IMPRESSUM

Nina Sedano
Die Ländersammlerin
Wie ich in der Ferne mein Zuhause fand
Die meistgereiste Frau Deutschlands erzählt

eISBN 978-3-944296-76-0

Eden Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © 2014 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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1. Auflage 2014

Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

Projektkoordination: Nina Schumacher
Lektorat: Ingeborg Hagedorn
Coverfoto: © Masson/Shutterstock
Covergestaltung: Rosanna Motz
E-Book-Konvertierung: Datagrafix Inc., Manila | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Für Isolde.
Sie hat mir Flügel verliehen
statt Wurzeln und
mir ihre Begeisterung für
Reisen in ferne Länder vererbt.

AM ANFANG WAR DAS VORWORT …
… UND DIE FRAU OHNE WURZELN

Stichtag 30. September 2011. Ich bin 45 Jahre, sieben Monate und elf Tage alt – und habe es geschafft – endlich!

Mein persönliches Ziel ist erreicht, das ich mir erst vor fünf Jahren in den Kopf gesetzt habe: alle 193 anerkannten Staaten der Vereinten Nationen zu bereisen.

Ich zweifle nicht an mir und habe eine enorme Willenskraft, wenn es darauf ankommt, aber ich befürchtete, an den komplizierten Einreisebestimmungen mancher Länder zu scheitern.

Jetzt komme ich aus Turkmenistan zurück, dem letzten Land auf meiner langen Liste.

Kurz vor sechs Uhr früh landet der Airbus der Lufthansa aus Aschgabad via Baku pünktlich auf dem Frankfurter Flughafen. Wenige Minuten später betrete ich müde, aber glücklich, heimischen Boden. Obwohl es ein einzigartiger Anlass ist, küsse ich den blitzsauberen Boden zur Begrüßung nicht und lege auch keinen Kniefall hin. Ich würde beim Aufstehen umkippen. Mir ist so schwindelig nach einer schlaflosen Nacht im Flugzeug. Soll ich voller Euphorie einen Baum umarmen oder gar einen wildfremden Mann? Als Antwort gähne ich so laut, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen. Ich bin viel zu erschöpft und denke nur an das eine: Ich will heim in mein kuscheliges Bett. Gleich kann ich mich ausstrecken und mich meinen kühnsten Träumen hingeben.

Ich gehe direkt hinunter zur S-Bahn und habe es nicht weit zur Wohnung im Mittelweg – seit rund 23 Jahren mein Zuhause, in das ich nach jeder ausgiebigen Entdeckungsreise zurückfinde.

Auf dem Heimweg lasse ich meine Gedanken schweifen.Das »Reise-Gen« habe ich von meiner Mutter geerbt. Ich bin gut behütet bei ihr und meiner Oma aufgewachsen – ohne den Vater. Die wenigen Verwandten sind weit weg – eine Großtante lebt in München und eine Großcousine mit ihrer Familie in Oklahoma, USA. Ich kenne das Gefühl nicht, zu einer großen Familie zu gehören, daher fühle ich mich wie eine Frau ohne Wurzeln.

Ich möchte reisen, die Welt entdecken, alles selbst erleben und selbst erfahren, riechen, schmecken und hören, meinen Horizont erweitern, in fremde Kulturen eintauchen und versuchen, die Menschen besser zu verstehen.

Wenn ich unterwegs bin, kenne ich keine Einsamkeit. Auch Heimweh ist mir fremd. Nur zu Hause, in den eigenen vier Wänden, fällt mir manchmal die Decke auf den Kopf und dann packt mich das unendliche Fernweh.

Was löst in mir den Wunsch aus, alle Staaten der Vereinten Nationen unseres blauen Planeten zu bereisen? Warum genügt es mir nicht, Reiseberichte zu lesen und mir im Fernsehen Reportagen aus den unbekannten Winkeln unserer Welt anzuschauen? Die dreißig Urlaubstage einer Büroangestellten sind mir nie genug, auch wenn ich sie auf rund achtzig Reisetage im Jahr strecken kann und ihnen viel Inhalt gebe.

Es gibt andere Gründe, mir die Freiheit zu nehmen und sozusagen die Kugel zu geben, die Weltkugel …

Zum Beispiel kann man mich nicht auf den Mond schießen. Vor allem aber erfüllt sich mein Lebensplan A nicht – eine eigene Familie zu gründen. Um meinem Leben dennoch einen Sinn zu geben, habe ich einen Weg für mich gesucht und einen Plan B gefunden, mit dem ich mir gleichzeitig einen Traum erfülle.

Meine Reisefreude löst die unterschiedlichsten Reaktionen aus. In meinem Bekanntenkreis gibt es sogar Stimmen, die behaupten, dass ich auf der Flucht sei – vor mir selbst und meinen Problemen. Natürlich laufe ich nicht vor mir davon. Ich wäre nie schnell genug! Ich haue lieber vor den Menschen ab, die meine Reiseleidenschaft nicht verstehen wollen, die mich als rastlos bezeichnen und einen Fehler darin sehen, dass ich mit 36 Jahren meinen Job an den Nagel gehängt habe.

Dabei habe ich mir immer konkrete Ziele gesetzt – in der Welt und im Leben.

Ich lerne, dass jedes Land anders ist, so wie jeder Mensch anders ist. Es ist mir wichtig, mit Menschen unterschiedlicher Kulturkreise und Bildung auf der ganzen Welt zu sprechen, zu lachen und ihnen zuzuhören, aber ich brauche auch die Freunde in der Heimat, die mir meinen Lebensstil gönnen, denn von meiner winzigen Familie lebt jetzt nur noch meine Mutter.

Viele Grenzen habe ich bis heute überschritten – nicht nur Ländergrenzen. Ich gehe auch physisch und emotional an meine Grenzen, aber gerade solche Erfahrungen sind es, die mein Leben bereichern.

Reisen ist auch mein »Elixier« in traurigen Lebensphasen. Unterwegs in der weiten Welt spüre ich mit jeder Faser, dass ich lebe und nicht nur »existiere«. Ich muss das Beste aus verzwickten Situationen machen, mich landestypischen Gepflogenheiten anpassen, in fremden Sprachen auf unbekannte Menschen zugehen, sie um Hilfe bitten, ihnen, wie auch mir selbst, vertrauen und vor allem die Dinge mit einer großen Portion Humor nehmen.

Eine Reise in die weite Welt ist immer eine Reise in das eigene Ich …

DAS ERSTE MAL (1971)

Ich suche die Antwort auf eine Frage. Eine wichtige Frage und sie wird kommen – früher oder später. Wann war meine erste Reise ins Ausland? Und wohin? Wenn ich nur die Antwort wüsste. Sie liegt so nah und ist doch so fern …

Ich begebe mich zurück in die Vergangenheit, zum Anfang meines Lebens. Ich wälze Erinnerungen, sehe Bilder vor meinem inneren Auge, klar und deutlich, nur kann ich sie nicht zuordnen. Emotionen, Erlebnisse, Erinnerungsfetzen, tief in mir drin, verschmelzen miteinander. Ich bin auf der Suche nach meinem ersten Reiseland, der Nummer zwei aller mir bekannten Länder, dem Land, das folgt auf die Nummer eins, die Heimat – Deutschland.

Nur eines ist gewiss: Das erste fremde Land habe ich natürlich nicht auf eigene Faust, besser: auf eigenes Fäustchen, bereist. Ich war noch viel zu klein. Ich lebte in meiner Welt, der Welt eines von Mama und Oma gut behüteten Kindes, denn mein Papa war weg, umgezogen in eine andere Stadt, und hatte kein Interesse an mir. Ich sah ihn selten und weiß bis heute nicht, wie es wirklich ist, einen Vater zu haben.

Ich muss es jetzt wissen. Und zwar sofort. Das wissbegierige Kind in mir, längst groß und erwachsen, gibt keine Ruhe. Nur Eine kann die richtige Antwort wissen. Gedacht, getan. Ich zögere keine Sekunde länger, springe vom Schreibtisch auf, gehe in den Flur und hänge auch schon an der Strippe, denn eine solche hat das alte Siemens-Telefon. Seit über zwanzig Jahren steht es auf dem weißen Schuhschrank in meinem Flur und tut seinen Dienst. Ich brauche kein neues. Darüber hängt eine riesige Weltkarte, auch die nicht mehr taufrisch. Auf ihr sind Länder wie Montenegro, Eritrea, Südsudan, Osttimor noch nicht verzeichnet. Die Politik hat längst neue Grenzen gezogen. Die Karte hätte ich gern erneuert, aber den Verlag gibt es nicht mehr. Also behalte ich mein altes Exemplar. Von dem mag ich mich nicht trennen. Ich tippe eine Nummer, es tutet.

Wie aus einer Quelle sprudelt es aus mir heraus: »Hallo, Mama. Ich bin’s. Ich habe eine ganz wichtige Frage an dich. Welches war das Land, das ich gemeinsam mit dir zuerst besucht habe?«

Am anderen Ende der Leitung, nur ein paar Straßen weiter, ist es kurz still. Dann ein tiefer Seufzer.

Viel zu schnell, ohne zu überlegen, gibt sie mir die Antwort: »Schätzchen, daran kann ich mich nicht erinnern.«

Ich rolle mit den Augen. Am liebsten hätte ich laut gestöhnt.

»Bleib jetzt ganz ruhig«, sage ich flehend zu ihr wie auch zu mir. »Wo warst du mit mir zuerst? War es Österreich oder war es die DDR? Es muss eines der beiden Länder gewesen sein. Das weiß ich genau. Mama! Das kann doch nicht so schwer sein! Ich war viel zu klein, ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber du musst es doch wissen! Du warst alt genug!«, beende ich meinen atemlosen Wortschwall vorwurfsvoll.

Es bleibt still für eine Weile.

Jetzt überlegt sie tatsächlich, denke ich grinsend. Plötzlich ruft sie mir ins Ohr. Es kommt wie aus der Pistole geschossen, als beantworte sie die Eine-Million-Euro-Preisfrage.

»Es war Österreich! Wir waren in Berwang zum Skifahren.«

Hurra, jetzt hat sie’s, freue ich mich. Aber ich habe noch Zweifel und hake erneut nach: »Bist du dir ganz sicher? Waren wir nicht zuerst in deiner Heimat? In Thüringen?«

»Nein! Nein! Dort waren wir erst Jahre später. Jetzt weiß ich es wieder ganz genau«, entgegnet sie erleichtert. Ich bin es auch und drücke sie in Gedanken.

Wie schön, die Antwort gefunden zu haben. Endlich weiß ich: In Österreich war ich zum ersten Mal in einem fremden Land. Dort nahm alles seinen Anfang, dort liegt der Ursprung der für mich wunderbarsten Sammelleidenschaft der Welt.

Das zweite fremde Land, das ich bereiste, ist die Deutsche Demokratische Republik, die ehemalige Heimat meiner Mutter. Viele meiner »Zeitgenossen« aus dem Westen haben dieses fremde Land, das zu unserer und meiner Geschichte gehört, nie kennengelernt. Ich bin als Kind und Jugendliche öfter »drüben« gewesen, in Thüringen und in Berlin. Diese Besuche brachten mich zum Nachdenken und erweiterten mein Bewusstsein. Tief in mir sind Eindrücke und Erlebnisse, die mich prägten. Die DDR hat mich stärker beeinflusst als die meisten Länder, die ich danach bereiste.

Ich erinnere mich an Mutters Freundin Erna, an deren Familie und ihren Pudel, an ihr riesiges Haus. Sie empfingen uns so herzlich, als gehörten wir dazu. Jedes Mal, wenn wir aus dem Westen zu Besuch kamen und ihnen Sachen mitbrachten, freuten sie sich. Im Dorf gab es kaum Autos, sodass ich mitten auf der Straße spielen konnte und viel draußen war.

Nur eins will ich schon damals nicht begreifen: Es gibt Menschen, die nicht dahin fahren dürfen, woher wir kommen. Die nicht reisen können, wohin sie wollen. So wie Mutter und ich. Wir müssen an der Grenze grimmig dreinblickende Zöllner über uns ergehen lassen. Und dann gibt es den merkwürdigen Zwangsumtausch von Deutscher Mark in wertloses Geld, für das man fast nichts kaufen kann.

Nun erinnere ich mich auch wieder an meinen Aufenthalt in Berwang, in Österreich. Ich bin ein Großstadtkind und der Flecken unterscheidet sich gewaltig von meiner Heimatstadt Frankfurt. Die Häuser des beschaulichen Dorfs hätte sogar ich zählen können. Als wir ankommen, liegt der Ort im tiefen Schnee. Das sieht lecker aus. Wie Zuckerwatte. Die esse ich für mein Leben gern.

Die Eiseskälte lässt mich kalt. Ich ziehe mich warm an und die Sonne scheint jeden Tag am blauen Himmel. Das Dorf ist so fremd nicht. Nur ein wenig. Wir sprechen dieselbe Sprache. Alle sind freundlich. Mir gefällt es, in Berwang zu sein, weit weg von zu Hause. Ich bin erst vier Jahre alt. Mit meiner Mama logiere ich in einer günstigen Pension. Hier begegnet mir jeden Tag Mozart. Er ist etwas älter als ich. Bevor er seiner Wege geht, darf ich mit ihm schmusen. Sichtlich genießt er meine Streicheleinheiten. Er hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Seinen Namen behalte ich für immer in Erinnerung: Mozart. Ein schlanker, gut durchtrainierter Kater. Fellfarbe Pechschwarz. Erst Jahre später, beim Klavierspielen, bekommt dieser Name eine ganz andere Bedeutung für mich.

Die Namen und das Aussehen der anderen Gäste, Jungen und Erwachsene aus den Niederlanden, habe ich längst vergessen. Ich lerne sie im Aufenthaltsraum der Pension kennen. Sie spielen nach dem Skifahren immer Tischtennis und zählen die Punkte. Ich finde den Klang der fremden Sprache lustig, plappere die Zahlen nach wie ein Papagei.

Es dauert nicht lange, bis mich einer der beiden Tischtennisspieler zu sich holt. Er bringt mir die Zahlen auf Niederländisch bei. Von eins bis zehn. Am nächsten Tag fragt er mich ab. Sie sind nicht schwer. Een, twee, drie … Fehlerfrei und sogar in der richtigen Reihenfolge sage ich sie auf wie ein Gedicht. Das kann ich bis heute. Ich freue mich wie eine Schneekönigin über die Reaktion des jungen Erwachsenen: Er lobt und ermuntert mich. So viel Spaß wie mit den freundlichen Niederländern habe ich beim Skifahren nicht. Ständig bleibe ich mit einem der Skier im Schnee stecken. Die sind genauso lang wie ich. Dann plumpse ich auf die Seite oder aufs Hinterteil. Bums. Dauernd rutsche ich aus dem Tellerlift. Manchmal kippe ich auch ohne Grund um, einfach so. Patsch. Tollpatsch. Wieder aufrappeln. Ich stehe auf wackeligen Brettern. Sie bedeuten nicht die Welt für mich. Fahre endlich ein paar Meter. Schwups … und schon liege ich wieder im Schnee. Nun mag ich nicht mehr, heule und will zu meiner Mama. Sie ist nicht da. Sie hat es gut gemeint und mich in die Skischule geschickt, damit ich gemeinsam mit den anderen Kindern Spaß habe im Schnee. Aber keines der Kinder stellt sich so ungeschickt an wie ich. Ich habe die Eleganz einer Leberwurst. Milchzähnchen zusammenbeißen und weiter. Frustriert möchte ich liegen bleiben und, wütend auf mich selbst, wie ein Käfer auf dem Rücken liegend mit den Beinen in die Luft treten. Sehr unpraktisch mit den Skiern. Aber ich will auf der schier unendlichen Weite der Skipiste nicht allein zurückbleiben. Eine Lehre fürs Leben: nach dem Hinfallen immer schnell wieder aufstehen.

Der letzte Tag des Skiurlaubs wird zu einem unvergesslichen Erlebnis. Es ist genau eine Woche vor meinem fünften Geburtstag. Zum ersten und letzten Mal im Leben nehme ich an einem Torlauf teil. Er wird von der Skischule Berwang organisiert. In der dritten Klasse gehe ich an den Start. Es gilt, einen Hang auf gerader Strecke hinunterzufahren und durchs Ziel zu kommen. Klingt ganz einfach, aber mir schlottern die Knie und ich habe mehr Angst davor als Lust dazu.

Ich trage eine rote Jacke, an der ist ein gelbes Tuch mit der schwarzen Startnummer zwei befestigt, darüber steht in merkwürdigen Buchstaben »Piz Buin«. Schwarze Skihosen. Rote Skier. Einen davon stelle ich hochkant. Ich falle nicht um. Die Skistöcke berühren leicht den Schnee. Sieht cool aus.

Ganz viele Zuschauer stehen am Ziel. Ich kann sie alle sehen. Ich bin aufgeregt. Mein kleines Herz pocht so laut, als wolle es aus der Brust hüpfen. Gleich bin ich an der Reihe, ich bringe mich in Startposition. Auf das Zeichen des Fahnenschwenkers hin rase ich los. Geradeaus sause ich den Hang hinunter, die Skier immer parallel nebeneinander. Ich werde schneller. Schneller. Immer schneller. Hui … ich bin kurz vor dem Ziel. Da ist so ein blöder Hubbel! Wie dumm! Zu spät! Ich fahre mit einem Ski drüber, balanciere und … verliere das Gleichgewicht. Ich kippe nach hinten und schlittere mit dem Hosenboden auf den Skiern durchs Ziel.

Die Zuschauer lächeln und klatschen in die Hände. Und ich? Flenne!

Der Frust der letzten Woche bricht aus mir heraus. Endlich bei Mama! Es hat nicht einmal wehgetan, aber ich schäme mich so, dass ich am liebsten unter die Schneedecke kriechen möchte – wenn sie nur nicht so kalt wäre.

Am Abend werden die Siegerurkunden in gemütlicher Runde in einem Gasthof verteilt. Ich habe mich immer noch nicht beruhigt, bin unglücklich und mache weiter Theater. Ich quengele, bin tränenüberströmt und will partout nicht mitkommen. Meiner Meinung nach habe ich mich vollends blamiert. Meine Mutter muss mich buchstäblich ins Lokal zerren. Sie weiß etwas, was ich nicht weiß: Meine »Konkurrenten« sind schon mitten auf der Piste umgefallen und nicht, wie ich, erst kurz vor dem Ziel.

Im Gasthof ist es mollig warm. Ein großer Mann verteilt die Urkunden. Er ruft alle namentlich auf. Jeder ist vor mir dran und kann seine Urkunde in Empfang nehmen, nur ich muss warten! Im Alphabet steht W weit hinten. Ich bin die Letzte – und doch ganz vorne! Ich war die Schnellste! Ich bekomme den ersten Preis und strahle nur noch vor Glück!

Seit dem Tag habe ich nie wieder einen ersten Preis gewonnen. Die Urkunde mit meinem Mädchennamen habe ich immer noch. Auch wer auf dem Hosenboden durchs Ziel rutscht, hat dieses erreicht – auch wenn er vorher unsanft an seine Grenzen gestoßen wurde. Das gehört immer noch zu meinem Leben: Grenzen überschreiten, zu fernen, scheinbar unerreichbaren Zielen gelangen. Damit meine ich nicht nur die Reisen in fremde Länder, sondern auch Anforderungen an mich selbst. Nur so werden Träume wahr …

Will ich etwas von ganzem Herzen, bin ich mit Leib und Seele dabei. Verbeiße mich in eine Idee so fest wie ein Löwe in seine Beute. Schließt sich eine Tür vor mir, rüttele ich nicht an ihr. Ich suche vielmehr nach dem offenen Fenster.

Bis zur ersten Reise, die mich allein ins Ausland führt, vergehen noch viele Jahre …

Mein Reisetipp für Österreich:

Österreich gehört auf meiner persönlichen Länderreiseliste unter die Top 5 der Länder Europas und Wien zu meinen Lieblingshauptstädten weltweit. In der Touristeninformation bekommt man einen Stadtplan, in dem sogar die stillen Örtchen verzeichnet sind. Ob gusseisern im Schlosspark, in öffentlichen Parks, Gebäuden oder im Untergrund – sie sind verglichen mit anderen Metropolen eine Besonderheit und können zur abwechslungsreichen »Vienna Tour de Toilette« werden.

ALLEIN AUF DIE INSEL (1979)

Seit dem Skiurlaub setze ich meine ungestümen Kinderfüße nur in Begleitung meiner Mutter auf fremden Boden. Wir machen Tagestouren in die Nachbarländer Schweiz, Luxemburg und Frankreich.

Ich bin ein zurückhaltendes Mädchen. Besonders in der Schule. Stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich bin bescheiden und muss nicht alles haben. Am liebsten bin ich bei den Pferden im Reitstall in Hofheim. Bei ihnen fühle ich mich wohl. Ihre Kraft gibt mir Energie, ihre Geduld beschert mir Zuversicht. Die großen Tiere lassen mich alle Sorgen des Schulalltags vergessen.

Seit der fünften Klasse habe ich Latein. Die Sprache der alten Römer müssen wir im Unterricht nur übersetzen. Englisch lerne ich erst seit einem Jahr. Das macht viel mehr Spaß, weil ich mich da unterhalten und mit anderen Menschen austauschen kann. Ich bekomme die Gelegenheit, die neue Lieblingssprache bei einem Aufenthalt als Gastschülerin in einer englischen Familie zu verbessern. Auf nach England! Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Ein herrlicher Morgen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. Der Zug steht auf dem Gleis bereit. Er ist so lang. Ich sehe das Ende nicht. Gehe unter in einem Gewimmel hektischer Menschen. Alle sind total aufgeregt, vor allem die Eltern. Viele lassen ihre Kinder zum ersten Mal los und allein in die noch fremde Welt ziehen. Ich gehöre zu den Jüngsten der Gruppe, bin erst dreizehn, unheimlich gespannt und freue mich riesig auf das fremde Land, über das ich in der Schule schon einiges erfahren habe, auf die Leute – und vor allem auf die Pferde.

Für die jeweiligen Zielorte sind wir in Gruppen eingeteilt. Ich gehöre zur »Reiter-Gruppe«! Bei uns sind, typisch!, dreiundzwanzig Mädchen und nur vier Jungen. Ich lerne alle schnell kennen. Der bärtige Wolfgang begleitet uns auf dem Weg an die englische Südküste. Er ist unser deutscher Betreuer und Englischlehrer.

Der Zug fährt ab – und nimmt uns mit in ein unvergessliches Abenteuer! Wir drängeln uns an den Fenstern, hängen wie die Kletten alle auf einer Seite der Waggons. Kriegt er gleich Schlagseite und kippt um? Er fährt unbeirrt weiter. Keiner fällt raus. Ich winke meiner Mutter, bis ich sie nicht mehr sehe. Auf dem Bahnsteig werden die Menschen zu einer einzigen bunten Masse und entschwinden. Wir sitzen im Abteil, quatschen und machen Quatsch. Flott werden wir durch die grüne Landschaft gefahren. Endstation Ostende, kurz vor dem Ärmelkanal.

Mittags sind wir auf der Fähre. Es herrscht moderater Seegang. Mit gequälten, blassen Gesichtern hängen einige über der Reling. Sie tun mir leid. Ich habe Mutter schon so erlebt. Seekrank. Ganz übel. Diese Neigung hat sie mir nicht in die Wiege gelegt – ein Glück! Ich schaue mich auf dem Schiff um.

Am Nachmittag erreichen wir Dover. Endlich gehen wir in England an Land! Die Küste ist felsig, weiße Klippen strahlen uns entgegen. Weiter geht es im Bus, der schon auf uns wartet. Und mit ihm warten eine ganze Menge weiterer Busse auf ihre Passagiere. Wir müssen nur den richtigen finden! Kein Problem, der bärtige Wolfgang lotst uns sicher durch das Busgetümmel.

Wir fahren umständlich über London und nicht an der Küste entlang. Auf die Fahrt am Meer hatte ich mich gefreut, aber das macht nichts. Ich fühle mich wohl und bin in guter Gesellschaft. Wir alle wollen nur ankommen. Irgendwann. Und abends sind wir endlich am Ziel: in Bournemouth in der Grafschaft Dorset. Es war ein langer Tag, aber bin ich müde? Kein bisschen! Ich bin froh und aufgekratzt.

Die Gastfamilien warten schon auf uns. Sie stehen auf dem Schulhof. Wir werden aufgerufen und zugeteilt. Ich komme zu Familie Miller, bei der ich ab jetzt drei Wochen bleiben werde. Sie wohnt im Roosevelt Crescent, nur wenige Minuten zu Fuß von der Schule. Die Straße beschreibt einen Halbmond. Alle Häuser sind aus braunem Backstein und sehen sich zum Verwechseln ähnlich.

In Familie Millers Haus liegt überall flauschiger Teppichboden. In den Zimmern, auf der Treppe, im Bad … Huch! Sogar auf dem Toilettendeckel. Nur die Küche ist flauschteppichfrei. Mein Zimmer befindet sich im ersten Stock. Drei Betten und ein Schrank stehen darin. Das Fenster gibt den Blick frei auf die ruhige Straße. Ich teile das Zimmer mit den Schwestern Sandra und Simone, elf und sechzehn Jahre alt. Die Große muss auf die Kleine aufpassen. Sie streiten ständig. Leider nicht auf Englisch. Dann hätte ich wenigstens was gelernt: All die schönen Schimpfwörter, die wir nicht wissen sollen und in der Schule nicht beigebracht bekommen. Mit den freundlichen Gasteltern und den lustigen Nachbarskindern auf der Straße lache ich viel und spreche nur englisch. Ich bin überrascht, dass ich mich so gut mit ihnen verständigen kann. Sie helfen mir weiter, wenn ich ein Wort nicht weiß.

Morgens geben uns Wolfgang und der Engländer John Unterricht. Nachmittags dürfen wir reiten. Jeder Wochentag verläuft so – oder umgekehrt. Im Reitstall tut mir ein angeketteter Schäferhund-Mischlingsrüde leid. Er schaut mich immer traurig an. Ich schiebe ihm heimlich mein Mittagessen zu. Das lässt kulinarisch zu wünschen übrig. Labbrige, fade Sandwiches. Toastbrot, allerdings nicht getoastet, mit trockenem Thunfisch oder geschmackloser Wurst, Gurken und Tomaten belegt. Das Gemüse esse ich, der Rest schmeckt mir nicht. Aber dafür dem mageren Hund umso mehr.

Auf dem Reiterhof gibt es auch einen Esel. Jeden, der es wagt, sich auf ihn zu setzen, wirft er sofort wieder ab. Im hohen Bogen. Ob es ihm Spaß macht, mutige Kandidaten durch die Luft zu katapultieren? Jedenfalls wird er nicht müde, »englisches Rodeo« aufzuführen. Alles halb so wild: Niemand tut sich ernsthaft weh oder verletzt sich. Noch nicht …

Am Samstag fahre ich zu einem Reitturnier nach Brockenhurst. Eine halbe Stunde allein mit dem Linienbus. Plötzlich, kurz vor dem Ziel, bleibt der Bus stehen. Fährt rückwärts, biegt ab in eine Seitenstraße und fährt eine andere Strecke. Ich schaue aus dem Fenster und staune. So etwas habe ich noch nie gesehen: Im Ort stehen und liegen Ponys friedlich mitten auf der Straße. Sie werden nicht geritten, dösen in der Sonne, sind wild und frei, können machen, was sie wollen. Wir befinden uns am Rande des New Forest, dem größten freien Waldgebiet Südenglands mit Wanderwegen durch die unzerstörte Natur und vor allem mit wild lebenden Ponys. England, du gefällst mir. Daumen hoch. Ganz hoch.

Noch mehr beeindruckt mich das Reitturnier, eine typisch englische Horse Show. Pferde, so viele wie Steine an der englischen Küste. Vom Miniatur-Pony bis zum Riesenross. Die Vierbeiner sind herausgeputzt und aufgemotzt. Weiches Leder und sanft gestriegeltes Fell glänzen um die Wette. Ich liebe diesen Geruch. Strahlende Kinder, kaum den Windeln entwachsen, sitzen im schicken Reitoutfit kerzengerade wie Prinzessinnen auf ihren Ponys. Es gibt unzählige Verkaufsstände rund ums Pferd. Alles, was das Teenieherz begehrt. Die quirlige Jahrmarktatmosphäre fasziniert mich. Wohin soll ich nur zuerst gehen? Für einen Pferdefan wie mich ist es das Schlaraffenland. Ich wühle mich durch die Stände und kaufe Schlüsselanhänger mit Pferdemotiven. Die gebe ich nie mehr her! Dieser Tag – unvergesslich.

So auch der letzte Abend. In einer Sporthalle ist ein Fußballturnier gegen Sprachschüler aus Frankreich angesetzt. Ein rasantes Spiel. Ich schaue nicht zu, ich bin dabei und will kicken! Ich will angreifen, ihnen zeigen, was ich draufhabe. Im Sturm den Ball erobern und ins Tor schießen. Aber … Ich stehe unbeachtet in der Abwehr. Wie öde. Ich gähne laut. Bekomme einfach keinen Ball vor die Füße. Dann eben nicht! Ich drehe zu Tode gelangweilt Däumchen und bin demonstrativ frustriert. Ich konzentriere mich nur noch auf meine Finger, passe nicht auf, sehe ihn nicht … Er ist schnell, rasend schnell! Er reißt mich aus meiner Däumchendreh-Trance. Auch ohne Valium reagiere ich in Zeitlupe. Zu spät. Selbst schuld. Es knackst. Ganz leise. Nur ich höre es. Ein Volltreffer, nicht ins Tor. Der Ball prallt von meinem rechten Daumen ab. Ein blitzartiger Schmerz durchfährt mich, Tränen schießen mir in die Augen. Niemand merkt etwas. Außer mir. Ich beiße die Zähne zusammen und tue so, als sei nichts passiert. Ich spiele bis zum bitteren Ende weiter, ohne Däumchen zu drehen, denn das geht nicht mehr. Und überhaupt: Von einem »Däumchen« kann keine Rede mehr sein, es ist jetzt ein dicker Daumen, doppelt so groß wie vorher, Farbe Grünblau. Ich halte das Ungetüm hoch, damit das Blut abfließen kann. Es pocht. Die Haut spannt. Der Daumen tut verdammt weh. Ich zeige ihn der Gastmutter. Sie fährt sofort ins Krankenhaus mit mir. I’m not amused. Not at all, denke ich. Ist das peinlich. Ich will doch keine Umstände machen und entschuldige mich. Die Gastmutter tut mir leid – mehr als ich mir selbst. Kurz vor der Abreise muss sie noch so ein Schlamassel mitmachen.

Der erste Alleingang ins Ausland endet in einem englischen Krankenhaus. Wir warten an der Rezeption. Nach einer Weile kommt der Arzt. Er will wissen, was passiert ist. Ich erkläre es ihm demonstrativ, ohne rot zu werden. Er schmunzelt und nimmt mich mit. Ich gehorche brav. Der Megadaumen wird geröntgt. Seine Diagnose »It is a little bit broken« verstehe ich auf Anhieb. Der Daumen ist angebrochen. Der Arzt schmiert kühlende Salbe auf das farbenfrohe Prachtstück und verbindet es. Alles kostenlos. Ich bezahle kein Pfund, nur der blaugrüne Daumen ist pfundig.

Der Daumenanbruch tut meiner Liebe zu England und einer reisefreudigen Zukunft keinen Abbruch. Ich komme wieder. Im Alter von fünfzehn und achtzehn verbringe ich drei Wochen der Sommerferien in Hastings. Der englische Humor färbt auf mich ab. Ihn nehme ich gern mit in die Heimat und er begleitet mich auch sonst überallhin. Ich bin sicher, dass mein Weg, der mich durch die ganze Welt führt, bereits in Englands Süden geebnet wurde. Hier liegt der Ursprung meiner Reiselust.

Ein Muss fürs Vereinigte Königreich:

Im Norden des Vereinten Königreichs, das ebenfalls zu meinen Top 5 der europäischen Länder zählt, liegen hinter den Mooren und Bergen, nicht weit vom schottischen Festland entfernt, gut mit der Fähre zu erreichen, die Orkney-Inseln. Auf Mainland, der größten Insel des Archipels, sind faszinierende mystische Monumente aus der Jungsteinzeit ein sehenswertes Muss.

ÜBER DEN DÄCHERN VON … (1987)

Ich quäle mich regelrecht durch die Gymnasialzeit. Meine schulischen Interessen liegen weder bei den Naturwissenschaften oder der Politik noch bei Latein und Altgriechisch. Es sind moderne Fremdsprachen und fremde Länder, die mich neben der Reiterei begeistern.

Jahr um Jahr besuche ich in den Schulferien meine Brieffreundinnen in Deutschland. Eine davon ist Anne. Sie wohnt in Flensburg. Von da aus machen wir einen Abstecher über die Grenze nach Dänemark. Wieder habe ich, wenn auch nur kurz, ein neues Land besucht.

Nach dem Abitur mache ich mich selbstständig auf in die Welt. Ich lebe sechs Wochen in Paris, arbeite in einem Selbstbedienungsrestaurant, verdiene Geld und erlerne schnell, weil ich mich täglich irgendwie verständigen muss, auch ohne Sprachkurs die französische Sprache.

Nach meinem Aufenthalt in Paris und einem anschließenden Abstecher nach Italien muss ich an meine berufliche Zukunft denken: Ich ziehe von Frankfurt in die Landeshauptstadt Wiesbaden und absolviere in zwei Jahren und viereinhalb Monaten eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Mit meiner Freundin Beate lebe ich in einer Wohngemeinschaft in der Wartestraße. Wir kennen uns aus den Sprachferien in Hastings, England.

Es könnte alles so schön sein, aber die Ausbildung macht es mir nicht leicht. Vom ersten Tag an sind Sandra und ich, die beiden Auszubildenden, die Dummen. Unsere Chefin, gleichzeitig die Geschäftsführerin, ist Ende fünfzig. Sie ist, wie sich sehr bald herausstellt, eine Cholerikerin, und unsere drei jungen Kolleginnen machen uns das Leben auch nicht gerade leicht: Regelmäßig sagen sie uns ins Gesicht, wie blöd wir doch sind und dass wir eigentlich nur zum Toilettenputzen taugen. Natürlich machen wir Fehler, aber nur aus Fehlern kann man etwas lernen, doch davon haben sie noch nie etwas gehört. Die ständige verbale Prügel erinnert mich an den Geschmack von Lebertran: ein unangenehmer Geschmack, den man sein ganzes Leben lang nicht loswird.

Aber immerhin halten Sandra und ich zusammen und versuchen, uns gegenseitig zu unterstützen.

Absurde Dinge ereignen sich während unserer Ausbildung: Die Chefin lässt uns samstags zur Arbeit antreten, als »Strafe« dafür, dass wir ihren Privatkühlschrank, der in unserem Büro thront, nicht rechtzeitig abgetaut haben. Samstagsarbeit für Azubis ist gesetzlich verboten. Aber was sollen wir machen? Einen anderen Ausbildungsplatz suchen? Sogar die IHK rät uns davon ab.

Ich bekomme keine Chance, mich in Gegenwart der Chefin und der Kolleginnen wohlzufühlen, Gutes oder gar Sinnvolles für die Gegenwart und meine berufliche Zukunft zu lernen. Ich lerne nur, Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann, und Halt und Ansprache nicht dort zu suchen, wo man sie nie bekommen wird. Im Büro werde ich zu einer leblosen Maschine gemacht, bin kein Wesen mehr aus Fleisch und Blut, sondern eins ohne Herz und Seele.

Morgens werde ich immer zu verschiedenen Banken geschickt. Die Angestellten dort sind so freundlich. Es ist eine wahre Wohltat, ihnen zu begegnen. Ich mache gern »Außendienst«, egal, ob bei Sonnenschein, Wind oder Regen, denn dann muss ich nicht im Büro sein.

Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich will etwas lernen, aber im Büro habe ich nichts mehr zu erwarten. Daher nutze ich meine freie Zeit bewusst und intensiv. Ich stille meinen Wissensdurst in Volkshochschulkursen. Abends besuche ich von Montag bis Donnerstag verschiedene Sprachkurse. Ich verbessere mein Französisch, studiere Spanisch und Italienisch. Erlerne ein Jahr lang Neugriechisch und schnuppere für ein halbes Jahr in Arabisch- und Portugiesischkurse rein.

Davon ahnen Chefin und Kolleginnen nichts. Ich bin froh, diesen Ausgleich zu haben, denn die Arbeit im Büro erfordert so gut wie keine Konzentration: Ablage machen, Schecks tippen, Überweisungen ausfüllen, Telexe schreiben, zur Bank gehen und für die Chefin und Kolleginnen Lebensmittel einkaufen.

Zu allem Überfluss droht mir nach anderthalb Jahren die Obdachlosigkeit: Beate drängt mich massiv aus der Wohnung. Sie macht mir klar, wie unerwünscht ich bin. Sie will allein mit ihrem Freund in der Wohnung leben, die ihrem Vater gehört. Ich habe nichts zu melden, trotz Vertrag und Kündigungsfrist. Bei ihr fühle ich mich – wie im Büro – höchst überflüssig.

Ich erzähle allen Freunden und Bekannten, dass ich bis zum Ende der Ausbildung eine Bleibe suche. Durch meine »Mundpropaganda« wird mir schnell geholfen und ich finde bald eine eigene kleine Wohnung, in der ich mich wohlfühle. Bei meiner ehemaligen Freundin Beate melde ich mich nie wieder. Fünfeinhalb Jahre einer tollen Freundschaft mit vielen Höhen und Tiefen, besonders gegen Ende, sind nun Vergangenheit. Ein trauriger Schlusspunkt.

Aber auf meine Mutter kann ich mich, wie immer, hundertprozentig verlassen. Sie bezahlt die Miete. Sie und Oma stecken mir außerdem regelmäßig ein paar Scheinchen zu. So komme ich über die Runden, doch mit dem kargen Ausbildungsgehalt von 350 Mark im Monat und 170 Mark Unterhalt von meinem Vater kann ich mir keine großen Sprünge und vor allem keine weiten Reisen leisten. Es geht nur so weit weg, wie meine knappe Reisekasse es erlaubt. Ich will dem Ausbildungsmuff bei jeder Gelegenheit entfliehen und kratze jede Mark mühselig zusammen. Immerhin reicht es für Kurztrips, Tagestouren, Besuche bei Freunden und auch für einen vierwöchigen Sprachkurs in Spanien. Ich bleibe in Europa.

Die Anzahl der bereisten Länder kann ich locker an den zehn Fingern abzählen. Von der Welt weiß ich nicht viel, aber ich weiß, dass ich mich freier fühle, wenn ich unterwegs bin. Vorerst kreisen meine Gedanken nur um die näher rückende Abschlussprüfung am 24. November 1987. In Buchhaltung und Mathe habe ich Schwierigkeiten, deswegen besuche ich nach den Sommerferien Kurse dazu in der VHS – und verstehe endlich alles, was ich vorher nicht kapiert hatte.

In den Herbstferien möchte ich dem Prüfungsstress entfliehen, den ich viel zu ernst nehme, weil ich mir einbilde, meine Zukunft hänge von zwei guten Noten im Schriftlichen und Mündlichen ab. Ich habe Angst; Prüfungsangst kenne ich nur zu gut. Selten behalte ich da einen klaren Kopf. Meist ist alles Wissen wie auf Kommando aus dem Gedächtnis radiert, als wäre an der Stelle ein schwarzes Loch. Ich will mich nicht verrückt machen!

Zum ersten Mal haue ich ganz gezielt ab in ein anderes Land. Doch es ist keine Flucht. Ich möchte vielmehr ganz bewusst auf andere Gedanken kommen. Und natürlich etwas erleben, Land und Leute kennenlernen …

Mit meiner langjährigen Brieffreundin Anne aus Flensburg fahre ich nach Südfrankreich.

Sie kommt am Abend vor unserer Abreise in ihrem blauen Ford Fiesta Diesel bei mir im Kohlheck an. Bevor es losgeht, muss ich noch eine große Hürde überwinden und in der Berufsschule am letzten Schultag eine Mathearbeit schreiben. Endlich, um dreizehn Uhr, werden wir in die Herbstferien entlassen. Wir starten in unser Reiseabenteuer; viele hat es bis jetzt noch nicht gegeben. Frankreich, wir kommen!

Wir sind zehn Minuten gefahren und fast auf der Autobahn, als Anne mir erschrocken sagt: »Ich habe meine Tasche bei dir vergessen.«

Ich glaube erst an einen schlechten Scherz und antworte dämlich grinsend: »Du machst wohl Witze!« Sie schaut mich ernst an, kann sich dann aber ein Lachen kaum verkneifen und kehrt um. Wir fahren zurück. Ihre schwarze Tasche liegt unschuldig im Flur.

Unsere erste Etappe ist Lausanne am Lac Léman in der Schweiz. Ich kenne die Stadt von Wochenendtrips bei Schweizer Freunden und wir können bei Claude, den ich wiederum über die Freunde kennengelernt habe, übernachten. Aber erst einmal stecken wir fest! Vor Bruchsal geraten wir in einen Stau und fahren lieber ein Stück auf der Landstraße weiter. Ich studiere intensiv die Karte und dirigiere Anne nach Lausanne. Sechs Stunden dauert es, bis wir endlich ankommen.

Gott sei Dank finde ich Claudes Adresse auch ohne die Hilfe eines Stadtplans. Es ist längst dunkel. Wir zwei Blondinen, groß und klein, klingeln hoffnungsfroh an der Haustür … Keiner da? Erst jetzt entdecken wir einen Zettel am Briefkasten, auf dem kaum lesbar gekritzelt steht: »Ich komme später. Die Schlüssel liegen hier drin.«

Verwundert sage ich zu Anne: »Und woher nehmen wir den Briefkastenschlüssel?« Sie weiß es auch nicht. Der Briefkasten sieht verschlossen aus. Trotzdem rütteln wir am Türchen. Und siehe da! Sesam öffne dich! Da sind die Schlüssel!

Erfreut schließen wir die Haustür auf. Wir gehen zu Claudes Wohnung und kommen nicht weiter, denn wir bekommen die Wohnungstür nicht auf. Der richtige Schlüssel steckt zwar im Schloss, aber nach links oder rechts drehen lässt er sich nicht. Wir versuchen beide unser Glück, wollen es aber nicht überstrapazieren, denn wir haben Angst, den Schlüssel abzubrechen. Ein Nachbar schleicht im Treppenhaus an uns vorbei. Er zuckt zusammen, als ich ihn anspreche. Ich bitte ihn, die fremde Tür für uns zu öffnen. Erst schaut er entsetzt, versucht dann aber, uns zu helfen, und gibt so schnell auf wie wir.

Wir sind kaputt von der Fahrt und haben genug von der Tür, die sich uns beharrlich verweigert.

Ich schlage Anne vor: »Lass uns in die Kneipe an der Ecke gehen.« Sie nickt. Auf den Zettel am Briefkasten kritzele ich, dass wir mitsamt dem Schlüssel in der Kneipe zu finden sind. Wir trinken Cola und warten …

Nach einer halben Stunde kommt Claudes Schwester Marie vorbei. Ihr Bruder hat sie beauftragt, nach uns zu sehen. Endlich gelangen wir mit demselben Schlüssel in die Wohnung. Sie dreht den Schlüssel kräftig mit beiden Händen im Schloss herum. Wir sind viel zu sanft mit ihm umgegangen. Sie lässt uns gleich wieder allein und wir legen uns schlafen. Nach Mitternacht klingelt es an der Tür. Abrupt werden wir aus unseren Träumen gerissen. Es ist Claude. Er hatte seinen einzigen Türschlüssel uns überlassen. Wir reden nicht lange und schlafen wieder ein.

Am nächsten Morgen brechen wir ohne Frühstück auf. Claude ist sichtlich froh, dass wir so schnell wieder abhauen. Wir machen uns auf den Weg an die Côte d’Azur und ahnen nicht, wie lang der sein wird …

Anne sitzt am Steuer und ohne Pause fahren wir hinter Genf über die Grenze, an Annecy und Grenoble vorbei auf der Route Napoléon. Die Landkarte zeigt uns eine schnurgerade Landstraße. Einen Reiseführer haben wir nicht. Wir sind uns einig, dass wir uns die exorbitante Autobahn-Maut sparen wollen. Optimistisch rechnen wir uns aus, gegen Nachmittag die Küste zu erreichen. Von wegen. Naiv fahren wir im blauen Auto dem blauen Meer entgegen und bleiben fast auf der Strecke: Berge, Täler, Kurven ohne Ende und kein Schimmer vom Mittelmeer! Auf der einen Seite überholen uns Autos im halsbrecherischen Tempo, auf der anderen lassen in schwindelerregenden Höhen die Abgründe tief blicken. Wir wissen nicht, wo wir sind, aber immerhin ahnen wir, dass die Richtung stimmt. Wir fahren durch winzige Dörfer, die auf der Landkarte nicht eingezeichnet sind. Wir haben keinen Schimmer, dass der berühmte Grand Canyon du Verdon, von dem wir noch nie gehört haben, uns noch bevorsteht. Die atemberaubende Landschaft des Canyons fasziniert uns, aber wir müssen uns auf die Straße konzentrieren und können den Anblick der gewaltigen, bizarren Natur nicht wirklich genießen. Die Fahrt scheint endlos – kein Meer in Sicht.

Anne ist erschöpft und lässt mich ans Steuer. Ich gerate nach wenigen Kilometern, bei einem Ausweichmanöver vor einem entgegenkommenden Auto, am Randstein dicht an den Abgrund. Wir schreien vor Angst. Ich fahre wesentlich vorsichtiger weiter.

Anne übernimmt wieder das Steuer und übersieht gleich zweimal eine rote Ampel. Mein lautes »STOPP« lässt sie erschrocken bremsen. Bei der zweiten Ampel fährt uns fast ein Mercedes auf. Doch noch haben wir mehr Glück als Verstand …

Erst gegen neunzehn Uhr kommen wir in Cagnes-sur-Mer an. Das heiß ersehnte Meer sehen wir nicht, denn inzwischen ist es stockdunkel. Zehn Stunden sind wir jetzt schon auf Achse! Wir übernachten im Hotel Derby, das uns zufällig im Weg steht. Das Zimmer kostet 75 Francs mit Frühstück, umgerechnet 22 Mark pro Person. Es ist das billigste Zimmer, das wir bekommen können. Das »Türproblem« verfolgt uns: Hier kriegen wir die Tür nicht zu, denn sie lässt sich nicht von außen abschließen, nur von innen verriegeln. Wir beschließen, unsere Sachen vorerst im Auto zu lassen, und gehen Pizza essen. Danach fallen wir in unsere Betten und schlummern tief. Nach einem typisch französischen Frühstück mit Baguette, Butter, Marmelade und Kaffee fahren wir weiter. Unser Ziel ist die Jugendherberge in Menton, in den Alpes-Maritimes, die wir nach einer Stunde erreichen. Und wieder rütteln wir an einer verschlossenen Tür: Die Jugendherberge ist tagsüber geschlossen und öffnet erst um achtzehn Uhr ihre Pforten.

Wir fahren hinüber nach Monaco, ein ganz neues Land für mich. Zufällig saust Prinz Albert in einem schicken roten Flitzer vor dem Grimaldi-Palast an uns vorbei. Wir schlendern durch die Altstadt, die imposant auf einem Hügel liegt, verdrücken mittags wieder eine Pizza, sind immer noch schlank und gehen zur Spielbank in Monte Carlo. Wir kommen nicht hinein, denn Anne kann ihren Personalausweis nicht vorweisen.

»Ich glaube, er liegt im Auto«, sagt sie und wühlt beim Rausgehen hektisch in ihrer Handtasche. Wir gehen schon in Richtung Auto, als sie plötzlich ruft: »Ich hab ihn!«

Nur ein Teil des berühmtesten Kasinos der Welt ist tagsüber geöffnet. Die hohe Eingangshalle, gelb und mit viel Stuck, beeindruckt mich nicht besonders, viel interessanter finde ich die Menschen im Spielsaal. Mit leerem Blick suchen sie ihr Glück am einarmigen Banditen. Sie scheinen ihm willenlos ausgeliefert zu sein. Ein Bandit winkt mir mit seinem einen Arm zu. Einsam steht er am Rand, niemand sieht ihn. Ich kann ihm nicht widerstehen und stelle mich direkt vor ihn hin. Er oder ich! Ich betrachte ihn neugierig und werfe einen Franc ein. Die Münze verschluckt er gierig. Damit lässt er sich schon abspeisen. Wie billig! Ich höre rumpelnde »Verdauungsgeräusche«. Scheppernd spuckt er unten sogar mehr aus, als ich ihm zu futtern gegeben habe. Faszinierend. Wir verlassen das Kasino. Ich habe 25 Francs Gewinn gemacht, Anne noch mehr. Das Geld wird in die nächste Pizza investiert.

Am Abend haben wir Probleme, in der Jugendherberge einen Schlafplatz zu bekommen. Uns fehlt ein Jugendherbergsausweis, den wir nur in Deutschland hätten kaufen können. Jammern hilft. Wir dürfen für eine Nacht bleiben. Das Zimmer teilen wir mit zwei jungen Frauen, die während einer Zugfahrt durch Frankreich mit Schlafmitteln betäubt und ausgeraubt wurden. Das bringt uns auf die Idee, zu behaupten, man hätte uns die Ausweise geklaut.

 

Es wäre für mich der absolute Albtraum gewesen, die Reise abbrechen und umgehend die Heimfahrt antreten zu müssen. Nun kann es weitergehen. Aber erst einmal geht es zur Polizei, zum Kommissariat im Stadtzentrum. Kaum haben wir es gefunden, werden wir wieder weggeschickt. Die Herren haben Mittagspause! Vive la France et la police! Wir sollen später wiederkommen. Wir bummeln über den bunten Blumenmarkt, setzen uns in ein Café und essen – ausnahmsweise mal keine Pizza.

Zurück auf der Polizeiwache muss Anne als Autobesitzerin die üblichen Formulare ausfüllen. Alles reine Formsache für die Versicherung und scheinbar Routine für die gelangweilten französischen Polizisten. Die sehen nach der Mittagspause aus, als könnten sie noch ein Mittagsschläfchen gebrauchen.

Trotz allem bleiben wir eine weitere Nacht in der Jugendherberge über den Dächern von Nizza.

Die Ereignisse der zehntägigen Tour de France lenken mich total von meinem frustrierenden Ausbildungsalltag ab. Ich bin unterwegs im Hier und Jetzt, vergesse die Sorgen daheim. Meine Seele baumelt glücklich …

Zurück in Wiesbaden gibt mir die Erinnerung an die Reise die nötige Energie, in den folgenden Wochen Freude beim Lernen für die schriftliche Abschlussprüfung zu empfinden.

Im Büro fühle ich mich bis zum Ende der Ausbildungszeit so einsam wie später niemals auf Reisen. Die Zeit, die ich mit der Chefin und den Kolleginnen verbringe, empfinde ich nach wie vor als vergeudete Zeit, aber sie ebnen mir auf ihre Art den Weg, gern der Heimat den Rücken zu kehren, weil sie mir mein Leben unnötig schwer machen.

Anfang Januar bekomme ich das Gesamtergebnis der schriftlichen Abschlussprüfung zur Bürokauffrau. Erst jetzt weiß ich, dass es richtig war, mich vor der Prüfung mit der kurzen Reise nach Frankreich zu belohnen. Den Beweis, ein simples Blatt Papier, halte ich in den zitternden Händen: eine Zwei.

Sonderinfo für Wiesbaden:

Ein herrlicher Spaß für die ganze Familie findet sich nur sonntags von Anfang April bis Ende August im Harlekinäum und Klooseum in Wiesbaden-Erbenheim. Im Harlekinäum kann man in acht Sälen über jede Menge humoristischer Ideen lachen, das Klooseum widmet sich auf höchst vergnügliche Weise dem stillen Örtchen.