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Eckhard Frick

Andreas Hamburger (Hrsg.)

Freuds Religionskritik und der »Spiritual Turn«

Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

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Mit freundlicher Unterstützung der Wilhelm-Bitter-Stiftung

 

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978–3-17–023065-1

E-Book-Formate:

pdf:     978–3-17-023904-3

epub:   978–3-17-025944-7

mobi:   978–3-17-025945-4

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        Inhalt

 

 

  1. Statt eines Vorwortes: Die Herausgeber im Dialog
  2. Die Illusion einer Zukunft
  3. Wohin dreht der »Spiritual Turn«?
  4. Eckhard Frick
  5. Wie schwer das Leben ohne Boden ist
  6. Andreas Hamburger
  7. Subjekt
  8. Selbst und Transzendenz – Überlegungen zur Stellung des Subjektes bei C. G. Jung im Kontext des »Spiritual Turn«
  9. Roman Lesmeister
  10. Die Religionskritik Freuds
  11. Godehard Brüntrup
  12. Die Offenheit nach oben
  13. Ein Dialog zwischen Godehard Brüntrup und Roman Lesmeister
  14. Postmoderne
  15. Identität und Kontingenz. Psychoanalytische Überlegungen zur Konstitution des nachreligiösen Subjekts in der Flüchtigen Moderne
  16. Gerhard Schneider
  17. Das (postmoderne) Subjekt ideologischer Anrufung nach Lacan. Philosophische Überlegungen zum Kontext spiritueller Suchbewegungen
  18. Dominik Finkelde
  19. Die Schwebe als sicherer Ort?
  20. Ein Podiumsdialog zwischen Gerhard Schneider und Dominik Finkelde
  21. Religionskritik und Religionsersatz
  22. Zwangsneurose oder Fortschritt in der Geistigkeit. Zu Freuds Religionskritik
  23. Jan Assmann
  24. Die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Zur Vorgeschichte der Aufstellungspraxis im Medium der Literatur
  25. Aleida Assmann
  26. Freud und die Geister
  27. Ein Dialog mit Aleida und Jan Assmann
  28. Transformation
  29. Wer glaubt, wird vielleicht nicht selig, aber klug. Von Hume bis Freud: Die religiöse Praxis als Glaubenstrost mit dem hohen Preis geistiger Selbstbeschränkung
  30. Brigitte Boothe
  31. Religionskritik im Licht von Habermas’ Spätphilosophie – eine sozialphilosophische Analyse
  32. Michael Reder
  33. Sprechen und Glaubenkönnen
  34. Ein Dialog zwischen Brigitte Boothe und Michael Reder
  35. Sachwortregister
  36. Personenregister

Statt eines Vorwortes: Die Herausgeber im Dialog

 

 

Dem dialogischen Charakter dieses Buches geschuldet stellen wir den Einzelbeiträgen ein Gespräch voran, das wir Herausgeber miteinander geführt haben.

Eckhard Frick: Du sagst in deinem eigenen Beitrag, dass die Neo-Spiritualitäten in der Postmoderne vielfältig seien, aber nicht systemrelevant. Dass sie vielfältig sind, ist klar, aber was heißt es, dass sie nicht systemrelevant sind?

Andreas Hamburger: Die postmodernen Spiritualitäten sind durch eine gewisse Beliebigkeit charakterisiert. Man adaptiert sie in bestimmten Lebensphasen, in bestimmter Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, die man auch wieder verlassen kann. So entsteht eine Art »Patchworkgeistigkeit« von »spirituellen Wanderern«. Unter systemrelevanter Spiritualität würde ich eher die klassischen Religionen verstehen, in die man hineingeboren wird, die zu verlassen früher lebensgefährlich war. Die Religionen übten traditionell Bindungskraft, Autorität und Macht aus. Sie waren große Sozialisations- oder sogar Sozialagenturen. Ich glaube nicht, dass die neuen Spiritualitäten diesen Bindungseffekt haben. Oder anders gesagt: Wenn man die neuen Spiritualitäten streichen würde, würde die Gesellschaft vielleicht nicht zusammenbrechen. Wenn man die Religionen streicht, mit einem Schlag, dann bricht sie zusammen.

Eckhard Frick: Michael Reder erwähnt einen Aspekt, der für Habermas wichtig ist: Die großen Religionen, vor allem Judentum und Christentum, haben eine gewisse Rationalität entwickelt und damit auch Anschlussfähigkeit für die Philosophie, für die Psychoanalyse und ähnliche Denksysteme, während die Spiritualitäten oft anti-rational daherkommen und v. a. der eigenen Subjektivität dienen. Das ist auch ein Gesichtspunkt, den Dominik Finkelde, von Žižek und Lacan ausgehend, berührt – die ideologische Anrufung: Das Subjekt ideologischer Anrufung.

Andreas Hamburger: Da hat Finkelde schon einen interessanten Punkt gemacht. Er sagt ja, dass sich genau dadurch das postmoderne Subjekt erst konstituiert; er würde die neuen Spiritualitäten wahrscheinlich für systemrelevant halten. Sie sprießen hier und da aus dem Boden, überall in verschiedensten Formen, aber irgendetwas in der Art braucht das postmoderne Subjekt, sonst kann es sich gar nicht fassen.

Eckhard Frick: Die Vorbehalte gegenüber den Spiritualitäten hängen auch mit einzelnen Wissenschaftskulturen zusammen. Die Soziologie ist auch deshalb auf Institutionen wie Religionsgemeinschaften bezogen, weil sie selbst eine institutionenbezogene Wissenschaftsform ist. Deshalb entdecken die Soziologen erst nach und nach, dass es den Spiritual Turn nicht nur institutionenkritisch oder institutionenauflösend, sondern auch innerhalb der Institutionen gibt. Und deshalb setzt sich langsam ein wertfreier Umgang mit der neuen spirituellen Selbstsuche durch. Lange Zeit war das gerade bei Habermas als etwas nicht so Wertvolles, fast etwas Minderwertiges erschienen, inzwischen wird, z. B. von Charles Taylor ausgehend, der Subjective Turn als eine Zeiterscheinung und insofern doch als etwas Systemrelevantes gesehen. Welche Position beziehen wir Psychoanalytiker zur Systemrelevanz spiritueller Bewegungen?

Andreas Hamburger: Ich wollte gerade den Sprung vom Soziologischen zum Psychologischen machen. Ich würde nämlich die Systemrelevanz der neuen Spiritualitäten auch subjektiv bestreiten. Systemrelevante Glaubenssysteme sind wirklichkeitskonstitutiv: Wenn wir wirklich gläubig sind, können wir die Welt als Schöpfung bewohnen, und das meinen wir dann auch ganz ernst. In einer religiös fundierten Gesellschaft sind Aussagen aus dieser Instanz auch gleichzeitig der State of the Art des Wissens. Die Kriege wurden früher nach dem Lauf der Sterne bestimmt, auch die Tore von Babylon sollen so geplant worden sein. Heutzutage würde niemand eine Seilbahn von einem Priester konstruieren lassen und mit dieser Seilbahn dann auch fahren (es sei denn, der Priester wäre auch Ingenieur). Jeder, der irgendwo einsteigt, möchte gern, dass rational geplant worden ist. Das ist, glaube ich, der große Unterschied zur Moderne. In der ersten Moderne bereits verliert die Religion insgesamt an Systemrelevanz, weil sie nicht mehr als das zuverlässige Wissen betrachtet wird, auf das hin wir unser Leben riskieren. Das wäre zumindest eine These, die man versuchen könnte zu vertreten. Auch im innerpsychischen Haushalt ist es nicht mehr die Letztbegründung: ›Das steht in der Bibel‹ oder ›das hat Gott so gesagt‹. Godehard Brüntrup übrigens hält dieser klassischen vernunftbasierten Religionskritik einen philosophischen Spiegel vor. Er meint, Freud sehe das Individuum zu stark in der Pflicht, seinen Glauben vernünftig begründen zu müssen. Ich selbst finde allerdings, er ist da zu streng mit Freud. Denn der sagt ja nicht, man habe kein ›Recht‹ etwas zu glauben, über das man kein Wissen verfüge, sondern nur, man könne dazu nicht verpflichtet werden. Er sieht die Beweislast umgekehrt und bestreitet das »credo quia absurdum«: »Die Unwissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus ihr ab« (Freud 1927c: 355). Sicher ist Brüntrup ein würdiger Gegner und er zwingt uns, Freuds Kritik sehr genau zu lesen. Mir persönlich scheint es so zu sein, dass keiner dem anderen eine epistemische Pflicht auferlegen kann um sein Weltmodell normativ durchzusetzen; jeder aber kann sich – für sich selbst – auf einen Willensakt berufen. Die Debatte ist heute viel subjektiver als vor einem Jahrhundert, als ja die Kirche auch noch gesellschaftlich und politisch sehr mächtig war.

Eckhard Frick: Dieser Gedanke spielt ja eine große Rolle bei unseren Autoren, die sich auf Pascals Wette beziehen, sowohl bei Dir selbst als auch bei Lesmeister. Lesmeister sagt auch, es kommt zu einer Wendung ins Subjektive, also zu den Phänomenen hin, unabhängig davon, ob man die Existenz Gottes annimmt oder nicht. Lesmeister sagt dann auch, dass die Transzendenz im Gegensatz zu dem, was man Jung oft unterstellt, gar nicht primär religiös-spirituell eine Rolle spielt, sondern etwas mit dem »Über-das-Selbst-Hinausgehen« zu tun hat, also das Selbst als Offenheit meint. Finkelde zitiert Lacan, dass es dem lieben Gott egal sein kann, ob wir an ihn glauben oder nicht. Auch in den Spirituellen Exerzitien nach Ignatius von Loyola, also in einer klassischen innerkatholischen Spiritualität, fragt man die Übenden nicht nach den Katechismusüberzeugungen und Glaubensinhalten, sondern nach dem Erleben, nach Emotionalität und Lebensrelevanz, nach dem sozialen Handeln. An dieser Stelle scheint mir die Wendung ins Subjektive durchaus systemrelevant zu sein. Deshalb meine Frage: Wann ist für uns Psychoanalytiker eine Spiritualität systemrelevant für ein Individuum oder für eine Paarbeziehung oder eine Familie oder eine Gruppe?

Andreas Hamburger: Lass mich mal frei assoziieren: Ich könnte mir vorstellen, dass eine interessante Frage aus der Subjektperspektive wäre, ob eine wie auch immer geartete spirituelle oder religiöse Überzeugung mich bewegen kann, etwas, das ich gern tun möchte, nicht zu tun oder etwas, das ich ungern tue, doch zu tun. Ein archimedischer Punkt außerhalb der Lust, etwas, das Triebaufschub ermöglicht oder eine moralische Selbstüberwindung. Da komme ich letztlich doch wieder auf den Begriff der Verbindlichkeit, und wenn ich scharf unterscheiden wollte, könnte ich sagen, die frommen Menschen, die so einer klassischen Religion anhängen und sich ihr zugeneigt, zugewandt, aber auch verpflichtet fühlen, beziehen daher eine ganze Menge an Lebensmaximen; übrigens war dies die Religiosität, die auch der scharfe Kritiker Freud geachtet hat. Hingegen haben die neuen Spiritualitäten weit weniger diesen Verpflichtungscharakter. Manchmal kommt es mir so vor, als ob der Glaube an die Kraft der Edelsteine, oder an dieses innige Wünschen (›wenn du einen Parkplatz suchst, musst du ihn dir wirklich wünschen, dann ist er auch da‹), eher eine Polsterung des Lebens seien. Also Opium des Volkes, das trifft da wirklich zu.

Eckhard Frick: Ja, für derartige Edelstein-Spiritualitäten passt am besten der alte Begriff des Aberglaubens. Derartige Lebenspolsterungen blühen in der zweiten Moderne auf. Die klassische Religionskritik Freuds nimmt die erste Moderne aufs Korn. Wie antwortet sie auf die zweite Moderne? Ist der Spiritual Turn eher ein Ausdruck der zweiten Moderne oder eher deren Krise?

Andreas Hamburger: Der Krise, falls ich das richtig einordne. Ich würde Freuds Subjektbegriff als Vorbereitung der zweiten Moderne sehen. Also die erste Moderne, die klassische Religionskritik, da sind wir bei Feuerbach und auch bei Kant. Die Unerkennbarkeit der Transzendenz – das hat Freud als selbstverständlich vorausgesetzt. Dann hat er aber versucht, ein Subjekt zu konstruieren, das er anfing als kleine Maschine zu denken, und das lief ihm unter der Hand davon und es wurde eine Art Insel von Subjektivität daraus, etwas wie ein schwimmendes Subjekt. Erst hieß es ›psychischer Apparat‹, dann kam das Strukturmodell, mit seinen Instanzen Ich-Es-Überich, wie homunculi, die miteinander in Konflikten liegen. Ein Modell, das eben nicht mehr in einer Natur verankert ist, sondern gewissermaßen schwebt. Das schon bei Freud anzusiedeln ist vielleicht verfrüht, und ich denke, dass noch weniger aufs Substrat spekulierende Ansätze, wie etwa der von Lacan, den Finkelde in seinem Beitrag so anschaulich herausarbeitet, noch sehr viel deutlicher der zweiten Moderne zuzuordnen wären.

Eckhard Frick: Du siehst jetzt beispielsweise im sogenannten Strukturmodell nicht so sehr etwas Physikalistisches, Naturalistisches, sondern bereits eine schwimmende Subjektivität.

Andreas Hamburger: Den Übergang dazu. Im Grunde ist Freud grandios und hoch produktiv gescheitert an seinem Versuch, den er im ›Entwurf einer Psychologie‹ 1895 gemacht hat, die Psyche quantitativ-mechanisch zu rekonstruieren.

Eckhard Frick: Und aus diesem Scheitern heraus entwirft er, zwar noch in physikalistischer Sprache, einen mentalen und sozial eingebundenen Subjektbegriff.

Andreas Hamburger: Wobei Freud ja ein wunderbarer leidender Theoretiker ist. Er hat ja bis zum Schluss den Anspruch oder die Hoffnung auf eine naturwissenschaftliche Lösung nie aufgegeben. Gleichzeitig konnte er sie nie liefern, er ist ein grandioser Scheiterer. Er hat meines Erachtens aber im Grunde begrifflich ein Subjekt vorbereitet, das er weder aus der Metaphysik noch aus der Natur ableitet, sondern das sich selbst erfindet, freilich in einem gegebenen kommunikativen Zusammenhang. Eigentlich ein Subjekt ohne Wurzeln.

Eckhard Frick: Du hast jetzt von der Unerkennbarkeit des Transzendenten gesprochen, ein Begriff, den es ja auch in der Theologie gibt: Deus absconditus, der verborgene und deshalb unergründliche Gott. Da scheint mir nun für das gegenwärtige Denken charakteristisch zu sein, dass der Mensch zum Unergründlichen wird. Es gibt einen Aufsatz des späten Helmuth Plessner: Homo absconditus, den auch Habermas aufgreift, wenn er sich zu bioethischen Fragen äußert: dass wir uns im Sinne von Plessner nicht »haben« können, dass wir nicht nur Körper haben, sondern Leib sind und uns selbst nicht in der Hand haben. Dieser Rückgriff auf die philosophische Anthropologie der 1920er Jahre ist etwas Kennzeichnendes für ein Zurückschrecken vor der Vermessung des Menschen, vor der restlosen Vergegenständlichung. Statt dessen zeigt sich, dass das Subjekt selbst doch opak und eben absconditus ist. Es werden gewisse Gottesattribute auf den Menschen angewendet, wie man bei Plessner deutlich sieht, und nicht umsonst findet man religiöse Argumentationsfiguren beim späten Habermas, z. B. in den bioethischen Kontexten.

Andreas Hamburger: Auch in der psychoanalytischen Begriffsbildung haben wir eine Spannung zwischen substanzialistischen oder medizinalisierten Ansätzen einerseits und relationalen andererseits. Letztere bestreiten, dass es auf eine psychoanalytische Anthropologie oder Neurosenlehre ankommt. Vielmehr solle psychoanalytisches Wissen immer ›on the edge‹ sein, auf der Kippe, so dass es sich jeweils im Setting der Stunde neu ereignet, und zwar zwischen beiden Beteiligten. Die relationale Wende innerhalb der Psychoanalyse verabschiedet sich vom vermessbaren Menschen. Der Homo absconditus wird in der relationalen Psychoanalyse mit Sympathie betrachtet.

Eckhard Frick: Rachel Blass hat in einer treffenden Analyse gezeigt, »dass der von solchen und ähnlichen Ansätzen vollzogene Subjective Turn Freuds religionskritisches Argument nicht etwa außer Kraft setzt, sondern schlichtweg unterläuft, darin den harten Kern dieses Arguments aber gänzlich verfehlt.« Das führt zu der Frage: Was ist der harte Kern des Freudschen Argumentes und inwieweit wird er vom Subjective Turn unterlaufen?

Andreas Hamburger:Freuds klassische Religionskritik besagt, die Beweislast etwa für die fortwirkende Existenz Gottes liege bei demjenigen, der diese auf den ersten Blick nicht sehr wahrscheinliche Vermutung aufstellen möchte. Diese klassisch-moderne Argumentation wird freilich unterlaufen vom Subjective Turn, den Freud selbst mit vorbereiten geholfen hat, indem er einen Subjektbegriff konstituiert, der eben dieses Schwimmende hat, oder wie Roman Lesmeister, Dominik Finkelde und Gerhard Schneider es in ihren Beiträgen und Diskussionen ausdrücken, in der Schwebe ist. Das Freudsche Subjekt braucht zwar schon Natur; Freud sagt ja, es kommt aus dem Körper, er hat aber schrittchenweise aufgegeben festzustellen, wie das genau zugehen soll. Zuerst, im ›Entwurf‹, hat er vom System φ gesprochen, da war es noch ziemlich klar. Das war Innervation. Das Es ist nicht Innervation, das Es ist als Instanz bereits sehr viel wolkiger. Rachel Blass meint, dass dieses vom späteren Freud mit konstituierte und dann herrschende Ideologie gewordene, eigentlich selbstkonstituierende Subjekt die Religionskritik unterläuft. Um an sich selbst als Subjekt zu glauben, weil man sich setzt: »A rose is a rose is a rose«, »a subject is a subject…«, dafür brauche ich keinen Gottesbeweis.

Eckhard Frick: Die heute sehr beliebten Neurokonstruktivismen landen häufig in Kategorienfehlern. Wahrscheinlich sind sie deshalb so beliebt, weil das Selbst eine neue Weise findet, sich zu konstruieren.

Andreas Hamburger: An diesem Kategorienfehler, aus einem neuronalen Muster Inhalte der phänomenal gegebenen Welt inklusive des Selbst ableiten zu wollen, ist ja schon Freud gescheitert. Aber er hat bemerkt, dass das nicht geht. Und es geht auch heute noch nicht. Trotzdem finde ich es spannend, als Symptom der zweiten Moderne, dass wir auf der Seite der inhaltlichen Gestaltungen zu konstruktivistischen Modellen kommen. Wir sagen dann, was wir als selbstverständlich gegeben, z. B. als Geschlecht wahrnehmen, ist ein kulturelles Konstrukt, in das wir aber so hineingeboren sind. Wir hinterfragen es erst, wenn Judith Butler kommt und uns sagt: »Habt ihr schon mal nachgedacht, ob das denn wirklich gewachsen ist oder konstruiert oder diskursabhängig ist?« Es ist spannend, dass sowohl naturwissenschaftlich als auch philosophisch der Begriff des Konstruiertseins fast aller Wirklichkeitserfahrungen untersucht wird. Das würde ich als interessante Parallele bezeichnen.

Eckhard Frick: Dazu gehört auch der psychologische Konstruktivismus, George Kelly (1963) zum Beispiel oder Gergen und Gergen (1986), die eine neue Aufmerksamkeit auf das höchst Persönliche richten und vielleicht auf die Grenzen der Kommunikabilität unserer Begriffe. Das ist ja auch für uns Analytiker etwas Wichtiges.

Andreas Hamburger: Da komme ich natürlich wieder auf den relationalen Ansatz in der Psychoanalyse und den Narrative Turn mit Donald Spence (1982) – in der Psychoanalyse auch ein sehr umstrittener Ansatz, weil wir ja in dem Moment Abschied nehmen von der biographischen Rekonstruktion. Wenn wir von Narrative Truths sprechen, sagen wir ja eigentlich, es genügt doch, wenn ein autobiographisches Narrativ so konstruiert wird in der Analyse, dass wir das am Schluss beide plausibel finden. Das ist natürlich keine befriedigende Lösung.

Eckhard Frick: Narrativität ist das Thema, das Brigitte Boothe in ihrem Beitrag »Wer glaubt, wird vielleicht nicht selig, aber klug« aufgreift …

Andreas Hamburger: … und auch schon in ihren früheren Arbeiten zum Erzählen in der Psychoanalyse (1994), wo sie ja Kritierien der Veridikalität von Narrativen formuliert hat. In unserem Band hier hat sie als Analytikerin uns Ungläubigen recht provokativ die Leviten gelesen. Man fühlte sich als Agnostiker eigentlich schon einer gewissen Geistlosigkeit bezichtigt. Sie argumentiert im Grunde aber dann doch letztlich klinisch. Sie zeigt, dass Glauben hilft, an einem sehr berührenden Fall: Die Frau, die bei der Beerdigung des Sohnes sich von einem ›engelartigen‹ Wesen berührt gefühlt hat. Und Brigitte Boothe fragt: Müssen wir ihr diese Erfahrung weganalysieren oder sollten wir sie ihr vielleicht nicht doch lassen?

Eckhard Frick: Vor allem sollten wir sie respektieren auch als etwas wiederum Unausschöpfbares.

Andreas Hamburger: Und da würde ich gerne mit ihr doch ein bisschen hadern. Ich glaube, diese Art von wirklich gelebter, hilfreicher Frömmigkeit, die wird doch niemand jemandem wegnehmen wollen. Ich bin ganz sicher, dass auch Freud mit seiner kritischen Argumentation dieser Frau das gelassen hätte. In Deinem Beitrag verweist Du darauf, dass Freuds Religionskritik den naiven Alltagsglauben geradezu vor der philosophischen Festschreibung in Schutz nimmt.

Eckhard Frick: Gerhard Schneider geht von der dialektischen Spannung zwischen Positivität und Negativität aus, die wir fruchtbar machen können für die Spannung zwischen verfasster Religion und spiritueller Suche. Negativität: Die Suche der spirituellen seekers geht manchmal ins Unbestimmte hinein, in diese von Jung beschriebene Offenheit des Selbst. Positivität: Der Pol der Religion steht für die dwellers (Wuthnow 1998), für das Gesetztsein, das Vorfindliche an der Identität. Der Pol des Spirituellen gehört eher zur Negativität, also zur Bestreitung des Institutionellen. So haben es die Soziologen beschrieben, ursprünglich als Kritik an der verfassten Religiosität, aber auch als Kritik am wissenschaftlichen Rationalismus, also als eine Äquidistanz zwischen beiden und als Suche eines eigenen Weges.

Andreas Hamburger: Ich verstehe Schneiders Dreier-Modell so, dass es das Positive, das Negative und das, was weder in dem einen noch in dem anderen aufgeht, beschreibt. Erkenntnistheoretisch gewendet wäre das Positive das, was ich sehe, das Negative das, was ich erst noch erforschen muss, weil ich’s nicht sehe, also wo ich meine Erfahrungen hinterfragen, forschen und klug sein muss, und das Dritte wäre das, was ich auch dann noch nicht sehen kann; was letztlich hinter den Möglichkeiten der Erkenntnis, sowohl des Positiven als auch dessen Negation steht, und was vielleicht – klassische Erkenntnistheorie – die konstitutiven, also die transzendentalen Urteile wären. Psychoanalytisch also weder das bewusste noch das dynamisch konflikthaft Verdrängte, sondern die Subjektkonstitution in der frühen Dyade. Ich fand auch interessant die soziologische Lesart von Gerhard Schneiders Beitrag, die ich in den Satz fassen würde: Die bürgerliche Gesellschaft kann ihre Werte nicht aus sich selbst setzen.

Eckhard Frick: Das Böckenförde-Diktum.

Andreas Hamburger: Genau. Und da ist natürlich was dran. Die Rationalität ist eine der erfolgreichsten Religionen, die es je gegeben hat, zumindest kurzfristig, denn die anderen sind viel langfristiger. Würde man Erfolg an Haltbarkeit messen, wäre wahrscheinlich der Animismus die erfolgreichste. Aber die moderne Gesellschaft, die rational geregelt sein soll, beruht auf Grundlagen, die sie rational nicht erklären kann, wie z. B. Werten.

Eckhard Frick: Ja, und ich denke, dass das auch die Rezeption des Religiösen bei Habermas bestimmt, bis hin zu dem Terminus des Geschaffenseins, also des Geschöpfseins, den er in einem ganz säkularen Kontext wieder bemüht, um zu zeigen, wir verdanken uns etwas oder einem anderen, das wir nicht hergestellt haben (Reder & Frick 2010).

Andreas Hamburger: Michael Reder führt das ja präzise aus, wie der späte Habermas die Faktizität der wertsetzenden Religion akzeptiert – ihr allerdings einen »Übersetzungsvorbehalt« abverlangt, also die Pflicht, ihre Überzeugungen diskursiv einzubringen. Reder ist damit ja nicht so ganz einverstanden. Als Psychoanalytiker würde ich es aber auch lieber in dieser Welt auflösen als zu sagen, dass uns der Schöpfer dann doch irgendetwas mitgegeben haben muss. Man kann und soll (schon um selbstkritisch zu bleiben) religiöse Erfahrung natürlich akzeptieren, aber aus meiner Sicht würde ich sie nicht als Spur Gottes, sondern lieber psychologisch erklären – Freud hat sich mit dem ›ozeanischen Gefühl‹ ja auch ein bisschen darauf eingelassen: Es ist die früheste Hilflosigkeit und die früheste Liebe, die uns die tiefen Schichten der Moral mitgeben, und das ist universal. Jedes Menschenwesen, egal welcher Kultur, war mal ein Baby.

Eckhard Frick: Jan Assmann hat »Totem und Tabu« neu ediert und er legt eine aktualisierte Interpretation vor. Er aktualisiert diesen historischen Roman des Traumas in der Geschichte des jüdischen Volkes im Europa des 20. Jahrhunderts. Die Geistigkeit ist seine These, nämlich dass die jüdische Religion sich durch mehr Geistigkeit auszeichnet, auch im Gegensatz zum Christentum.

Andreas Hamburger: Mir erscheint Assmanns Beitrag als Ansatz der Versöhnung. Er kann als Ägyptologe selbstverständlich FreudsMoses- Mythos so nicht zustimmen, schon wegen der Jahrhunderte, die dazwischen liegen. Er fügt aber hinzu: Es geht nicht darum, ob dieser Mythos historisch veridikal zutreffend ist oder nicht, sondern dass er eben als Gründungsmythos verstanden werden kann. Assmann setzt an die Stelle der Frage, ob Freud mit seiner Religionskritik recht hatte oder nicht, das Motiv der Geistigkeit, das Freud durch seine Religionskritik ebenfalls zu setzen versucht, ähnlich wie durch seinen Moses-Mythos. Seine Idee, dass Moses ein Ägypter war und den Monotheismus ins Abendland gebracht hat, ist vor allem schön, sie hat einen mythischen Charme. Natürlich sah er sich selbst auch als einen Moses, der die Vernunft bringt.

Eckhard Frick: Und die höhere Geistigkeit, Rationalität, die er im Judentum sieht, steht dem faktischem Polytheismus gegenüber, den Freud im Christentum vermutet. Wenn man auch an die vielen Götter auf Freuds Schreibtisch denkt – so ist der Monotheismus und vor allem die Vaterreligion der Versuch, auch die eigene spirituelle Suche zu reduzieren auf etwas Weniges. Vielen Kommentatoren, z. B. Ana-Maria Rizzuto (1998), ist aufgefallen, dass Freud der mütterliche und polytheistische Aspekt fehlt oder einfach durch Rationalität auf das Patriarchale eingeschränkt wird.

Andreas Hamburger: Ich glaube, dass das Christentum nicht Freuds Hauptproblem war. Seine Religionskritik richtet sich tatsächlich in erster Linie auf das Judentum, das er gewissermaßen eher als satisfaktionsfähig anerkannt hat. Das Christentum war ihm tatsächlich etwas fremd und schien ihm, wie vielen jüdischen Denkern, nicht recht durchdacht. Umgekehrt hing Freud hartnäckig dem wissenschaftlichen Mythos des Lamarckismus an. Überall da, wo Freud auf Religion und Entstehung von Kultur zu sprechen kommt, weist er auf eine grausame Leidensgeschichte hin, eine Mordgeschichte, die in die Gene eingeschrieben wird. Ich denke, dass er damit eigentlich die jüdische Situation seiner Zeit abgebildet hat (Hamburger 2005). Die Verfolgungserfahrung des leidenden jüdischen Volkes wirkt in den Ursprungsmythos vom Vatermord hinein; sie ist das Eingeschriebene, Schicksalhafte. Nur so kann ich mir erklären, dass jemand mit einem solchen prägnanten Intellekt wie Freud dem Lamarckismus folgt.

Eckhard Frick: Also wäre das Lamarckistische der Mechanismus des Schicksalhaften? Ein Denkmodell, das uns hilft, so etwas Schicksalhaftes zu verstehen?

Andreas Hamburger: Etwas, was uns traumatisch überwältigt, das können wir gar nicht anders wahrnehmen, als ob es sich für immer eingraben und auch an unsere Kinder und Enkel weitergehen müsste. Das ist sozusagen ein intensiver Ausdruck für die Schmerzüberwältigung, so würd ich’s für mich interpretieren. Und insofern ist es wieder interessant, dass Aleida Assmann die Familienaufstellung aufgreift, sie gewissermaßen als zeitgenössische Geisterbeschwörung darstellt, die den Animismus der Gegenwart fast hoffähig macht.

Eckhard Frick: Aleida Assmanns großes Thema ist ja die Erinnerung, gerade bei den Völkern Europas, also wie dieselben auch kollektiv traumatisierenden Ereignisse verschieden kodiert bzw. dekodiert werden. Teilweise besteht auch ein Konflikt der Erinnerung in der Geschichtsschreibung und den Erzählungen in Familien.

Andreas Hamburger: Vielleicht schließt das den Kreis zu unserem großen Metaphysik- Thema vom Anfang. Wir hatten uns ja gefragt, was ist die Systemrelevanz von Religionen und von Spiritualismen? Und wir hatten versucht über die soziologische hinaus dann auch zu einer psychoanalytischen Überlegung zu kommen, in der das bedeutsam ist. Es ist vielleicht auch wirklich die Sehnsucht nach Kontinuität, also das Gefühl, eben nicht alleine auf der Welt zu sein, sondern Kind und Kindeskind zu sein. Also in der Generationenkette eingebettet zu sein und sich dadurch selbst zu versichern. Es ist ein Identitätsthema darin. Wenn ich auf irgendeine Weise, sei es durch klassischen Glauben oder vielleicht durch irgendeine spirituelle Vorlage, wie vielleicht auch die Familienaufstellung eine ist, das Gefühl haben kann, ich bin eingebettet in einen Fluss von Identitäten, eine Kette von Generationen, dann mag das schon etwas Tröstliches haben. Ich weiß nicht, ob ich zu kühn bin, wenn ich sage, als Psychoanalytiker muss ich es eigentlich aushalten, dass mir das nicht gelingt. Dieses Leben ohne Boden ist schwer zu ertragen, weil die Sehnsucht enorm groß ist, irgendwoher Sicherheit zu gewinnen und ich lese meinen Freud immer so, dass er jeder Versuchung widerstanden hat, sich einen Boden ›herbeizufantasieren‹ und sich auf den zu verlassen. Ich finde, Schneider hat in seinem Beitrag sehr bewegend auf diesem radikalen Festhalten der nicht-relationalen Negativität bestanden, indem er die black paintings von Ad Reinhardt heranzieht.

Eckhard Frick:Lesmeister zitiert Kierkegaard, der in der ›Krankheit zum Tode‹ vor allem auf diese verzweifelte Selbstsuche hinweist, dass das Selbst entweder nur das Selbst sein will oder verzweifelt, unbewusst nicht das Selbst sein will. Oder nur aus sich heraus den Boden finden möchte. Daran kann man gut erklären, dass es diese drei Verzweiflungen gibt. Was wäre jetzt der Boden und was wäre der Verzicht auf den Boden? Ich denke, der Boden im Sinn einer Spiritualität, die durch Kierkegaards Krise gegangen ist, ist keine Selbstvergewisserung. Ein Selbst werden, Individuation im Sinne Kierkegaards besteht vielmehr in der Bereitschaft, auf Unendliches bezogen zu sein, ohne dieses Bezogensein kontrollieren zu können. So bleibt das Unendliche das Ungewisse, und da berühren sich eben ein echter Glaube, der diesen Namen verdient und ein Unglaube. Ich denke, das kann man sehr schön an Kierkegaard sehen, der in religiöser Sprache schreibt und doch existenzielle Verunsicherungen formulieren kann, die auch den religiösen Glauben erschüttern können.

Wir danken Cécile Loetz und Jakob Müller für ihre sorgfältige Mithilfe beim Entstehen dieses Buches.

Literatur

Bion, W. F (1970). Attention and Interpretation. A scientific approach to insight in psychoanalysis and groups. London: Tavistock. Dt: Aufmerksamkeit und Deutung. Tübingen: edition discord 2006.

Böckenförde, E.-W. (1976). Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Blass, R. B. (2004). Beyond illusion: Psychoanalysis and the question of religious truth. Int. J. Psycho-Anal., 85, 615–634.

Boothe, B. (1994). Der Patient als Erzähler in der Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Freud, S. (1927c/1940). Die Zukunft einer Illusion. In A. Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris & O. Isakower (Hrsg.), Gesammelte Werke, Bd. 14 (S. 323–380). London: Imago.

Gergen, K. J und M. M. Gergen (1986). Narrative Form and the Construction of Psychological Science. in: T. R. Sarbin (Ed.), Narrative Psychology. The storied nature of human conduct. (pp. 152–173). New York, Westport, London: Praeger, 22–43.

Hamburger, A. (2005). Das Motiv der Urhorde. Ererbte oder erlebte Erfahrung in Freuds »Totem und Tabu«. In W. Mauser & J. Pfeiffer (Hrsg.), Kulturtheorie (Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse Bd. 24, S. 45–86). Würzburg: Königshausen & Neumann.

Rizzuto, A.-M. (2002). Believing and Personal and Religious Beliefs: Psychoanalytic Considerations. Psychoanalysis and contemporary thought, 25, 433–463.

Rizzuto, A.-M. (1998). Why did Freud reject God? A psychodynamic interpretation. New Haven [u. a.]: Yale Univ. Press.

Spence, D. (1982): Narrative Truth and Historical Truth. Meaning and Interpretation in Psychoanalysis. New York: Norton.

 

 

 

 

 

Die Illusion einer Zukunft

Wohin dreht der »Spiritual Turn«?

Eckhard Frick

Der Begriff »Spiritualität« entstand innerhalb des Christentums, vor allem in der römisch-katholischen Kirche, als mystische Innenseite der traditionellen und institutionalisierten Religion, die weitgehend auf Priester und Ordensleute beschränkt war. Eine erste innerkirchliche ›Demokratisierung‹ der Spiritualität führte zur inter-konfessionellen und interreligiösen Weitung des Begriffs, der nunmehr als Dimension des Menschseins verstanden wurde. Die wachsende Bedeutung von Spiritualität im New Age und anderen außerkirchlichen Bewegungen, aber auch in den Gesundheitswissenschaften, ging vom englischen Sprachraum aus. In der Soziologie verstand man unter dem »Spiritual Turn« lange Zeit alternative Spiritualitäten im Gegensatz zur Kirchenreligiosität. Mit der zunehmenden Berücksichtigung der Erste-Person-Perspektive folgt nun auch in den Wissenschaften eine Demokratisierung, die dem Sprachgebrauch und der individuellen oder kollektiven Suchbewegung auch konzeptionell Rechnung trägt. Eine derartige Demokratisierung entspricht auch der psychoanalytischen Haltung: Kollektive Einstellungen in kirchlichen und psychoanalytischen Institutionen werden zu Gunsten des Dialogs über Spiritualität in der Zweiten-Person-Perspektive relativiert.

Ein Dialog mit einem gebildeten Verächter der Religion

Sigmund Freud ist zweifellos ein gebildeter Religionskritiker. Ist er auch ein »Verächter der Religion« (Schleiermacher 1799/1958)? Gebildetsein heißt für Freud, im Dialog zu sein, und diesen Dialog auch angesichts eines religiösen Bekenntnisses fortzuführen. Es ist ein Dialog, den Freud als aufgeklärter Wissenschaftler mit dem gläubigen Gesprächspartner führen möchte, in »einstweiliger«, nicht unversöhnlicher Gegnerschaft. Charakteristisch für diesen bis an die Grenzen des Lebens gehenden Dialog ist die religiöse Sprachform, in der Freud vom Gott Lógos spricht: »Wir erhoffen dasselbe, aber Sie sind ungeduldiger, anspruchsvoller und – warum soll ich es nicht sagen? – selbstsüchtiger als ich und die Meinigen. Sie wollen die Seligkeit gleich nach dem Tod beginnen lassen, verlangen von ihr das Unmögliche und wollen den Anspruch der Einzelpersonen nicht aufgeben. Unser Gott Λόγος, […] wird von diesen Wünschen verwirklichen, was die Natur außer uns gestattet, aber sehr allmählich, erst in unabsehbarer Zukunft und für neue Menschenkinder. Eine Entschädigung für uns, die wir schwer am Leben leiden, verspricht er nicht. Auf dem Wege zu diesem fernen Ziel müssen Ihre religiösen Lehren fallen gelassen werden, gleichgiltig ob die ersten Versuche misslingen, gleichgiltig ob sich die ersten Ersatzbildungen als haltlos erweisen« (Freud 1927c/1940: 378). Der kritische Dialog, zu dem Sigmund Freuds »Zukunft einer Illusion« einlädt, ist also ein werkimmanenter. Dieses Buch ist ein literarisches Schlachtfeld, auf dem »Freud der Atheist« und »Freud der Gläubige« miteinander kämpfen (Akhtar 2009: 3). Im Kampf zwischen dem intrapsychischen Gläubigen und dem äußeren Gläubigen geht es um Hoffnung und Zukunft, in mehr oder minder »absehbarer« Perspektive und in »einstweiliger« Kontroverse: Nach eigenem Bekunden möchte Freud keine Untersuchung schreiben, »die ungestört fortschreitet wie ein Monolog«. Deshalb stellt er sich einen Gegner vor, der seine »Ausführungen mit Misstrauen verfolgt« und den er deshalb immer wieder zu Wort kommen lässt (Freud 1927c/1940: 342). Kritisch-dialogisch ist auch die Rezeption der »Zukunft einer Illusion«, von den Anfängen bis zu uns Psychoanalytikern, Gläubigen und Ungläubigen, Philosophen, Theologen, Frauen und Männern in ihrer je eigenen spirituellen Sensibilität. Genauer gesagt: Kritisch-dialogisch ist der Interdiskurs zwischen Psychoanalyse und Religion, wenn auf apologetische Vorverurteilungen beiderseits verzichtet und stattdessen kreativ gestritten wird.

Ein früher Dialogpartner ist der Zürcher Pfarrer Oskar Pfister. Pfister fühlt sich als Reformierter und Begründer einer »analytischen Seelsorge« durch die meisten Kritikpunkte Freuds nicht angesprochen. Er bezieht sie auf einen zwanghaft-ritualisierten und unaufgeklärten österreichischen Katholizismus und macht sich insofern die Kritik zu eigen (Noth 2010). Seinerseits kritisiert er Freuds Intellektualismus:

»Allein aus dem Wesen des Menschen und der engen Begrenzung des Intellektes muss ich Freuds Weissagung von der Zukunft einer Illusion die nicht mehr weissagende, sondern psychologisch begründete Behauptung von der Illusion einer solchen Zukunft entgegensetzen« (Pfister 1928: 131).

»Weissagung« ist wiederum religiöse Sprache. In der Tat macht Freud Aussagen, die in der Theologie »eschatologisch « (die letzten Dinge betreffend) genannt werden. Er spricht über Wünschen und Hoffen angesichts des Leidens, der Begrenztheit des Lebens, und zwar über individuelle und kollektive Wünsche und Hoffnungen. Er äußert den Verdacht, die individuellen religiösen Wünsche könnten ungeduldiger, selbstsüchtiger sein als das, was er für »neue Menschenkinder« erhofft. Er macht insofern eine unbewiesene, »illusionäre« Aussage über die Zukunft, als er allen Menschen eine religionslose Zukunft ankündigt und durch die Gleichsetzung von religiösem Glauben und infantilem Wunsch seine psychoanalytischen Schüler auf den Atheismus einzuschwören versucht. Gewiss kann sich die Gleichsetzung von religiösem Glauben und infantilem Wunsch im Einzelfall eines Analysanden, auch eines Lehranalysanden als berechtigt erweisen. Die kulturanthropologische Verallgemeinerung auf die Menschheit insgesamt ist unberechtigt und erschwert die Wahrnehmung des »illusionären« Charakters der Religion im Einzelfall (Lear 2009).

Vordergründig betrachtet, und dies hat sich oft genug ereignet, trennt Freuds Religionskritik Fromme und Aufgeklärte, Priester und Psychoanalytiker. Die trotzdem bestehenden Parallelen zwischen religiösen und psychoanalytischen Institutionen sind mehr oder minder bewusst. Manche religiös sozialisierte »Ausgetretene« werden zu überidentifizierten psychoanalytischen »Gläubigen«. Wer sowohl in der religiösen als auch in der psychoanalytischen »Kirche « eine »Weihe« erlangt hat, entdeckt diese Parallelen auf Schritt und Tritt. Freud selbst hatte einerseits einen wachen Sinn für Instituts-, Vereins- und Zeitschriftengründungen, andererseits war er skeptisch gegenüber Institutionen, vor allem gegenüber kirchlichen und medizinischen. Er wollte seine »Seelsorge« von derartigen kulturellen Überformungen freihalten:

»Ich weiß nicht, ob Sie das geheime Band zwischen der ›Laienanalyse‹ und der ›Illusion‹ erraten haben. In der ersten will ich die Analyse vor den Ärzten, in der anderen vor den Priestern schützen. Ich möchte sie einem Stand übergeben, der noch nicht existiert, einem Stand von weltlichen Seelsorgern, die Ärzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen. Herzlich Ihr alter Freud « (Freud an Pfister 25.11.1928).

Die Psychoanalyse als weltliche Seelsorge: Freud möchte sie in seinem freundlich-spöttischen, aber durchaus ernst gemeinten Brief an Pfister sowohl vor der Vereinnahmung durch Ärzte (als Exponenten der medizinischen Institutionen) als auch durch Priester (als Exponenten religiöser Institutionen) schützen. Wie schon aus seiner Freundschaft mit Pfister deutlich wird, wollte er keinen feindseligen Ausschluss gläubiger Menschen aus dem psychoanalytischen Projekt. Faktisch bildeten sich sieben psychoanalytische Positionen zu Freuds Religionskritik heraus (Akhtar 2009):

1.  Übernahme von Freuds Atheismus und Verweigerung eines fortgesetzten, lebendigen religionskritischen Diskurses.

2.  Mit Erikson billigen einige Psychoanalytiker der Religion eine strukturierende Rolle in der Identitätsbildung zu.

3.  Wenige »bekennen« sich zu ihrem christlichen (Domínguez-Morano 2003; Meissner 1984/2001; Rizzuto 1998), muslimischen (Ad-Dab'bagh 2001) oder jüdischen Glauben und begründen dies metapsychologisch und klinisch-theoretisch.

4.  Andere stellen dem von Freud kritisierten anthropomorphen Monotheismus polytheistische und nicht-theistische Entwürfe gegenüber.

5.  Andere sehen Gott als ein frühes und sinnlich erfahrbares Wissen um Transzendenz (Bion 1970/2006; Grotstein 1997; Symington 2009).

6.  Die Theorie des (intermediären) Übergangsbereichs (Winnicott, D. W. 1953/2001) zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen und Außen, zwischen Realität und Nicht-Realität erschließt Kunst, Religion und Imagination neu.

7.  Schließlich haben sich manche Psychoanalytiker mit politischen Fragen und ethnischen Konflikten im Zusammenhang mit der Religion beschäftigt (Volkan 2009).

Innerhalb dieser Typologie gibt es Überschneidungen. So verstößt der Jesuit William W. Meissner als Psychoanalytiker, Arzt und Priester gegen beide väterliche Mahnungen Freuds, indem er die Religionspsychologie Donald W. Winnicotts fortführt. Winnicott selbst war als junger Kinderarzt über die Lektüre Pfisters zur Psychoanalyse gekommen. Winnicott zeigt, dass sich zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Kind und Mutter ein intermediärer Raum entwickelt, und dass Illusion, In-Lusio, Ins-Spiel-Kommen lebensnotwendig und lebenslang notwendig für Kreativität, Religion und Kunst ist.

»Illusion« ist vom lateinischen ludus (Spiel) abgeleitet. Lūdere heißt spielen, scherzen, sich vergnügen, davon abgeleitet: il-lūdere, hin-spielen, im guten Sinne: etwas schriftlich gleichsam spielend hinwerfen, z. B. mit spielender Leichtigkeit zu Papier bringen, im üblen Sinne, mit jemandem oder etwas sein Spiel treiben, jemanden oder etwas verspotten. In diesem problematischen Sinn kann illusio im Lateinischen »Ironie« bedeuten. Im Spanischen des 17. Jahrhunderts kann ilusión das trügerische Spiel des dämonischen bösen Geistes sein, der dem Menschen einen falschen Schein vorgaukelt (Marías 1984).

Wer allerdings im Spanischen sagt: »El psicoanálisis me da mucha ilusión« (die Psychoanalyse begeistert mich) oder ähnliches, der meint damit keine »Illusion« im landläufigen deutschsprachigen Sinn der Realitätsverkennung, sondern Begeisterung. So unterscheidet das Spanische zwischen dem »illusionären« »hacerse ilusiones« oder »ser un iluso« einerseits und einer Tätigkeit, die »ilusionante« ist oder dem Zustand des »estar ilusionado« andererseits. Marías führt eine Fülle von Beispielen aus der Literatur der letzten 150 Jahre auf, insbesondere von romantischen Dichtern. Es geht dabei nicht nur um das Gegensatzpaar desilusión/ilusión, sondern auch um die Vorwegnahme der Zukunft (anticipación), um den projizierten Wunsch, um den intentionalen Charakter der ilusión. Diese ist im Gegensatz zum Wunsch dramatisch, Teil einer biographischen Erzählung. Aus einer ungerichteten erotischen Anziehung entsteht durch Ausrichtung auf eine bestimmte Person ilusión (Marías 1984: 74). Auch die spirituelle Dichtung Johannes’ vom Kreuz ist ganz von der ilusión bestimmt, von der ruhelosen Suche nach dem abwesenden Geliebten:

¿Adonde te escondiste,

Amado, y me dejaste con gemido?

Como el ciervo huiste,

habiéndome herido;

salí tras ti clamando, y eras ido.1

Auch Freud reflektiert das Verhältnis von Wunsch und Illusion, und er grenzt die Illusion deutlich vom Irrtum und vom Wahn ab:

»Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet sich […] auch von dieser. An der Wahnidee haben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muß nicht notwendig falsch, d. h. unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein. Ein Bürgermädchen kann sich z. B. die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie heimzuholen. Es ist möglich, einige Fälle dieser Art haben sich ereignet. Daß der Messias kommen und ein goldenes Zeitalter begründen wird, ist weit weniger wahrscheinlich; je nach der persönlichen Einstellung des Urteilenden wird er diesen Glauben als Illusion oder als Analogie einer Wahnidee klassifizieren. […] Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet« (Freud 1927c/1940: 353 f.).

Freud kritisiert den religiösen Glauben nicht in Anbetracht des Objektpols als illusionär – zu dessen Wahrheit will er sich nicht äußern –, sondern wegen der Subjektseite, wegen einer gewissen intellektuellen Unredlichkeit (Domínguez-Morano 2003) und der verweigerten aufgeklärten Mündigkeit. Sein betonter, religiös ausgedrückter Glaube an den »Gott Lógos« wird von Pfister illusionär genannt. Der Vatergott, von dem er spricht, gleicht eher einem Idol als einer Gottheit (Symington 2009).

»Freud betrachtete religiöse Glaubensüberzeugungen und Erfahrungen ausschließlich als Produkte innerseelischen Lebens ohne objektive Referenz. Diametral entgegengesetzt war die Überzeugung religiöser Denker, dass ihre Glaubensüberzeugungen objektive Referenz und Wahrheitswert hätten. […] Winnicott ermöglichte es zu verstehen, dass die Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden und durch einen Weg des Verständnisses religiöser Phänomene ersetzt werden kann, der diese Dichotomie vermeidet. Wie die Übergangsobjekte des Kindes konnten religiöse Objekte als Übergangsobjekte aufgefasst werden und deshalb als weder subjektiv noch objektiv« (Meissner 2000: 60).

Welchen Religionsbegriff benutzt Freud?

Im Rückblick auf die Illusionsschrift, aber auch in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern innerhalb der Psychoanalyse hält Freud fest, der gemeine Mann könne sich Religion und Vorsehung »nicht anders als in der Person eines großartig erhöhten Vaters vorstellen« (Freud 1930a/1940: 431). Gegen diese anthropomorph-monotheistische Vorstellung richtet sich seine Religionskritik. Freud wehrt sich dagegen, seine Kritik zu unterlaufen, indem man sein nicht nur anthropomorphes (menschengestaltiges), sondern andromorphes (manngestaltiges, patriarchales) Gottesbild in Zweifel zieht, wie dies z. B. A. M. Rizzuto tut (Rizzuto 1998). Auch den Philosophen will Freud es nicht erlauben, sich seiner Religionskritik unter Hinweis auf die Anthropomorphie zu entziehen. Paradoxerweise formuliert Freud seine Philosophenschelte im Namen des Glaubens:

»Man möchte sich in die Reihen der Gläubigen mengen, um den Philosophen, die den Gott der Religion zu retten glauben, indem sie ihn durch ein unpersönliches, schattenhaft abstraktes Prinzip ersetzen, die Mahnung vorzuhalten: ›Du sollst den Namen des Herrn nicht zum Eitlen anrufen« (Freud 1930a/1940: 432).

Das von Freud verwendete Zitat aus Exodus 20,7 stammt aus der Mitte der jüdischen Spiritualität, die bis auf den heutigen Tag aus Respekt den Gottesnamen nicht ausspricht, nicht nur »zum Eitlen« (Nichtigen), sondern auch nicht im Gottesdienst oder in der Wissenschaft. Vordergründig beachtet lesen wir das ironische Zitat des atheistischen Wissenschaftlers, der sich auf eine Tradition bezieht, mit der er längst gebrochen hat. Doch steht das biblische Bilder- und Namensverbot für das geistige Niveau der jüdischen Religion, die »sich den Höhen sublimer Abstraktion aufgeschwungen hat« (Freud 1939/1940). Auf dem Boden dieser Tradition betont Freud den Unterschied zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der – wie Pascal hinzufügt – der Gott Jesu Christi ist. Freud gilt als der argwöhnische und aufklärerische Enthüller. Könnte er auch für jenen Respekt eintreten, den Winnicott »no challenging« nennt: nämlich (das Kind oder den spirituellen Erwachsenen) nicht zu fragen: Hast du das Übergangsobjekt gefunden oder gemacht? Sollten Psychoanalytiker Freud beim Wort nehmen, um das Vatergott-Idol vom wahren Gott zu unterscheiden? (Symington 2009).

Freuds Religionskritik nimmt die Religion gegenüber ihren philosophischen Umdeutern in Schutz. Gilt dieser Vorbehalt auch gegenüber dem zeitgenössischen Spiritual Turn, zu dem eine gewisse Reserve gegenüber dem Begriff der Religion gehört, insbesondere wenn diese sich in Gemeinschaftsbildungen und Institutionen manifestiert, einem sozialpsychologischen und kulturanthropologischen Aspekt, der Freud sehr wichtig war?

Spiritual Turn: mehr als eine Begriffsverschiebung

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