Barbara Laenen

FRANZISKUS,

der fliegende Holländer

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Ode an eine verlorene Liebe

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© by Verlag Kern, Bayreuth

© Inhaltliche Rechte beim Autor

Autorin: Barbara Laenen

Coverbild: Barbara Laenen / ​Melina Zimmermann

Layout / ​Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

1. Auflage /​ 2014

Lektorat: Manfred Enderle

Sprache: Deutsch

Seiten: 178, broschiert

ISBN: 9783957160713

ISBN E-Book: 9783957160607

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.verlag-kern.de

Ode an eine verlorene Liebe

Wüsst´ ich den Weg, den dunklen

Zum Hades tief hinab,

Wo Sein und Nichtsein, einst vereint gedacht,

Getrennt nun, keine Sterne funkeln.

Refrain: Wo,

Refrain: Wo bist du

Refrain: Wo bist du, wo bist du?

Hätt´ ich, wie Orpheus eine Leier,

Ich stieg hinab zu dir

Mit ihrem Zauber dich zu finden

Und erneut an mich zu binden.

Refrain: Wo

Refrain: Wo bist du

Refrain: Wo bist du, wo bist du?

Hab keine Leier, bin Orpheus nicht,

Kenn‘ nicht den Weg ins Dunkel der Nacht

Hab nur meine Liebe unendiglich

Die mich treibt zu suchen mit aller Kraft.

Refrain: Wo

Refrain: Wo bist du

Refrain: Wo bist du, wo bist du?

Weilst du in der Ferne

Ein Bündel geballter Energie

Dann erreich ich dich nie

In der Vielzahl der Sterne.

Refrain: Wo

Refrain: Wo bist du

Refrain: Wo bist du, wo bist du?

Prolog

Mein Leben liegt vor mir, wie ein gewebter Teppich. Höhen und Tiefen sind darin verwoben, in dunklen, traurigen und auch strahlenden, bunten Farben. Nun erst, als Geist kann ich alles vollkommen neutral, objektiv beurteilen.

In meinem Leben war ich stets der Meinung gewesen, Gott hat mich vergessen, oder es gibt ihn vielleicht gar nicht.

76 Jahre lang weilte ich auf dieser Erde, 76 Jahre ist die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes. Sie kann schnell vergehen oder sich unendlich langsam dahinziehen. Letztendlich sehnt man das Ende herbei, um in etwas Neues eintauchen zu können.

Seit fast zwei Jahren weile ich schon nicht mehr in irdischen Regionen. Ziemlich unerwartet bin ich in eine andere Dimension katapultiert worden. Meine Frau schrieb an ihren Memoiren und hatte mir versprochen, auch meine Geschichte zu Papier zu bringen. Dazu hatte sie natürlich eine Menge Informationen nötig. Immer wieder wurde dieses Thema aufgeschoben, bis es schließlich zu spät war.

Sie setzte sich also vor ihren Computer und begann mein Leben zu rekonstruieren, dabei schaute ich ihr über die Schulter zu. Nach den ersten Seiten schrie ich entsetzt:

“Halt! Das stimmt doch so gar nicht. Das war doch ganz anders.“ Sie hörte mich nicht und schrieb unbeirrt weiter. Da musste ich eben zu anderen Mitteln greifen: Ich hieb auf die Tastatur: „Stopp! Überlege erst, bevor du schreibst!“

„Jetzt fängt mein Computer auch schon an zu spinnen. Das wollte ich doch nicht eingeben“, seufzte meine Frau. Dann überlegte sie und kam auf die richtige Lösung. „Funkst du dazwischen, mein Schatz? Wenn du es besser kannst, mache es doch selber.“

Ein Geist ist nun einmal nicht in der Lage zu schreiben. Er braucht ein Medium. Meines war meine zurückgebliebene Hälfte. Sie würde verstehen, was ich ihr einflüsterte, und es würde etwas Vernünftiges dabei herauskommen. Sie konnte sich schon zu meiner Zeit auf Erden gut auf mich einstellen, packte meine Energiequellen und zog sie magisch an. Man kann sagen, der Kontakt zwischen uns war noch nicht abgebrochen. Doch die Zeit drängte. Lange würde diese Nähe nicht anhalten. Irgendwann entfernte ich mich so weit, dass die Kommunikation nicht mehr möglich war. Ich erzählte meine Geschichte, sie brauchte nur gut zuzuhören und zu schreiben. Den Anfang kannte sie nicht, den späteren Teil schon, doch immer nur von ihrer Warte aus. Sie würde erkennen, wie grundverschieden unsere Gesichtspunkte auf ein und dieselbe Sache meistens waren. Später konnte sie dann alles in eine gute Formulierung bringen, denn stilistisch war ich nicht so gut drauf. Ich war ein durch und durch holländischer Geist, der die deutsche Sprache ein wenig holprig beherrschte.

Ich gab die Informationen, nahm den roten Faden der Erinnerung auf und ließ ihn langsam, wie einen Film, abspulen. Dabei achtete ich genau auf das, was da schwarz auf weiß auf dem Papier erschien. Am besten, man beginnt mit der Geschichte seiner Eltern, die unweigerlich vieles im Leben eines Kindes bestimmte.

Kapitel I

Die Hitze war beinahe unerträglich, obwohl die Fensterläden bis auf einen Spalt geschlossen waren, um die Sonne draußen zu halten. Es war die heißeste Zeit des Tages. Hier in Malang, in Indonesien, machte jeder Europäer seine Mittagsruhe, da er sonst bei den tropischen Temperaturen den Tag nur schwer überstehen konnte. Doch von Ruhe konnte bei Det keine Rede sein. Sie lag auf ihrem Bett. Ukri, der Hausboy, stand am Kopfende und versuchte, ihr ein wenig Kühlung zuzufächeln. Der Schweiß rann über ihr Gesicht, über ihren Körper. Die Wehen kamen noch in langen Abständen, in denen sie Zeit hatte, wieder neue Kräfte zu sammeln. Ich war das erste Kind, das sie zustande gebracht hatten, und ich wollte endlich heraus aus diesem engen Käfig. Ich war neugierig auf die Welt da draußen und auf die zwei Menschen, die bald meine Eltern sein würden. Ob ich mit ihnen, oder besser Sie mit mir, klarkommen würden? In ihrem Blickfeld an der Wand hing der holländische Kalender, den ihre Schwester ihr jedes Jahr schickte. Eine Erinnerung an zu Hause. 15. Dezember 1932. In Holland, in ihrem Heimatdorf Oosterbeek, waren sie nun sicher schon mit den Vorbereitungen für Weihnachten beschäftigt. Es begann mit „Sinta Claas“, am sechsten Dezember. Da traf sich die gesamte Familie zum gemütlichen Beisammensein. Schon Wochen vorher hatte man kleine Geschenke zu großen Paketen verpackt. Die Geduld und der Humor wurden auf eine harte Probe gestellt. Neben dem Sessel baute sich ein Berg von Schachteln und Papier auf, bis man endlich das Geschenk fand mit einem selbst gefertigten Gedicht, schön oder nicht schön, je nach Begabung des Verfassers, doch immer mit viel Liebe erdacht! Es war nun schon das zweite Weihnachtsfest, das jeder alleine feierte. Zwischen ihnen lag der weite Ozean mit seiner unendlichen Ausdehnung. Vier Wochen war das Schiff von Rotterdam nach Indonesien unterwegs, ehe es den Hafen von Batavia erreichte. Und doppelt so lange dauerte es auch, ehe man auf seine Briefe Antwort von zu Hause erhielt.

Es war gerade diese Zeit, die meine Mutter am meisten vermisste: das Schmücken des Weihnachtsbaumes und der traditionelle Weihnachtsbraten; Truthahn oder Kaninchen mit Rosenkohl, „Ein Muss“ in jeder holländischen Familie.

Aufgewachsen war sie in einem kleinen Dorf bei Arnheim. Ihre Eltern hatten einen armseligen Hof: Ein Pferd, mehr Freund als Tier, denn es half ihnen bei der schweren Arbeit auf dem Feld, eine Kuh, die sie mit Milch und somit mit Butter und Käse versorgte und etwas Kleinvieh. Das, was sie zum Leben brauchten, bauten sie selber an. Es reichte, die Familie zu ernähren. Det war die Jüngste von acht Schwestern. Fast alle waren bei ihrer Geburt schon aus dem Haus und hatten ihre eigene Familie. Nach ihr kam der letzte Spross, ein Junge, Karel. Mit ihm verband sie ein inniges Verhältnis, schon durch den geringen Altersunterschied bedingt.

Ihr Vater starb früh und hinterließ der Familie nur Schulden. Im Laufe der letzten Jahre hatte man viele neue Anschaffungen für die Landwirtschaft gemacht, keine großen Ausgaben, doch auch die Kleinigkeiten summierten sich und Geld war nie da, also auf „Pump“. Das Vieh wurde verkauft, um die Schulden zu bezahlen. Ihre Mutter ernährte die Familie, indem sie für andere wusch und bügelte, dabei half Det ihr so gut sie es als Kind vermochte. Wenn sie abends mit der Arbeit fertig war, trugen sie zusammen die schweren Körbe mit der Wäsche aus. An den Wochenenden bestickten sie Taschentücher und häkelten Spitzendecken, die sie dann verkauften, ein kleiner Zuverdienst.

Als sie zehn Jahre alt war, verließ sie auch ihre Mutter. Karel wurde von einem reichen Bauern adoptiert, sie selber aber wanderte von einer Schwester zur anderen, wer gerade eine billige Arbeitskraft oder einen Babysitter benötigte. Sie waren nicht immer freundlich und liebevoll zu dem Kind. Meistens bürdeten sie ihr alle schwere und unliebsame Arbeit auf und jagten sie von morgens bis abends durch das Haus:

„Det, das Baby hat noch nicht seinen Brei bekommen“, und kaum hatte sie das erledigt, hieß es: „Det, hast du schon die Zimmer geputzt? Laufe aber vorher noch schnell zum Metzger und zum Bäcker und zum Gemüseladen, damit ich das Mittagessen vorbereiten kann, und auf dem Rückweg kannst du gleich das Fahrrad von meinem Mann abholen, es sollte heute fertig sein.“ Abends fiel sie todmüde ins Bett. Für sich selber hatte sie keine Minute Zeit.

Es war ein hartes Leben, aber es machte sie wetterfest gegen alle Willkür des Schicksals. So leicht konnte sie nichts unterkriegen.

Rie hatte sie noch am liebsten. Als die heiratete, nahm sie ihre kleine Schwester, die jetzt immerhin schon vierzehn Jahre zählte, zu sich.

Nun erst begann das „Leben“ für Det. Rie war Mutter, Schwester und Freundin zugleich, und Grad, ihr Mann, ihr allerbester Freund. Sorgen hatte sie keine mehr, unbelastet konnte sie in den Tag hinein leben, sich mit ihren Freundinnen treffen, in der Stadt bummeln und sich hübsche Sachen kaufen. Sie holte in kurzer Zeit ihre gesamte Kindheit nach!

So hätte es immer weiter gehen können, wenn nicht, wie so oft, die Liebe dazwischengefunkt hätte, in Person meines Vaters Pieter.

Sie lernte ihn bei Freunden auf einer Geburtstagsparty kennen. Er sah gut aus, war intelligent und sehr charmant. Es schmeichelte ihr schon, dass er sich so um sie bemühte. Sie trafen sich öfters und wurden gute Freunde.

Pieter kam aus einer Beamtenfamilie und lebte in Maastricht, im Süden der Niederlande. Die Familientradition forderte, dass jeweils der jüngste Sohn zum Priester ausgebildet wurde. Seinem Vater war es ziemlich gleich, aber seine Mutter war streng katholisch und stand ganz unter dem Einfluss der Kirche.

Pieter wurde auf das Priesterseminar geschickt. Er lernte gerne, besonders Sprachen. Selbst mit Latein hatte er keine Probleme, und so wäre aus ihm wohl ein guter Geistlicher geworden, wenn nicht ein Ereignis sein ganzes Leben völlig verändert hätte.

Man brauchte neue Messgewänder, die von der Wäscherei am Tage zuvor geliefert worden waren. Pieter wurde losgeschickt, sie aus der Wäschekammer zu holen. Bevor er die Tür öffnete, lauschte er irritiert. Seltsame Laute und Geräusche klangen nach draußen. Hier hatte doch niemand etwas zu suchen? Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt. Ein Priester kam in sein Blickfeld, das war doch sein Lateinlehrer! Vor ihm ein Junge, einer von den jüngeren Jahrgängen. Er machte sich an ihm zu schaffen. Erschrocken realisierte er: Das waren entschieden sexuelle Übergriffe! Dieses angstverzerrte Gesicht des Opfers, dem allem hilflos ausgesetzt zu sein, traf ihn tief. In Panik rannte er davon. Man munkelte schon hier und da, dass diese Übergriffe öfters vorkamen, aber Pieter hatte das bisher nur für leeres Geschwätz gehalten. Den Übeltäter anzuzeigen war sinnlos, da machte er sich keine Illusionen. Alle Schwarzröcke, wie er sie bei sich nannte, hielten zusammen und einer deckte den anderen. Man hätte ihm wahrscheinlich nicht einmal geglaubt und das Opfer hatte viel zu viel Angst, als Ankläger aufzutreten. Sein Entschluss stand fest: Er packte seine Sachen, verließ das Seminar und kehrte nach Hause zurück.

Ade, gesicherte Zukunft, ade Leben als Priester, von der Gemeinde ehrfürchtig bewundert.

Erst jetzt machte er sich eigentlich ernsthaft Gedanken darüber, was ihn wohl im Laufe seines Lebens erwartet hätte: auf jeden Fall keine liebevolle Ehefrau und Kinder! Hatte er eine solche Zukunft eigentlich wirklich gewollt? Er atmete erleichtert auf, das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass ihm dieses erspart wurde.

Wie seine Eltern, besonders seine Mutter reagieren würden, konnte er sich lebhaft vorstellen. Sie waren sicher geschockt.

„Na, das kommt schon mal vor“, meinte seine Mutter, als er ihr seine Gründe erörterte, „es betrifft dich doch nicht. Deshalb gleich davonlaufen? Was soll unser Pastor denn von uns denken? Rede mit deinem Vater.“

Als Pieter in dessen Zimmer kam, fand er ihn hinter seiner Zeitung beschäftigt. Eine Weile ließ er ihn stehen, ohne Notiz von ihm zu nehmen. „Was für eine liebevolle und verständnisvolle Familie habe ich doch“, dachte er sarkastisch. Dann endlich musterte ihn sein Vater über seine Brille hinweg und sagte ärgerlich:

„Deine Mutter hat mich schon von allem unterrichtet. Wenn du glaubst, dass du hier zu Hause faul herumhängen kannst, dann irrst du dich gewaltig, hier lies!“ Mit diesen Worten hielt er ihm die Zeitung vor die Nase.

Pieter las die Anzeige, fett gedruckt: „Niederländische Armee sucht Freiwillige für den Dienst in den indonesischen Kolonien.“ Man wollte ihn also loswerden, möglichst weit von zu Hause entfernt. Nannte man das Elternliebe? Er hätte doch auch auf ein Gymnasium überwechseln können und dort sein Abitur machen, diesen Vorschlag hätte er eher erwartet. Hier lief eine ganze Menge schief! Doch blieb ihm überhaupt eine Wahl? Er war gerade mal zwanzig Jahre alt. Konnte er sich da schon zum Militärdienst verpflichten? Er war ja noch nicht einmal volljährig.

Vor Kurzem erst hatte er Det kennengelernt. Es war seine erste Freundin. Dieses Mädchen wollte er nicht gleich wieder verlieren. Also ließ er sich Zeit, um zuerst einmal seine Beziehung zu ihr zu vertiefen und zu festigen. Ein Jahr verging und seine Eltern übten immer stärkeren Druck aus. Eines Tages überrumpelte er Det dann:

„Meine Eltern wollen, dass ich mich beim Militär für den Dienst in Indonesien freiwillig melde. Mir bleibt keine andere Wahl, ich muss fort. Ich will dich aber nicht verlieren. Lass uns heiraten und komm mit mir mit.“

Det war sprachlos. Das musste sie sich in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Dazu brauchte sie Zeit. Pieter war nun gar nicht der Typ, den sie sich als Ehemann und Vater ihrer Kinder erträumt hatte. Als Freund ja, ganz unterhaltsam. Aber liebte sie ihn stark genug, um ihm in eine ungewisse Zukunft zu folgen und dann auch noch so weit von daheim entfernt? Beim ersten Streit hatte sie nicht die Möglichkeit zu Rie zu laufen und sich von ihr trösten zu lassen, war dann mit all ihren Problemen allein gelassen. Von ihren Schwestern kannte sie das. Wie oft kamen sie zu Rie, klagten ihr Leid und gingen danach getröstet, mit guten Ratschlägen versehen, wieder nach Hause.

Es gab da auch noch Jan. Mit ihm war sie aufgewachsen, sie waren enge Freunde. Zwar hatte er ihr nie gesagt, dass er sie liebte, aber sie spürte auch so die innere Verbundenheit. Seine Eltern hatten jedoch eine große Gärtnerei, die er später übernehmen sollte und die hatten andere Pläne mit ihm. Er sollte reich heiraten. Geld kommt zu Geld. Det hatte keine Lust solange zu warten, bis er sich zwischen seinen Eltern und ihr entschieden hatte, sie war immerhin fünfundzwanzig und es wurde so langsam Zeit für sie, selber eine Familie zu gründen.

Pieter würde Sicherheit bieten, genug Geld verdienen, hatte eine feste Stellung mit guten Aufstiegschancen. Rie war auf die Dauer keine Lösung. Aber sie war so gar nicht abenteuerlustig, eher der ruhige Typ, an die Scholle gebunden. Vielleicht war es diese Ruhe und Verlässlichkeit, die Pieter so zu ihr hinzogen? Ihr Entschluss stand fest, sie würde das Risiko eingehen und ihm folgen. Hätte ich ihr damals schon einen guten Rat geben können, der Gärtner wäre mir als Vater lieber gewesen!

Sie stand alleine vor dem Standesbeamten, ohne Mann. Er wurde vertreten durch ihren Schwager Grad, der ihr an seiner Stelle den Ring an den Finger steckte. Er und Rie waren Trauzeugen. Keine Zeremonie von: „Und nun können Sie die Braut küssen!“ Keine romantische Hochzeitsfeier, nur Koffer packen, denn am nächsten Morgen in der Frühe wartete der weiße Ozeanriese im Hafen von Rotterdam auf sie. Vier Wochen waren sie unterwegs, bis sie endlich Java erreichten und sie in Batavia von Bord ging.

Die Wehen setzten nun immer öfter ein. Pieter hatte einen Bediensteten zum Kampong (Dorf) geschickt, um die Hebamme zu holen. Det hatte es abgelehnt, in ein Krankenhaus zu gehen. Sie wollte ihr Kind zu Hause bekommen. Die indonesischen Hebammen halfen täglich so vielen Müttern, ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Ihnen vertraute sie mehr, als den Ärzten.

Sie war wirklich nicht zimperlich, aber nun hatte sie schon seelische und körperliche Unterstützung nötig. Männer standen da nur im Weg. Pieter sah zwar ab und zu nach ihr, man merkte es ihm aber an, dass er nur zu froh war, den Raum wieder verlassen zu können. Er machte den Eindruck, als würde er jede Minute in Ohnmacht fallen: ganz weiß um die Nasenspitze. Dagegen sah sie noch blendend aus. Sie fragte sich wirklich, wer musste hier leiden?

Endlich! Die Hebamme trat ins Zimmer, sie hätte nicht später erscheinen dürfen. Nun ging alles sehr schnell und ich trat mit lautem Gebrüll in das irdische Leben ein. „Hurra! Hier bin ich.“

Kapitel II

Hätte das Schicksal anders entschieden, würde ich vielleicht in der Kälte, in einem Schneesturm meinen ersten Auftritt gehabt haben. So war es das Tropenparadies, eine Welt voller Sonne, Wärme und einer zauberhaften Vegetation.

Wie stolz war meine Mutter auf mich. Ich sah zwar ziemlich verschrumpelt aus, sie würde mich erst herausfüttern müssen. Sie war überglücklich, besaß etwas, was ihr ganz alleine gehörte. Mit keinem Menschen wollte sie ihr Baby teilen.

Mein Vater hätte lieber ein Mädchen gehabt. Er konnte am Anfang nichts mit mir anfangen. Unbeholfen hielt er mich im Arm und reichte mich schnell an meine Mutter weiter. Hier würde es keine Machtkämpfe um mich geben. Det beanspruchte ihren Sohn voll und ganz für sich. Sie würde auch selber ihren Sohn stillen und für ihn sorgen, nicht so, wie die meisten Europäerinnen, die ihre Babys einer eingeborenen Amme überließen, damit ihre Freiheit und das gesellschaftliche Leben nicht zu kurz kamen. Sie sind alle vergnügungssüchtig, dachte Det verächtlich, nur um die Trennung von der Heimat ertragen zu können.

Mein Vater war selten zu Hause. Er war entweder im Dienst oder auf dem Tennisplatz und ließ sich von anderen Frauen den Kopf verdrehen. Was Klugheit und gesunden Menschenverstand betraf, war ihm seine Frau weit überlegen. Sie kannte seine Schwächen und so suchte er seine Selbstbestätigung bei anderen Frauen, die ihn nur all zu gerne bewunderten und damit seinem „Ego“ schmeichelten.

Hatte er sich jemals Gedanken darüber gemacht, wie sehr seine Frau durch dieses Verhalten verletzt sein musste? In einer Gesellschaft, in der die Europäer, besonders die Holländer, eng verbunden waren, blieben keine Geheimnisse verborgen. Wie wütend war Det, wenn die lieben Freundinnen schadenfroh herumerzählten, dass er sogar mit ihrer besten Freundin eine heiße Liebesaffäre gehabt hatte. Kein Wunder, dass sie sich immer mehr von den Frauen distanzierte und den Sinn ihres Lebens in ihrer Familie, bei ihren Kindern suchte.

Ich wuchs in einer Gesellschaft auf, wo der Mann im Mittelpunkt stand und das Zepter führte. Schon durch seinen Beruf war Vater Befehlen gewohnt und das legte er auch zu Hause nicht ab. Die Bediensteten förderten diese Haltung noch. Der Herr, der tuan, war derjenige, dem sie zu gehorchen hatten. Da konnte sich eine Frau nur mühsam durchsetzen. Nach außen ordnete sich meine Mutter ihrem Mann unter, schon alleine, damit „sein Gesicht gewahrt wurde“. Doch in Wirklichkeit regierte sie im Haus. Mein Vater suchte oft ihren Rat bei schwierigen Entscheidungen. Ihrem klaren Verstand vertraute er und folgte immer ihren Ratschlägen.

Man sagt oft, dass eine Mutter-Sohn-Beziehung am intensivsten ist, bei uns beiden traf es voll zu. Und doch wurde ich nicht verwöhnt.

Ich war schon immer äußerst aktiv und Klettern war meine Lieblingsbeschäftigung. Meine Mutter glaubte doch wahrhaftig, dass ich die Gene eines Affen in mir trug. Wer weiß? Vielleicht war ich in der Vorzeit wirklich von einem Ast zum anderen geturnt? Noch waren es nicht die Bäume, die meinen Tatendrang anstachelten, sondern mein engster Lebensraum: mein Bett. Mit den hohen Gitterstäben ideal geeignet für die ersten Versuche. Jeden Tag trainierte ich, kam immer ein Stückchen höher und bald hatte ich beinahe den Gipfel geschafft, nur mit dem Gleichgewicht hatte ich so meine Probleme und landete kopfüber auf dem harten Boden. Das tat verdammt weh! Ich brüllte, als ginge es mir ans Leben. Meine Mutter stürzte herbei und alarmierte sofort meinen Vater, der uns zum Kinderarzt in die Stadt brachte. Über dem Auge hatte ich eine klaffende Wunde, die genäht wurde. In den Tropen sind alle Wunden gefährlich, wegen der hohen Infektionsgefahr. Zurück blieb eine lange Narbe, die ich stolz, wie ein Pirat seine Augenklappe, als Andenken trug.

Ich kostete meiner Mutter manchmal schon den letzten Nerv. Wie Quecksilber war ich einfach nicht zu fassen. Wie gerne hätte sie mich in ihren Armen gehalten und liebkost. Doch kaum hatte sie mich auf ihren Schoß gelockt, entwischte ich wieder. Es gab immer so viel Neues zu sehen. Einmal entdeckte ich einen Leguan, der an der Wand entlang lief: Dreimal rief man seinen Namen: „Tokey, Tokey, Tokey“, das brachte Glück, glaubten die Einheimischen. Neugierig wollte ich ihn natürlich von Nahem begutachten, oder ein paar Käfer marschierten gerade über den Boden. Ich musste doch feststellen, wohin sie verschwanden!

Als ich ein Jahr alt war, wurde mein Vater an die Küste von Sumatra versetzt, nach Kota Radja, einem gottverlassenen Nest. Er hatte sein Offizierspatent erhalten und reiste mit einer Truppe seiner Leute voraus. Mama und ich folgten ihm mit Ukri.

Die Fahrt in dem alten, klapprigen Zug, vollgestopft mit der Landbevölkerung und das alles bei sengender Hitze, war die reinste Folter. Das Schlimmste, ich musste still sitzen bleiben und durfte meine Umgebung nicht untersuchen. Puh, es stank nach Dreck und Schweiß und es war total langweilig!

Mama war wieder schwanger. Sie fühlte sich miserabel. Ich konnte es schon nicht mehr hören: „Frans, bleib endlich ruhig sitzen. Du nervst, ich habe eh schon genug Kopfschmerzen und es geht mir wirklich nicht gut.“ Dann bekam unser Hausboy den undankbaren Auftrag: “Ukri, mach was du willst, aber halte mir den Quälgeist vom Leibe. Ich will versuchen, etwas zu schlafen!“ Er gab sich wirklich alle Mühe, mich zu beschäftigen. Er erzählte mir aufregende Geschichten aus seinem Leben im Kampong, von Begegnungen mit wilden Tieren, die er gehabt hatte. Einmal war er einem Tiger gerade mal so entwischt, indem er blitzschnell auf einen Baum kletterte, der zum Glück in der Nähe stand. Wären einige Dorfbewohner nicht gerade in der Gegend gewesen, die auf sein Rufen schnell zu Hilfe eilten, es hätte schlimm ausgehen können. So trat der Tiger den Rückzug an und sein Leben war gerettet. Ich nahm mir vor, jedem Tiger lieber aus dem Weg zu gehen. Zum Glück ist mir in meinem ganzen Leben nie einer begegnet, es sei denn im Zoo, wo ein gesicherter Abstand uns trennte.

Bei jeder Hängebrücke, die uns den Weg versperrte, hielt der Zug an. Man wusste, was dies bedeutete: Alles aussteigen und zu Fuß hinter dem Zug herlaufen, der im Schritttempo vorausfuhr. Die Konstruktionen sahen aber auch sehr marode aus und einem schwerbeladenen Zug hätten sie bestimmt nicht standgehalten. Ich war viel zu müde, um selber zu laufen. Lieber ließ ich mich von Ukri tragen, der auch noch Mama stützen musste, dabei unser Handgepäck um den Hals und auf den Rücken gehängt hatte. Das konnte man nicht unbeaufsichtigt im Abteil zurücklassen, man hätte es sonst nicht wieder gefunden. Einen ganzen Tag dauerte dieser Trip. Dann ging es mit einem Boot an die Küste Sumatras. Wir waren froh, als wir unser Ziel erreichten, wo Vater uns in Empfang nahm.

Diesmal wohnten wir in einer Hütte auf Pfählen. In der Regenzeit stieg das Wasser so hoch an, dass wir die Wohnung nur noch per Boot verlassen konnten. Ich fand das sehr lustig. Als ich eines morgens mit Mama auf die Veranda trat, schwamm unsere Wäsche, die sie abends zum Trocknen aufgehängt hatte, auf dem Wasser, zwischen Wasserschlangen und anderen Tieren, die sich aufs Trockene retten wollten. Mein Vater fluchte laut, weil Mama von ihm verlangte, mühsam die einzelnen Kleidungsstücke wieder herauszufischen.

Das Klima auf Sumatra war unerträglich. Hier musste man wirklich geboren sein, um das auszuhalten.

Wenn Mama mit mir spazieren gehen wollte, musste dies in den frühen Morgenstunden, gleich bei Sonnenaufgang, geschehen. Später, am Vormittag, kam ein glühend heißer Wind auf, der die Luft zum Atmen nahm. Spätestens dann war es ratsam, wieder im schattigen Haus zu weilen!

Europäer schafften es gerade mal ein Jahr. Dann war eine Versetzung unbedingt notwendig.

Das Meer bot die einzige Abkühlung bei einer Hitze, die jegliche Energie aus dem Körper heraussog und eine leere Hülle vom Menschen zurückließ: keine Lust zu nichts!

Papa wollte mir das Schwimmen beibringen. Es sollte unsere erste Unterrichtsstunde werden.