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Millie Criswell

Süße Lügen

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ingrid Klein

Edel eBooks

1

Kindheit ist das, was Sie den Rest Ihres Lebens zu überwinden versuchen.

Eine zweite Chance

Mia DeNero hielt die Banane, die sie sich zum Mittagessen gekauft hatte, wie ein Mikrofon in der Hand und sang aus voller Kehle den Sechziger-Jahre-Song »Creeque Alley« von The Mamas and the Papas mit, der gerade aus dem Autoradio plärrte: »Broke, busted, disgusted, parents can’t be trusted. And Mia wants to go the sea …« Den letzten Teil des Songs hatte sie leicht verändert, um ihn ihrer beklagenswerten Lage anzupassen.

Genau genommen war ihre Lage nicht richtig beklagenswert, nur enttäuschend. Die Art von Enttäuschung, bei der einem jedes Mal schlecht wird, wenn man glaubt, dass man scheitern könnte.

Sie hatte sich, trotz heftiger Proteste ihrer Eltern, endlich mit ihrem Sicherheitsdienst Der Schutzengel selbstständig gemacht und ihr Büro in einem alten, übel riechenden, aber freien Ladenlokal auf der Eastern Avenue eröffnet. Hier war vorher ein Fish-and-Chips-Restaurant gewesen, und es roch immer noch unangenehm säuerlich und nach altem Fett. Aber die Miete war niedrig, und was anderes konnte sie sich momentan nicht leisten.

»Greasin’ on American Express cards …«

Ha! Stimmte das etwa nicht? Ihre Kreditkarten wären schon sehr bald überzogen, und dann hätte sie ein echtes Problem. Dennoch war sie finster entschlossen, sich keinen Cent von ihren Eltern oder von Angela zu borgen, obwohl ihre große Schwester ihr mehrfach Hilfe angeboten hatte. Aber Mia war zu stolz, die ausgestreckte Hand zu ergreifen, und wollte es unbedingt allein schaffen.

Scheitern kam überhaupt nicht in Frage.

Kenne ich schon!

Irgendwer musste sie doch einfach engagieren wollen. Da sie noch neu im Viertel war und nicht auf Weiterempfehlungen setzen konnte, hatte sie vor mehr als zwei Wochen in der örtlichen Zeitung, The Baltimore Sun, eine Anzeige aufgegeben. Zusätzlich hatte sie in allen Geschäften der Gegend Werbezettel ausgelegt in der Hoffnung, dass jemand ihre Dienste benötigte oder ihr hilfsbedürftige Freunde oder Bekannte nennen konnte.

Natürlich war Little Italy nicht gerade die Verbrechenshauptstadt der Welt. Vielleicht brauchten hier nicht allzu viele Leute Schutz. Aber ein einziger Schutzsuchender täte es ja auch schon.

Mia ließ sich auf den wackeligen alten Drehstuhl fallen, den sie bei Carbonis Gebrauchtmöbel gekauft hatte, legte ihre Füße auf den gleichermaßen schäbigen grauen Metallschreibtisch und schälte ihre Banane. Da sich ihre Schmetterlaune inzwischen verflüchtigt hatte, biss sie kräftig in ihr »Mikrofon« und kaute.

Sie blickte sich um in ihrem kleinen Büro und war nicht gerade begeistert angesichts des schwer verbeulten Ablageschranks aus Metall, des hässlichen Stuhls vor ihrem Schreibtisch und der grässlichen krummen und schiefen Jalousien vor ihrem Fenster, die sie vor ihrem Einzug versucht hatte zu putzen, was die Sache aber nur verschlimmert hatte.

Alles in allem nicht gerade ein Ort, der vertrauenerweckend auf potenzielle Klienten wirkte, es sei denn, es handelte sich dabei um Jack the Ripper. Immerhin bescheinigte ihr das eingerahmte Diplom an der Wand, dass sie eine Bodyguard-Ausbildung an der Sicherheit-und-Schutz-Schule in Towson, Maryland, absolviert hatte. Unterzeichnet war das Diplom von Mike Hammersmith, ihrem Lehrer, dem Mann, den sie bei Schießübungen eines Tages beinahe erschossen hätte.

Mia war ein bisschen kurzsichtig – okay, ziemlich kurzsichtig –, was das Schießen, unabhängig aus welcher Distanz, etwas problematisch machte. Aber sie war weit davon entfernt, sich von einer solchen Kleinigkeit abschrecken zu lassen. Sie trug jetzt Kontaktlinsen, wenn auch nicht gern.

Während sie ihr so genanntes Mittagessen futterte, was ihre Mutter bestimmt als ungenügend gerügt hätte – Rosalie DeNero war der Meinung, dass jeder Mensch täglich mindestens zehntausend Kalorien vertilgen sollte –, konzentrierte Mia sich voll und ganz auf die Eingangstür und betete geradezu darum, dass jemand auftauchte.

Ob ein Klient oder nicht war ihr ehrlich gesagt piepegal. Tag für Tag in dem winzigen Büro zu sitzen und darauf zu warten, dass das Telefon klingelte oder irgendein Lebewesen sich blicken ließ, machte nicht nur einsam, es war auch verdammt langweilig, deprimierend und völlig entmutigend.

Hatte sie schon langweilig erwähnt?

Jedenfalls, als die Eingangstür tatsächlich geöffnet wurde, war Mia so verblüfft, dass sie sich etwas zu hastig ordentlich hinsetzen und gleichzeitig die Füße vom Schreibtisch nehmen wollte. Schließlich musste sie sich dem Besucher, wer auch immer es war, in der bestmöglichen Weise präsentieren. Dabei stieß sie den alten Stuhl so heftig zurück, dass der zusammen mit ihr umkippte.

Und so sah Niccolò Caruso sie zum ersten Mal.

Nick beugte sich über den Schreibtisch, um sich zu vergewissern, dass der so urplötzlich aus seinem Blickfeld verschwundenen Frau nichts passiert war. Gerade eben noch aß sie eine Banane, und im nächsten Moment … Bums! Weg.

»Alles in Ordnung?« Er rückte seine Brille zurecht, streckte eine Hand aus und verkniff sich ein Lächeln. Mia DeNero mit ihren braunen Wuschellocken war zwar knallrot geworden, schien aber ansonsten unverletzt zu sein.

»Ja, danke. Ich habe ein bisschen vor mich hin geträumt und war nicht auf Besuch vorbereitet. Sie können mir glauben, normalerweise bin ich nicht so tollpatschig«, sagte sie und versuchte, gleichzeitig ihren Stuhl aufzurichten und ihre Jeans abzuklopfen. »Was kann ich für Sie tun?«

Nick starrte diesen Knirps von einer Frau an und fragte sich gerade das Gleiche. Barfuß war sie bestimmt kaum größer als ein Meter achtundfünfzig. Seine Idee, Mia DeNero als Bodyguard zu engagieren, war vielleicht ein klein wenig zu übereilt gewesen.

Was heißt hier übereilt! Es war völlig bescheuert!

Aber er hatte einen Job zu erledigen, und sie würde ihm dabei helfen.

»Ich brauche Schutz, Miss DeNero. Ich habe Ihren Flyer gelesen, und der war wie die Antwort auf mein Gebet.« Nick hoffte, dass er beknackt genug klang. Ihm selbst wurde jedenfalls schon richtig schlecht von seinem Gesülze.

Mia DeNero faltete ihre Hände auf dem Schreibtisch und gab sich alle erdenkliche Mühe, professionell und abgeklärt zu wirken. Leider klebte ein Klümpchen Banane auf ihrer frechen kleinen Nasenspitze. Nick beugte sich vor und wollte ihr mit seinem Taschentuch zu Hilfe kommen. »Gestatten Sie. Es sieht so aus, als würden Sie immer noch Ihr Mittagessen tragen.«

»Oh, du liebe Güte!« Sie zuckte zurück, fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und verschmierte anschließend die Banane an ihrer Jeans.

Nick musterte sie belustigt.

»Ich bin sicher, dass Sie mich für einen Volltrottel halten, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich ausgebildeter Bodyguard und sehr gut in meinem Job bin.« Na ja, davon war sie zumindest felsenfest überzeugt, sie brauchte nur noch einen Klienten, um das unter Beweis zu stellen.

Er setzte sich, betrachtete sie leicht ungläubig und verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. »Wirklich? Und wie viele Klienten haben Sie im vergangenen Jahr beschützt, Miss DeNero? Haben Sie irgendwelche Referenzen?«

Sie schüttelte den Kopf und wurde rot. »Nun ja, nein. Genau genommen sind Sie mein erster Klient. Ich habe meinen Sicherheitsdienst gerade erst eröffnet. Aber Sie haben insofern Glück, weil ich Ihnen deshalb nicht nur meinen speziellen Einführungstarif anbieten, sondern mich auch voll und ganz Ihnen widmen kann.« Sie hoffte, dass er beeindruckt war. Er wirkte nicht sonderlich beeindruckt. Eventuell sollte sie ihm vorsichtshalber noch eine Pizza spendieren oder so.

Er rieb sich das Kinn. »Ich verstehe.«

Mia zog energisch ihren gelben Schreibblock zu sich herüber und griff nach einem Kuli, da sie nicht die Absicht hatte, ihren ersten Klienten entwischen zu lassen. »Beginnen wir mit Ihrem Namen und dem Grund, warum Sie einen Bodyguard brauchen.«

»Ich heiße Niccolò Caruso. Vielleicht haben Sie von mir gehört? Ich bin Schriftsteller.«

Ein Schriftsteller! Wie imponierend! Darauf hätte Mia allein schon durch die Brille mit dem dicken Gestell und das hässliche Tweedjackett kommen können. Tweed! Sie rümpfte die Nase. Schon der Name war der Horror und beschwor alte Sherlock-Holmes-Filme herauf.

»Ich fürchte nein. Ich habe nicht viel Zeit zum Lesen.« Einen Mangel, den sie beabsichtigte zu korrigieren. Irgendwann. Vielleicht. Im Aufschieben von Dingen war Mia eine wahre Meisterin. »Was für Bücher schreiben Sie denn?«

»Hauptsächlich Sachbücher. Hin und wieder habe ich auch den Versuch gestartet, richtige Krimis zu schreiben. Und es ist kein Wunder, dass Sie noch nie eines meiner Werke gelesen haben. Meine Bücher sind bedauerlicherweise vergriffen. Aber momentan arbeite ich an einem Exposee über die Mafia, und ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Buch meiner Karriere neuen Auftrieb verschafft.«

Mias Augen weiteten sich. »Wirklich? Haben Sie denn keine Angst?«

»Na ja, doch. Vor allem, weil man mich schon bedroht hat.«

Sie schnappte nach Luft. »Sie versuchen, Sie zum Schweigen zu bringen.«

»Richtig. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern. Ich habe die Absicht, mein Buch zu Ende zu schreiben, und pfeife auf die Konsequenzen. Deshalb bin ich hier, Miss DeNero. Ich hoffe, dass Sie mir helfen können.«

Mias Herz klopfte so schnell, dass es sich wie ein flatternder Kolibri anfühlte. Die Mafia war echt der Wahnsinn. Wenn sie das hier durchziehen konnte – okay, die Chancen waren nicht sehr groß, aber ihr Motto war von Anfang an »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt« gewesen. »Natürlich helfe ich Ihnen. Ich kann Ihnen Rund-um-die-Uhr-Schutz anbieten, und zwar sieben Tage die Woche, bis Ihr Buch fertig ist. Leben Sie hier in Baltimore?«

»Ja. Wie läuft so etwas denn normalerweise ab? Ich habe noch nie einen Leibwächter engagiert.«

»Normalerweise läuft es so, dass ich in Ihre Räumlichkeiten ziehe und bei Ihnen lebe.«

»Hmmm. Also, das klingt gut, wenn Sie bereit sind, meine ältliche Tante zu erdulden. Sie ist ein ziemlich streitsüchtiges altes Haus, und na ja … es ist mir etwas peinlich, aber ich muss gestehen, dass das Haus etwas merkwürdig riecht. Aber daran gewöhnen Sie sich natürlich mit der Zeit.«

»Merkwürdig? Was soll das heißen?«

»Tante Bertrice ist ein echter Fan von Wick VapoRub, und das ganze Haus riecht danach. Und dann ist da noch dieser andere –«

Mia hob vorsichtshalber die Hand, weil sie befürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn er fortführe. Sie hatte das deutliche Gefühl, zu wissen, um was es sich bei diesem »anderen« Geruch handelte. »Schon gut. Ich glaube, ich habe eine Vorstellung.«

Verdammt! Was sollte sie bloß machen? Auf keinen Fall würde sie in das stinkende Haus einer alten Frau ziehen. Aber die Vorstellung, einen Mitbewohner zu bekommen, war ebenso abscheulich. Ihre letzten beiden Mitbewohner waren die reine Katastrophe gewesen. Keine Privatsphäre mehr, der Kühlschrank regelmäßig gähnend leer. Auf keinen Fall!

»Wie wäre es, nebeneinander liegende Hotelzimmer zu buchen? Das wäre doch eine Idee.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein. In solcher Umgebung kann ich nicht schreiben. Ich brauche völlige Abgeschiedenheit und Ruhe während der Arbeit. Ablenkungen jedweder Art schätze ich gar nicht.«

Verdammter Mist aber auch! Es sah so aus, als hätte sie keine andere Wahl. Mia hörte sich sagen: »Ich schätze, Sie könnten vorübergehend zu mir ziehen. Aber ich muss Sie warnen, Mr. Caruso, meine Wohnung ist klein. Ich wohne über dem Restaurant Mama Sophia’s hier in Little Italy. Ob es ruhig genug für Sie ist, keine Ahnung. Und meine Vermieterin ist ein ziemlicher Drachen.« Eine Riesenuntertreibung. Donatella Foragi war ein hundert Kilo schwerer lebender Alptraum. Sie schaffte es, dass einem das Bates Motel als geradezu paradiesischer Ort vorkam.

»Ihr Angebot ist sehr großzügig, Miss DeNero, und ich nehme es dankend an. Ich biete Ihnen dreitausend Dollar pro Monat für Ihre Dienste und die anteiligen Mietkosten. Ich muss schon sagen, dass ich wirklich Angst habe vor diesen Ganoven.«

»Dreitau –« Sie schnappte nach Luft. Dreitausend Dollar pro Monat würden all ihre drückenden finanziellen Probleme lösen. Der Typ musste steinreich sein. Sie hätte ihm allerhöchstens tausend Dollar berechnet, aber sie dachte nicht daran, ihm das auf die Nase zu binden.

»Das scheint mir ein fairer Preis zu sein. Müssen wir bei Ihnen vorbeifahren, um Ihre Sachen abzuholen?«

Hast du noch alle Tassen im Schrank, Mia? Willst du wirklich einem völlig Fremden, den du eben erst kennen gelernt hast, erlauben, bei dir einzuziehen? Ein Mann, von dem du nicht das Geringste weißt? Caruso könnte ein Serienvergewaltiger oder -mörder sein.

Obgleich er bei näherer Überlegung eher wie ein serienmäßiger Blödmann aussah. Er hatte auf jeden Fall ein echtes Kleidungsproblem, auch wenn sie sich diese Kritik eigentlich nicht erlauben durfte. Aber Jeans wären in jedem Fall besser als – was trug er da eigentlich, Cordhosen? Du liebe Güte! Der Mann war ja eine regelrechte Witzfigur. Ihm fehlte nur noch ein Schottenrock zur Abrundung.

»Ist irgendetwas, Miss DeNero? Sie wirken ein wenig besorgt.«

»Woher weiß ich, dass Sie der sind, der Sie vorgeben zu sein? Können Sie sich ausweisen? In meinem Beruf kann man nicht vorsichtig genug sein, Mr. Caruso. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen.«

»Ich müsste Ihnen sogar einen Vorwurf machen, wenn Sie es nicht wären.« Nick zückte seine Brieftasche und zeigte Mia seinen Führerschein. Seine Brieftasche war prall gefüllt mit Hundertdollarscheinen, was der jungen Frau nicht verborgen blieb, deren Pupillen sich weiteten.

»Sie müssen auf der Couch schlafen. Ich habe nur ein Schlafzimmer.«

»Das ist kein Problem.«

Überraschung, Überraschung! Allem Anschein nach war er wirklich kein normaler Mann, dachte sie. Schließlich lebte er immer noch bei seiner alten Tante. Welcher Mann tat das schon? Zugegeben, die alte Dame konnte krank sein, was aus ihm einen pflichtbewussten Neffen machte. Andererseits – »Miss DeNero?«

Mit einem herzlichen Lächeln streckte sie die Hand aus und besiegelte ihr Abkommen. Als sie seinen ziemlich kräftigen Händedruck spürte, verblüffte sie ein kleines elektrisierendes Kribbeln im Arm. »Ich bin sicher, dass sich unser Arrangement für uns beide als vorteilhaft erweist, Mr. Caruso. Sie sind in guten Händen.«

Sein Daumen fuhr leicht über ihren, und Mia musste plötzlich schlucken. »Das sehe ich. Ich glaube, es fängt an, mir zu gefallen, meinen ureigenen Schutzengel zu haben.«

»Oh, da bin ich mir sicher. Ich kann sehr entgegenkommend sein.«

Nicks Lächeln hatte beinahe etwas Verführerisches. »Damit rechne ich ganz fest, Miss DeNero.«

»Ich fasse es nicht, dass du jemanden, den du überhaupt nicht kennst, bei dir einziehen lässt! Hast du den Verstand verloren? Warte nur, bis Mom das hört. Sie wird total aus dem Ruder laufen.«

Als ob das etwas Neues wäre!

Rosalie DeNero war ein Mensch, der dem Wort Hysterie eine völlig neue Bedeutung gab. Bis vor kurzem glaubte ihre Mutter noch fest daran, dass der Weltuntergang kurz bevorstand. Neuerdings machte sie sich nur noch wegen Nebensächlichkeiten pausenlos Sorgen.

Hast du genug Toilettenpapier, Mia?

Ziehst du dich auch ordentlich an, wenn du aus dem Haus gehst?

Hast du daran gedacht, deine Elektrorechnung zu bezahlen?

Abgrundtief seufzend musterte Mia ihre ältere Schwester, die hinter einem beeindruckenden Mahagonischreibtisch saß, einem völlig anderen Teil als Mias gebrauchte Krücke. Angela war Rechtsanwältin, Partnerin in der Kanzlei Stefano, Franco und Franco und verheiratet mit John Franco, einem der Firmenpartner.

Als Schwarzseherin witterte Angela überall Böses. Sie war auch eine dieser Frauen, die sogar schwanger noch gut aussahen. Mia nahm an, dass sie selbst wie ein Nilpferd aussehen würde, sollte sie jemals schwanger werden. Nicht dass damit in absehbarer Zeit zu rechnen war. Allein schon bei der Vorstellung, ein Baby zu erwarten, bekam Mia Hautausschlag.

In der achten Klasse war die Mutter ihrer besten Freundin Sarah Rafferty bei der Geburt gestorben. Mrs. Rafferty war damals erst einunddreißig gewesen – genauso alt wie Mia heute.

»Ich habe ihn überprüft«, antwortete Mia, aber Angela blieb skeptisch.

»Wie denn, wenn du diese Frage gestattest?«

Sie zuckte die Achseln und versuchte, ganz lässig zu klingen. »Die üblichen Methoden – nach dem Augenschein, dem Führerschein … Habe ich dir schon gesagt, dass Caruso Schriftsteller ist? Die öffentliche Aufmerksamkeit allein durch diesen Fall kann meinen Laden mit einem Schlag bekannt machen.«

Angela stand auf, zupfte den Saum ihrer grünen Schwangerschaftsbluse zurecht, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich in den Sessel neben Mia. »Hast du seine Nummernschilder überprüfen lassen bei der Kfz-Zulassungsstelle in Maryland? Er könnte sich falsche Nummernschilder besorgt haben.«

»Oh, um Himmels willen, Angela! Hör auf, mir zu sagen, wie ich meinen Job zu machen habe. Ich bin schließlich ausgebildet worden dafür, falls du es vergessen haben solltest.« Ihre Schwester verdrehte die Augen, und prompt fühlte Mia sich veranlasst hinzuzufügen: »Ich weiß, dass du eine Spitzenanwältin und klüger bist als ich, aber du kannst mir ruhig vertrauen, dass ich weiß, was ich tue.«

»Das heißt also nein.«

»Niccolò Caruso ist Schriftsteller. Wenn du gesehen hättest, wie er sich kleidet, Angie, wüsstest du, dass er total harmlos ist. Habe ich schon erwähnt, dass er Cordhosen trägt?« Angela machte große Augen, und Mia lächelte selbstgefällig. »Caruso lebt bei seiner ältlichen Tante. Er ist weder ein sexuell Abnormer – das will ich doch schwer hoffen – noch ein Serienmörder. Meine Instinkte sagen mir, dass Niccolò Caruso genau der und das ist, wofür er sich ausgibt.«

Blödmann. Trottel. Megatrottel.

»Ich brauche diesen Job. Ich habe bereits fast meine gesamten Ersparnisse aufgebraucht. Und da Mrs. Foragi schließlich auch mal deine Vermieterin gewesen ist, weißt du sehr gut, dass sie nicht mehr sehr viel länger auf die überfällige Kaution wartet.«

»Ich kann dir –«

»Nein!« Mia schüttelte energisch ihren Kopf, und ihre Locken flogen in alle Richtungen. »Ich schaffe das allein. Ich muss mir beweisen, dass ich das hinkriege. Und ich muss Dad und jedem, der an mir zweifelt, beweisen, dass ich nicht die schusselige, impulsive Frau bin, für die mich alle halten.«

Angelas Züge wurden weicher, und sie drückte Mia die Hand. »Aber Mia, du weißt, dass das nicht stimmt. Wir lieben dich. Dad liebt dich. So denkt er nicht über dich.«

»Ach nein? Das ist mir neu. Dad hält mich für eine Spinnerin, für eine komplette Idiotin, und zwar nur, weil ich einige ziemlich unorthodoxe Jobs gehabt habe in den vergangenen Jahren.« Okay, vielleicht war es echt nicht das Gelbe vom Ei gewesen, Bulldozer-Fahrerin auf einer Autobahnbaustelle zu sein. Aber sie hatte durchgehalten, hatte bewiesen, wenn auch nur sich selbst, dass sie mit Männern auf gleicher Ebene konkurrieren konnte. Nicht gerade eine Kleinigkeit, wenn der gesamte Bautrupp dir den Spitznamen »Krümel« verpasst hatte.

»Ich bin ja auf deiner Seite, aber ich fürchte, dass du dich in diesem Fall übernommen hast. Die Mafia lässt nicht mit sich spaßen, Mia. Diese Kerle meinen es ernst. Sei realistisch. Du bist nicht gerade ein großes Hindernis. Wenn sie diesen Caruso wollen, finden sie einen Weg. Hast du nicht Der Pate gesehen? Weißt du nicht mehr, wie sie Sonny am helllichten Tage mit Kugeln durchlöchert haben?«

»Natürlich erinnere ich mich. James Caan war so süß. Weißt du noch, als er die Wie-hieß-sie-noch-gleich gevögelt hat – na, egal.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie kriegen Caruso aber nicht. Nicht, solange ich ein Wörtchen mitzureden habe. Ich habe eine Pistole, vergiss das nicht.«

»Wie könnte ich? Soweit ich mich erinnere, musste ich dich vor Gericht vertreten, als Mr. Hammersmith versuchte, dich aus dem Bodyguard-Kursus zu feuern. Was ich ihm wirklich nicht ernsthaft zum Vorwurf machen kann. Du hast diesen Mann beinahe umgebracht.«

»Das war nicht mein Fehler. Woher sollte ich wissen, dass ich kurzsichtig bin und eine Brille brauche?«

Angela verschränkte die Arme. »Danke für das Stichwort – warst du inzwischen beim Augenarzt?«

Mia nickte. »Ich trage jetzt Kontaktlinsen.« Sie hatte sich bisher nicht für eitel gehalten, aber jede Brille, die sie beim Optiker aufprobierte, ließ sie wie einen Ochsenfrosch an der Schwelle des Todes aussehen, so dass sie sich für Kontaktlinsen entschieden hatte.

»Sei einfach vorsichtig, okay? Ich möchte nicht plötzlich aus der Zeitung über dein Ableben erfahren. Wer würde meine Streitereien mit Mom und Dad schlichten, wenn du nicht mehr da bist?« Angela schauderte es bei dieser Vorstellung.

»Jetzt, wo du verheiratet bist, brauchst du meine Hilfe nicht mehr. Mom hält John für den Inbegriff des Schwiegersohns, und Dad versucht tapfer, seine Ensembles nicht ganz so schrill zu gestalten, wenn ihr zu Besuch kommt.«

Angela lachte. »Ein ziemliches Opfer, muss ich sagen.«

Sam DeNero, ein Excop, lebte seit seiner Pensionierung von der Bostoner Kriminalpolizei in Baltimore. Sein Modegeschmack unterschied sich etwas von dem der meisten Männer – er trug mit Vorliebe Frauenkleidung, die er übers Internet bei Home Shopping Network bestellte. Sam hatte eine echte Schwäche für Pailletten und Rheinkiesel. An seinen besten Tagen sah er aus wie eine Barbiepuppen-Karikatur.

»Dad sollte sich mit Kritik an mir etwas zurückhalten, er hat schließlich seine eigenen Probleme.«

»Dad glaubt aber nicht, dass er ein Problem hat.«

»Na ja, da geht’s mir ähnlich. Ab heute sind dank Niccolò Carusos großzügigem Vorschuss all meine Probleme gelöst.«

Angela sah aus, als gäbe es noch sehr viel mehr zu sagen zu diesem Thema, aber sie lächelte nur und meinte: »Ich hoffe, dass du Recht hast.«

Mia strahlte sie voller Überzeugung an. »Ich weiß, dass ich Recht habe.«

Nick betrachtete den schwergewichtigen älteren Mann ihm gegenüber in O’Grady’s Irish Pub und wusste, dass, wenn überhaupt jemand sein bester Freund genannt werden konnte, Burt Mulrooney dem am nächsten kam.

Sie waren beide beim FBI und arbeiteten seit neun Jahren in der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Burt war sein Mentor und der Vater, den er nie gehabt hatte.

Mulrooney war ein guter Kerl und ein verdammt guter Agent. Er hasste es, sich zu rasieren, trug immer einen Dreitagebart, inzwischen graumeliert, und sein Bauch bezeugte seine Vorliebe für Guinness. Er war Ire durch und durch, bis hin zu den ewig grünen Klamotten, die er trug.

»Ich wette, dass Higgins alles andere als begeistert ist über deinen Undercoverjob, Junge. Sieh bloß zu, dass du das nicht vermasselst, sonst macht er Hackfleisch aus dir.«

Nick warf sich eine Hand voll Erdnüsse in den Mund und nippte an seinem eisgekühlten Bier. »Mein Vorgesetzter Special Agent Higgins hat diesen Plan genehmigt. Ich bin also abgesichert, Kumpel. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Das bekommt deinem Blutdruck gar nicht.« Burt hatte seit seiner letzten Scheidung vor einem Jahr beträchtlich zugenommen, und Nick machte sich Sorgen, dass sein Freund einen Herzinfarkt bekommen würde, wenn er weiterhin derartigen Raubbau mit seiner Gesundheit trieb.

»Wieso sollte ich mir keine Sorgen machen? Du benutzt eine unschuldige Zivilistin, Caruso, und wenn dem Mädel irgendwas zustößt …«

»Entspann dich. Du klingst schon beinahe wie eine alte Frau. Nichts wird passieren. Mia DeNero ist begeistert, dass sie endlich einen Klienten beschützen kann. Sie hat versprochen, entgegenkommend zu sein.« Nick grinste breit. »Ich ziehe heute Nachmittag bei ihr ein, auf ihren Vorschlag hin, möchte ich betonen.«

»Jesus, Maria und Josef!« Dem älteren Mann fiel die Kinnlade herunter, und er schüttelte den Kopf mit dem etwas gelichteten roten Haar. »Das ist nicht sehr klug, Junge. Überhaupt nicht klug.«

»Es ist perfekt, Burt. Mia DeNero wohnt direkt über dem Mama Sophia’s, wo sie auch ziemlich häufig isst. So kann ich den Verdächtigen gut im Auge behalten, der dieses Lokal ebenfalls gerne frequentiert. Stimmt schon, es ist kein perfektes Arrangement, aber etwas Besseres hat sich einfach nicht angeboten.

Außerdem hat Miss DeNeros Schwester, Angela Franco, kürzlich in die Russo-Familie eingeheiratet – ihr Ehemann ist Sophia Russos Neffe – was mir noch eine Tür öffnet. So kann ich Familienmitglieder befragen und an Informationen kommen, an die sonst im Traum nicht zu denken wäre.«

Burt spottete: »Es ist kaum zu glauben, dass diese Arschlöcher im Bureau Alfredo Graziano für einen Insider halten. Ich verwette meinen monatlichen Guinness-Konsum, dass er nicht das Geringste weiß. Er ist ein ganz kleiner Fisch, völlig unwichtig, trotz seiner gegenteiligen Behauptungen. Er würde sich wahrscheinlich in die Hosen scheißen, wenn er auch nur in die Nähe eines Mafioso käme.«

»Wahrscheinlich, aber möglicherweise kann er uns auf die Spur der Drahtzieher führen. Geldwäsche ist ein sehr lukratives Geschäft, und unser Freund Alfredo hat in letzter Zeit nur so um sich geworfen mit den großen Scheinen. Ehrliche Autohändler machen nicht so viel Geld, besonders nicht solche, die sich ihren Gewinn mit einem Partner teilen. Nebenbei bemerkt, Graziano hat es sich selbst zuzuschreiben, dass er verdächtigt wird. Der Mann hätte beizeiten lernen sollen, seine Angeberei zu zügeln.«

Burt zog sich ebenfalls eine Hand voll Erdnüsse rein und fragte: »Wieso hat die Frau dir eigentlich angeboten, bei ihr einzuziehen? Ich weiß schon, du bist ein Geschenk Gottes und all das, aber …«

»Ich habe ihr erzählt, dass meine alte Tante bei mir lebt und insgesamt ein ziemlich abschreckendes Bild von dem Caruso-Haushalt gezeichnet. Außerdem brauchte sie Geld. Ich habe ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte.«

»Du hast doch gar keine alte Tante.«

»Das weiß Miss DeNero aber nicht.«

Burt sah ihn ungläubig an. »Ist die Frau beschränkt? Es klingt so.«

Nick schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Nur naiv, weswegen ich sie ja auch ausgesucht habe. Sie ist noch ganz neu im Bodyguard-Geschäft und so grün wie das hässliche Hemd, das du trägst. Ich verlasse mich auf ihre Unerfahrenheit und bete zu allen Göttern, dass sie nicht der neugierige Typ ist.«

Burt überhörte die Beleidigung. Er und Nick tauschten regelmäßig Beleidigungen aus, so dass er an die bissigen Kommentare seines Freundes gewöhnt war. »Ich schätze, sie ist attraktiv, oder?«

»Sie ist nicht unbedingt das, was du schön nennen würdest, aber richtig schnuckelig.«

»Ich bin überrascht, dass es dir überhaupt aufgefallen ist, Caruso. Normalerweise haben Frauen keine große Chance bei dir.«

»Weil ich nicht vorhabe, mich zu binden, Burt, und ganz bestimmt nicht an Miss DeNero. Sie ist nur Mittel zum Zweck.«

»Klar, das habe ich ebenfalls von Ehefrau Nummer eins bis drei behauptet. Nur dass sich das Mittel irgendwann auf die Hinterbeine stellt.« Burt winkte der Kellnerin, eine weitere Runde zu bringen.

»Du kannst deiner Exfrau nicht vorwerfen, dass sie dich sitzen lassen hat. Du hast Übergewicht, du trinkst zu viel, und du hast einen saumäßigen Geschmack. Außerdem hast du noch ätzende Arbeitszeiten. Und du hast die arme Gloria nie ausgeführt. Es gibt Grenzen für die Anzahl von Fußball- und Pokerspielen, die eine Frau ertragen kann.«

Der ältere Mann schüttelte den Kopf. »Mir ist inzwischen klar, dass Gloria zu jung war. So ungern ich es zugebe, aber ich hätte Muriel nie gehen lassen dürfen. Sie war die Beste von allen.«

Muriel war Burts erste Frau. Ein Heimchen am Herd durch und durch, hatte sie ihren Ehemann verehrt und ihn von vorne bis hinten bedient. Aber Burt war eben Burt und kapierte erst, was er an ihr hatte, nachdem sie weg war. Im Laufe der Jahre hatte er immer wieder versucht, Muriel durch die unterschiedlichsten Frauen zu ersetzen, aber keine konnte seiner ersten Ehefrau das Wasser reichen.

»Vielleicht solltet ihr euch wieder vertragen? Längere Trennung fördert die Zuneigung, so sagt man doch.«

Burt sah Nick an, als hätte der den Verstand verloren.

»Bist du verrückt? Die Frau hasst mich wie die Pest. Ich habe sie betrogen. Erinnerst du dich noch an Vivian, Ehefrau Nummer zwei? Außerdem habe ich gehört, dass Muriel wieder geheiratet hat; er soll Pharmavertreter sein. Keine Ahnung, was sie an so einem Fuzzi findet.«

»Du hast seit über zehn Jahren nicht mehr mit Muriel gesprochen. Was weißt du schon, eventuell ist sie inzwischen verwitwet oder geschieden.«

Burt überlegte einen Moment, ein Hoffnungsschimmer blitzte kurz in seinen Augen auf, aber dann sah er wieder resigniert aus. »Nee. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, es ist zu viel schmutzige Wäsche gewaschen worden.

Und wie kommst du überhaupt dazu, mir Ratschläge erteilen zu wollen? Du bist schließlich derjenige, der weit und breit als Herzensbrecher bekannt ist. Oder hast du die vielen enttäuschten Frauen in deinem Schlepptau vergessen?«

»Ich bin immer aufrichtig zu den Frauen, mit denen ich mich einlasse. Sie machen sich keinerlei Illusionen, dass unsere Beziehung über Freundschaft und Sex hinausgeht. So ist es nun mal.«

»Du verstehst nicht viel von Frauen, Caruso. Egal, wie oft sie dir erzählen, dass sie dich verstehen, dass es okay für sie ist, es stimmt nicht. Sie denken hartnäckig, dass sie deine Meinung ändern, dass sie dich auf die dunkle Seite ziehen können.«

»Hast du kürzlich mal wieder Krieg der Sterne gesehen?«

»Mit Abstand der beste Film, der je gedreht wurde. Und Wechsel nicht das Thema. So einfach kommst du mir nicht davon.«

Nick zuckte die Achseln. »Ich bin rundum glücklich mit meinem Leben. Wenn ihnen das nicht passt, haben sie eben Pech gehabt.«

»Ich glaube, du bist ganz schön verkorkst. Du hattest eine miese Kindheit, na und? Viele Leute hatten das. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, Leute beliebig vor den Kopf zu stoßen – insbesondere nicht Frauen.«

»Lass gut sein, Kumpel. Behalte bitte deine Meinung und deinen Psychoscheiß für dich. Du klingst schon fast wie Dr. phil. Wenn du so weitermachst, kannst du bald bei Oprah auftreten.«

»Eines Tages wird es dir noch Leid tun, dass du so ein herzloser Mistkerl bist, Caruso.«

»Möglich. Aber bis dahin denke ich gar nicht daran, mich zu ändern, sondern bleibe, wie ich bin.«