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1. Auflage August 2014

Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Borja Pindado – www.borjapindado.blogspot.de

Alle Rechte vorbehalten

eBook 978-3-86552-333-4

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Die Straße der Vier Winde

Ferme tes yeux à demi,

Croise tes bras sur ton sein,

Et de ton cœur endormi

Chase à jamais tout dessein.

Je chante la nature,

Les étoiles du soir, les larmes du matin,

Les couchers de soleil à l‘horizon lointain,

Le ciel qui parle au cœur d‘existence future!

I

Das Tier hielt auf der Türschwelle inne, fragend und wachsam und bereit zu fliehen, sollte es nötig sein. Severn legte seine Palette ab und hielt eine Hand zum Willkommensgruß hin. Die Katze blieb reglos, den Blick ihrer gelben Augen auf Severn geheftet.

»Mieze«, sagte er mit seiner leisen, angenehmen Stimme, »komm herein.«

Die Spitze ihres dünnen Schwanzes zuckte unentschlossen.

»Komm herein«, sagte er erneut.

Offenbar fand sie seine Stimme beruhigend, denn langsam ließ sie sich auf allen vieren nieder, den Blick noch immer auf ihn gerichtet, den Schwanz unter die magere Flanke gesteckt.

Er erhob sich lächelnd von seiner Staffelei. Die Katze beäugte ihn lautlos, und als er auf sie zuschritt, sah sie ohne eine Regung zu, wie er sich über sie beugte. Ihr Blick folgte seiner Hand, bis diese ihren Kopf berührte. Dann gab sie ein heiseres Miauen von sich.

Es war seit Langem schon Severns Gewohnheit, mit Tieren zu sprechen, vermutlich weil er so viel allein war; und nun sagte er: »Was ist denn los, Mieze?«

Ihr furchtsamer Blick suchte den seinen.

»Ich verstehe«, sagte er sanft, »dein Wunsch wird sogleich erfüllt.«

Dann machte er sich mit sachten Bewegungen daran, seinen Pflichten als Gastgeber nachzukommen, säuberte eine Untertasse, füllte diese mit der restlichen Milch aus der Flasche auf der Fensterbank und kniete sich hin, um ein Brötchen in der Hand zu zerbröseln.

Das Geschöpf erhob sich und schlich auf die Untertasse zu.

Mit dem Griff eines Spachtelmessers verrührte er Krumen und Milch und schritt zurück, als sie ihre Nase in den Brei stieß. Still sah er ihr zu. Zuweilen klirrte die Untertasse auf dem gefliesten Boden, wenn sie nach einem Bissen am Rand schnappte; und als das Brot schließlich fort war, fuhr sie mit der purpurroten Zunge über jeden unbeleckten Fleck, bis die Untertasse wie polierter Marmor glänzte. Dann setzte sie sich auf, wandte ihm kühl den Rücken zu und begann sich zu putzen.

»Mach du nur«, sagte Severn voller Interesse, »du kannst es gut gebrauchen.«

Sie legte ein Ohr an, drehte sich jedoch weder um noch unterbrach sie ihre Toilette. Als der Schmutz allmählich verschwand, erkannte Severn, dass es sich von Natur aus um eine weiße Katze handelte. Sie hatte stellenweise das Fell verloren, wegen einer Krankheit oder als Folge von Kämpfen, ihr Schwanz war knochig, und das Rückgrat stand deutlich hervor. Doch unter ihrer flinken Zunge wurde nach und nach sichtbar, welche Reize sie besaß, und er wartete ab, bis sie fertig war, bevor er die Unterhaltung wieder aufnahm. Als sie schließlich die Augen schloss und ihre Vorderpfoten unter der Brust verschränkte, fing er wieder ganz sanft an: »Komm, Mieze, erzähl mir von deinem Kummer.«

Beim Klang seiner Stimme begann sie ein heiseres Knurren, das er als Versuch zu schnurren erkannte. Er bückte sich, um ihre Wange zu streicheln, und sie miaute wieder, ein freundliches, fragendes kleines Miauen, auf das er entgegnete: »Gewiss, du siehst schon viel besser aus, und wenn du erst dein Gefieder wiedererlangt hast, wirst du ein prächtiger Vogel sein.«

Äußerst geschmeichelt stand sie auf und stolzierte wieder und wieder um seine Beine, stieß den Kopf dazwischen und gab erfreute Laute von sich, die er mit ernster Höflichkeit beantwortete.

»Na, was hat dich hergebracht«, fragte er, »hierher in die Straße der Vier Winde und ins fünfte Stockwerk genau an die Tür, an der du willkommen bist? Was hat dich von deinem Fluchtvorhaben abgehalten, als ich mich von der Leinwand abwandte, um deinem gelben Blick zu begegnen? Bist du eine Katze des Quartier Latin, wie ich ein Mann des Quartier Latin bin? Und weshalb trägst du ein rosenfarbiges, geblümtes Strumpfband um den Hals?«

Die Katze war ihm auf den Schoß geklettert und saß nun schnurrend da, während er mit der Hand über ihr dünnes Fellkleid strich.

»Bitte entschuldige«, fuhr er mit schläfriger, beruhigender Stimme fort, die so gut zu ihrem Schnurren passte, »wenn ich dir taktlos erscheinen sollte, doch ich kann nicht anders, als über dieses rosenfarbige Strumpfband mit seinem altmodischen Blumenmuster und der silbernen Schnalle nachzusinnen. Die Schnalle besteht nämlich aus echtem Silber; ich kann am Rand den Prägestempel sehen, wie das Gesetz der Französischen Republik es vorschreibt. Aber warum ist dieses Strumpfband aus rosenfarbiger Seide gewirkt und so fein bestickt – warum ist dies seidene Strumpfband mit der Silberschnalle um deinen ausgehungerten Hals geschlungen? Ist es indiskret, zu fragen, ob die Besitzerin des Bandes auch deine Besitzerin ist? Handelt es sich um eine ältliche Dame, die der Erinnerung an jugendliche Eitelkeiten frönt und dich, weil sie in dich vernarrt ist, zärtlich mit ihrem persönlichen Putz schmückt? Die Breite des Bandes lässt darauf schließen, denn dein Hals ist mager, und das Band passt dir. Doch andererseits bemerke ich – und ich bemerke fast alles –, dass man das Band sehr stark dehnen kann. Diese kleinen silbergeränderten Ösen, derer ich fünf zähle, sind der Beweis dafür. Und nun bemerke ich, dass die fünfte Öse abgenutzt ist, als wäre der Dorn der Schnalle für gewöhnlich hier befestigt worden. Das scheint mir für eine wohlgerundete Form zu sprechen.«

Die Katze zog zufrieden ihre Zehen ein. Draußen auf der Straße war es sehr still.

Er murmelte weiter: »Warum sollte deine Herrin dich mit einem Gegenstand schmücken, den sie doch dringend selbst benötigt? Zumindest die meiste Zeit über. Wie kam sie darauf, dir dieses Stück Seide und Silber um den Hals zu binden? War es eine Laune des Augenblicks, als du, bevor du deine ursprünglich wohlgerundete Gestalt verlorst, singend in ihr Schlafzimmer getänzelt bist, um ihr einen guten Morgen zu wünschen? Natürlich, und sie setzte sich vor den Kissen auf, und ihr gelocktes Haar fiel ihr auf die Schultern, als du schnurrend aufs Bett sprangst: ›Guten Tag, meine Dame.‹ Oh, es ist sehr leicht zu begreifen«, gähnte er und neigte den Kopf auf die Sessellehne zurück. Die Katze schnurrte noch immer und streckte die gepolsterten Krallen auf seinem Knie ein und aus.

»Soll ich dir von ihr erzählen, Katze? Sie ist sehr schön, deine Herrin«, murmelte er schläfrig, »und ihr Haar ist schwer wie brüniertes Gold. Ich könnte sie malen – nicht auf der Leinwand, denn ich bräuchte dazu Schattierungen und Farbtöne, Färbungen und Tuschen, herrlicher als der herrlichste Regenbogen. Ich könnte sie nur mit geschlossenen Augen malen, denn im Traum allein finden sich die Farben, die ich brauche. Für ihre Augen bräuchte ich Azur von einem wolkenlosen Himmel – dem Himmel eines Traumlandes. Für ihre Lippen Rosen aus den Palästen in Schlummerland, und für ihre Stirn Schneewehen von Bergen, deren fantastische Gipfel sich bis zu den Monden erstrecken – oh, höher noch als unser Mond hier: die kristallenen Monde des Traumlandes. Sie ist – sehr – schön, deine Herrin.«

Die Worte erstarben auf seinen Lippen, und seine Augenlider fielen zu.

Auch die Katze war eingeschlafen, die Wange auf der verwüsteten Flanke, die Pfoten entspannt und schlaff.

II

»Es ist ein Glück«, sagte Severn und setzte sich auf, um sich zu recken, »dass wir die Abendbrotzeit verschlafen haben, denn ich kann dir nicht mehr zum Essen anbieten, als man mit einem Silberfranken erstehen kann.«

Die Katze auf seinen Knien erhob sich, krümmte den Rücken, gähnte und sah zu ihm auf.

»Was mag es sein? Gebratenes Hühnchen mit Salat? Nicht? Vielleicht bevorzugst du Rindfleisch? Natürlich – und ich werde es mit einem Ei und ein wenig Weißbrot versuchen. Nun zu den Weinen. Milch für dich? Gut. Ich werde etwas Wasser zu mir nehmen, das frisch aus dem Fass kommt«, und er wies auf den Kübel im Spülstein.

Er setzte den Hut auf und verließ den Raum. Die Katze folgte ihm zur Tür, und nachdem er diese hinter sich geschlossen, setzte sie sich hin, schnupperte an den Spalten und legte bei jedem Knarren des abbruchreifen alten Gebäudes ein Ohr an.

Unten wurde eine Tür geöffnet und geschlossen. Die Katze blickte ernsthaft drein, dann zweifelte sie einen Moment lang und legte die Ohren in nervöser Erwartung an. Alsbald erhob sie sich mit zuckendem Schwanz und begab sich auf eine lautlose Besichtigungstour durchs Atelier. Sie schnüffelte an einem Krug mit Terpentin, lief eilends zum Tisch zurück, auf den sie sogleich sprang, und nachdem sie ihre Neugier bezüglich einer Rolle roter Modelliermasse befriedigt hatte, kehrte sie zur Tür zurück und setzte sich hin, die Augen auf den Spalt über der Schwelle gerichtet. Dann erhob sie ihre Stimme zu einer dünnen Klage.

Als Severn zurückkehrte, sah er sehr ernst aus, doch die Katze marschierte erfreut und gefühlvoll um ihn herum, rieb ihren mageren Leib an seinen Beinen, stieß ihren Kopf verzückt in seine Hand und schnurrte, bis ihre Stimme zu einem Maunzen anstieg.

Er legte ein in braunes Papier gewickeltes Stück Fleisch auf den Tisch und schnitt es mit einem Taschenmesser in Stücke. Die Milch entnahm er einer Flasche, in der er früher Arznei aufbewahrt hatte, und goss sie auf den Unterteller auf dem Herd.

Die Katze kauerte sich davor und schnurrte und schlabberte zugleich.

Er kochte sich ein Ei, verzehrte es mit einer Scheibe Brot und sah ihr dabei zu, wie sie sich dem zerteilten Fleisch widmete, und nachdem er fertig war und im Kübel im Spülstein einen Becher Wasser gefüllt und ausgetrunken hatte, setzte er sich hin und nahm sie auf den Schoß, wo sie sich sogleich zusammenrollte und mit ihrer Toilette begann. Er fing wieder zu reden an und berührte sie zuweilen zärtlich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Katze, ich habe herausgefunden, wo deine Herrin lebt. Es ist nicht sehr weit von hier – es ist hier, unter demselben löchrigen Dach, aber im Nordflügel, den ich bislang für unbewohnt gehalten habe. Mein Hausmeister hat es mir erzählt. Durch Zufall ist er heute Abend fast nüchtern. Der Metzger in der Rue de Seine, wo ich dein Fleisch gekauft habe, kennt dich auch, und der alte Bäcker Cabane hat dich mit überflüssigem Spott beschrieben. Sie erzählen mir schlimme Geschichten über deine Herrin, denen ich keinen Glauben schenken will. Sie sagen, sie sei untätig und eitel und vergnügungssüchtig; sie sagen, sie sei verrückt und rücksichtslos. Der kleine Bildhauer im Erdgeschoss, der bei Cabane gerade Brötchen kaufte, hat mich heute Abend zum ersten Mal angesprochen, obschon wir uns stets gegrüßt haben. Er sagte, sie sei eine gute und schöne Frau. Er habe sie nur einmal gesehen und kenne ihren Namen nicht. Ich dankte ihm – ich weiß nicht, warum ich ihm so herzlich dankte. Cabane sagte: ›In diese verfluchte Straße der Vier Winde wehen die vier Winde alle bösen Dinge.‹ Der Bildhauer sah verwirrt drein, doch als er mit seinen Brötchen hinausging, sagte er zu mir: ›Ich bin mir sicher, Monsieur, dass sie ebenso gut wie schön ist.‹«

Die Katze hatte ihre Toilette beendet und war auf den Boden gesprungen; nun ging sie zur Tür und schnupperte. Er kniete sich neben sie, löste das Strumpfband und hielt es einen Augenblick lang in den Händen. Nach einer Weile sagte er: »Da ist ein Name auf die Silberschnalle unter der Lasche graviert. Es ist ein hübscher Name, Sylvia Elven. Sylvia ist der Name einer Frau, Elven der einer Kleinstadt. In Paris und vor allem in diesem Viertel, in dieser Straße der Vier Winde, trägt man Namen und legt sie wieder ab, wie man mit den Jahreszeiten die Mode wechselt. Ich kenne das Städtchen Elven, denn dort traf ich das Schicksal von Angesicht zu Angesicht, und das Schicksal war herzlos. Doch wusstest du, dass in Elven das Schicksal einen anderen Namen trägt, und zwar den Namen Sylvia?«

Er legte ihr das Strumpfband wieder an, erhob sich und sah auf die Katze hinab, die vor der geschlossenen Tür kauerte.

»Der Name Elven birgt einen gewissen Zauber für mich. Er erzählt mir von Weiden und klaren Flüssen. Der Name Sylvia verstört mich wie der Duft toter Blumen.«

Die Katze miaute.

»Ja, ja«, sagte er beruhigend, »ich werde dich zurückbringen. Deine Sylvia ist nicht die meine; die Welt ist weit, und Elven ist nicht unbekannt. Doch hier in Finsternis und Schmutz des ärmeren Teiles von Paris, in den trübseligen Schatten dieses uralten Hauses, sind mir jene Namen sehr angenehm.«

Er nahm sie auf den Arm und schritt durch den stillen Gang zur Treppe. Fünf Stockwerke hinunter und hinaus auf den vom Mond erhellten Hof, vorbei am Arbeitszimmer des kleinen Bildhauers und dann wieder hinein durch die Tür des Nordflügels und die wurmzerfressenen Stufen hinauf, bis er an einer verschlossenen Tür anlangte.

Nachdem er längere Zeit angeklopft hatte, bewegte sich etwas hinter der Tür; sie wurde geöffnet, und er trat ein. Das Zimmer war dunkel. Als er über die Schwelle trat, sprang die Katze von seinem Arm in den Schatten. Er lauschte, hörte jedoch nichts. Die Stille war bedrückend, und er entzündete ein Streichholz. Neben ihm stand ein Tisch und darauf eine Kerze in einem vergoldeten Leuchter. Diese zündete er an und sah sich dann um.

Das Gemach war von gewaltigen Ausmaßen, die Wandbehänge schwer von Stickereien. Über der Feuerstelle erhob sich ein geschnitzter Kaminsims, grau von der Asche toten Feuers. In einem Alkoven neben den tief eingelassenen Fenstern stand ein Bett, von dem die Wäsche, sanft und fein wie Spitze, auf den polierten Boden hing. Er hob die Kerze über den Kopf. Ein Taschentuch lag zu seinen Füßen. Es verströmte einen schwachen Duft. Er wandte sich dem Fenster zu. Davor stand ein Kanapee, auf das unachtsam ein seidenes Gewand, ein Haufen Spitzenwäsche, weiß und zart wie Spinnweben, und lange und zerknüllte Handschuhe geworfen waren, und auf dem Boden davor lagen Strümpfe, kleine spitze Schuhe und ein Strumpfband von rosenfarbiger Seide mit altmodischem Blumenmuster und einer silbernen Schnalle. Fragend trat er vor und zog die schweren Vorhänge am Bett zurück. Einen Moment lang flackerte die Kerze in seiner Hand; dann begegnete sein Blick dem anderer Augen, weit geöffnet und lächelnd, und das Licht der Kerze ergoss sich über Haar so schwer wie Gold.

Sie war blass, doch nicht so blass wie er; ihre Augen waren so ungetrübt wie die eines Kindes; doch er starrte und zitterte am ganzen Leib, während in seiner Hand die Kerze flackerte.

Endlich flüsterte er: »Sylvia, ich bin es.«

Wieder sagte er: »Ich bin es.«

Als er dann verstand, dass sie tot war, küsste er sie auf den Mund. Und während der langen Nachtwache schnurrte die Katze auf seinen Knien und streckte die gepolsterten Krallen ein und aus, bis der Himmel grau wurde über der Straße der Vier Winde.