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Richard Lorenz

Kinderland

 

Fünfter Teil

Allerheiligenwunder

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-95607-009-9

 

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Richard Lorenz, Kinderland – Teil 5: Allerheiligenwunder

 

Am 11. August 1999 schiebt sich der Mond vor die Sonne, ein Schatten fällt auf das Kinderland und macht das Vergessen sichtbar. Die Glut des Bösen entfacht in der Allerheiligennacht ein Fegefeuer der Gerechten. Denn die Zeit der Sühne ist gekommen.

 

Das Weihnachtsbuch von Charles Dickens fest umschlossen, war Leonard in Roberts Bett eingeschlafen und hatte seinen Traum geträumt. »Zeig mir dein Schwänzchen«, hatte der Mann in diesem Traum gemurmelt. Ein Mann, dessen Beine dürr und so schwarz wie faule Zähne waren, Münzen klimperten in seinen geschlossenen Händen. Roberts Mutter stand neben ihm, mit grauen Mäusen auf der Schulter. Leonard blickte zu sich herunter und sah, dass er nackt war. Mäuse und Ratten krabbelten an seinen Beinen empor. Mit einem stummen Schrei erwachte er und sah, dass der Morgen dämmerte und dass es schneite. Der letzte Tag im Oktober, vielleicht der letzte Tag in meinem Leben, dachte Leonard. Auf dem Fenstersims saß eine Maus und schien zu nicken.

 

Was genau haben die Einwohner der kleinen Stadt während der Sonnenfinsternis gesehen? Was treibt sie im Hagelsturm der Allerheiligennacht auf die Straßen, den Wahnsinn im Blick? Die Untaten der Vergangenheit erhalten in dieser Nacht ein Gesicht – ein Anblick, den die Kinder von 1986 mehr als alles andere fürchten. Doch ihr Mut ist ungebrochen, denn sie sind nicht allein. Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu erfahren und Erlösung zu finden. Die Wahrheit, die die Geister seit jeher flüstern, und die Erlösung, die auch in dieser Nacht nach einem Opfer ruft …

 

»Allerheiligenwunder« ist der fünfte und letzte Teil der Mystery serial novel »Kinderland« – tapfer trage fort mein Herz!

Mäusebeine und Spinnenträume

 

Um kurz vor neun stand Tom vor der Toilettenschüssel und blickte fassungslos hinein. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so viel Blut gesehen. In der Küche hörte er seine Frau das Frühstück zubereiten, roch den Kaffee. Er hatte von toten Kindern geträumt, von hohen Leichenbergen mit heraus gestreckten Armen und Beinen. Starres, dürres Geäst, auf das sich Raben und Krähen setzten und von dort aus den Himmel betrachteten. Den von Wolken bedeckten, immerwährenden Herbsthimmel. Zitternd schloss er die Augen, ihm war kalt, dennoch schwitzte er. Er hielt sich am Waschbecken fest und blickte in den Spiegel. Sein Gesicht war kalkweiß, die Augen tief und die Lippen farblos. Er versuchte zu lächeln, obwohl die Angst in seinen Knochen steckte. Tief in seinem Bauch war etwas gewachsen, ein monströses Ding, das ihn auffraß.

Es war der Tag vor Allerheiligen, jener Tag, der sein Leben verändert hatte, damals, für alle Zeit. Auch von Karla hatte er geträumt, ein seltsamer Traum zwischen Mitternacht und den Schmerzen in seinem Bauch. Hatte sie küssen wollen, hatte den Geruch ihrer Haut und ihrer Haare eingeatmet – ein Sommergeruch, der ihn hoffen ließ. Aber nichts war geschehen, der Traum war abgerissen und Karla verschwunden.

»Tom?«, rief seine Frau.

Er erschrak. Ihre Schritte auf dem Parkett, barfuß.

»Willst du einen Kaffee?«

Sie öffnete die Badezimmertür und lächelte ihn an. Dann sah sie das viele Blut, zerplatzte Tropfen auf den Fliesen, Blutschlieren auf seinen nackten Oberschenkeln. Ihre Augenlider flatterten wie Schmetterlingsflügel, ihr Mund öffnete sich einen winzigen Spalt. Dann fiel sie um in ein unendliches schwarzes Loch, einer Grube gleich.

 

Einer Grube gleich, aber …

Wann genau er gestorben war, wusste Moritz nicht mehr, es war auch egal. Vor langer Zeit, irgendwann nach 1986, vermutlich einige Jahre nach dem Jahrhundertunwetter. Damals war er zu dem toten Jungen im Keller geworden, auf dessen Schultern sich die Mäuse setzten und von dessen Füßen die Rattenkönige aßen. Der Bauch aufgebläht, das Krebsgeschwür mit seinen Eingeweiden verwachsen. Er war schon lange tot, als sein Vater ihn in einen großen Leinensack gesteckt und aus dem Keller getragen hatte, runter zum Grünen See. Sieben Backsteine, auf jedem davon Jesu Name, die den toten Jungen unten hielten, tief unten am Seegrund.

Er war nie wie die anderen gewesen, nicht im Leben und nicht im Tod. Diese Dummköpfe waren zum Murr-Haus gegangen, anstatt zu vergessen. Seine Schwester Sara und die anderen Jammerlappen, von denen nur noch einer übrig war. Der Knochenmann, dieser armselige alte Mann mit den Träumen von einer besseren Zeit, die nichts wert waren.

Moritz blickte vom Mauervorsprung über die Oktoberstadt, über eine Stadt, die ihrem Ende entgegensah. Sie alle würden qualvoll verrecken wie tollwütige Hunde. Er lachte laut auf. Ein Mann ging über den Marktplatz und blieb plötzlich stehen. Er sah zu Moritz hinauf, dann schüttelte er den Kopf und ging weiter. Moritz kicherte. Niemand konnte ihn hier oben auf dem Dachfirst sehen, niemand der Lebenden. Nur den Schnee, der in ihre Augen fiel, bemerkten sie.

Die anderen Kinder hatten Rache genommen – während des großen Unwetters 1986 hatten sie die Ungeheuer aus ihren Häusern getrieben und ihre Seelen zerschnitten wie dünnes Papier. Hatten den Krebs in die Stadt gebracht wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk für jene, die leiden sollten. Für jene, von denen sie glaubten, der Krebs würde sie bekehren wie das Abendgebet in der Kirche. Aber er wusste es besser. Denn wenn alle krank sind, ist das Sterben keine Vergeltung mehr, sondern eine Erlösung.

Schon in der ersten Nacht nach seinem Tod war er durch die Straßen gezogen, hatte gelauscht an den hellen Fenstern, war durch Schornsteine und durch Türritzen in ihre Träume gelangt. An das Gute im Menschen glaubte er nicht, hatte er nie geglaubt. Seine Mutter war stark gewesen, und das war das Einzige, was zählte. Sie hatte immer gewusst, dass Sara nur ein weiteres kleines Miststück in dieser Stadt war. Ungezogen und frech. Moritz war glücklich über Saras Tod, darüber, dass sie sich dort oben das Leben genommen hatte. Manchmal sah er sie. Natürlich sah er sie, so wie er auch die anderen toten Kinder sah. Sie hatten Angst vor ihm, und das war gut so. Fürchteten seinen Atem, fürchteten seine Träume, die er zum Himmel schickte, damit sie mit den Regentropfen niederfielen. Denn mit seinem Atem und seinen Träumen waren die dunklen Geister verwebt auf alle Zeit. Waren die toten Kinder im Himmel zu Hause, so war er es in den tiefsten Gruben der Welt.

Noch bevor der erste Schnee die Stadt bedecken sollte, würden sie kommen und Karla umbringen. All jene, die fiebernd in ihren Betten lagen und von ihr träumten, von ihrem letzten Kuss und ihrem Geschenk. Moritz lachte abermals. In den Häusern wurde Blut gespuckt und Schmerzen ausgestanden. Viele von ihnen würden schon bald tot in ihren Häusern liegen, die Augen weit geöffnet, zum Schneehimmel gerichtet. Ihr Hass war endlich groß genug, um alle Kinder dieser Stadt zu töten. Lange Jahre hatte es gedauert, und nun war es so weit. Die Kranken würden die Stadt durchstreifen mit ihren Mistgabeln und sie aufspießen wie faul gewordene Kürbisse auf verdorbenen Feldern. Dann würden sie gesunden, als hätte sie die Gottesmutter von all ihren Leiden erlöst.

Es war richtig, die schlechte Saat aus dem Boden zu reißen, so wie es damals richtig gewesen war, die nichtsnutzigen Judenkinder dort unten zu verscharren. Es war gut und richtig, sie zu vergessen, ihre Namen von jedem Grabstein der Welt zu kratzen. So gesehen war es auch gut, dass er Karla im Sommer nicht hatte ersticken können, im Taumellicht der Sonnenfinsternis. Sie würde durch die Hände der Väter und Mütter sterben, vielleicht sogar durch die Hände einiger Kinder. Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, dachte er sich und sah die Erlösten bereits durch die Straßen marschieren, um an jeder Ecke, an jedem Ort ein Kinderland zu errichten, mit Gräbern bis zum Mittelpunkt der Welt.

 

Claudia öffnete die Augen und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Die Luft war kühl, fast schon kalt, und sie roch nach verdorbener Milch. An der Zimmerdecke erkannte sie getrocknete Wasserflecken.

»Du warst ohnmächtig«, sagte Tom leise und legte seine Hand auf die ihrige.

»Wo sind wir?« Sie setzte sich auf. Ihr Kopf tat weh, am Hinterkopf ertastete sie eine kleine Beule. Grelle Lichtblitze flackerten hinter ihren Augen.

»Du erinnerst dich an das Mädchen im Murr-Haus? Sara. Hier hat sie gelebt, hier ist sie aufgewachsen«, sagte Tom, in seinen Händen das kleine schmale Buch, das er in der Bücherei gefunden hatte.

Claudia sah sich um. Ein kleines Wohnzimmer mit schmutzigen Tapeten an den Wänden, über dem Fernseher ein Vogelkäfig mit zwei toten Wellensittichen darin. Durch das Fenster zum Hinterhof sah sie ihren Ford, auf den dicke Schneeflocken fielen.

»Ich hab dich einfach auf die Rückbank gelegt«, sagte Tom und lächelte. »Der Weg war nicht weit.« Er hustete heftig. Winzige Blutspritzer, die sich in seiner vorgehaltenen Hand verteilten.

Tom wischte seine Hand an der Jeans ab, ein schmaler dunkelroter Streifen blieb zurück.

Claudia fiel das viele Blut im Badezimmer wieder ein. »Wir müssen sofort ins Krankenhaus. Du blutest. Du …« Schon als kleines Mädchen hatte sie kein Blut sehen können. Ihre Augenlider flatterten wieder, alles verschwamm … Plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz auf ihrer linken Wange, den Knall nahm sie nur gedämpft wahr.

Tom rieb sich die rechte Hand. »Wir haben weder Zeit für ein Krankenhaus, noch für Doktor Grüner, noch für Ohnmachtsanfälle. Verstehst du?«

Claudia nickte. Sie war nun hellwach. Die Tränen kamen, und Tom wischte sie vorsichtig weg, seine Hand zitterte.

»Warum sind wir hier?«, flüsterte Claudia. An Toms Kinn klebten winzige Flecken getrockneten Blutes, sein Gesicht war schneeweiß. Er stirbt, dachte sie, er stirbt, hier und jetzt. Bilder ihres gemeinsamen Lebens leuchteten auf. Kennengelernt hatten sie sich auf einem Jahrmarkt, und zum ersten Mal geküsst hatten sie sich am Riesenrad, während Sternschnuppen den Himmel teilten. Während Zuckerwatte sich in Kinderhaaren verfing und der Losbudenmann den Hauptgewinn ausschrie. Sie erinnerte sich an den Geschmack seiner Lippen in jener Nacht vor hundert Jahren.

Toms Stimme aus weiter Ferne: »Das Blatt wendet sich noch einmal. Vielleicht müssen wir zum Murr-Haus gehen, ich weiß es nicht. Vielleicht müssen wir sie finden.«

Claudias Blick wurde klar. Sie sah Tom in die Augen.

»Wir müssen die Kinder finden. Alle.« Tom hustete wieder, Schweiß auf der Stirn.

»Tom, was passiert hier?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich hier sein muss.«

»Ich liebe dich«, sagte Claudia. Und nichts war in diesem Moment wichtiger und wahrhaftiger.

»Und ich liebe dich«, flüsterte Tom und strich sanft über ihre linke Wange. »Ich muss das machen. Ich bin es ihnen schuldig.«

Ein zaghaftes Lächeln. Claudia nickte. Dann nahm sie Toms Hand und küsste sie.

»Verdammt will ich sein!«

Claudia schrie. Tom zog hastig seine Hand weg und sprang auf. Im Flur ein Schatten, gedrungen, wie der eines Kindes. Die Stimme aber gehörte einem Erwachsenen.

»Ich dachte, ich hätte mich getäuscht! Aber du bist es wirklich.«

Der Schatten wurde größer, kam näher, in der Hand ein Buch. Dann blieb er stehen.

Tom wankte. Flackernde Erinnerungsfetzen. Diese Augen würde er nie vergessen. Augen voller Angst, damals, auf dem Weg zum Murr-Haus. Plötzlich nahm Tom den Geruch von Karlas Haaren wahr, und noch von etwas anderem. Löwenzahn.

»Tom.« Die Stimme des Mannes klang gebrochen. Er stellte sich vor Tom und sah ihn an.

»Ich erinnere mich an dich«, flüsterte Tom.

»Nichts ist vergessen. Deshalb sind wir hier.« Der Mann kam ganz nahe und betrachtete Toms Kinn, dort, wo die Blutflecken waren.

Er weiß es, dachte Tom. Er weiß, dass wir dem Tode sehr nahe sind. Wir alle. Dann breitete Tom seine Arme aus, und Leonard schloss ihn in seine.

 

»Ist Karla noch am Leben?«

»Ich hoffe es mit ganzem Herzen«, antwortete Leonard und setzte sich in den zerschlissenen Lehnstuhl, das Buch in seinem Schoß. Er hatte Angst, dass sie tot in ihrem Bett liegen würde. Die Augen starr, zum unsichtbaren Himmel gerichtet. Mäuse auf ihren Armen und Ratten unter ihrem Kopfkissen.

Tom gab Leonard das schwarze schmale Notizbuch, Stephans Buch. Dann nahm er auf dem Bett Platz neben Claudia, deren Wangen langswam wieder etwas Farbe bekamen.

»Was ist das?« Leonard ließ das Buch geschlossen.

»Stephan, ein Junge aus der Bücherei hat es geschrieben. Keine Ahnung, warum. Vielleicht weil er das Gleiche gespürt hat, wie wir damals. Du weißt schon.«

Natürlich, dachte Leonard. Damals, im Herbst 1986, als das Unwetter über die Stadt kam. Sie alle hatten gespürt, dass etwas geschehen würde. Aber nur sie hatten von Karla geträumt und von der Hoffnung, die in dem Mädchen verborgen lag. Tom, Leonard und Magdalena.

»Ich glaube, wir könnten jetzt alle einen starken Kaffee gebrauchen«, sagte Claudia und stützte sich beim Aufstehen auf Toms Schulter. Sie erschrak. Tom fühlte sich so kalt an wie Neuschnee. Vielleicht sollte sie Doktor Grüner anrufen, wenn Tom schon nicht ins Krankenhaus gehen wollte.

»Gute Idee, danke.« Leonard lächelte.

Claudia erwiderte sein Lächeln. Nachdem sie Tom einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, verließ sie das Zimmer.

Leonard zog eine Zigarettenpackung aus seiner Hemdtasche. »Stört es dich?«

Tom schüttelte den Kopf.

Leonard zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Beide schwiegen für eine Weile.

»Hast du eine Ahnung, was die ganzen Leute da draußen machen?« Leonards Blick schien nun klarer, wacher.

»Mir sind auch ein paar begegnet. Seltsame Menschen. Jedenfalls die meisten«, antwortete Tom, während er sich auf dem Bett zurücklehnte und den Hustenreiz, der ihn abermals quälte, so gut es ging unterdrückte. Er war müde, unendlich müde.

»Sie scheinen etwas zu suchen«, sagte Leonard und nickte, so als ob er sich selbst überzeugen müsste. Der Rauch der Zigarette stieg zur Zimmerdecke und verteilte sich im Nichts. »Aber ich weiß nicht genau, was sie …«

»Sie suchen die Erinnerungen.« Die fremde Stimme einer Frau, hell, sanft.

In der kleinen angrenzenden Küche fiel Geschirr zu Boden. Tom und Leonard fuhren herum. Nur wenige Sekunden, dann kam die Gewissheit.

Leonard sprang aus dem Sessel und umarmte die Frau. Noch bevor er wusste, war er tat, küsste er sie.

 

»Woher weißt du das?« Tom nippte am Kaffee. Die Knochen in seinem Leib schwer wie Blei. Er blickte zu Magdalena. Auch ihre Augen waren die gleichen geblieben, wie Bergseen so klar, jedoch tiefer als damals. Leonard hielt ihre Hand in der seinen.

»Ich weiß es nicht. Also nicht wirklich. Es ist wie mit der Ahnung, dass ich hierher kommen musste. Oder wie mit den Namen – sie kommen und gehen. Sie verschwinden, wenn ich sie nicht an die Häuser schreibe.«

»Du warst das? Die Kreidenamen, dort und da, an den Häuserwänden?«

Magdalena nickte. Dann sagte sie: »Diese Stadt macht alles vergessen. Bis man sich selbst vergisst, nicht nur die eigenen Träume. Ich habe von einer anderen Stadt gehört, einer kleinen Stadt, die nach dem zweiten Weltkrieg zu einer Geisterstadt geworden ist. Völlig unversehrt von den Bombenangriffen. Von einem Tag auf den anderen sind die Menschen weggegangen, in alle Richtungen verstreut. Als man einen der Alten gefragt hat, weshalb sie diesen Ort verlassen haben, meinte er: ,Sie haben die Judenfamilie geholt, die mit den zwei Kindern – wir gehen los und suchen sie‘.«

Magdalena schwieg für einen Moment. »Und hier?«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, was hier alles geschehen ist. Vermutlich vieles. Schreckliches.«

»Du meinst …« Leonard schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, auch hier haben sie die Toten gesucht – jedoch nur, um ihre Gräber zu öffnen für die nächsten Leichen. Vielleicht haben sie etwas in den Kindern gesehen, das ihnen Angst gemacht hat«, sagte Magdalena.

»Die Erinnerungen. Oder wenigstens den Hauch davon. Jedenfalls, wenn das stimmt, was hier drin steht.« Tom unterdrückte einen weiteren Hustenanfall und schlug das schwarze Buch auf.

»Du sagst, es hat ein Junge aufgeschrieben. Stephan, so war doch sein Name, nicht wahr? Wie konnte er das wissen? Es sind über hundert Namen, über hundert Geschichten. Wenn nicht sogar mehr.« Leonard zog eine weitere Zigarette aus der Packung und griff nach seinem Feuerzeug.

»Woher wussten wir damals, dass wir uns in der Fabrik treffen müssen? Woher wussten es die anderen Kinder?«

»Wir haben von Karla geträumt. Diese merkwürdigen Träume. Und die anderen Kinder? Vielleicht haben sie auch Träume gehabt. Eine Art Vorahnung, wer weiß das schon?«, erwiderte Leonard. Die kleine Flamme erhellte sein Gesicht, als er sich die Zigarette anzündete.