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Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage der Printausgabe September 2009

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von Carsten Janiec (fotolia.de).

ISBN 978-3-89656-557-0

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

I wished I‘d have known you

Wished I‘d have shown you

All of the things I was on the inside

But I‘d pretend to be sleeping

When you’d come in in the morning

To whisper good-bye

Go to work in the rain

Now I don‘t know why

I don‘t know why

’cause everyone‘s singing we just wanna be heard

Disappearing everyday without so much as a word somehow.

Patty Griffin, Top of the World

eins

Die Erkenntnis traf mich gegen 23 Uhr, als Maya aufstand und gehen wollte.

„So, ich raffe dann mal die Röcke.“

Bis vor einem Jahr hatte sie noch Hühner gesattelt.

Alles, was ich gedacht, gehört und gesehen habe, habe ich schon einmal gedacht, gehört, gesehen. Nicht nur einmal. Meine Worte sind wie verblasste Fotokopien der Originale. Es gibt nichts Neues. Meine Gedanken sind schon x-mal durchgekaut worden, nicht einmal die Witze, über die wir gestern Abend lachten, sind neu.

„Kennst du Sperma-Light?“ Maya richtete ihre kleine Quizfrage an Karl.

Gunter und ich sahen uns an, um uns zu vergewissern, dass wir beide wussten, was Sperma-Light ist. Wenn Jan es je wusste, hatte er es vergessen.

Karl zuckte mit den Schultern.

„Sperma–Light“, sagte Maya mit der Stimme eines Slipeinlagen-Werbespots, „macht schwanger, aber nicht dick.“

‚Was haben wir gelacht!’ sagte eine Stimme in meinem Kopf.

Es war auch Zeit zum Gehen, denn Maya war fertig, nachdem sie den Mittelpunkt des Abends mit ihren Witzen brandgerodet und zum hundertfünfundzwanzigsten Mal ihre Schwierigkeiten mit Männern detailliert aufgelistet und öffentlich analysiert hatte. Dass sie sich immer wieder in den gleichen Netzen schweigsamer und heimlich trinkender Kerle verfängt, die nur an sich und nicht an sie denken, höchstens wenn es um Sex geht, aber darum scheint es Mayas Männern – wenn man es nicht besser weiß und ihr glaubt – nie zu gehen, denn Mayas Erlebnisse sind Geschichten ohne Handlung, Filme ohne Schluss und Bücher ohne Motiv. Seit über drei Jahren habe sie schon keinen Sex mehr, wenn man von der Benutzung ihres götterspeisefarbigen Vibrators absieht. Doch das ist auch nur ihre offizielle Version.

Entweder ich bin wirklich der Einzige, der von ihrem verheirateten Zahnarzt weiß, der sie ab und an beglückt, oder wir alle wissen es und tun ihr den Gefallen, sie zu bedauern. Für sie ist Mittelpunkt alles. Auch der Witz auf ihre Kosten.

Maya müsste das alles nicht uns erzählen, denn sie hat einen Therapeuten, aber wenn sich die Patientin in ihren Doktor verliebt, fehlt es auch da am nötigen Abstand, also sind wiederum wir ihre Therapie vom Therapeuten.

Gunter und Karl kennen sie. Sie sehen einander höchstens zweimal im Jahr, Weihnachten und im Mai bei mir zum Spargelessen, und jedes Mal scheint es, als hätten zwischen den Treffen keine zwei Stunden gelegen, als wären alle nur kurz weg gewesen, um sich umzuziehen.

Dafür hat man Freunde. Sie sind feste Bezugsgrößen im Leben, sie sind wichtig für die Sozialisation. Ich dachte immer, Karl, Gunter und Maya seien meine Familie. Ein Ersatz für meine eigene, die ich nicht brauche und auch nicht benutze. Anderer­seits finden die meisten Morde im näheren sozialen Umfeld statt – abgesehen von den Delikten, die nie aufgeklärt werden, weil sie wie natürliche Todesfälle aussehen. In Deutschland soll es einfach sein, jemanden zu vergiften, weil kaum ein Arzt das für möglich hält, lieber schnell den Totenschein ausstellt und keine Fragen stellt.

Die meisten Mörder kennen ihre Opfer. Freunde sind wichtig.

Als ich Maya damals Jan vorstellte, sagte sie mir leise: „Was willst du denn mit dem?“

„Mal sehen, weiß ich noch nicht“, antwortete ich. Und ich wusste es wirklich nicht. Ehrlich gesagt, bin ich bis heute der Antwort keinen Deut näher gekommen.

Obwohl Jan Mayas Kerlen auf eine beängstigende Art ähnlich ist. Sie gab uns damals drei Wochen. Es hat länger gedauert, und sie hat mir gegenüber nie wieder unsere Beziehung angezweifelt, obwohl es dazu Gelegenheiten genug gegeben hat.

Sie ist meine beste Freundin, weil ich keine weitere Freundin habe.

Aber auch Gunter und Karl leben immer mehr in einer Wiederholspur.

Zum wie vielten Mal hat Karl eine Wohnung beschrieben, die sie sich angesehen, aber dann doch nicht genommen haben? Andere Paare gehen ins Kino, paddeln am Wochenende, sammeln Gartenzwerge oder fliehen in den KitKatClub zum Vögeln – Karl und Gunter sehen sich Wohnungen an. Sie wollen eine kaufen, das haben sie beschlossen.

„Wir haben uns das überlegt und glauben, wir beide kriegen das hin.“

Das sagt Karl immer. Und Gunter nickt dazu wie ein stummer Papagei. Denn seit Jahren ist es beim Ansehen geblieben.

Einmal mahnte ich die beiden, ob es denn klug sei, so etwas gemeinsam zu machen, mit dem Hinweis, dass, wenn mal Schluss sein sollte, der ganze Ärger mit dem schicken Eigentum doch erst beginnen würde.

„Wir sind erwachsen“, schoss es aus Karl heraus, und Gunter schwieg und sah zum Fenster hinaus. „Oder?“ fragte Karl ihn und legte seine Hand auf Gunters Arm.

„Ja“, fuhr Gunter herum und gab ihm schuldbewusst einen Kuss.

Ich habe nie gewusst, was Gunter an Karl findet. Ich weiß nicht einmal, was ich an Karl finde. Wir hatten nie Sex miteinander, wir haben ein paar Jahre zusammen studiert, dann gearbeitet, wir trafen uns, um ein Bier zu trinken, wir telefonierten ab und zu. Die Freundschaft zu Karl hat sich einfach ergeben. Karl ist anhänglich, er ist mir auf eine Weise treu geblieben als Freund, obwohl wir diese Freundschaft nie gegenseitig beweisen mussten. Nie habe ich eine Krise bei ihm wahrgenommen, nie rief er mich an mitten in der Nacht, wie es Maya zuweilen fertig bringt, um sich auszuheulen, um mich um nutzlose Ratschläge zu fragen, um zu reden, weil ihm danach ist.

Umgekehrt habe ich Karl nie mit derlei Dingen belästigt. Das würde ich bei Maya vielleicht tun, wenn ich Respekt vor ihr hätte.

Karl war immer nur da. Wie gestern beim Spargelessen. In einem seiner karierten Hemden, bei denen er den obersten Knopf offen stehen lässt, in den Jeans, die nur betonen, dass er eigentlich keinen Hintern hat, mit dem Scheitel sieht er aus wie aus der Klosterschule entlassen. Er wäre ein guter Priester geworden, nichts sagend, nicht bedrohlich, immer den Eindruck erweckend, gut zuzuhören. Nur die Brille kam dazu im letzten Jahr. Er ist nicht hässlich, er hat nur die Ausstrahlung einer dieser Apotheker, bei denen man sich unfreiwillig schämt, wenn man das Rezept für Jakutin oder Abführmittel auf den Tisch legt.

Karl habe ich nie, selbst wenn er angetrunken war, aus der Haut fahren sehen. Wir sind uns vielleicht zu ähnlich. Unsere langweiligen Leben gleichen sich, der Inhalt ist auswechselbar, das gleiche Fressen, nur verschieden garniert.

Gestern war es eine Vierzimmerdachgeschosswohnung mit Terrasse und einem Oberlicht im Wohnzimmer.

„Ein Gedicht“, sagte Karl kühl, er verdrehte die Augen, seine Hände flogen kurz hoch und sanken zurück auf den Tisch.

„Aber wahrscheinlich zu teuer“, ergänzte Gunter.

Ich hätte die Worte lippensynchron mitsprechen können, doch das kann ich den beiden nicht einmal vorwerfen.

„Wie entfernt man schmerzlos Schamhaare?“ fuhr Maya dazwischen. Diesmal jedoch kam ihr Gunter zuvor, schob die Zunge zwischen die Lippen und zog mit spitzen Fingern das imaginäre Schamhaar aus seinem Mund. Er lächelte nicht einmal dabei.

Die Party war zu Ende, obwohl es keine Party war, sondern ein Essen, mit allen am Tisch, ohne Herumstehen und ohne Rauchen auf dem Balkon, ohne fremde Leute am kalten Buffet und ohne ein sich knutschendes Zufalls-Pärchen im Schlafzimmersessel.

Karl stand auf und Gunter auch, sie zogen, des Gackerns müde, in den Flur. Ich wollte ihnen folgen, wie das ein Gastgeber tut, da traf mich die erschreckend klare Selbsterkenntnis. Zum ersten Mal, wie ich hoffe.

Die Wiederholung alter Filme, die man sich ansieht, eben weil man sie kennt, weil sie vertraut sind, ohne dass man etwas Neues erfahren wird, aber dennoch sieht man sich Mondsüchtig, Die Stunden oder Gefährliche Liebschaften immer wieder an. Und so ähnlich ist es mit meinem Leben, mit meinen Freunden, mit meinem Jan.

Seit dem Spargelessen gestern weiß ich das, und ich hoffe inständig, ich habe es nicht vorher schon gedacht oder gewusst, denn noch ein Remake, noch einmal auf vielfachen Wunsch die gleiche Melodie, Sissy Uncut, Matrix 4, Rocky XIV hätte ich nicht ertragen, ja, noch eine Wiederholung hätte mich und meine Vorstellung von einem eigenständigen, selbstbestimmten Leben weggewischt.

Gestern Abend schnürte es mir den Hals zusammen. Bevor ich die anderen im Flur verabschiedete, sah ich Jan kurz an. Er suchte gerade nach der Fernbedienung, um die Musik abzustellen.

Den ganzen Abend lief Sarah McLachlan, meine Lieblings-CD Afterglow, eigentlich meine zweitplatzierte, denn die Dixie Chicks wollte ich niemandem zumuten. Aber es fragte sowieso niemand danach.

„Lass doch, die drei Minuten geht’s doch noch!“ herrschte ich ihn halblaut an, wie man es bei einem datterigen Großvater tut.

Jan grunzte, er hatte wieder einen zu viel in der Krone. Das macht ihn immer schläfrig. Und wenn er nichts trinkt, ist er müde.

„Okay“, brummte er.

In diesem Moment sah ich den Rest des Abends im Zeitraffer vor mir: ich in der Küche, das Geschirr in die Maschine stapelnd, irgendeine Rotweinneige trinkend, in der Hoffnung, mein Sodbrennen damit zu lindern. Jan schon im Bad und auf dem Weg ins Bett.

Er fragt, ob er beim Aufräumen helfen kann, ich verneine dann, er küsst mich von hinten auf die Wange, drückt mich kurz und verschwindet. Später finde ich ihn schlafend im Bett vor. In meinem Bett. Der Sex mit ihm ist keine Wiederholung, weil wir so gut wie keinen Sex mehr haben. Aber auch diese Tatsache ist nicht neu, sondern von vorgestern, somit also die nächste Wiederholung. Eine Unabänderlichkeit, wie die Abfolge der Jahreszeiten und das Auf und Ab des Dow-Jones-Index.

Zum wiederholten Male würden wir also keinen Sex haben.

Ein Negativrekord, der unerreicht ist, das letzte Mal ist Monate her und war wahrscheinlich wirklich das letzte Mal. Noch dazu ist es ein uninspirierter, lahmer Fick gewesen, den ich, wäre er mit einem Fremden passiert, längst vergessen hätte.

Einmal wagte ich zu fragen: „Findest du mich überhaupt noch geil, Jan?“

Die Schrecksekunden dauern bei ihm etwas länger. Es ist mehr, als weckte man jemanden, der dann, aus dem Tiefschlaf gerissen, einige Zeit benötigt, um wach und gegenwärtig zu sein.

„Klar.“

„Wieso fickst du mich dann nicht mehr?“

„Ich fick ja auch nicht mit anderen Kerlen.“ Es klang wie eine Einschätzung zum Wetterbericht. Wenn es regnet, braucht man einen Schirm, wenn die Sonne scheint, braucht man keinen.

„Das ist nicht unbedingt die Antwort auf meine Frage.“

„Hab halt im Moment nicht so Lust.“

Punkt. Dieser lustlose Moment hat sich zu lustlosen Monaten gedehnt, die zusammen in nicht allzu ferner Zukunft ein Jahr ergeben.

„Tschüs, ihr alle, kommt gut nach Hause!“ Ich wollte nicht erleichtert klingen, obwohl ich erleichtert war.

„Ja ja, Mutter Walton, wir passen schon auf uns auf“, sagte Maya ehrfurchtsvoll und versuchte, sich den Indianerschal schwungvoll um die Schultern zu drapieren. Maya heißt eigentlich Marianne. „Das ist kein Name, das ist die Vorab-Rache meiner Mutter. Die hat mich nie gewollt, die hat mich schon als Fötus für meine Jugend gehasst“, sagt Maya immer.

Karl küsste mich links und rechts und sagte: „Danke. War schön.“ Er rückte seinen Kragen zurecht wie ein Staatsanwalt. „Wir hören.“

Gunter drückte mir maskulin die Hand und sah mich einen Moment zu lange an.

Ich wich seinem Blick aus: „Tschüs, Gunter. Passt auf euch auf.“

Er nickte und folgte Karl. Ich schluckte kurz und dachte, dass unser Geheimnis in diesem Augenblick hätte auffliegen können. Für einen Moment lag die Wahrheit hinter meinem Gaumen wie die Reste eines schwer verdaulichen Abendessens beim Aufstoßen. Es brauchte nicht viel, ich hätte unser kleines Geheimnis ausgespuckt. An mir zog ein Film vorbei, ein Streifen über die möglichen Geheimnisse meiner besten Freunde. Was sagen sie mir nicht? Wie sehen ihre dunklen Seiten aus? Wie viel Leichen liegen in ihren Kellern?

Nicht einmal Maya weiß, dass ich mit dem Lover meines besten Freundes, der deshalb der beste ist, weil ihm die Konkurrenz fehlt, zweimal die Woche schlafe. So oft wie die beiden sich im Schnitt Eigentumswohnungen ansehen, dringt Gunter in mich ein. Ohne Vertrag, ohne Provision, ohne Kaution.

Karl erzählt mir seit gut drei Jahren, wie verliebt er in Gunter sei und dass er sich noch nie jemandem so nah gefühlt hätte, und seit knapp einem Jahr vögelt mich Gunter.

Aber so, mit der Wahrheit, kann man den Abend nicht beenden. Stattdessen müsste man ihn so beginnen: noch vor dem Hauptgericht die Tür abschließen, den Schlüssel zum Fenster rauswerfen und alle Katzen aus den Säcken lassen, das wäre doch ein Spaß!

Dass bei aller Liebe zu Gunter Karl sich heimlich in der nächsten Lederkneipe rumtreibt und meint, im Darkroom nicht gesehen zu werden, könnte sofort nachgeschoben werden. Ich weiß auch, dass Gunter nichts davon weiß, aber das ist fair, da Karl auch nichts von Gunter und mir ahnt. Ich weiß von Maya, dass sie sich ab und an mit einem Zahnarzt getroffen hat, der sich seit vier Jahren kontinuierlich nicht scheiden ließ und ihr statt der großen Liebe einen hartnäckigen Scheidenpilz schenkte.

Auch Jan wird seine dunkle Seite haben, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es etwas gibt, das stärker sein könnte als sein Phlegma.

Rechnete ich die Gunterficks zusammen und zöge ich die Summe der Ficks mit Jan ab, bliebe ein Rest, der mit jeder Woche größer wird.

Der Abend der Wahrheit! Eine Fernsehshow müsste so heißen. Linda de Mol mit Studiogästen oder Günter Jauch mit älteren Damen, die auf dem heißen Stuhl sitzen und ihren Männern vor Publikum sagen: „Heinz, die Gislinde, die is net von dir. (Schnüff.) Die ist vom Tschack.“ Dann kommt der baumgroße, stämmige Ex-GI Jack mit prallem Schritt die flimmernde Showtreppe runter, und The Three Degrees singen eine remixte Version von When Will I See You Again.

Jan winkte in der Wohnzimmertür: „Macht’s gut, schön, dass ihr hier wart.“

„Ja“, bestätigte ich irritiert, verprellt durch die Tatsache, dass nicht er der Hausherr ist. Er hat weder Getränke eingekauft, noch hat er beim Kochen geholfen. Er hat keine Idee fürs Essen beigesteuert, keine Flasche Wein entkorkt und nicht einen Aschenbecher geleert zwischendurch. Er fragte auch nicht, ob er sich an den Ausgaben beteiligen könnte. Nicht, dass ich etwas erwarte. Ich weiß, dass er sich nichts leisten kann, aber die Frage an sich wäre schön gewesen. Ein Zeichen, dass er daran denkt.

Jan ist einfach nur gekommen, genau in dem Moment, als ich mit dem Spargelschälen fertig war und den Tisch deckte. Sein Timing ist immer perfekt. Gestern störte mich plötzlich seine Selbstverständlichkeit, die Wiederholung seiner Selbstverständlichkeit, seine permanente Existenz in meinem Leben, sein Dauerstudium, seine immer ungekämmten Locken und sein ewiges Dreißig-Minuten-zu-spät-kommen.

Nicht die Tatsache, dass wir beide auch nach fünf Jahren noch keine Meinung zu einer gemeinsamen Wohnung aufbringen können, fuhr mir in die Nase, sondern die Art, wie er sich als Gastgeber aufspielte. Er, der mich noch nie in seiner Ein-Zimmer-Traumwelt mit Hochbett, schmieriger Küchenzeile, kaputter Herdplatte und bunter Lichterkette an der Decke bekocht hat. Gerade er.

„Winke, winke, Hanni und Nanni“, rief Maya in der Tür.

„Tschüs, Lala“, sagte ich lustlos und lächelte. Karl nickte und tippte sich an die Schirmmütze, Gunter zwinkerte mir freundschaftlich zu. Und ich bekam für drei Sekunden eine Erektion.

Die Tür klappte zu, nachdem mich Maya kurz noch erschrocken angesehen hatte. Frauen fühlen so etwas. Die meisten jedenfalls. Abgesehen von meiner Mutter. Sie fühlt nur, wenn sich das Wetter ändert oder der RTL-Shop ein neues Sonderangebot im Sortiment hat.

Dann waren sie weg.

Jan klapperte in der Küche umher, aber nicht, um etwas zu tun, sondern um mich es tun zu lassen, um nur die Illusion zu erwecken, er könnte etwas beitragen.

„War doch ganz schön wieder“, rief er halblaut.

„Ja“, antwortete ich beflissen und mit einer Spur Gift, die mir auf der Zunge brannte. Ich ging vom Flur langsam durch das Wohnzimmer, sah mir den Esstisch an. Wut flammte in mir hoch wie Sodbrennen.

Die Amis sagen heartburn, wenn sie Sodbrennen meinen.

Herzbrand. Meiner kam gestern nicht vom Essen, er kam wirklich vom Herzen.

Jan hatte gerade einen Teller und ein Glas in die Küche gebracht. Eine immense Leistung. Er ist immer unpraktisch, aber dafür bin ich wiederum zu praktisch. Bevor ich zusehe, wie er unter Aufbietung all seiner logistischen Mittel es fertig bringt, den Tisch leer zu räumen, mach ich es lieber gleich selber. Wenn ich ihm tatenlos zusehen müsste, hätte ich mir schon eine Peitsche gekauft. Oder einen Elektroschocker.

Seine Langsamkeit, sein Langmut, seine Arschruhe, alles Dinge, für die ich ihn vor gar nicht langer Zeit geliebt hatte, gingen mir plötzlich auf die Nerven. Alles, was mir bislang Halt zu geben versprochen hatte, verwünschte ich. Jan gab mir Sicherheit, Ruhe und Beständigkeit – wie eine Grabstelle, die man mietet und im Voraus bezahlt für die nächsten fünfundzwanzig Jahre.

Und Jan machte mich aggressiv. Aber nicht zu aggressiv. Es war nur ein Druck im Hals, eine Art Verschluss, der zuschnappt, bevor ich etwas Gemeines sagen könnte, etwas Falsches. Aber wer sagt, dass es falsch wäre? Vielleicht wäre es richtig, Jan endlich Beine zu machen. Diesem großen schlaksigen Kind Anfang Dreißig, das sich nun seit mehr oder weniger fünf Jahren mehr oder weniger in meiner Wohnung aufhält und sich bekochen lässt und es nie fertig bringt, seine Jacke auf einen Bügel zu hängen, einfach den Laufpass zu geben.

Er stand in der Küche vor dem offenen Geschirrspüler und stellte das halbvolle Weinglas und den Teller auf das Küchenbord. So etwas tut er nicht aus Bosheit. Er vergisst nicht aus Niedertracht, das Glas auszugießen und mit dem Teller zusammen in die Maschine zu stellen; er kommt einfach nicht von selber darauf. Wenn man das weiß, verzeiht man ihm alles – oder man verzeiht ihm nichts.

Früher zahlte er mit Sex. Kein aufregender Sex, aber ausdauernd und kräftig, wie ein spanischer Stier im Rentenalter, hirnlos und stupide, aber hartnäckig stieß er zu. Das machte mich glücklich. Vielleicht funktionierte es, weil ich dachte, nur mir gelingt es, ihn wirklich aufregend zu finden. Eifersüchtig bin ich nicht.

Aber kann es sein, dass ich nur nicht eifersüchtig bin, weil ich glaube, dass außer mir niemand einen wie Jan aufregend finden könnte?

Zum wievielten Male sagte ich: „Lass mal, ich mach das schon.“

Wie oft hat er schon gesagt: „Kann dir doch auch helfen.“ Um sich dann gleich zu verdrücken, wie immer.

Immer, immer, immer.

Das habe ich ihn jetzt fünf Jahre lang machen lassen, und wenn kein Erdrutsch, kein Terroranschlag oder kein Wort von mir dazwischenkommt, wird er es die nächsten fünf Jahre ebenso machen.

Zum ersten Mal gab ich der Geschirrspülertür einen Tritt, dass sie nach oben schlug und zurückprallte, weil der Verschluss keine Zeit hatte, zuzuschnappen. Es gab einen Riesenhieb, das halbvolle Glas auf der Arbeitsplatte zitterte.

Ich genoss den Nachhall. Nachts rummst so etwas weit effektiver als tagsüber. Dann goss ich den Rest Rotwein in die Spüle und wog das leichte, dünne Glas in der Hand. Es stand ja richtig auf dem Bord, denn ich würde es nie wagen, meine edlen Rotweingläser in den Geschirrspüler zu stellen. Trotzdem. Jan hatte sich nichts dabei gedacht, wie er sich nie etwas denkt.

Mein Wutanfall war etwas Kalkuliertes. Ich sah mir dabei zu wie bei einem Experiment, bei dem das Versuchskaninchen ich selber bin. Ich wollte Dinge tun, die ich noch nicht getan hatte. Ich wollte diesen Fluch der Wiederholung brechen gestern.

Jan kam um die Ecke, die Zahnbürste im Mund.

„Was ist ’n mit dir?“ nuschelte er.

Ich drückte die Spülmaschinenklappe sanft zu, drehte mich zu ihm um und sah ihn ganz kalt, das Weinglas in der linken Hand, an.

War das nun alles? Dieser lange Lulatsch in Boxer-Shorts. Schmalbrüstig und mit hängenden Schultern. Auch für ihn tickte die Zeit; in allerspätestens fünf Jahren kauft ihm niemand mehr den Studenten ab, nicht mal er selber.

Vielleicht werde ich diese dunkelbraunen Locken, seine behaarten Beine und seinen passablen Schwanz vermissen. Aber ich muss nur auf den Anblick verzichten. Praktisch habe ich längst nichts mehr davon.

„Schläfst du heute mal bei dir?“ fragte ich ruhig, aber bestimmt.

Er nahm die Zahnbürste aus dem Mund, ein Faden Schaum tropfte auf den Küchenboden.

„Wieso das denn?“

Er glotzte verständnislos und verletzt. Es tat mir weh. Doch sein Blick schmerzte nicht genug. Er verursachte einen feinen Riss, aber keinen Bruch.

Ich holte Luft, und dann sagte ich ruhig, und weil ich es so ruhig sagte, klang es doppelt boshaft: „Ich hab heute einfach keinen Bock auf keinen Sex.“

„Was?“

Dann klirrte es.

Die zweite Premiere: Zum ersten Mal habe ich mutwillig ein Glas zerbrochen, noch dazu eines, das bei WMF nicht mehr im Programm geführt wird.

„Und lass deinen Schlüssel da.“

Manchmal weiß man nicht, ob man etwas wirklich erlebt oder nur geträumt hat. Sätze, die man sagte, Dinge, die man sah, und Gedanken, die sich aufdrängten und verblassten, sind wieder gegenwärtig und gleichzeitig weit und unbestimmt.

Wie ein Name, der einem nicht einfällt, aber das Gesicht dazu ist überdeutlich.

Das Bild ist etwas überbelichtet. Es war ein Sommer, dessen Schatten fünfzehn Jahre lang ist.

Ich liege auf einer Decke am Baggersee und lese, oder ich tue wenigstens so. Ein Sonntag muss es gewesen sein. Der Mann etwa zehn Meter vor mir blättert auch in einem Buch. Er hat dunkle Augen, die ich nun sehe, weil er vorhin die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben hat. Er sieht aus, als lächelte er die ganze Zeit, aber möglicherweise sieht er immer so aus. Harmlos und nett, in Wirklichkeit aber gefährlich und hintertrieben. Doch es ist ein Traum oder etwas in der Art, eine Begebenheit, die traumähnlich ist, die nie wirklich war, sondern in einem Zeitloch stattfand, aufgeladen mit Illusionen und im Nachhinein vergiftet und weggewischt mit vergeblichen Worten.

Es ist eine Wirklichkeit, von der man sich wünscht, sie wäre ein Traum, denn dann wäre etwas daran zu manipulieren, ein Film, dem der Regisseur ein anderes Ende verpasst, weil das Testpublikum zu viel geweint hat.

Wir blicken zur gleichen Zeit auf, sehen uns an und senken den Blick wieder auf unsere Lektüre. Das Spiel geht schon seit Stunden so, oder es kommt mir nur so lange vor.

Ich schließe die Augen, um nicht aufzuwachen.

„Darf man?“ fragt eine Stimme neben mir.

Ich nicke und drücke die Lider fester zusammen, weil ich weiterträumen will, weil kein Schreck oder ein unbedachtes Geräusch mich aus der Situation herausreißen soll.

„Klar darf man“, sage ich. Und langsam, ich liege auf dem Rücken, drehe ich den Kopf in die Richtung der Stimme.

„Pass auf, dass du keinen Sonnenbrand bekommst. Ich dachte schon, du schläfst.“

„Nein, ich bin wach.“

Augen auf. Ganz schnell. Wenn, dann sofort, wie der Sprung ins kalte Wasser. Wenn es ein Traum ist, dann lieber schnell ins richtige Leben, nicht warten, bis die Farben verblassen, das Bild dieses Mannes durchsichtig wird und sich entfernt. Nichts verblasst. Neben mir sitzt der Mann mit den dunklen Augen.

„Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Lächeln.

„Es ist alles gut.“

„Ich bin Sebastian.“

Er bewegt seinen Kopf, der eben noch die Sonne verdeckt hat. Sie gleißt und blendet. Mein Herz schlägt, dass ich es in meinem Kopf höre! Sebastian kann es wahrscheinlich hören, aber er ist weg. Um mich herum ist es dunkel.

Der Geruch von frischem Gras liegt noch in der Luft, und meine Haut spannt, als hätte ich bis eben wirklich in der Sonne gelegen.

Ich sollte den Traum aufschreiben. Aber ich muss es nicht tun, ich vergesse ihn nicht, denn ich habe ihn schon etliche Male geträumt. Jedenfalls scheint es mir so.

Er ist nicht unangenehm. Ich bin nicht froh über den Traum.

Nur diesen Geruch hinterlässt er, sonst nichts. Je mehr ich die Luft durch die Nase ziehe, desto dünner wird er und riecht wieder nach Schlafzimmer und Zigaretten. Der Traum ist zu kurz und doch lang genug, alle Bilder von damals wiederzufinden. Ich spüre den Zettel in meiner Faust, eine Quittung über ein Buch von Eisenherz. Sebastian hatte sie als Lesezeichen benutzt. Ich spüre das Papier klamm werden von meiner feuchten Handfläche und denke kurz daran, dass die Telefonnummer, die er mir mit Bleistift darauf geschrieben hat, verwischen könnte. Dennoch halte ich dieses Stück Papier in meiner Faust, als könnte es mir gestohlen werden.

Ich wusste in diesem Moment damals, oder scheint es mir nur so, dass dieser Zettel wichtig ist. Wie viel Visitenkarten, Bier­deckel und abgerissene Stücke von Zigarettenschachteln habe ich schon mit nach Hause gebracht? Sebastian hat seinen Namen kleingeschrieben.

Ich rufe noch am selben Abend an, nur wenige Stunden nach unserem Gespräch am See und nach dem Spaziergang durch den sonnigen Park zur Bahn.

Wir sehen uns zwei Tage später. Und dann sehen wir uns ständig.

Zwei Wochen lang gehen wir essen, ins Kino und fahren nach Ostberlin, was auch fast wie Kino ist für ihn damals. Für mich ist es ein Stummfilm, Bilder, die erst noch synchronisiert werden müssen, denen die Worte fehlen.

„Wie war es so im Osten?“

Sebastian stellt einfache Fragen und weiß nicht, was er damit anrichtet. Denn in dieser Zeit, in der wir uns begegnet sind, gibt es keine einfachen Fragen, weil die entsprechenden Antworten noch nicht gefunden sind.

Was hätte ich ihm erzählen sollen damals?

Alles klingt nach Verteidigung einer verlorenen Bastion.

Was könnte ich ihm heute alles sagen?

Das Leben funktioniert nur in der Gegenwart. Alles, was die Zukunft bringen kann, ist die Verfälschung der Vergangenheit. Selbst dem Moment ist nicht zu trauen.

Die fehlenden Farben, die ich erst dann vermisste, als ich nach Westberlin kam, und die alles, was nach Heimat aussah, danach haben verblassen lassen. Ja, der Osten verblasste vor meinen Augen.

Sogar die Sommer meiner Kindheit sind farblos geworden. Der geölte Dielenfußboden in der ersten Klasse und die erste Begegnung mit dem Verbot. Mein Radiergummi war heruntergefallen, ich konnte ihn nicht finden. Und Fräulein Steger, unsere Klassenlehrerin, deren Alter ich noch heute nicht schätzen kann, wenn ich mein Einschulungsbild ansehe, half mir suchen.

Und ich sagte: „Das gibt’s doch in keinem Russenfilm!“

Und Fräulein Steger erstarrte, ihr Dauerlächeln, ihr Gesichtsausdruck, der permanent auf Verständnis und Nachsicht stand, vereiste.

„Das sagen wir aber nicht“, wies sie mich barsch zurecht.

Und ich sagte diesen Satz nicht mehr. Obwohl mein Vater ihn ständig benutzte. Obwohl Großmutter ihn sagte, aber anders, wie einen harmlosen Witz, der einen nicht zum Lachen bringt, aber die Atmosphäre aufhellte.

„Alles Kommunisten“, sagte er, bevor er am Kanalwähler unseres Rafena-Fernsehers herumfummelte, um „diese Ostscheiße“ wegzudrehen.

Wir guckten kein Ostfernsehen.

Wie das Gerippe eines Wetterhahns zeigte die Antenne auf dem Dach nach Westen. Vater war in der BGL, der Betriebsgewerkschaftsleitung. Er hätte etwas werden können.

Es lag an ihm, meinte Mutter.

Jemand hatte Dachpappe im Betrieb geklaut und wurde dabei erwischt. Vater saß mit im BGL-Tribunal.

„Wenn’s Dachpappe geben würde, bräuchte man sie auch nicht zu klauen“, sagte er. Es war seine letzte BGL-Sitzung, er wurde ausgeschlossen.

Mutter erzählte mir das lange danach. Nach dem Zerfall, nach dem Verblassen, nach dem Überpinseln, nach der Lieferung der neuen Gerüche, nach dem Ausbau der Autobahn, der neuen Mischbatterie im Bad und nach der neuen Kaffeemaschine und nach dem Jakobs-Kaffee.

Heute muss sie den Kaffee selber kaufen, damals hat ihn Großmutter geschickt. Wir hatten immer Westkaffee im Haus, Westseife und Westfernsehen. Ich trug Westklamotten, das war alles, was ich als Panzer hatte, aber er funktionierte, hielt die anderen fern, umgab mich mit einer Aura des Verbotenen.

Aber ich bin aus dem Osten, und der Osten war kein Kostümfest, mehr ein Gesichtsausdruck, der so aussieht, als schiene einem die Sonne ins Gesicht. Noch heute erkenne ich Menschen, die genau so in die Welt blicken. Verkniffen, halb weinend, halb lachend, das Gesicht des ewigen Zuschauers, misstrauisch und grenzenlos naiv. Ich erkenne sie an ihrem Gang, an der verhaltenen Gestik, an der unterwürfigen Nettigkeit und der zur Schau getragenen Frustration. Vor allem aber an ihrer Art, Dinge nicht zu sagen, erkenne ich sie. Vielleicht sehe ich mich. Vielleicht sehe ich den, der ich gewesen sein muss und der noch da gewesen sein muss, als Sebastian mich traf.

Heute sage ich, dass alles falsch war.

Damals schien es richtig. Und es war wohl richtig in diesem geschlossenen Organismus, der Kopf stand – und mit ihm die Logik, der Verstand und jedes Gefühl. Kopf stehend leben und so tun, als hätte man beide Beine auf der Erde. Und wenn man Kopf steht, sieht es aus, als würde man lächeln, angestrengt sicher, weil die Balance Anstrengung verlangt.

Ich war zu bitter für mein Alter, als mich Sebastian traf.

Heimatlos. Ich will nicht zurück. Aber wenn es kein Zurück gibt, dann fehlt eine Möglichkeit. Verlässt einer sein Land, kann er zurück, wenn er will. Aber was ist, wenn einen das eigene Land verlässt?

Was sagte ich Sebastian auf seine Frage?

Heute weiß ich den Unterschied zwischen Damals und Jetzt.

Es ist die Art, wie man vorbeifahrenden Zügen winkt.

Wir winkten vorbeifahrenden Westautos, aber wir waren Kinder. Wir taten es, und wir schämten uns dafür. Erwachsene taten das nicht. Sie schämten sich, ohne zu winken.

Man kann naiv sein, aber unschuldig ist niemand.

Ich sah erwachsene Menschen winken und sich freuen, weil ein Zug vorbeifuhr, als ich ein Kind war und mit meiner Großmutter in den Harz fuhr. Die Sonne schien, es war ein Freitagabend, und die Menschen winkten uns, Fremden. Es kann auch sein, dass meine Großmutter daran Schuld war, dass ihr Winken alle befreit hat für diesen Moment, in dem unser Zug vorbeifuhr. Damals glaubte ich es. Und auch heute halte ich es für wahrscheinlich.

Und kurz nach der Wende, in einem Zug der Deutschen Reichsbahn nach Hannover fahrend, winkten wieder Menschen. Das hätten sie nicht tun müssen, niemand verlangte das, aber sie taten es, breitbeinig zwischen den Beeten ihrer Gärten, auf Hollywood-Schaukeln sitzend und aus Fenstern lehnend. Sie freuten sich.

Sebastian und ich liebten uns in seiner Wohnung, denn meine hatte als Bett nur eine Matratze auf dem Boden und das Klo eine ganze Treppe weiter unten. Vielleicht hat er mir angesehen, dass ich nicht bei ihm war. Nicht wirklich. Ich sah ihn an, ich sah ihm zu, immer ängstlich Abstand haltend.

„Erzähl doch“, sagte er am Morgen und brühte Kaffee auf in einer dieser Glaskannen, in denen man das Kaffeepulver mit einem Sieb hinunterdrückt. Sebastian war ein Traum. Schon damals. Er fiel meinem Misstrauen zum Opfer, meinem Misstrauen, mit dem ich die Realität beobachtete. Ich konsumierte Wirklichkeit vorsichtig wie eine Droge, die krank, dick und träge machen kann, wenn man zu viel davon bekommt. Schon damals tat ich das. Und heute vielleicht immer noch.

Sebastian hat sich davongemacht. Heute würde ich es verstehen. Während dieser drei Monate, in denen ich Sebastian nicht liebte, lernte er Herbert kennen. Ich bemerkte das nicht.

Ich war bei Sebastian zum Essen eingeladen, sehr spontan, und am Tisch saß schon jemand.

„Das ist der Herbert.“

Ich musste nicht vorgestellt werden, offensichtlich. Ich witterte, und ich ahnte, und eigentlich wusste ich es. Ich musste diesem Herbert nur offen ins Gesicht sehen, da war es klar.

„Setz dich hin.“

And even I’m getting tired

Of useless desires

Patty Griffin, Useless Desires