Sylvia Wetzel

Achtsamkeit und Mitgefühl

Mut zur Muße statt Hektik und Burnout

Mit einem Vorwort von Luise Reddemann

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89209-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10658-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20237-3

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Inhalt

Vorwort von Luise Reddemann

Einführung

Teil I: Herausforderungen

1  Ehrgeiz entwickeln heißt wegschauen

Vier Edle Aufgaben – Minderwertigkeitsgefühle und die Vier Schleier vor Buddha-Natur – Acht weltliche Anliegen – Die protestantische Ethik und die Verachtung der Muße – Minderwertigkeitsgefühle und hohe Ideale – Mimetisches Begehren und der rote Faden – Ich bin nur o. k., wenn … – Siegermentalität und Leistungsdruck – Wege aus Ehrgeiz heraus

Übungen: Die acht weltlichen Anliegen Mimetisches oder nachahmendes Begehren Prioritäten prüfen Der rote Faden Etwas gut machen

2  Burnout

Burnout und Depression: Facetten einer Zeitkrankheit – Exploration und Commitment – Reaktiver versus intentionaler Modus – Ökonomisierung statt Wirtschaft – Wo stehe ich? – Psychoneuroimmunologie von Belastung und Erholung – Ein buddhistischer Blick auf Burnout: Die Faulheit der Geschäftigkeit – Die Müdigkeitsgesellschaft: Burnout als Widerstand

Übungen: Beziehungen Freude am Tun Meine Symptome Wollen und reagieren Erholung und Belastung Faulheit Erste Hilfe

3  Schmerz und Leid

Angst und Wut – Wie viel Leiden ist normal? – Natürliches und zusätzliches Leiden – Ich will es anders haben, als es ist – Im Griff von Gier, Hass und Verblendung – Hört Leiden jemals auf? – Der Weg ist das Ziel – Leiden, Gewalt und die drei Gehirnbereiche

Übungen: Leiden annehmen Aufhänger, Stimmung, Hintergrund

Teil II: Ressourcen

4  Achtsamkeit

Bemerken, was geschieht, und erinnern, was heilt – Die vier Bereiche der Achtsamkeit – Drei oder vier Dimensionen von Achtsamkeit – Exkurs: Materialismus oder Idealismus?

Informelle Übungen zum Einsteigen: Mit den Armen schwingen Den Atem spüren Treppensteigen mit Ja-DankeZum Fenster hinausschauenGehen im Park mit Ja-Danke

Grundübungen: Ja zum Leben – Danke fürs LebenSternstunden oder Freude als Weg Einfach sitzen

5  Mitgefühl

Vier Aspekte des Mitgefühls – Die Quelle entdecken – Mitgefühl im Vierertakt – Es ist, wie es ist: Gleichmut und die drei Daseinsmerkmale – Drei Ebenen des Leidens und die drei Daseinsmerkmale – Freundlichkeit – Freude und Mitfreude – Aufregung und Idealisieren – Ja-Danke – Der Weg der Faulpelze zum Erwachen – Wie alt bin ich gerade? Und wer spricht? – »Woher kommt dieser Schmerz?« Der Weg zu allumfassendem Mitgefühl

Übungen: Die vier himmlischen Gefühle MitgefühlWie alt bin ich, wenn ich wütend bin? Wer spricht?

6  Resilienz

Freude: Freude und Präsenz – Vier Ebenen des Glücks –Beziehungen: Allein und mit anderen, unterschiedlich und gleichwertig – Gemeinde, Gruppe und Masse – Beziehungen stiften – Zentrale Elemente einer tragfähigen Gruppe – Sinn: Freude als Weg – Neid als Weg zum Mehr – Prioritäten klären – Unbeständigkeit und Tod – Mut zum Sein oder: Was ist wirklich wichtig?

Übungen

7  Arbeit und Muße

Muße und Politik – Selbstvertrauen und Wohlbefinden – Vom aktiven und kontemplativen Leben – Hannah Arendt – Die vita activa: Arbeit. Kultur. Politik – Mut zur Muße: Die vita contemplativa

Übungen

Teil III: Ein gutes Leben: Üben und Alltag

8  Auftanken und Entspannen

Üben: Innehalten, entspannen und auftanken – Leib und Seele, Körper und Geist – Vier Grundlagen der Achtsamkeit – Grundgefühle und emotionale Reaktionen – Grundstimmungen und Gedanken – Varianten der Übung – Energie durch Freude am Tun – Müdigkeit und drei Arten der Trägheit – Aufhänger, Stimmung und Hintergrund – Selbst- und Fremdbilder – Wer bin ich? Die Vier Schleier – Urvertrauen stärken – Gedanken und Gefühle, emotionale Muster und Verhalten – Vier Weisen der Beruhigung – Die vier Schleier lüften – Wer dient wem? – Der Achtfache Pfad als Übung für den Alltag – Der Achtfache Pfad, Psychotherapie und Politik – Die fünf Elemente

Übungen

9  Üben im Alltag

Innehalten, Sammlung, Einsicht – Der Einstieg – Regelmäßig üben – Ein stiller Tag zu Hause – Längerfristige Übungsprogramme – Lese- und Übungsgruppen – Üben am Arbeitsplatz – Bücher und Kurse

10  Ein Schatz an Übungen

Die Übungen im Überblick

Die Übungsanleitungen in alphabetischer Reihenfolge

Anhang

Glossar

Sylvia Wetzel in der edition tara libre

Informationen zum Buddhismus und mehr

Literatur

Vorwort

In den letzten Jahren ist der Buddhismus, zunächst eher vorsichtig, inzwischen mit mehr Macht, auch in psychotherapeutischen Kreisen auf Interesse gestoßen. Es zeigt sich, dass buddhistische Konzepte über die menschliche Psychologie und für ein »gutes Leben« sehr praxisnah umsetzbar sind, und darüber hinaus über eine klare ethische Grundlage verfügen. Übungen, die Buddhisten seit zweieinhalbtausend Jahren helfen, mitfühlender, freundlicher, gelassener und achtsamer zu werden, könnten auch für westliche Menschen hilfreich sein. So hat sich auch eine auf westliche Bedürfnisse ausgerichtete Lehre innerhalb der buddhistischen Richtungen entwickelt, die von hoch kompetenten westlichen LehrerInnen vermittelt werden. Eine davon ist Sylvia Wetzel, mit der ich die Freude und die Ehre habe, seit fast 20 Jahren zusammenarbeiten zu dürfen. (Reddemann, Wetzel 2011)

Wenn ich das hier vorliegende Buch von Sylvia Wetzel empfehle, geht es mir um zwei Anliegen: Zum einen die Frage, ob wir in der Psychotherapie, ähnlich wie im Buddhismus, Wege gehen können, die Leiden von Anfang an lindern. In gewisser Weise sollte das ein Anliegen jeder Psychotherapie sein, jedoch meinen auch heute noch viele, dass ohne Leiden Heilung gar nicht möglich sei. Die ganzheitliche Sicht des Buddhismus, die aus einer eher spirituellen Haltung heraus zwischen Schmerz und Leiden unterscheidet, mag an dieser Stelle hilfreich sein. Buddhisten meinen nämlich, dass, wenn wir nicht vermeidbares Leiden nicht akzeptieren, wozu u. a. Altern, Kranksein und Sterben gehören, genau dies unser Leiden bzw. unseren Schmerz vergrößere. Was kann uns bei diesen zweifellos nicht geringen Herausforderungen helfen? Möglicherweise eine spirituelle Sicht, die uns auffordert, uns unserer »wahren Natur« bewusster zu werden, oder, wie es im Buddhismus heißt, zu erwachen. Erwachen könnte man aus meiner Sicht begreifen als einen immer wieder aufs Neue zu gehenden Weg, der das Leben als Ganzes akzeptieren hilft. Aus dieser Perspektive kann dann Leiden einen anderen Platz im Leben einnehmen, sodass Leben Glück und Leid bedeutet, nicht nur Leiden und auch nicht nur »think pink«, wie einige neuere Richtungen zu suggerieren versuchen. (Freud ging ja bekanntlich davon aus, dass mit Hilfe der Psychoanalyse neurotisches Elend in normales Elend verwandelt werden könne. Mehr wollte er nicht in Aussicht stellen.) Es wäre ein Weg, zu dem das Wissen gehört, dass wir verbunden sind, und dass Verbundenheitserfahrungen Platz brauchen in unser aller Leben. Dafür brauchen wir ethische Wegweiser. Buddhisten empfehlen, wie bereits oben erwähnt, vor allem Mitgefühl, Mitfreude, Achtsamkeit bzw. Gleichmut und Freundlichkeit.

Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die zweite mich interessierende Frage: »Wie können wir daran arbeiten, zu einer reifen, authentischen Person zu werden, und dabei dennoch anerkennen, dass wir etwas sind, was eindeutig viel mehr ist als Person?« (Welwood 2012, S. 24)

Nachdem Erich Fromm schon in den 50er-Jahren über die Beziehung zwischen Buddhismus und Psychoanalyse nachgedacht hat (Fromm et al. 1971), ist John Welwood unter westlichen Psychotherapeuten einer der ersten, die eine Generation nach Fromm sich in den 80er-Jahren mit Fragen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Weisheit des Ostens und der Weisheit des Westens beschäftigt hat. Die westliche Psychologie habe die konditionierte Psyche zum Gegenstand und erhelle sie in allen Einzelheiten mit einer solchen Klarheit, wie der Osten bedingungslose Bewusstheit beleuchte. Die östliche kontemplative Psychologie, die auf der Praxis der Meditation beruhe, biete Lehren darüber, wie man unmittelbares Wissen von der essentiellen Natur der Realität bekommen kann, ein Wissen, das jenseits der Reichweite konventionellen begrifflichen Denkens liegt. Doch obwohl die Betonung des Ostens – von nichtpersönlicher Bewusstheit und direkter Realisierung der Wahrheit – und die des Westens – von individueller Psychologie und begrifflichem Verstehen – sich zu widersprechen und auszuschließen scheinen, können wir sie auch als komplementär wertschätzen. Beide sind nämlich für eine volle Realisierung des Potentials, das zur menschlichen Existenz gehört, essentiell. (Welwood 2012, S. 24  25)

Auch die Arbeitshypothese von Sylvia Wetzels Buch kann man so verstehen: Dass die beiden Wege komplementär sind und es sich lohne, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten genauer kennenzulernen.

Der Buddha lädt allerdings auch dazu ein, »Ungewissheit wertzuschätzen« und ruft dazu auf, »die Wahrheit der Dinge selbst herauszufinden, statt sich auf die Autorität anderer zu verlassen.« (Batchelor 2012, S. 131) »Sein einziges Kriterium für die Bewertung einer Lehrmeinung habe in der Frage gelegen, ob sie Leiden hervorruft oder lindert, meint Stephen Batchelor. (op. cit. S. 132) Dies erscheint mir eine brauchbare Richtschnur sowohl für PatientInnen wie auch für TherapeutInnen.

Aus der Erfahrung der Zusammenarbeit mit Sylvia Wetzel gehe ich davon aus, dass es nützlich ist, einige Elemente der buddhistischen Praxis in die westliche Psychotherapie zu integrieren. Hierzu bietet die Autorin reichhaltige Anregungen mit Hilfe bewährter buddhistischer Übungen. Manche Leserin, manchen Leser werden die Übungen an Verhaltenstherapie erinnern, so dass es lohnt, sich klarzumachen, dass die Übungen aus der Verhaltenstherapie die jüngeren sind, nämlich keine hundert Jahre alt, während die buddhistischen Übungen gute 2000 Jahre überdauert haben. Und man sollte sich daran erinnern, dass alle Übungen einen Hintergrund haben, nämlich den, Leiden zu verringern, für sich selbst und für andere. Das heißt, jede Übung hat bei genauer Betrachtung und bei genauer Lektüre des vorliegenden Buches ethische Implikationen.

Nach neuerer Forschung spricht vieles dafür, dass PatientInnen am ehesten gesunden können, wenn ÄrztInnen oder PsychotherapeutInnen ihnen mit Mitgefühl begegnen. (Benedetti 2011) Eine Praxis des Mitgefühls ist eines der zentralen Anliegen buddhistischer Lehren. Zur Frage, wie man Mitgefühl mit sich selbst und mit anderen umsetzen kann, finden sich im Buch mannigfaltige Anregungen.

Nicht zuletzt durch die Begegnung von westlichen Forschern und buddhistischen Praktikern ist inzwischen auch deutlich geworden, dass es nicht allein die Empathie ist, die für eine gelingende Behandlung von Bedeutung ist, sondern Mitgefühl das Entscheidende ist. Mitgefühl unterscheidet sich von Empathie, das lediglich Einfühlung bedeutet, durch die Bereitschaft, Heilsames bewirken zu wollen und zu tun. Angeregt durch buddhistische Lehren habe ich für die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (Reddemann 2001) einen mitgefühlsbasierten Ansatz entwickeln können, der sowohl Mitgefühl für sich selbst wie für andere unterstützt und daher für PatientInnen wie Therapeutinnen – hier zur Burnout-Prophylaxe – von Nutzen sein kann.

Die Förderung von liebevoller Zugewandtheit und Freude findet sich in vielen Therapieansätzen, insbesondere in ressourcenorientierten. Gelassenheit als Ergebnis von Achtsamkeit zu fördern, scheint mir ein Anliegen fast jeder Psychotherapie. Die buddhistischen Empfehlungen lassen sich, so man will, pragmatisch umsetzen, man muss – und sollte – sie, wie bereits oben erwähnt, nicht glauben, sondern durch Erfahrung überprüfen, ob sie sich heilsam auswirken.

Der explizit buddhistische Ansatz von Sylvia Wetzel kann ein Gewinn sein für alle, die ihr therapeutisches Handwerkszeug erweitern wollen und die darüber hinaus die Frage interessiert, wie man Ethik in die Psychotherapie integrieren kann, ohne den PatientInnen etwas aufzudrängen.

Luise Reddemann

Einführung

Die Themen dieses Buches – Achtsamkeit, Mitgefühl und Muße statt Hektik und Burnout – sind seit Jahren ein ganz besonderes Anliegen für mich, und ich reflektiere sie im Licht sehr unterschiedlicher Denkansätze. Darin unterscheidet sich dieses Buch von meinen anderen Büchern, auch wenn es wieder viele grundlegende und einfache Übungen enthält, die auch Menschen ohne meditative Vorbildung gut ausprobieren können. Der Reichtum des Abendlandes und der buddhistischen Lehren und Übungen leuchtet besonders und auch ganz neu auf, wenn man beide Perspektiven in Beziehung setzt und auf Parallelen und Entsprechungen zwischen westlichen und östlichen Ansätzen hinweist. Buddhistische Schulen und indische Lehren erforschen vor allem die geistige Dimension des Lebens und zeichnen ein sehr optimistisches Bild von den Möglichkeiten des Menschseins. Und der Westen ist stolz auf seine differenzierten Erkenntnisse der materiellen Struktur von Mensch und Welt.

Diese beiden unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben ergänzen sich im Prinzip wunderbar, aber leider neigen viele ihrer Vertreter in Ost und West dazu, entweder den geistigen oder den materiellen Ansatz zu verabsolutieren und die jeweils andere Perspektive als sekundär und abgeleitet zu betrachten. Das führt in beiden Fällen zu einer unvollständigen Weltsicht. Solange nicht die Innen- und die Außenperspektive – der geistige und der materielle Ansatz – als zwei Seiten einer Medaille, als zwei Perspektiven auf das gleiche »Ding«, das Leben heißt, verstanden werden, hinken unsere Weltbilder. Und dann bleibt unser Leben unvollständig und wir als Menschen unreif und unsicher, auch wenn wir uns in der Aura großer Traditionen sonnen. Ein rein individualistischer Ansatz, bei dem ich mich ganz authentisch lediglich mit meinen eigenen Ansichten beschäftige, kann das Leben erst recht nicht fassen. Alle diese Ansätze stellen mich nicht zufrieden. Aus diesem Grund setze ich mit diesem Buch immer wieder westliche und buddhistische Denkmodelle in Beziehung, und das bereichert beide Ansätze.

Das ist nicht nur eine interessante und intellektuell anregende Spielerei, sondern mir scheint, an diesem kritischen Punkt der Moderne und Postmoderne könnte die Begegnung zwischen den kontemplativen Traditionen des Ostens und den materiell orientierten Ansätzen des Westens besonders fruchtbar werden. Zu Beginn des dritten Jahrtausends stehen viele Errungenschaften unseres demokratischen und sozialen Verfassungsstaates auf dem Prüfstand. Ich glaube, dass wir die großen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit – Erschöpfung und übertriebene Leistungsbereitschaft – nur dann meistern können, wenn wir mehr Raum für Muße und gründliches Nachdenken schaffen. Viele gute Argumente liefert mir dabei der Buddhismus, der eine ausgefeilte Wissenschaft der meditativen Seiten des Lebens entwickelt hat.

Es gibt inzwischen viele Ratgeber zum Thema Burnout und Entspannung, einige informative populärwissenschaftliche Titel über die antiken Vorstellungen zum guten Leben, über Weisheit und Philosophie, über Theorie und Praxis des Buddhismus und auch zum Themenkreis Muße. Darin werden vor allem die Kunst des Müßiggangs empfohlen und ein Lob der Faulheit gesungen. Aber Muße ist unendlich viel mehr als chillen, abhängen und faul sein. Was genau Muße ist und wozu sie gut ist, davon ist in diesem Buch immer wieder die Rede. Denn Muße – im Sinne von Zeit, in der wir frei sind von äußeren und inneren Zwängen und die uns befähigt, selber zu denken und das Denken zu überschreiten – ist ein wesentlicher Teil der Lösung des Problems der Überforderung.

Das Buch kann und will keine psychotherapeutische Begleitung oder einen Klinikaufenthalt bei der Diagnose Erschöpfungsdepression ersetzen, und es ist auch keine Einführung in den Buddhismus. Es will konkrete Anregungen zur Burnout-Prophylaxe geben und darüber hinaus Mut machen, die eigenen Prioritäten zu überprüfen und Bedingungen für ein gutes Leben zu schaffen. Ein gutes Leben hängt nach meiner Erfahrung weit mehr von unserer Lebenseinstellung als von materiellen Bedingungen ab. Da viele Menschen keinen gemeinsamen Bedeutungszusammenhang mehr mit anderen teilen, sondern sich in unterschiedlichen Lebensbereichen an unterschiedlichen Werten orientieren, fehlt den meisten ein Sinnzusammenhang, der uns ein Gefühl von Ganzheit, von Zusammengehörigkeit gibt.

Dieses Buch will immer wieder dazu anregen, das gemeinsame Anliegen in unterschiedlichen Zugängen zu den kleinen und großen Fragen des Lebens zu entdecken. Und das wird möglich, wenn wir unterschiedliche Perspektiven auf unser Leben als Bereicherung und Inspiration erleben. Dadurch entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das nicht auf dem Ausschluss anderer Perspektiven beruht, sondern auf ihrer Integration. Und diese Art von komplexer Ganzheit ist nach meiner Erfahrung einem Ansatz überlegen, der sich als der einzig wahre versteht. Überlegen in dem Sinn, dass wir durch die Wertschätzung unterschiedlicher Perspektiven eher in der Lage sind, unsere komplexen Lebenszusammenhänge zu begreifen und mit den Herausforderungen unseres modernen Lebens konstruktiv umzugehen, als wenn wir an einer einzigen Perspektive festhalten. Um mehrere Perspektiven verstehen und aushalten zu können, braucht es einen entspannten Körper und Geist, oder in anderen Worten, Muße. Und daran fehlt es überforderten und überarbeiteten Menschen.

Es gibt neben der Überforderung durch den Arbeitsprozess und die Hektik des modernen Lebens in den Städten – ganz abgesehen von der extensiven und intensiven Ausbeutung im außereuropäischen Raum – auch das Problem der körperlichen, emotionalen und geistigen Unterforderung. In beiden Fällen kann die Fähigkeit zur Muße dazu beitragen, über die eigenen Interessen nachzudenken und den roten Faden zu finden, die Bedeutung von Beziehungen zu erkennen und sie zu pflegen. In erster Linie richtet sich dieses Buch allerdings an die Menschen, die im Prinzip gerne arbeiten, aber immer wieder feststellen, dass die Balance zwischen Arbeit und Freizeit, Arbeit und Muße, Anspannung und Entspannung, Hingabe und Nachdenken nicht oder nicht mehr stimmt. Dabei geht es mir nicht um die viel beschworene Work-Life-Balance, denn Arbeit ist ein Teil des Lebens und nicht sein Gegensatz.

Im ersten Teil beleuchte ich in drei Kapiteln – Ehrgeiz, Burnout und Schmerz und Leid – die Erfahrung von Erschöpfung und übertriebener Leistungsbereitschaft aus mehreren Perspektiven und ziehe dabei unterschiedliche Erklärungsansätze heran: biologische und psychologische, politische und ökonomische, allgemein philosophische und speziell buddhistische. Ich tue das, weil ich Erschöpfung weder für ein Modethema noch für eine billige Ausrede halte, sondern für eine der ganz großen Herausforderungen unserer Zeit. Vielleicht ist es sogar ein Jahrhundertthema. Und um ein großes und komplexes Thema zu begreifen braucht es unterschiedliche Zugänge. Burnout und Überforderung betrifft nicht nur Menschen, die zu viel arbeiten, sei es nun schlecht bezahlt oder mit »unanständig« hohen Boni, wahnwitzigen Honoraren oder Gagen versüßt, sondern das hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Hektik und Erschöpfung sind nicht nur gefährlich für die Betroffenen selbst und schwierig für ihr Umfeld, teuer für unser Gesundheitssystem und ein Verlustfaktor für die Wirtschaft. Hektik und Erschöpfung bedrohen unseren demokratischen Verfassungsstaat und unser kulturelles Leben, denn dafür braucht es wache und selbstständig denkende Menschen, die fähig sind zu einem Leben in Würde und mit Verantwortung für unsere gemeinsame Welt.

Die dritte Herausforderung neben übertriebener Leistungsbereitschaft und Erschöpfung ist die allgemeine Erfahrung von Schmerz und Leid. Dazu beschreibe ich, vor allem aus Sicht des Buddhismus, Ursachen und Bedingungen des natürlichen und des zusätzlichen Leidens und stelle Methoden aus Ost und West vor, die uns helfen, klug und mitfühlend damit umzugehen. Natürliches Leiden gehört zum Leben, zur conditio humana, und kann nach meiner Erfahrung durch keine materielle oder spirituelle Methode völlig aufgelöst oder beseitigt werden. Man kann es allerdings durch ein kluges und mitfühlendes Umgehen erträglicher gestalten. Wir haben mehr Chancen, das zusätzliche Leiden zu verringern, denn es entsteht durch unrealistische Erwartungen, und die können wir überprüfen und verändern. Ich vermute, dass auch traumatische Erfahrungen zum Leben gehören, die wir nur bedingt vermeiden, aber mit einer guten Begleitung lindern und verarbeiten können. Zum Glück erleben wir nicht nur unterschiedliche Formen und Intensitäten von Leiden, sondern wir sind auch prinzipiell fähig, damit gut umzugehen, d. h. es zu verarbeiten und in unser Leben zu integrieren. Davon handelt der zweite Teil.

Im zweiten Teil stelle ich in vier Kapiteln Ressourcen für ein gutes Leben vor: Achtsamkeit und Mitgefühl, Resilienz und Muße. Achtsamkeit und Mitgefühl sind grundlegende Fähigkeiten, die wir als Menschen sozusagen mit in die Wiege gelegt bekommen. Als Menschen der Gattung homo sapiens sapiens zeichnen wir uns dadurch aus, dass wir nicht nur wahrnehmen und denken können, sondern unser Verhalten mit Körper, Rede und Geist beobachten und prinzipiell auch hinterfragen können. Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass »der Mensch an sich« nicht primär ein homo oeconomicus ist, einer, der bloß zu seinem eigenen Vorteil handelt. Menschen sind nicht primär Individuen, sondern vor allem soziale Wesen, angelegt auf ein kooperatives und mitfühlendes Leben mit anderen, mit Mensch, Tier und Natur. Achtsamkeit und Mitgefühl sind per se schon wunderbare menschliche Fähigkeiten, sie sind aber auch deshalb wunderbar, weil wir sie systematisch und gezielt einüben bzw. erlernen können. Dazu gibt es in diesem Buch viele unterschiedliche Übungen, und jede und jeder kann sich die für das eigene Leben passenden aussuchen. Die dritte Ressource ist Resilienz, die Fähigkeit, schwierige und sogar schwerste Erfahrungen zu verarbeiten, oder persönliche Widerstandsfähigkeit. Drei Faktoren spielen dabei eine besondere Rolle: Freude, Beziehungen und Sinn. Die Beschreibung dieser drei zentralen Resilienz-Faktoren stammt aus der westlichen Trauma-Therapie, und sie ist kompatibel mit buddhistischen Ansätzen: die Fähigkeit, Freude zu erleben, tragfähige Beziehungen aufzubauen und zu pflegen und die Erfahrung von Sinn. Dazu gehört für mich besonders die Einsicht, dass die Erfahrung von kleinen und großen Leiden zum Leben gehört und wir nie alle Bedingungen unseres Lebens in den Griff bekommen.

Die vierte Ressource ist Muße. Sie ist nicht nur wichtig für unsere körperliche Gesundheit, sondern eine zentrale Voraussetzung eines guten Lebens. Für die politische Philosophin Hannah Arendt ist Muße – eine Zeit frei von äußeren und inneren Zwängen – vor allem dann unverzichtbar, wenn wir selbstständig denken lernen wollen, und dazu gehört auch die Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Denkens und des Denkens überhaupt zu erkennen. Für beides braucht man Muße. Für den katholischen Philosophen Josef Pieper ist Muße Ursprung und Garant unserer und jeder Kultur. Ich halte die Fähigkeit, innezuhalten, die eigene Verfassung zu spüren, selbstständig zu denken und zu urteilen, für Voraussetzung und Grundlage eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates.

In diesem Sinn sind Entspannung und Muße nicht einfach ein Wohlfühlprogramm für unruhige Zeitgenossinnen und erfahrungshungrige und gelangweilte Städter, sondern die entscheidende Voraussetzung für ein Leben in Würde. Zu einem solchen Leben gehören auch Hinterfragen und gründliches Nachdenken, vor allem über folgende Punkte: der Prioritäten unseres aktiven Lebens, unserer Lebensvision und der Art und Weise, wie wir mit anderen Menschen und mit der ganzen Welt verbunden sind. Die Antike nannte das ein gutes Leben. Ich werde unterschiedliche Elemente eines guten Lebens beschreiben und immer wieder kleine Übungen vorschlagen, die zur Klärung unserer Vorstellungen vom guten Leben beitragen können.

Die unterschiedlichen Erklärungsansätze aus Politik und Wirtschaft, aus Biologie und Philosophie, aus Psychologie und Buddhismus u. a. ergänzen sich und zeigen deutlich, dass es darum geht, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und sie nicht auf eine einzige – wahre und richtige – zu reduzieren. Dieses mehrperspektivische Denken wurde zum ersten Mal in der Achsenzeit, im ersten Jahrtausend v. Chr., in unterschiedlichen Kulturkreisen – China, Indien, Palästina und Griechenland – entdeckt und zum Glück nie mehr ganz vergessen. Der Philosoph Karl Jaspers prägte diesen Begriff, weil er die Einsichten dieser Zeit als einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit sah.

Die Philosophien und Religionen, die in der Achsenzeit entstanden, werden als Gipfel und Juwel des geistigen Lebens in Asien und im Abendland gleichermaßen verehrt. Ihre Vision ist atemberaubend: Mitgefühl für alle Menschen ist möglich. Es gibt keine objektive Wahrheit. Menschen sind einzigartige Individuen und können prinzipiell offen und vielschichtig denken. Man könnte das mehrdimensionales Denken nennen. Der Kulturphilosoph Ken Wilber thematisiert diese Fähigkeit seit über dreißig Jahren und nennt sie second tier thinking, um sie abzugrenzen von allen früheren Arten des Denkens, das er first tier thinking nennt, und die ihre jeweils eigene Weltsicht, sei sie magisch, mythisch oder begrifflich, für die einzig richtige halten. Dieses mehrdimensionale Denken ist in der Lage, unterschiedliche Erklärungsansätze – aus Biologie und Soziologie, aus Psychologie und Religion usw. – als unterschiedliche Perspektiven »auf das gleiche Ding« zu erkennen und sie nicht als Bedrohung, sondern als Erweiterung und Inspiration zu sehen.

Der dritte Teil des Buches enthält konkrete Vorschläge für ein gutes Leben. In drei Kapiteln möchte ich zum eigenständigen Üben anregen und Mut machen, die eigenen Lebenserfahrungen anzunehmen, sie zu erforschen und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Die Thesen und Übungen des achten Kapitels beruhen auf den Erfahrungen von fünfzehn Jahren Kursen mit Menschen aus sozialen, pflegenden und heilenden Berufen in Brandenburg und Berlin. Im neunten Kapitel mache ich Vorschläge, wie man im eigenen Rhythmus, allein und mit anderen zusammen, unterschiedliche Übungen ausprobieren und in seinen Alltag einbauen kann. Das zehnte Kapitel enthält einen Schatz an Übungen, aus denen Sie je nach Bedarf und Tagesform die für Sie passenden auswählen können.

Die unterschiedlichen Ansätze in diesem Buch wollen ein vielschichtiges Bild zeichnen und Sie, als Leserinnen und Leser, auf unterschiedlichen Ebenen ansprechen und inspirieren. Wenn Ihnen manche Überlegungen zu philosophisch oder zu politisch, zu buddhistisch oder zu psychologisch klingen, lesen Sie darüber hinweg bis zur nächsten Aussage, These oder Übung, die bei Ihnen ankommt. Wir teilen keinen gemeinsamen Bedeutungszusammenhang mehr, und daher wiederhole ich wichtige Aussagen immer wieder und erkläre, wie ich bestimmte Begriffe verwende. Denn manchmal interpretiere ich sie anders als üblich oder erweitere sie. Manche Menschen denken eher psychologisch oder praktisch, andere suchen gute Erklärungen, und manche suchen interessante Erfahrungen. Wir machen alle genügend Erfahrungen, aber oft können wir sie nicht in einen plausiblen Zusammenhang einordnen. Auch dazu will dieses Buch anregen, denn verstehen heißt auch, Erfahrungen und Ansichten in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können.

Eine umfangreiche Literaturliste bekannter und weniger bekannter Autorinnen und Autoren und Titel zum Themenkreis will einerseits zeigen, wie viele Menschen in unterschiedlichen Disziplinen und zu unterschiedlichen Zeiten sich ernsthaft Gedanken über die Lebensbedingungen unserer Zeit machen, und andererseits darauf hinweisen, dass sie zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen: innehalten, nachdenken, Beziehungen pflegen, miteinander reden, sich politisch einmischen usw.

All das macht auch mir immer wieder Mut, das Gegebene nicht ohnmächtig oder gleichgültig anzunehmen, mich aber auch nicht in Wut und Empörung zu verlieren, sondern zusammen mit anderen Menschen über unsere gemeinsame Welt zu sprechen, über mögliche Gegenentwürfe zum Bestehenden nachzudenken und mir den Freiraum zu schaffen, den ich dafür brauche. Darum geht es für mich in diesem Buch: um den Mut zur Muße und um die Freude am Tun, im Vertrauen darauf, dass Menschen gemeinsam über ein gutes Leben nachdenken und sich dafür einsetzen wollen und können und auch etwas Gutes bewirken können.

Einige Kapitel sind erweiterte Fassungen von Vorträgen und kleinen Schriften, die in unterschiedlichen Kontexten entstanden und für bestimmte Zielgruppen zusammengestellt wurden. Sie setzen unterschiedliche Akzente, und es gibt Überschneidungen und Wiederholungen, denn alles hängt mit allem zusammen. Und auf einige, vielleicht auch ungewohnte, Zusammenhänge will ich immer wieder besonders hinweisen. Das ist beabsichtigt, denn ich finde es sinnvoll und hilfreich, die große Frage des guten Lebens aus immer wieder neuen Perspektiven zu beleuchten und sozusagen spiralförmig zu umkreisen.

Jedes Buch ist ein Lehrstück in bedingtem Entstehen. Die umfangreiche Literaturliste von Autorinnen und Autoren, vor allem aus dem Westen, aber auch aus Asien, ist ein deutlicher Hinweis auf sehr viele Anregungen, die ich von diesen wunderbaren Menschen erhalten habe. Die meisten Thesen und Übungen in diesem Buch habe ich in öffentlichen Vorträgen und Meditationskursen vorgestellt, und die vielen positiven Rückmeldungen haben mir gezeigt, dass mein Ansatz – buddhistische und westliche Modelle zusammenzubringen und ihre zentralen Aussagen kulturell zu übersetzen und so Brücken zwischen unterschiedlichen Disziplinen zu bauen – zu einem guten Leben in Würde und Verantwortlichkeit beiträgt. Mir geht es dabei um religiöse und kulturelle Mehrsprachigkeit, um Interdisziplinarität im engeren und weiteren Sinn. Das ist für mich die Voraussetzung für mehrdimensionales Denken, das wir brauchen, um konstruktiv mit unserem komplexen modernen Leben umzugehen. Mein großer Dank gilt meinen Lehrerinnen und Lehrern aus Ost und West, von denen ich Wesentliches gelernt habe. Und all denen, die kluge Bücher schreiben, und den mutigen Verlagen, die sie veröffentlichen. Sie sind für mich Pfeiler unseres kulturellen Gedächtnisses, die uns Perlen des Denkens und der Lebenskunst aus Vergangenheit und Gegenwart zur Verfügung stellen.

Herzlichen Dank auch an Luise Reddemann für bald zwanzig Jahre Gespräche über die wesentlichen Dinge des Lebens, für unsere inspirierenden gemeinsamen Seminare und für ihr Vorwort zu diesem Buch. Ich bedanke mich auch sehr bei Karl Beer, Nadja Giersdorf und Birgit Kübler, die unterschiedliche Fassungen des Manuskripts gelesen und mit ihren Rückmeldungen, Fragen und Hinweisen dazu beigetragen haben, dass das Buch flüssiger zu lesen und besser zu verstehen ist.

Ganz besonders danke ich dem Verlag Klett-Cotta für die Bereitschaft, sich auf ein so komplexes Buch zum Themenkreis einzulassen, und meiner Lektorin, Dr. Christine Treml, für den Vorschlag, dieses Buch zu schreiben und seine Entstehung konstruktiv und kritisch zu begleiten.

Jütchendorf im Herbst 2013

Sylvia Wetzel

Hinweis zu den Übungen

Manche Übungen bzw. Abschnitte der Übung habe ich im einladenden »wir« formuliert und manche eher im direkten »du«. Schauen Sie, was Sie anspricht, und formulieren Sie die Übungen entsprechend um. Für den Anfang reicht es, wenn Sie ein, zwei Mal die Woche eine Übung durchführen, bis Sie durch die eigene Erfahrung motiviert sind, regelmäßig zu üben.

Hinweis zu fremdsprachlichen Begriffen

Fremdsprachliche Fachbegriffe werden i. d. R. in der in Deutschland bekannten Form wiedergegeben und groß geschrieben, wie z. B. Karma und Nirvana. Wenn nicht anders erwähnt, stammen die Fachbegriffe aus dem indischen Sanskrit. Eher unbekannte Begriffe werden bei der ersten Nennung kursiv geschrieben und dann wie deutsche Substantive behandelt. Die Fachsprache des frühen Buddhismus ist das indische Pali und die des Mahayana-Buddhismus das indische Sanskrit, in dem auch die Heiligen Schriften und Epen der indischen Kultur verfasst sind. Siehe auch Glossar im Anhang.

Teil I:
Herausforderungen

1  Ehrgeiz entwickeln heißt wegschauen

Mit dem Titel dieses Kapitels möchte ich Sie provozieren, und zwar zum Nachdenken über Ihre Motive und Einstellungen zum Thema Leistung. Burnout ist in aller Munde, auch wenn es immer noch keine klare Definition dieser Erschöpfungserfahrung gibt. Bevor ich meine Überlegungen zu Burnout und seinen Entstehungsbedingungen vorstelle, möchte ich etwas zum Thema Ehrgeiz sagen, denn nach meiner Erfahrung haben nicht wenige Varianten der Erschöpfungsdepression und des Burnout sehr viel mit Ehrgeiz zu tun. Ich unterscheide zwischen ungesundem Ehrgeiz als Versuch der Kompensation von mangelndem Selbstwertgefühl und dem sinnvollen Wunsch, das, was wir tun, möglichst gut zu tun. Der Hauptunterschied besteht für mich darin, dass wir unter dem Einfluss von Ehrgeiz unsere aktuelle Befindlichkeit ignorieren und irgendwie und irgendwo anders sein wollen. Im Unterschied dazu ist der Wunsch, etwas – eine Arbeit, einen Ablauf, das ganze Leben – gut zu machen, Ausdruck unserer Kreativität. Mit dieser Haltung schätzen wir uns und die anstehenden Aufgaben einigermaßen realistisch ein und sind interessiert und bereit, sie Schritt für Schritt kompetent und möglichst gut zu erfüllen. Der Philosoph Ernst Tugendhat nennt das in seinem Buch Egozentrizität und Mystik das Bedürfnis oder Streben nach dem »adverbial Guten« und interpretiert das als ein Grundanliegen von Menschen. (Tugendhat 2003)

Meine Vermutung ist, dass hinter jeder Art von hier als ungesund definiertem Ehrgeiz eine Form von mangelndem Selbstwertgefühl steckt. Wenn wir zu einem niedrigen Selbstwertgefühl neigen, kompensieren wir das meist mit hohen Idealen und Ansprüchen. Wir legen die Latte hoch, setzen uns unter Druck und leben »das Leben der anderen«. Wir bemerken das aber nur ganz vage, weil wir uns selbst nicht gut spüren und kennen. Achtsamkeit für uns und andere, für unsere natürliche und soziale Umwelt und für das bedingte Entstehen aller Erfahrungen fördert ein realistisches Selbstbild und das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen und mit der Welt. Und genau das brauchen wir für ein sinnvolles und gutes Leben, zum eigenen Wohl und dem der anderen. Ich möchte den Zusammenhang zwischen Selbstbildern und Verhalten zunächst aus der buddhistischen Perspektive erläutern und danach einige aktuelle kulturelle Bedingungen für Ehrgeiz und mögliche Wege aus dem Ehrgeiz heraus beschreiben.

Was ist Ehrgeiz? Was erleben wir, wenn wir ehrgeizig sind? Die ältere Bedeutung von Geiz ist Gier oder Habsucht. Wenn wir ehrgeizig sind, sind wir also gierig nach Ehre. Unter welchen Bedingungen gieren wir nach Ehre? Wenn wir mit dem, was ist, nicht zufrieden sind. Sind wir unzufrieden, wollen wir anders sein, als wir sind. Der Buddha beschrieb diese Art von Wunsch als die Ursache von Leiden. Er kehrt den Erklärungszusammenhang allerdings um. Wir denken: Weil ich unzufrieden bin, will ich anders sein, als ich bin. Buddha lehrt: Weil wir anders sein wollen, als wir sind, sind wir unzufrieden. Das ist die Kernthese der Zweiten Edlen Wahrheit von der Ursache des Leidens. Zum besseren Verständnis beschreibe ich die Vier Wahrheiten bzw. Aufgaben hier kurz.

Vier Edle Aufgaben

In seiner ersten Unterweisung nach seinem Erwachen lehrte der Buddha die sogenannten Vier Edlen Wahrheiten. Das sind keine ewigen Wahrheiten, die man glauben muss, sondern Aufgaben, die uns helfen können, ein gutes, ethisches und verantwortliches Leben zu führen.

Erstens: Es gibt Leiden, Unzufriedenheit, Unsicherheit und Enttäuschungen, Sanskrit duhkha. Unsere Aufgabe besteht darin, sie zu spüren und wahrzunehmen, zu erforschen und zu erkennen. Zweitens: Die Ursache, S. samudaya, für unsere Unzufriedenheit ist der Wunsch, es möge jetzt und sofort anders sein, als es ist, und zwar ohne die spezifischen Bedingungen und Umstände, die zu einer Veränderung führen können, zu verstehen. Buddha nennt das Durst oder Begehren, S. trshna. Dieses Begehren gilt es zu erkennen und loszulassen. Drittens: Unzufriedenheit hört erst dann auf, wenn wir diese unrealistischen Wünsche erkennen, verstehen und loslassen. Das ist das Ende des Leidens, S. nirodha. Und dieses Loslassen, dieses Ende des Leidens gilt es zu erleben und nicht nur als schöne Idee zu bewundern oder uns – und auch andere – mit dem Anspruch auf Loslassen unter Druck zu setzen. Viertens: Wie man Unzufriedenheit erforscht, versteht und auflöst, zeigt uns der Achtfache Pfad, marga. Das sind acht Bereiche der Übung, die uns Orientierung für ein gutes, ethisches und verantwortliches Leben geben. Diesen Weg gilt es zu gehen. Welche Schritte dazugehören, beschreibe ich in Kapitel acht, in denen es um Auftanken und Entspannen und um konkrete Übungen für Beruf und Alltag geht.

Meine Grundthese ist: Ehrgeiz ist eine besonders stark ausgeprägte und folgenreiche Variante des unrealistischen Wunsches: Es möge jetzt und sofort anders sein, als es ist. Und das hat mit einer besonderen Art von Leiden zu tun, mit dem Gefühl: Ich bin nicht gut genug. Die Überforderung, die durch Ehrgeiz entsteht, hört erst auf, wenn wir Frieden schließen mit uns und der Welt, und das geht nur, wenn wir Ja sagen können zu uns und der Welt, trotz aller Widersprüche. Die Fähigkeit, uns trotz Leiden und Unvollkommenheit, trotz Schwächen und Widersprüchen zu bejahen, wird uns nicht in die Wiege gelegt. Wir müssen uns für diese Sicht entscheiden, und das können wir lernen, wenn wir das für sinnvoll halten und uns darum bemühen. Darauf gehe ich später in diesem Kapitel ausführlicher ein, wenn ich die drei Ich-Perspektiven von Thomas Harris vorstelle. (S. 32 ff.)

Wir werden ehrgeizig, wenn wir Minderwertigkeitsgefühle mit hohen Idealen kompensieren und unsere aktuelle Befindlichkeit ignorieren, sie nicht spüren, wahrnehmen und erkennen. Was ignorieren wir, wenn wir uns selbst nicht genau spüren? Zu unserer aktuellen Befindlichkeit gehören vier Bereiche, die der Buddha die vier Grundlagen der Achtsamkeit nennt: körperliche Empfindungen, Grundgefühle und emotionale Reaktionen darauf, Grundstimmungen und Gedanken. Was Achtsamkeit ist und wie wir sie auf diese vier Bereiche unserer Erfahrungen ausrichten können, werde ich im dritten Kapitel genauer beschreiben.

Minderwertigkeitsgefühle und die Vier Schleier vor Buddha-Natur

Warum gibt es so etwas wie Minderwertigkeitsgefühle? Warum leben wir nicht voller Selbstvertrauen und Wertschätzung, dankbar, mitfühlend und verantwortlich? Die einen meinen, es liege an den Genen, und die anderen geben der Gesellschaft die Schuld. Ich denke, es liegt an einem hochkomplexen Zusammenspiel vieler sehr unterschiedlicher Bedingungen und Umstände. Auf einige Bedingungen möchte ich im Folgenden hinweisen, und zwar vor allem deshalb, weil sie mir einleuchten und zugleich einen Weg zeigen, freundlich und mitfühlend, heiter und gelassen, verantwortlich und zuversichtlich, wach und entspannt zu leben, mitten im Auf und Ab des Lebens, zumindest ab und zu und immer öfter.

Der Buddha beschreibt in seiner Unterweisung über die Vier Wahrheiten, die man als Aufgaben interpretieren kann, den Bedingungszusammenhang von Leiden und einen Weg aus dem Leiden heraus: 1. Leiden spüren, 2. den Wunsch, es möge anders sein, erkennen und loslassen, 3. Loslassen erleben und 4. mit Geduld und Ausdauer den Weg der Ethik, Sammlung und Einsicht zu gehen.

Sehr deutlich wird an diesem Ansatz, dass man niemandem einen Weg vorschreiben kann. Menschen suchen in der Regel erst dann nach einem Weg, wenn sie sich selbst zum Problem werden. Wenn die kollektiven Antworten auf Lebensfragen nicht mehr greifen, wenn das, was wir von unseren Eltern und Nachbarn, in der Schule und in unserer spezifischen Kultur gelernt haben, nicht mehr ausreicht. Dann fangen wir an, eigene Fragen zu stellen und das Überlieferte und Gelernte zu hinterfragen, und genau diese fragende Haltung wird zu einem Schlüssel, der uns für die Texte und Übungen öffnet, die uns die Weisen, die nachdenklichen und suchenden Menschen hinterlassen haben.

Ein Modell aus dem buddhistischen Tantra bzw. Vajrayana, die Unterweisung über die Vier Schleier, beschreibt unser gebrochenes Lebensgefühl sehr eindrücklich. Ich gehe im neunten Kapitel ausführlicher darauf ein, möchte es aber hier schon einmal kurz vorstellen, weil es den Kontext meiner Überlegungen gut beschreibt: Weil wir unsere Tiefendimension, die Natur des Geistes, nicht kennen, sind wir existenziell verunsichert und haben Angst, entwickeln allzu feste Meinungen, verteidigen sie mit aufgewühlten Emotionen und stabilisieren das ganze System mit ständigen Wiederholungen.

Erstens: