glänzenden Stoff ihres Strandkleids. Und zwischen ihren Beinen kribbelte es.

Sie verzog das Gesicht aufgrund des abscheulichen Gestanks und streckte die Hand aus, aber sie wusste, dass sie es nicht tat, um die Tür zu schließen. Sie wollte hineingreifen.

Aber da drin ist doch nichts, dachte sie mit dem winzigen Rest von Vernunft, der ihr noch geblieben war. Ich weiß, dass das Fach leer ist. Ich habe das Päckchen gerade ins Auto gelegt. Warum mache ich das also?

Ein Patsch! ließ sie zusammenzucken. Annabelle erstarrte, dann wirbelte sie herum. Der vordere Servicebereich war jetzt geschlossen und auf der anderen Seite hatte jemand die Eingangstüren abgesperrt und das GESCHLOSSEN-Schild klatschend umgedreht. Der Selbstbedienungsbereich blieb leer.

Was ... mache ... ich ... da?

Sie sank auf die Knie und schaute in das Fach. Es blieb leer; auch dahinter war nichts zu sehen, nur Dunkelheit. Auf der anderen Seite hatten sie wohl bereits das Licht gelöscht.

Sie biss die Zähne zusammen wegen des Gestanks. Sie hatte recht – er kam aus dem Fach, strömte in einer ekelhaften Brise heraus. Trotzdem steckte sie die Hand hinein ...

Sie griff in das Fach.

Da ist nichts, da ist nichts! Warum stecke ich da meine Hand rein?

Die Hand war jetzt komplett in der Öffnung versunken. Langsam, langsam. Jetzt der Arm, Zentimeter für Zentimeter, der halbe Unterarm, der Ellbogen. Dann ...

Sie berührte etwas – etwas Warmes. Es fühlte sich schleimig an, so wie damals, als sie hinten im Kühlschrank die Packung Rinderhack gefunden hatte. Sie hatte sie geöffnet, geglaubt, es wäre frisch, aber dann hatte sie direkt nach der ersten Berührung der fürchterliche Geruch getroffen. Wie sich herausstellte, hatte das Fleisch seit Wochen im Kühlschrank gelegen. Und genauso fühlte sich das an, was sie jetzt berührte.

Oh Gott, dachte sie. Was kann das sein?

Gedanken, noch verdorbener als der Gestank, überfluteten ihren Geist. Vor ihrem inneren Auge nahm sie Bewegungen wahr: Körper, die sich in einer stinkenden Grotte aus Wollust über ihr wanden, Gestalten, die sie nach unten zogen – in den Schleim –, um ihre Gelüste zu stillen. Sie wurde geschändet und gestoßen und geleckt, sie wurde bestiegen und gerammelt, ihr Körper in jeder Position malträtiert. Die Gestalten, die ihr das antaten, waren voller Schleim, als wenn die Poren ihrer Haut dieses Zeug absonderten. Jedes Detail dieser unbeschreiblichen Vorgänge widerte sie an, und doch fühlte sie sich erregter als ... nun ...

Als je zuvor.

Das konnten keine Münder sein, die an jedem Zentimeter ihrer Haut nuckelten – die Öffnungen wirkten zu groß, um Münder zu sein. Und doch spürten ihre Nerven Zähne darin und große, fette, raue Zungen. Ganz bestimmt keine menschlichen Zungen. Einer dieser Münder saugte an ihren Füßen, einer an ihrem Bauch, mit ihrem Nabel im Zentrum, und der Umfang dieser Lippen entsprach dem von Suppentellern. Als der Mund tiefer glitt und eine Zunge groß wie ein Rindersteak in sie eindrang, krümmte Annabelle sich spontan im Höhepunkt ihrer explodierenden Orgasmen. Die riesige Zunge blieb in ihr, dann schob sich ein weiterer Mund über ihr ganzes Gesicht, dann ihren kompletten Kopf. Wie ein Dauerlutscher wurde ihr Kopf abgeschleckt.

Die abartige Ekstase ließ keinen Augenblick lang nach. Dieser Traum oder Wahn – was auch immer es sein mochte – schien stundenlang anzuhalten. Diese aufgegeilten Wesen, diese Kreaturen, standen bei ihr Schlange. Und Annabelle hatte keine Einwände. Sie wurde gestreckt und gezerrt, hingelegt und gespreizt, aufgesetzt, umgedreht, auf den Kopf gestellt, um wieder und wieder benutzt zu werden ...

Sie konnte die Wesen nicht sehen, es gab kein Licht. Sie konnte sie nur spüren, als sie unter jedem von ihnen erschauderte, ihre Nippel gesaugt, ihr Rücken durchgebogen, ihre Beine gespreizt wurden, und bettelte, bettelte nach mehr.

Als es aufhörte, seufzte Annabelle. Hatte sie alle verschlissen? Die Kreaturen stemmten sich hoch, nicht länger an ihr interessiert, nachdem sie sich verausgabt hatten. Annabelle konnte hören, wie sie durch den Unrat davonschlurften, und dann, für einen winzigen Moment, blitzte ein Licht auf – ein Feuer, vermutete sie –, und sie konnte sie sehen.

Große, schlanke Wesen. Muskulös und doch ausgemergelt. Knorrige Gelenke, Hände mit grotesk langen Fingern. Ihre Haut glänzte tatsächlich vor Schleim, in der Schattierung alten, uralten Paraffins. Einer schaute mit schwarzen kugelförmigen Augen zu ihr zurück. Annabelle erschauderte, als sie das Gesicht mit dem breiten, schlaffen Mund, den Atemschlitzen und den Hörnern auf der deformierten Stirn wahrnahm.

Dämonen, wusste sie.

Dann erlosch das Licht und sie befand sich wieder in der Filiale, kniend, ihr Arm halb im Postfach versenkt.

Ihre Augen fühlten sich an, als würden sie von Haken offen gehalten. Sie wusste, was sie da gerade tat. Sie wusste, was dieses heiße, organische Ding in ihrer Hand war ...

Und schließlich ergoss sich etwas Feuchtes, ebenso Heißes auf ihre Handfläche. Hörte sie ein Stöhnen? Der Gestank war immer noch unbeschreiblich. Langsam zog sie ihren Arm zurück.

Die Hand und der ganze Unterarm waren mit Schleim bedeckt. Perlenartige Klumpen klebten an ihrer Handfläche und den Fingern. Oh mein Gott ... Was in Gottes Namen ist dort hinten?

Sie war kurz davor, zusammenzuklappen und sich zu übergeben, als sie jemand an der Schulter berührte.

»Miss? Miss?«

Mühsam richtete Annabelle den Blick nach oben. Ein Postangestellter stand hinter ihr, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht.

»Ist alles in Ordnung?«

In Annabelles Kopf drehte sich alles. Sie schaute auf ihren Arm. Er war sauber, ganz normal.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Sie kämpfte sich hoch, taumelte ein wenig, als sie auf den Füßen stand, dann lehnte sie sich an die Wand der Postfachtüren. »Tut mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ein Schwindelanfall wahrscheinlich.«

»Passiert in dieser Jahreszeit oft.« Der Mann lächelte. »Wenn es den ganzen Tag heiß und sonnig ist, trocknet man schnell aus.«

»Das wird’s wohl gewesen sein«, stimmte Annabelle zu, denn etwas anderes konnte und wollte sie nicht glauben. »Aber jetzt geht es wieder.« Auch sich selbst versuchte sie einzureden, dass alles wieder in Ordnung war, aber als sie das Postfach abschloss und den Schlüssel abzog, zitterte ihre Hand.

Der Angestellte hob eine Augenbraue.

»Ich bin nur ein bisschen zitterig«, sagte sie. »Um die Wahrheit zu sagen, mein Mann und ich haben gestern spät abends noch einen Horrorfilm gesehen, von dem ich Albträume bekommen habe.« Dämonen, fiel ihr ein. Sie hatte gerade eine Art Wachtraum von Dämonen gehabt, die Sex mit ihr hatten – nachdem sie gestern einen Film über Dämonen gesehen hatte. Mehr steckt nicht dahinter ... »Wahrscheinlich hat irgendwas die Erinnerung daran ausgelöst, als ich hier gewesen bin. Ein Flashback oder so was.«

Eine lange Hand mit der Färbung von altem Wachs glitt über ihre Brust. Sie stank. Und sie landete mit einem feuchten Klatschen auf ihrer Haut. Nass und schleimig. Annabelle war wie gelähmt. Sie wollte nicht zum Gesicht des Wesens aufschauen, denn sie wusste bereits, wie die Gesichter dieser Kreaturen aussahen. Und so konnte sie sich nur krümmen und winden, als die Hand an ihrem Top herabglitt und teuflischen Schleim über ihre Brüste schmierte.

»Das gefällt dir, nicht wahr?«, blubberte die rostige Stimme. »Ich weiß, dass es dir gefällt. Ich spüre, wie deine süßen kleinen Titten hart werden, genau wie sie es vor einigen Minuten in der Grotte getan haben. Meine Brüder und ich haben eine Menge Spaß mit dir gehabt. Später, wenn du für immer bei uns bist, werden wir uns jede Nacht bis in alle Ewigkeit mit dir vergnügen.«

Annabelles Zähne klapperten.

»Ich bin einer der Söhne des Boten«, blubberte die Stimme aus der Hölle weiter. »Er hat viele, viele Bastardsöhne. Wir helfen ihm, das Wort im Reich unseres Herrn zu verbreiten. Mein Vater braucht dich, damit du hier das Wort verbreitest. Du wirst es tun.«

Die Hand seifte ihre Brüste mit Schleim ein, die raupenartigen Finger zwickten ihre Nippel. Annabelle konnte nicht atmen.

»Die Ankunft des Boten ist nahe ...«

Sie riss sich aus ihrer Lähmung, stieß einen kreischenden Schrei aus und rannte aus dem Postamt.

»Miss? Miss?« Der absolut normale Postangestellte trottete hinter ihr her. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Soll ich einen Arzt rufen?«

Der Mercedes schoss mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.

Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Es gibt doch eine Menge Bekloppte in dieser Stadt«, murmelte er und ging zurück in die Filiale.