KAPITEL 8

Bob verschaffte sich einen kurzen Überblick von draußen; falls sie drin gewesen waren, mussten sie verdammt vorsichtig und professionell vorgegangen sein. Er konnte keine Zeichen eines Eindringens finden, keine Spuren oder Unregelmäßigkeiten im Erdboden, nicht einmal Schleifspuren, die durch das Verwischen von Spuren entstanden sein könnten. Vor allem aber sah der Hund zwar noch ein wenig verwahrloster aus als sonst, doch er war nicht tot – und Bob wusste, dass Mike jeden, der versucht hätte, in den Wohnanhänger zu gelangen, entweder umgebracht hätte oder bei dem Versuch selbst gestorben wäre.

Sam Vincent hatte das Tier während Bobs Abwesenheit gefüttert. Mike, eine Mischung aus einem schmuddeligen Beagle und Gott weiß was für einem Wesen aus der Wildnis der Ouachitas, sprang mit seiner feuchten Schlabberzunge und einem warmen, wenn auch traurigen Ausdruck in den Augen an ihm hoch, als er das Zauntor aufschloss. Auch Mike war ein Einzelgänger. Ein wunderbarer Freund, der keine anderen Freunde finden konnte und sein Leben voll und ganz Bob anvertraute.

Bob streichelte ihn, bis er vor Freude quietschte, und gab ihm etwas Futter. Dann öffnete er die diversen Vorhängeschlösser: zuerst das vom Wohnwagen, der so makellos rein war, wie er ihn verlassen hatte, dann das vom Gewehrschrank, in dem alle Waffen in ihrer Ölschicht glänzten (er stellte seine Remington 700 schnell an ihren Platz zurück), und schließlich das Schloss der nach hinten gelegenen Werkstatt, in der die widerspenstige Winchester 70 immer noch in Einzelteile zerlegt auf ihn wartete. Das verdammte, störrische Ding.

Er sah die Waffe an und spürte das Verlangen, sich noch einmal in all ihren Feinheiten zu verlieren, noch einmal zu versuchen, ihr sämtliche Geheimnisse zu entlocken. Warum hatte sie ihn im Stich gelassen? War ihr die Treue langweilig geworden, hatte sie nicht genug Aufmerksamkeit bekommen? Besaß sie einen schwachen Charakter – war sie keine Waffe, auf die er sich verlassen konnte, wenn die Lage brenzlig wurde? Oder fühlte sie sich mit ihren etwa 50 Jahren einfach müde: ein altes Stück Stahl, das ein wenig von seiner inneren Stärke eingebüßt hatte?

Doch noch während er die 70er anstarrte, wusste er, dass er diesem Drang nicht nachgeben durfte, egal wie stark er wurde. Er hatte jetzt etwas anderes zu tun, etwas, das er so sehr tun wollte, dass es schmerzte.

Er erinnerte sich, wie Donny schwer und regungslos auf ihm gelegen hatte, wie Donnys warmes Blut über ihn floss und sich mit seinem vermischte. Die Fliegen kamen und taten sich daran gütlich und der Major rief von kurz hinter der Böschung: »Beweg dich nicht, Bob, verdammt noch mal, wir haben Artillerieunterstützung angefordert, wir räuchern diesen Drecksack aus!« Als er so dalag, hatte er daran zurückgedacht, wie Donny einmal in An Loc einfach so mit seiner M-14 auf der gottverdammten grünen Wiese gestanden und seelenruhig auf die Schlitzaugen geschossen hatte. Er hatte jede Menge Feindfeuer auf sich gezogen, während Bob, dessen Deckung unten am Hang aufgeflogen war, sich hektisch wie ein Schwarm aufgescheuchter Wildwachteln inmitten der auf sie einprasselnden Zerstörung über die Hügelkuppe in Sicherheit gebracht hatte.

Seine 700er hatte albern im Fahrtwind gebaumelt und der Boden des Urwalds war um ihn herum von den Schüssen aufgesprengt worden, die ihn verfehlt hatten. Schließlich hatte er es bis nach oben geschafft und sie hatten sich beide auf die andere Seite fallen lassen. Sie hatten gelacht wie Verrückte, die nur knapp dem Tod entronnen waren, im wilden Rausch der Gefahr, verliebt in den Spaß, den ihr Beruf ihnen bereitete – und in das Gefühl, bis an die letzten Grenzen zu gehen, das alle Freuden so unendlich intensiv machte.

»Oh Gott, Bob, du hättest deinen Gesichtsausdruck sehen sollen, als du den Hügel raufgekommen bist. Verdammt, ich hätte mir vor Lachen fast in die Hose gepisst!«

»Du blöder kleiner Scheißer, warum bist du nicht unten geblieben, wolltest du uns beide umbringen?«

»Scheiße, Bob, das wär’s mir wert gewesen, um zu sehen, wie du Schiss kriegst!« Und dann hatte er sich kaputtgelacht.

Er erinnerte sich an seinen alten Traum: wie er und Donny und Donnys schöne junge Frau Julie mit ein paar Hunden und etwas gutem altem Whiskey aus Arkansas für kalte Nächte einfach alle zusammen irgendwo in den Ouachitas lebten, weit weg von der Zivilisation, mit ihren Gewehren, jeden Tag auf der Jagd, jede Nacht betrunken. Ein alberner Traum, das ging ihm jetzt auf, denn so ein Leben wäre in dieser Welt niemals möglich gewesen. Aber jung und dumm konnte man sich so etwas schon einmal ausmalen.

Und er dachte daran zurück, wie der Major hereinkam und ihn sah, wie sein Bein eingegipst in einer Schlaufe hing und er seine ganze linke Körperhälfte nicht mehr bewegen konnte.

»Wusste nicht, dass die jemanden hatten, der so gut ist«, hatte der Major gesagt. »Das war ein Wahnsinnsschuss.«

Oh ja, und ob. Ein Wahnsinnsschuss.

Ich will ihn kriegen!, hatte Bob gedacht. Gott im Himmel, ich will diesen Kerl erwischen. Aber zu dieser Zeit sollte es noch ein Jahr dauern, bis er körperlich wieder in der Lage war, ein Gewehr zu benutzen. Währenddessen hatte er die Gerüchte mitbekommen: Es sei ein Weißer gewesen. Ein Spezialist. Jemand, der eigens für diesen Auftrag geholt worden war. Doch dann war der Krieg auch schon vorbei gewesen.

Und jetzt hatte er das Gefühl, jeden Moment weinen zu müssen. Der Hund schleckte ihm mit seiner warmen Zunge über die Hand und brachte ihn dadurch in die Gegenwart zurück. Er schüttelte leicht den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben und merkte plötzlich, dass er etwas wacklig auf den Beinen stand.

Oh, du verdammter Russe, wie ich dich kriegen will für das, was du mir angetan hast!

Dann bekam er sich wieder in den Griff, spürte, wie sein neues Selbst in seinen Körper zurückkehrte; er war in Ordnung. Wieder der Bob, der nur mit drei oder vier Männern in Blue Eye sprach – mit Sam und Doc LeMieux, mit Sheriff Tell. Und, wenn dieser nüchtern war, mit dem alten Bo Stark, der jeden Tag bei Regen und Sonnenschein mindestens 100 Schüsse abfeuerte und sich mit Haut und Haar den Gewehren verschrieben hatte, damit er den Rest seines Lebens hinter sich bringen konnte, ohne etwas zu fühlen.

Alles in Ordnung. Er hatte etwas zu tun. Alles gut. Er fühlte sich bereit.

Bei entkoffeiniertem Kaffee und Fertiggerichten machte sich Bob daran, auf seine Weise einen Plan auszutüfteln. 18, 20, 22 Stunden am Stück saß er wie festgenagelt am Küchentisch, im dämmrigen Schein einer Glühbirne oder im grauen Licht der spärlichen Januarsonne. Er unterbrach seine Arbeit nur für den Morgenspaziergang mit Mike und ein paar wenige Stunden Schlaf. Er ging langsam und behutsam vor, ohne je zu schnell oder zu langsam zu werden. Er sah die Karten und Pläne durch, zeichnete Diagramme, nahm Berechnungen mithilfe seines Taschenrechners vor, studierte die Architektur der Gebäude und machte sich Notizen.

Er war natürlich ein Dschungelschütze, ein Naturbursche. Doch letzten Endes schien ihm eine Stadt auch bloß eine andere Art von Dschungel zu sein, in dem die gleichen Regeln galten. Ein Schütze brauchte die gleichen Voraussetzungen, das gleiche perfekte Zusammenspiel der Details, bevor er schoss. Von diesem Wissen ließ er sich leiten.

Zunächst einmal brauchte der Schütze ein freies Schussfeld. Damit meinte Bob mehr als bloß eine freie Schussbahn. Natürlich brauchte er eine ununterbrochene Sichtlinie zum Ziel. Aber ebenso wichtig war, dass es weder östlich noch westlich davon Häuserblocks gab, die den Wind zwischen sich einschlossen und unvorhersehbare Böen erzeugten, welche die ohnehin schon störanfällige Flugbahn des Geschosses vollends durcheinanderbringen konnten. Er brauchte die Sonne in seinem Rücken, wenn er schoss, um die Möglichkeit auszuschließen, dass sein Zielfernrohr einen Sonnenstrahl reflektierte und dadurch jemand auf ihn aufmerksam wurde – und der Secret Service würde zweifellos sehr wachsam sein.

Und dann gab es da noch die Entfernung. Die Sicherheitszone des Secret Service, die 1963 tragischerweise noch nicht existiert hatte, erstreckte sich fast mit Sicherheit über etwa 800 bis 900 Meter. In dieser Zone würde kein Fenster geöffnet sein, auf jedem Hausdach Polizisten stehen, in der Luft würde ein Helikopter kreisen. Und es würde Sicherheitskontrollen geben. Der Russe befand sich also mindestens 1000 Meter weit weg, eher noch 1200.

In dieser Entfernung musste er also einen Platz finden, von dem aus er schießen konnte. Und dieser Platz musste sicher sein, leicht begehbar, mit nicht einsehbaren Ein- und Ausgängen und Zugang zu einem Fluchtweg. Außerdem musste er hoch gelegen sein, damit er das Ziel sehen konnte, aber auch nicht zu hoch. In einem Abwärtswinkel zu schießen wirkte sich nachteilig auf die Flugbahn des Projektils aus, insbesondere auf größere Distanz. Es gab eine kritische Marke. Oberhalb davon wurde der Schuss zu unberechenbar, zu schwer kontrollierbar. Bob nahm an, dass Solaratov sich auf einer Höhe von mindestens drei, aber nicht mehr als fünf Stockwerken positionieren würde.

Auch die Temperatur spielte eine gewisse Rolle. Ein sehr feuchtes Klima beeinflusste den Flug des Geschosses. Kühles Wetter war noch riskanter, weil die Mechanik des Gewehrs nahe dem Nullpunkt steif und unhandlich wurde, was Einfluss auf die Molekularstruktur von Schaft und Lauf nahm, ganz zu schweigen von den Muskelfasern des Mannes am Abzug. Bob hatte zahllose Geschichten über Männer gehört, die ihren großen Schuss auf einen Zwölfender an einem eiskalten Wintertag abgegeben hatten und voller Entsetzen zusehen mussten, wie ihre Kugel wirkungslos zehn Meter neben dem Ziel in den Hang schlug. Das Tier ergriff die Flucht und ließ den Jäger mit der Aussicht auf einen harten Winter zurück. Er glaubte nicht, dass der Russe bei Kälte oder in einem besonders feuchten Klima einen Schuss wagen würde – da gab es zu viele Unwägbarkeiten. Wenn man es richtig anstellen wollte, wählte man einen Moment, in dem die Erde selbst ein Verbündeter war, einem Klima und Gelände, die Sonne und der Himmel freundlich gesonnen waren.

Er suchte nach einem Ort, an dem zum Zeitpunkt des Schusses Temperaturen zwischen zehn und 15 Grad herrschten, bei bedecktem Himmel. Es musste eine Küstenstadt sein, in der die dem Meer zugewandten Häuserfassaden den Wind ausbremsten und dieser nicht über das Flachland des Mittleren Westens oder einen zugefrorenen See herangeheult kam.

Dann gab es da noch das Problem mit dem Schussgeräusch. Egal für welche Waffe Solaratov sich diesmal entschied – er konnte keinen Schalldämpfer benutzen, weil dieser nur bei einer Unterschallpatrone etwas nützte. Aber hier mussten es eine Geschossgeschwindigkeit von über 600 Metern pro Sekunde und ein Patronengewicht von mindestens 9,72, eher noch von 12,96 Gramm sein, damit er eine Chance hatte, auf 1200 Meter einen tödlichen Treffer in Kopf oder Torso anzubringen.

Sie mussten ihm irgendeine Art von schalldichtem Raum, eine Kammer oder einen Bunker mit Schalldämmung bauen, der nur eine ganz kleine Öffnung zum Zielen und Schießen aufwies. Er selbst musste sich ein Stück hinter der Öffnung aufhalten, damit die Dämmung den Mündungsknall absorbierte. Durch die Schießscharte würde ein Teil des Lärms nach außen dringen, aber nicht genug, um seine Position eindeutig zu bestimmen, weil sich das Geräusch diffus und schwer orten ließ. Bob dachte an einen Aufbau auf einem Häuserdach, zum Beispiel als Heizungsanlage getarnt. Daraus schloss er, dass es sich dabei nicht um Pfuscherei handeln durfte; demnach mussten sie bereits jetzt daran arbeiten. Es müsste ein Gebilde von einiger Raffinesse und Komplexität sein, einfach auseinanderzunehmen, aber nichtsdestotrotz ausreichend stabil.

Sie konnten jedes Gewehr mit einer Reichweite von 1000 Metern benutzen, von einer .308 bis zu einem Scharfschützengewehr vom Kaliber 50 von der Sorte, wie sie jetzt angeblich zum Inventar von Eliteeinheiten gehörte. Der Russe hatte mit Sicherheit Zugriff auf ein 50er. Diese Möglichkeit ließ die denkbare Distanz auf über anderthalb Kilometer wachsen und damit wuchsen wiederum die möglichen Varianten einiger weiterer Parameter.

Bob stöhnte auf, was bei ihm eine Seltenheit war. Die Aufgabe, vor der er stand, kam ihm gigantisch vor; er bekam Kopfschmerzen. Er schaute um sich und konnte nicht festmachen, ob es Tag oder Nacht war. Als er einen Blick auf seine Seiko-Armbanduhr warf, die er trug, seit er sie 1971 für zwölf Dollar in einem Army-Laden erstanden hatte, zuckte er zusammen. Fast Mitternacht. Er seufzte und machte sich wieder an die Arbeit.

Ort, Zeit, Entfernung, Waffe. Das waren die vier Himmelsrichtungen auf seinem Kompass. Als er die Dokumente studierte und die Daten mit rund 100 potenziellen Anschlagsorten abglich, gelangte er beim ersten Durchgang zu keinem Ergebnis. Er versuchte es noch einmal und vertiefte sich noch entschlossener in die Einzelheiten. Er versuchte sich den Mann vorzustellen, einen Scharfschützen wie ihn selbst, der in einem kleinen dunklen Raum auf seinen Sandsäcken lag und durch sein Zielfernrohr in anderthalb Kilometern Entfernung den Präsidenten der Vereinigten Staaten beobachtete, jede Bewegung des Politikers verfolgte. Und dann pustete er ihm den Kopf weg – in einer großen, roten Wolke aus Gewebe, einem Wirbel aus Knochen, Blut und Hirnmasse. Es konnte Wochen dauern, diesen Raum zu finden, falls er wirklich aus dieser Entfernung schoss. Im schlimmsten Fall fanden sie ihn überhaupt nicht.

Wieder und wieder ging er alles durch, langsam und beharrlich, konzentrierte sich auf jede Einzelheit. Gab es eine Lösung? War es machbar? Existierte ein Ort, an dem alles zusammenpasste? Er …

Hey!

Plötzlich fügte die Lösung sich wie von allein vor seinem inneren Auge zusammen, jedes Teil des Puzzles passte zum anderen.

In diesem Moment sah er, wie es passierten würde, wie es passieren musste. Und er wusste auch, wo es passierte würde.

Es war der dritte Tag, spät, weit nach Mitternacht. Alles klar, dachte er. Ihr Schweinepriester glaubt also, es ist immer noch 1972 und wir befinden uns 1300 Meter vor der Da-Nang-Linie, wo gerade der Scharfschützentrupp Alpha über die Kammlinie kriecht.

Aber so wird es nicht sein.

Denn diesmal werde ich auf euch warten.

KAPITEL 9

»Nicky, Nicky«, murmelte Tommy Montoya, »oh, mein Junge, das sieht dir gar nicht ähnlich.«

Montoya war ein Kubaner, der sich im Spionagegeschäft auskannte und gelegentlich Tipps bekam, die er an Memphis weiterleitete, so wie er auch für verschiedene Geheimdienste der Bundesregierung und sicher auch noch für weitere Kunden arbeitete. Einer dieser gefährlich lebenden Typen, etwas schlauer als es gesund für sie war. Meist fand man sie dann eines Tages im Big Muddy oder im Lake Pontchartrain, mit dem Fußgelenk an ein Diesel-Kurbelgehäuse gekettet und einem Schwarm Guppies, der in ihrem aufgeschlitzten Brustkorb lebte. Doch bis es so weit war, schlürfte Tommy Montoya erst einmal seine Auster leer. Grinsend hielt er eine offene, zweischalige Muschel in einer der fetten Pranken und ließ die dicke Zunge herausschnellen, um das kalte Ding aus seiner Schale zu lösen. Dann schlürfte er es genüsslich heraus und schluckte es hinunter.

Nick versuchte, nicht hinzusehen. Gott, wie konnte man dieses Zeug bloß essen? Nick vertrat die Meinung, dass man nur Lebewesen essen sollte, die bluten konnten. Aber der Kubaner war nützlich. Er kannte sich mit Dingen aus, über die sonst kaum jemand Bescheid wusste – zum Beispiel mit der Branche, in der er tätig war.

»Nicky«, sagte er wieder, »du weißt, dass man so etwas nur über ganz spezielle Kanäle bekommt. Die DEA hat Vorrang bei diesen großen Abhörausrüstungen, man muss einen Antrag stellen bei …«

»Komm schon, Tommy«, unterbrach ihn Nick, der es eilig hatte, Tommys Spielchen hinter sich zu bringen. Howdy Duty hatte für diesen Nachmittag sein Kommen angekündigt und er wollte bereit sein, wenn die gute alte Basis eintraf. Denn wenn man mit Utey einen schlechten Start erwischte, kam man später nie mehr auf die richtige Spur zurück, das wusste Nick aus eigener Erfahrung.

Daher fühlte er sich nervös und verhielt sich nicht übermäßig geschickt. Außerdem war es in dieser Bar am Flussufer stockfinster und wimmelte nur so vor fremdländisch aussehenden Männern. In dieser Umgebung fühlte sich Nick, der einen knitterfreien blauen Popelinanzug und ein weißes Hemd trug, als prangte zwischen seinen Augenbrauen und dem Haaransatz in sieben Zentimeter hohen Buchstaben das Wort ›Bundesagent‹. Unter seiner Anzugjacke zeichnete sich der lange Griff seiner Smith & Wesson 1076 ab.

Er preschte nun einfach vor und warf jeden Anschein von Raffinesse über Bord. »Angenommen, ich brauche es schnell. Ich muss den Papierkram umgehen. Wir stehen kurz vor einer wichtigen Festnahme, aber ich fürchte, dass es eine undichte Stelle gibt. Entweder bei der DEA oder bei meinen eigenen Leuten. Ich will ultrahoch entwickelte Abhörtechnik. Und damit es sich auch lohnt, sagen wir mal, ich könnte genug Geld aus einem schlechten Dealer herausquetschen, um den entsprechenden Preis zu bezahlen. Was schlägst du vor?«

»Sag mal, mein Freund, du trägst doch nicht etwa ein Mikro? Du versuchst doch nicht, einen Spion auszuspionieren? Ich hatte dich immer für einen ziemlich geradlinigen Typen gehalten.«

Man erzählte sich über Tommy, dass er mit der Brigade 2506 in der Schweinebucht angelandet war und zwei Jahre in Castros Gefängnissen zugebracht hatte – und dass er Narben auf dem Rücken trug, die wie explodierte Sterne aussahen. Er hatte diese Latino-Art an sich – cojones, Machismo oder wie man das auch nannte –, diese überdeutliche, aber nicht neurotische Bereitschaft, Gewalt auszuüben, die er mit jeder Faser seines massigen Körpers ausstrahlte.

»Nein, Mann, ich bin sauber. Ich muss bloß rausfinden, wie ein paar Leute vor ein paar Tagen draußen beim Flughafen eine sehr leistungsfähige Abhörausrüstung einsetzen konnten. Wo die herkam und wie sie die so schnell zur Hand hatten, um mit ihrer Hilfe jemanden auszuschalten.«

»Den Kerl, dem sie die Eingeweide in Stücke gehackt haben?«

»Ja, den Kerl.«

»Oooooooh, Nicky, das ist ʼne komische Sache. Weißt du, man hört sonst immer irgendwas. Immer. Du weißt schon, die Spieler, die Mannschaft, jedes Mal, wenn so was passiert. Außer in diesem Fall. Nicky, mein Freund, ob duʼs glaubst oder nicht, ich hab gar nichts gehört. Das muss von außerhalb gekommen sein. Es hatte mit uns hier nichts zu tun, das sag ich dir.«

»Kann sein. Trotzdem, das ist irgendwie was Persönliches. Komm schon, Tommy. Die Ausrüstung ist mein einziger Anhaltspunkt. Ich hab eine Quelle, die schwört, dass der Typ so eine Art salvadorianischer Geheimdienstler gewesen ist, und woanders hab ich her, dass er angeblich für die CIA gearbeitet hat. Aber die CIA will mir nicht weiterhelfen. Und seine Weste ist so verdächtig weiß, dass ich mich frage, wie jemand sein ganzes Leben verbringen kann, ohne sich auch nur einen Strafzettel wegen Falschparkens einzufangen.«

Tommy zog eine säuerliche Miene, dann löste er mit der Zunge eine weitere Auster aus der Schale. Nick war verblüfft, wie schnell und geschickt dieser stämmige Mann diese anzügliche Bewegung zustande brachte.

»Ich versuche, rauszukriegen, wie zur Hölle die Typen da reingekommen sind, um ihn umzulegen. Sie haben gehört, wie er versucht hat, mich zu erreichen. Mit irgendeinem Gerät. Also, wo zum Teufel bekommt man hier so ein Zeug?«

»Nun«, sagte Tommy schließlich, »ich glaube, das, wonach du suchst, ist eins der 5400-Modelle von Electrotek. Das ist ein tragbares parabolisches Richtmikrofon, das Neueste vom Neuesten, bekannt dafür, dass man damit selbst verstärkte Wände durchdringen kann. Die kosten über eine Million pro Einheit. Soweit ich weiß, wurden nur sieben gebaut – vier für die DEA, zwei für die CIA und eins, das klammheimlich an einen ausländischen Kunden ging.«

»Aus welchem Land?«

»Oh, das verrat ich lieber nicht, mein Freund. Aber es hat da einen bösen kleinen Krieg gegeben.«

»El Salvador! Na klar. Verflucht noch eins.«

Jetzt konnte er ein Muster erkennen. Das war es, was er am meisten liebte: wenn sich die Einzelheiten eines Falls auf magische Weise zusammenfügten.

Er dachte jetzt in großen Sprüngen: In welchem Jahr ist Electrotek nach El Salvador gegangen? Etwa in den späten 80ern, als wir Hilfsgüter hingeschickt haben. Okay, also dieser Typ namens Eduardo Lanzman ist ein Spion, aber dann findet er etwas raus. Etwas Großes? Etwas Gefährliches? Er macht sich vor Angst fast in die Hose. Also überlegt er: Wen zum Geier kann ich anrufen? Die Sache riecht ganz offensichtlich nach Spionage, daher will er nicht zu seinen alten Kumpels bei der CIA gehen, klar? Weil er noch nicht durchblickt, noch nicht genau versteht, wer gerade was mit wem macht, wer auf welcher Seite steht – oh, ich weiß, wie undurchsichtig das manchmal ist.

Also braucht er einen Außenstehenden – jemanden, dem er vertrauen kann –, dem er es stecken kann. Da erinnert er sich an einen alten Freund bei der DEA, der möglicherweise Rat weiß, aber der Kerl hat seinen Job an den Nagel gehängt. Dann denkt er an diesen FBI-Agenten, von dem die DEA gesprochen hat. Er fliegt also los. Aber sie kriegen mit, dass er abgehauen ist. Also macht er irgendwo Rast, nur um sie von seiner Fährte abzubringen. Aber irgendwoher wissen sie, dass er nach New Orleans unterwegs ist, und das gibt ihnen die Zeit, die Abhörausrüstung herzuschaffen und seine Beschattung vom Flughafen aus vorzubereiten. Da entdecken sie ihn auch. Folgen ihm. Sie haben dieses gottverdammte Gerät. Sie finden das Zimmer; sie hören es ab, diese Salvadorianer. Sie erfahren meinen Namen, platzen rein und drehen den armen Eduardo auf links.

Tommy sah ihn an.

»Nick, du siehst aus, als hättest du gerade eine religiöse Erleuchtung gehabt. Hat die Heilige Jungfrau zu dir gesprochen?«

»So was Ähnliches«, erwiderte Nick. Obwohl er normalerweise nicht religiös war, verspürte er kurz den Drang, sich für Eduardo zu bekreuzigen. Er hatte die Tür geöffnet und erwartet, bloß den lahmen alten Nick zu sehen. Doch stattdessen sprangen ihn drei üble Killer an und spendierten ihm einen Tod, der einem chinesischen Foltermeister alle Ehre gemacht hätte … Und doch war ihm die Sache so wichtig gewesen, dass er selbst dann noch, als die Henker gegangen waren und seine Gedärme wie schmutzige Socken auf dem Bett verteilt lagen und der Schock so weit abgeklungen war, dass der Schmerz nun den fünften Akt der allerletzten Oper für ihn einläutete – dass dieser Kerl selbst dann noch Macho genug gewesen war, auf das Linoleum zu kriechen und die Nachricht zu hinterlassen.

ROM DO.

ROM DO?

Was hatte das bloß zu bedeuten?

»Es gibt noch etwas Seltsames. Dieser Kerl, er hat eine Nachricht hinterlassen, mit seinem eigenen Blut geschrieben. ROM DO, in Großbuchstaben. Was kannst du mit den Worten Rom und Do anfangen, Tommy? Irgendeine Idee? Ich hab neulich 13 Stunden in der Bibliothek verbracht und Bücher gewälzt, um was dazu zu finden. Ich hab die Schlaumeier von der Abteilung für Verhaltensforschung in Quantico gefragt, du weißt schon, unsere Intellektuellen. Denen fällt auch nichts ein. Dir vielleicht?«

»Rom Do? Könnte alles Mögliche sein, Mann.« Dann lachte er. »Komisch, das erinnert mich an was.«

»Okay«, sagte Nick, »dann spuckʼs aus. Erzähl’s mir.«

»Oh, es ist ziemlich verrückt.«

»Je verrückter, desto besser, mein Freund, so seh ich das im Moment.«

»Du weißt doch, dass ich ʼ61 auf der Insel gewesen bin? Bahia de Cochinos, he, mein Freund? Die Bucht mit den Schweinchen?«

»Ja, davon hab ich gehört.«

»Okay, mein Bataillon war das erste, das in der Roten Bucht an Land ging, bei Playa Larga. Wir haben uns mit Army-Rufzeichen verständigt, genau wie die amerikanische Armee, weil wir an Amerika glaubten und weil wir an diesen Schwanzlutscher JFK glaubten. Mann, wir haben ihn geliebt und wir liebten unsere kleine Invasion.« Er klang verbittert. Doch dann fing er sich wieder.

»Jedenfalls, später haben sie die Zeichen verändert. Okay, sie haben sie verändert und moderner gestaltet. Das D, meine ich.«

»Wovon redest du?«

»Das D wurde Delta. D für Delta. Nicht mehr Dog, sondern Delta. Wenn du dich über Funk gemeldet hast und dein Rufzeichen D war, bist du Delta gewesen. Delta Company, Delta Flight, Delta-Schwadron, Delta Force, all diese Sachen. Aber in den frühen 60ern waren die Zeichen noch anders. D stand für Dog, R für Romeo. Rufzeichen. Ich war beim zweiten Bataillon, Brigade 2506, La Brigada, und wir waren Romeo Dog Zwei. Es gab noch Romeo Dog Drei, Vier und Fünf. Der Kerl, der die Sache angeführt hat, der patron da draußen auf dem Schiff, das war Romeo Dog Sechs. ›Rom Do‹? Dein Typ wälzte sich in Panik da auf dem Boden, sein Hirn funktionierte nicht mehr richtig, er lag im Sterben. Er hat dir eine Nachricht aus der Vergangenheit geschickt. Romeo Dog. Kapiert?«

»Romeo Dog? Nein, kapiere ich nicht«, erwiderte Nick, während er sich die Information durch den Kopf gehen ließ.

Was zur Hölle bedeutete Romeo Dog?

Howdy Duty hatte sich überhaupt nicht verändert; er war einer dieser Männer, die das wohl gar nicht konnten. Doch auch Nick hatte sich nicht verändert. Das wollte er auch gar nicht: Er würde immer nur ein Special Agent bleiben und nie zum Supervisory Agent aufsteigen. Aber das machte ihm nicht viel aus, weil er in seinem Herzen wusste, dass er nicht dafür geschaffen war, Befehle zu erteilen. Er hatte auch kein Interesse an Macht oder an einem schönen Eigenheim in Virginia, der Vorstadt von Washington. Aber dass auf seinem Lebenslauf das Etikett ›keine Beförderung‹ klebte, hielt ihn für immer von den wirklich interessanten Truppen und von Washington fern. Er würde nie bei einer Anti-Terror-Einheit landen, was in den 80ern bedeutet hatte, dass man zur Crème de la Crème gehörte — und dies bedeutete es auch noch bis weit in die 90er-Jahre hinein.

Bei den Anti-Terror-Jungs ging es um schnelle Reflexe, Klettern am Gerüst, Waffenkunde und Spezialtaktiken und die Zusammenarbeit mit einigen äußerst interessanten Behörden; es war die schnellste Truppe von allen. Aber der Weg in ein Geiselbefreiungsteam stand ihm nicht offen. Diese Jungs stellten jetzt die Elite: Sie traten Türen ein und knallten Gauner ab, wenn die Zeit kam und der Tanz richtig losging. Und auch die Abteilung für Organisiertes Verbrechen musste er sich aus dem Kopf schlagen. Auch das war spannend – man konnte sich in die Strukturen der Mafia einschleusen, diese verkehrte, aber faszinierende Welt betreten. Wenn man das schaffte, konnte man etwas ausrichten. Das traf auch auf die Spionageabwehr zu, nur dass der Alltag eher so aussah, dass man Kubaner kreuz und quer durch Washington verfolgte und Botschaften anzapfte. Aber interessant fand er es trotzdem.

Nein, Nick würde bis zum Ruhestand für die FBI-Abteilungen zweitrangiger Städte arbeiten. Baltimore, Richmond oder Frederick, näher würde er niemals an Washington herankommen. Und obwohl diese Städte alle kaum 100 Meilen von der großen Stadt entfernt waren, lagen doch Lichtjahre dazwischen. Der Sprung vom einen zum anderen, ohne vorher zu Testzwecken nach New York, Miami oder Los Angeles (wohin Nick es ebenfalls nie schaffen würde) versetzt zu werden, stellte einen Quantensprung dar … nach den geltenden Naturgesetzen des FBI unmöglich zu schaffen.

Aber trotz alldem hasste er Howdy Duty nicht. Utey hatte einfach die schwere Entscheidung treffen müssen, das Ereignis in Tulsa so zu behandeln, wie es für das FBI am besten war. Und wenn er sich selbst und seine eigene Karriere auch in gewisser Weise mit ›der Behörde‹ identifizierte, zeugte diese Entscheidung doch eher von Hilflosigkeit als von Egoismus. So lief das nun einmal und so dachte der Mann nun einmal.

Und so gab es nicht viel Anspannung oder Verlegenheit, als Nick Howard D. Utey am Flughafen von New Orleans abholte. Sie wusste beide, wie diese Sachen liefen.

Howard stand an der Bordsteinkante vor dem Terminal von American Airlines und winkte, als er Nick in dem grauen Ford von der Regierung bemerkte. Er setzte sogar ein leichtes Lächeln auf, als er sich bückte, um einzusteigen und seine Tasche auf den Rücksitz zu werfen.

»Hi, Nick. Junge, du siehst toll aus. Hast immer noch Haare, was?«

»Und ob, Howard. Sie fallen einfach nicht aus. Ich weiß auch nicht, warum.«

»Nick, das mit Myra tut mir leid. Hatte sie Schmerzen am Ende?«

»Nein. Sie lag seit langer Zeit im Koma. Sie hat einfach aufgehört zu atmen. Es ist kein schwerer Tod gewesen. Sie hatte ein schweres Leben, aber einen leichten Tod.«

»Nun, zumindest dafür sollten wir Gott danken.«

»Ich weiß, Howard«, antwortete Nick flach und achtete darauf, ihn nicht Howdy zu nennen, obwohl ihm das von Zeit zu Zeit passierte und Utey, der über seinen Spitznamen Bescheid wusste, immer so tat, als merke er es nicht.

Howdy Duty war ein ziemlich kleiner Mann, klein und frettchenhaft, doch nicht dumm oder begriffsstutzig. Er hatte sich einfach voll und ganz dem FBI verschrieben und seinen Aufstieg mit der Geduld und wilden Entschlossenheit eines Jungen aus ärmlichen Verhältnissen in Angriff genommen. Dabei half ihm zweifellos auch ein gewisses politisches Gespür; aber er arbeitete so hart, wie man nur arbeiten konnte.

»Nennen sie mich immer noch ›Howdy Duty‹, Nick?«

»Ich fürchte, das tun sie, Howard«, erwiderte Nick, als sie den Flughafen verließen.

»Nun, das ist in Ordnung, solange es nur hinter meinem Rücken passiert und solange ich nie erfahre, dass der Secret Service davon Wind gekriegt hat, Nick. Das würde ich als einen Akt des Verrats betrachten müssen – nicht an mir persönlich, sondern am FBI im Ganzen. Weißt du, jeder hier mag dich, Nick … du wirst überall von allen gemocht, das ist eine deiner Gaben. Es wäre für alle das Beste, wenn du diese Information in Umlauf bringst. Ich weiß, dass sich Botschaften, die auf informellem Weg weitergegeben werden, manchmal wirkungsvoller verbreiten als offizielle Memos. Einverstanden?«

»Ja, Howard«, gab Nick zurück. So war Howard. Er machte die Regeln und hielt sich an sie – falls er es für sich nicht als zweckdienlicher empfand, sie zu ändern.

»Also, Nick, ein großer Teil dessen, was wir in den nächsten paar Wochen tun werden, wird das Herstellen von Kontakten sein, was wiederum der Grund ist, warum es großartig ist, dich im Team zu haben. Du verfügst über eine wunderbare Gabe, mit Leuten klarzukommen. Glaub nicht, dass das noch keinem aufgefallen ist. Und du wirst deine ganze Umgänglichkeit brauchen, klar? Alles davon. Jedes bisschen.«

»Sicher, Howard. Also, was werde ich genau tun? Ich hab gehört, der Prä…«

»Richtig, Nick. Am 1. März wird der Präsident morgens von Washington herfliegen, um im Stadtzentrum von New Orleans eine Rede zu halten und eine Auszeichnung zu überreichen. Er wird Erzbischof Jorge Roberto Lopez die Freiheitsmedaille verleihen – weißt du noch, der Erzbischof von Salvador, der schon den Nobelpreis bekommen hat?«

Natürlich wusste Nick es noch. Erzbischof Roberto Lopez war erwiesenermaßen ein großer Mann, der Nachfolger des Märtyrers Erzbischof Oscar Romero. Er hatte unermüdlich dafür gekämpft, beide Seiten des erbitterten Bürgerkriegs in seinem Land, der zuletzt durch das Massaker des Panther-Bataillons noch drastisch eskaliert war, zu Gesprächen zusammenzubringen.

Nick konnte sich noch an die Bilder aus den Fernsehnachrichten erinnern: wie Bischof Roberto Lopez zwischen den toten Kindern am Flussufer entlangging, in seinem bescheidenen schwarzen Gewand mit einem schlichten Silberkreuz um den Hals. Hinter den Gläsern seiner Nickelbrille hatte man seine von Tränen geröteten Augen gesehen. Ein Dichter, ein Experte für Mittellatein, ein völlig unpolitischer Mensch, der in seinem Herzen so viel Liebe trug, dass er NBC sagen konnte: »Ich hasse die Menschen nicht, die dies getan haben. Ich liebe sie und ich vergebe ihnen. Sie zu hassen und zu verlangen, dass sie bestraft werden, führt nur dazu, dass solche Gräuel nie enden.«

»Die Beliebtheit des Präsidenten hat seit dem Krieg etwas nachgelassen, Nick. Ich glaube, er möchte auf den Zug von Bischof Roberto Lopez aufspringen. Es dürfte ihm sicher nicht schaden.«

»Vielleicht bewundert er ihn auch nur«, wandte Nick ein. »Das tun viele.«

»Wie dem auch sei. Ich weiß, dass ihr davon hier nichts mitbekommen habt« – Nick wusste, was er damit meinte: hier, auf deiner Stufe – »aber in letzter Zeit war das Verhältnis zwischen FBI und Secret Service nicht besonders freundschaftlich. Vor drei Monaten hatten wir in Chicago ein Problem mit sich überschneidenden Ermittlungen. Wegen Falschgeld wurde das Finanzministerium mit hineingezogen. Wir hatten die Sache wie einen Fall von organisiertem Verbrechen behandelt und irgendwie nie richtig bemerkt, dass es auch eine andere Sichtweise gab. Eine Reihe von Festnahmen fand in der falschen Reihenfolge statt und einer unserer Leute hat dabei einen von ihren Leuten angeschossen. Er hat zwar überlebt und man sagt, dass er in sechs Monaten oder so wieder auf den Beinen sein wird, aber es hat für einigen Unmut gesorgt.«

Nick schüttelte den Kopf. Den Unmut konnte er gut nachvollziehen. Niemand arbeitete gern mit dem Secret Service zusammen. Vor allem nicht bei Sicherheitsmaßnahmen, bei denen die Typen mit den Sonnenbrillen sich immer wie absolute Arschlöcher aufführten und in jeder Situation wie selbstverständlich das Kommando übernahmen. Es kam dabei immer zu verletzten Gefühlen. Kein FBI-Mann mit zehn Dienstjahren auf dem Buckel ließ sich gerne von einem 23-jährigen Bubi mit Sonnenbrille, Knopf im Ohr, Namensschildchen und einer Uzi im Aktenkoffer sagen, was er zu tun hatte. Und trotzdem spielte es sich immer auf diese Weise ab.

»Es ist die übliche Routine, Nick, du kennst das ja. Der Secret Service wird das Personal und die Nahbereichsüberwachung übernehmen. Sie werden ihre eigenen Sicherheitsermittlungen anstellen. Aber wir sind da, um sie zu unterstützen, für sie Störungen durch die lokalen Behörden abzuwimmeln und alle Ermittlungsarbeiten zu übernehmen, die nicht in ihren Zeitplan passen.«

Um ihre Handlanger zu sein, dachte Nick niedergeschlagen.

»Der Direktor ist in diesem Punkt ziemlich unnachgiebig«, fuhr Howdy fort. »Wir haben einiges wieder auszubügeln. Und das wird unser Job sein. Du und ich, Nick, wir sind die Ausbügler. Mit deiner Hilfe werde ich dem Secret Service die Ressourcen unseres Büros in New Orleans zur Verfügung stellen. Im Gegenzug wird man uns zugestehen, einen Teil der Sicherheitsmaßnahmen selbst zu kontrollieren. Und an dem Tag, an dem Blitzlicht eintrifft, werden wir an der Operation beteiligt sein. Das ist eine gute Chance, Nick. Ich dachte mir, dass du daran Gefallen findest, und wenn es gut läuft, werde ich dich im Bericht natürlich lobend erwähnen. Außerdem wirst du auch einen ziemlich großen Handlungsspielraum haben – die Freiheit, die Sache so zu erledigen, wie du es am besten kannst. Und wer weiß? Spielregeln können sich ändern. Vielleicht kommst du so aus deinem Trott heraus.«

»Klar, Howard. Ich weiß die Chance zu schätzen.«

Aber Nick wusste, dass Howard an ihm kleben würde wie billiges Parfüm; so war Howard einfach, so war das FBI. So war es in Tulsa gewesen und so würde es auch hier wieder sein.

»Also, Nick, hast du freie Hand? Bist du bereit, loszulegen? Hap Fencl hat mir gesagt, dass du nichts mehr zu erledigen hast, wenn wir uns treffen. Stimmt das?«

»Mehr oder weniger. Ich hab eine kleine Sache am Laufen, einen Mord, der wahrscheinlich durch militärische Hightech-Ausrüstung ermöglicht wurde. Weißt du, es ist komisch, der Typ war außerdem Salva…«

»Biegen wir hier nicht ab?«

Sie waren gerade an einem Schild vorbeigerauscht, hinter dem man links abbiegen musste, um in die Innenstadt zu kommen.

»Hm?«

»Ich wohne im Hilton. Hätten wir hier nicht abbiegen müssen?«

»Oh, äh, nein, Howard, nicht da lang. Man kommt zwar auf dem Weg hin. Aber um diese Tageszeit gehtʼs schneller, wenn man auf der 61 bleibt und dann die 90 nimmt. Verstehst du?«

»Oh, alles klar. Ist ja deine Stadt. Aber ich wär hier abgebogen«, erwiderte Howdy Duty. Nick glaubte, dass er nicht die Absicht hatte, verstimmt zu klingen. Aber er tat es trotzdem.

KAPITEL 10

In jeder der vier Städte bot er den gleichen Anblick: ein hochgewachsener, schlaksiger Mann in Stiefeln und blauem Jeanshemd, gebügelt und bis obenhin zugeknöpft. Er trug eine Feldjacke mit Daunenfüllung, Tony-Lama-Stiefel aus Wildleder und einen breiten schwarzen Stetson-Hut. In Baltimore hatte er jedoch das Gefühl, mit dem Hut nicht so recht ins Bild zu passen, und ließ ihn daher in seinem Hotelzimmer zurück.

In jeder Stadt nahm er am Flughafen ein Taxi und checkte in einem Mittelklassehotel in der Innenstadt ein. Er aß zurückhaltend und trank keinen Alkohol, und wenn er sich nicht in seinem Zimmer aufhielt und seine Karten studierte, besichtigte er unauffällig die möglichen Anschlagsorte. Er machte sich Notizen, schritt die Entfernungen ab, analysierte den Lichteinfall und die Art, wie die Schattenwinkel sich änderten, während die Sonne über den Himmel wanderte. Er prüfte die Temperatur, die Stärke der vorherrschenden Winde, beobachtete das Zu- und Abnehmen des Straßenverkehrs zum Zeitpunkt des Schusses an den Theatersälen oder Freilichtbühnen, wo der Präsident seine Ansprache halten würde. Er lief endlos um die Gebäude herum, betrat die Eingangshallen, aber er forderte nie sein Glück heraus und versuchte nicht, sich irgendwo unerlaubten Zugang zu verschaffen. Das einzig Auffällige an ihm hielten die meisten Passanten für eine ausgeklügelte Kamera. Tatsächlich handelte es sich um einen prismatischen optischen Entfernungsmesser der Marke Barr & Stroud mit zwei Linsen im Abstand von 80 Zentimetern. Mit ihm konnte er Distanzen mit unfehlbarer Genauigkeit messen.

In jeder Stadt stellte er Dinge fest, die er keiner Karte und keinem Stadtführer entnehmen konnte. Er fand kleine Abweichungen in den Höhenlinien der Hügel von Cincinnati, nicht enorm, aber ausreichend, um einen Schützen zu stören. Er befand sich in größerer Höhe, als er geglaubt hatte, wodurch der Einfluss der Schwerkraft auf die Flugbahn seiner Kugel deutlich zunahm.

In Baltimore fiel ihm die Hartnäckigkeit des Windes auf, der vom Hafen heranblies. Er hatte in Verbindung mit Baltimore nie an Wind gedacht und ärgerte sich über diese Tatsache. In den Stadtführern stand nicht das Geringste darüber, aber die Art, wie die Möwen in der Manier von Kampfhubschraubern über einem brennenden Dorf in der Luft hingen, sagte alles. Er stellte sich vor, wie eine Kugel auf diesen Winden tanzte, unter ihrem Einfluss hierhin und dorthin trieb – womöglich ins Ziel, womöglich auch nicht.

In Washington zogen die Bäume seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Schussbahn, die auf dem Foto des sowjetischen Nachbaus des Anschlagsortes eingezeichnet war, würde durch Bäume führen. Zugegeben, zu dieser Zeit des Jahres bot sich einigermaßen klare Sicht. Aber Bob hielt dennoch die Möglichkeit für problematisch, dass ein kleiner Ast oder Zweig das Geschoss ablenkte. Es glich dem Schuss in einem Labyrinth: Ein großkalibriges Geschoss mit einer Geschwindigkeit von fast 900 Metern pro Sekunde konnte selbst durch kleinste Hindernisse auf die verrücktesten Weisen aus der Bahn gelenkt werden.

Außerdem schätzte er die möglichen Standorte des Schützen in Washington als überaus fragwürdig ein. Das Justizministerium war am nächsten dran, aber der Schusswinkel zum Rasen hinter dem Weißen Haus fiel extrem aus, und falls er von dort schoss – etwa aus 450 Metern Entfernung –, musste T. Solaratov seine Zielperson im Viertelprofil anvisieren. Ein problematischer Winkel, wenn man auf lebenswichtige Organe zielte, ein teuflisch schwerer Schuss, wenngleich Bob einige solcher Schüsse ins Ziel gebracht hatte. Wenn er sich hingegen beinahe 1600 Meter weit weg befand und vom Ministerium für Landwirtschaft aus schoss, bot sich dem Schützen ein wesentlich breiteres und vermutlich auch viel stabileres Ziel, weil der Körper eines Menschen sich während des Sprechens weniger seitlich als vielmehr vor und zurück bewegte.

Trotzdem, aus 1600 Metern Distanz vom Dach eines Regierungsgebäudes durch Bäume zu schießen – ganz zu schweigen von der außerordentlichen Diskretion, die erforderlich war, um den Mann zu diesem Versteck und wieder aus der Stadt herauszubringen –, das schien ihm allein schon von den Begleitumständen die unwahrscheinlichste aller Varianten zu sein.

New Orleans … nun, eine typische Südstaatenstadt, was er zu schätzen wusste; die Luft war lau, der Wind mäßig. Von allen Städten gefiel diese ihm am besten und er fand bald heraus, dass die sagenumwobenen ein, zwei Häuserblocks der Bourbon Street, in denen so viele Filme gedreht wurden, nur einen kleinen Teil des Charmes ausmachten. Die Stadt selbst strahlte eine gewisse unscheinbare Schläfrigkeit aus und den schwarzen Einheimischen haftete immer noch diese elegante Würde an, der man nur im wahren Süden begegnete.

Doch in New Orleans war das Problem die Luft, die einen schweren Hauch von Salzwasser und den dichten, beißenden Moschusgeruch mitführte, den die vielen Meilen matschigen Sumpflands erzeugten. Fast schon tropisches Klima, und obwohl man unter diesen Umständen präzise schießen konnte – das hatte Bob schließlich schon getan –, sorgten sie doch für Verwerfungen, die man einkalkulieren und auf die der Schütze sich vorbereiten musste.

Das war das Interessanteste: Falls sie einen Kaliber-50-Schuss in New Orleans planten, fand Bob, müssten sie dafür eigentlich einen Übungsplatz vor Ort einrichten. Denn jedes sumpfige Ökosystem verfügte über ein individuelles, charakteristisches Klima, das von der Dichte des Salzwassers, der Menge der Sumpfgase und der Stärke der Winde beeinflusst wurde. Einen Schuss in New Orleans konnte man nicht im Irak oder Russland simulieren, abgesehen von den unbedeutenderen Aspekten. Die Übungen müssten sich über einen Zeitraum von mehreren Tagen bei wechselnden Wetterbedingungen erstrecken, um zu prüfen, wie sich die Luftfeuchtigkeit auf das Geschoss auswirkte.

Wäre sicher interessant, dachte er bei sich.

Nach zehn langen Tagen auf Achse endete seine Reise. Bob flog nach Arkansas und kehrte zu seinem Trailer zurück. Wieder fand er ihn so vor, wie er ihn zurückgelassen hatte, und niemand hatte ihn betreten; wieder begrüßte Mike ihn liebevoll mit seiner Schlabberzunge. Er nahm sich etwas Zeit für den Hund, streichelte ihn und gab ihm Zuwendung, kraulte diese samtigen Ohren. Man durfte ein Lebewesen nicht mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnen, aber Bob war gerührt, wie sehr Mike ihn vermisst zu haben schien. So lange hatte er den Hund noch nie alleingelassen. Seine einfältige Liebe schlug ihm aus seinen Augen und seinem heißen Atem entgegen. Das Tier sprang ihn an und stützte sich mit den Pfoten an ihm ab, während er vor Freude verrückt spielte.

»Hey, Junge, Herrchen ist wieder da«, sagte Bob und überraschte sich selbst, als er eine Art Lachen von sich gab. Um die Wahrheit zu sagen, fühlte er sich wirklich verdammt gut. Er war draußen in der Welt gewesen, hatte sich ihr gestellt und war in einem Stück zurückgekehrt, unversehrt. Diese Arbeit und das, was er dabei herausfand, faszinierte ihn; begierig wartete er darauf, wie es weiterging.

Er ging ans Eisfach, fand etwas zu einem ziegelförmigen Klotz gefrorenes Chili und stellte es zum Aufwärmen auf den Herd. Dann duschte er schnell und zog sich eine saubere Jeans, ein Hemd und Stiefel an. Danach machte er mit Mike einen ordentlichen Viermeilenspaziergang. Als er zurückkam, war das Chili schön heiß, wie er es liebte. Er aß schnell und ließ sich von nichts ablenken, leerte dabei einige große Gläser Eistee. Nur für einen Moment vermisste er dabei das Bier, früher als Begleitung zu warmen Mahlzeiten sein liebstes Genussmittel.

Danach fühlte er sich satt und etwas müde. Er ging hinüber zu der Schreibmaschine, die sich schon im Besitz seiner Familie befunden hatte, als sein Großvater damals in den 20er-Jahren Sheriff von Polk County gewesen war. Er fing an, langsam und sorgfältig zu tippen.

Die Leute waren immer überrascht von Bobs sprachlichem Ausdrucksvermögen. Von einem ehemaligen Master Sergeant der Marines, der aus Arkansas stammte, erwarteten sie, dass er sich vollständig blamierte, wenn es ums Schreiben ging – etwa, dass er Großbuchstaben nicht von Kleinbuchstaben unterscheiden konnte, nicht wusste, was in einen Absatz gehört oder worin die Funktion von Satzzeichen wie dem Punkt, dem Doppelpunkt oder diesem verwirrenden Apostroph bestand. Doch er wusste das alles; mehr noch, er wusste, dass er über eine kleine, bescheidene Gabe verfügte, sich klar auszudrücken, und es bereitete ihm immer Vergnügen, das zu tun. Und genau das tat er jetzt.

Er setzte ein 22-seitiges Schreiben auf, in dem er seine Analyse der vier möglichen Anschlagsorte und seine Prognose hinsichtlich T. Solaratovs Entscheidung erklärte. Er wusste natürlich, von wo aus er selbst schießen würde. Das machte ihm ein wenig Angst, weil er sah, wie einfach es ging – wie es trotz aller seit 1963 erzielten Fortschritte, trotz des Ausmaßes, in dem heute jeder in einem Zeitalter des Verfolgungswahns und der Überwachung lebte, immer noch nahezu unmöglich schien, einen Mann mit einem Gewehr aufzuhalten, der über den Willen und die Fähigkeit verfügte, es zu benutzen.

Der Bericht fiel sehr sachlich aus, direkt, auf typisch militärische Art:

Meine Auffassung ist, dass der Täter sein Attentat auf den Präsidenten höchstwahrscheinlich am 1. März dieses Jahres im Louis-Armstrong-Park in New Orleans verüben wird. Er wird ein kupferummanteltes 48,6-Gramm-Geschoss vom Kaliber 50 aus einer Entfernung von schätzungsweise 1100 Metern abfeuern. Wenn es den Präsidenten trifft, wird das Geschoss eine Fluggeschwindigkeit von mehr als 450 Metern pro Sekunde erreicht haben. Das sollte angesichts des Gewichts ausreichen, um jede Art von Schutzweste zu durchdringen, die der Präsident möglicherweise trägt. Der Anschlag wird fast mit Sicherheit gegen Ende der Rede des Präsidenten erfolgen, deren Beginn für 11:30 Uhr angesetzt und für die eine Dauer von 45 Minuten vorgesehen ist. Diese Annahme stützt sich auf drei Gründe.

Ich muss mir einen Vorteil verschaffen. Ich muss einen Weg finden, wie ich diese Jungs daran hindern kann, sich gegen mich zu wenden, falls etwas schiefgeht.