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Konfuzius

wurde im Jahre 551 v. Chr. im Fürstentum Lu in der heutigen Provinz Schantung geboren. Im Laufe der Jahrzehnte gingen 3000 junge Männer durch seine Schule und verbreiteten seinen Ruhm und seine Lehre. Nach seinem von ihm selbst vorausgesagten Tod 479 v. Chr. wurde Konfuzius von seinen Schülern mit großem Prunk begraben. Seine Anschauungen prägen noch heute Leben und Kultur vieler asiatischer Länder.

Richard Wilhelm

(1873–1930) war einer der maßgeblichen Vermittler der chinesischen Sprache, Philosophie und Kulturgeschichte. Als Abgesandter der evangelisch-lutherischen Ostasienmission brach er 1899 in das Kaiserreich China auf. Bis 1921 war er als Missionar, Pfarrer und Pädagoge in Tsingtau tätig, lernte Chinesisch und setzte sich intensiv mit den Werken des klassischen chinesischen Altertums auseinander. 1924 erhielt er einen Lehrstuhl für Sinologie in Frankfurt am Main und wurde erster Direktor des von ihm erbauten China-Instituts. Durch seine Übersetzungen klassischer chinesischer Schriften etwa von Konfuzius oder Mengzi eröffnete er vielen Europäern den Zugang zur asiatischen Kultur und Lebensweise.

Zum Buch

»Wohin du auch gehst, geh mit ganzem Herzen.«

KONFUZIUS

Im Li Gi, dem umfangreichsten der fünf fernöstlichen, Konfuzius zugeschriebenen Klassiker, setzt der große Philosoph sich mit Normen der alltäglichen Riten und des Hofzeremoniells auseinander. Gleichzeitig geht er wie in den anderen der fünf Klassiker auch auf ehrenvolles Verhalten des Einzelnen im Alltag ein. Anhand der Erörterung pädagogischer Fragen, ethischer, religiöser und naturphilosophischer Probleme sowie historischer und biographischer Einzelheiten entsteht so eine Lebensnähe, die auf eindrückliche Weise komplex-theoretische Assoziationen mit der Wirklichkeit verbindet.

Zwar ist die Textsammlung des Li Gi erst nach Konfuzius’ Ableben entstanden, jedoch kann ihm der Inhalt dieses umfangreichen Klassikers der asiatischen Philosophie eindeutig zugeordnet werden. Konfuzius gelingt es, in lebensnahen Beispielen und Darlegungen hochkomplexe Fragestellungen auf nachvollziehbare Weise zu klären, sodass sich dem Leser Inspiration für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten bietet. Im Mittelpunkt stehen im Li Gi dabei die Riten des Alltags und das Hofzeremoniell. Zusätzlich bieten sich dem Leser Erläuterungen zu grundlegenden Termini der konfuzianischen Philosophie, wie das Maßhalten oder die Bedeutung des »Wegs«, die Querverbindungen zu den Ansichten anderer großer asiatischer Denker ziehen.

Li Gi

Das Buch
der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi

Das Buch
der Riten, Sitten und Gebräuche

Aus dem Chinesischen übersetzt und herausgegeben
von Richard Wilhelm

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© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014

ISBN: 978-3-8438-0454-7

www.verlagshaus-roemerweg.de/marixverlag

»Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln:
durch Nachdenken ist der edelste,
durch Nachahmen der einfachste,
durch Erfahrung der bitterste.«

Konfuzius

INHALT

ZUR EINFÜHRUNG

I

Grundlegende Abhandlungen

 

1. KAPITEL: DSCHUNG YUNG / Maß und Mitte

 

2. KAPITEL: DA HÜO / Die große Wissenschaft

 

3. KAPITEL: LI YÜN / Die Entwicklung der Sitte

 

4. KAPITEL: YÜO GI / Aufzeichnungen über die Musik

 

5. KAPITEL: KUNG DSÏ SAN TSCHAU / Die drei Audienzen des Meisters Kung beim Herzog Ai von Lu

 

6. KAPITEL: DAS BUCH DSONG DSÏ

II

Pädagogik

 

7. KAPITEL: HÜO GI / Aufzeichnungen über Schulwesen und Pädagogik

 

8. KAPITEL: KÜAN HÜO / Ermahnung zum Lernen

III

Ethik

 

9. KAPITEL: BIAU GI / Aufzeichnungen über das Vorbild

 

10. KAPITEL: JU HING / Wandel der Schriftgelehrten

IV

Die Sitte

 

11. KAPITEL: LI SAN BEN / Die drei Wurzeln der Sitte

 

12. KAPITEL: LI TSCHA / Untersuchung über die Sitte

 

13. KAPITEL: LI KI / Die Sitte als Mittel zur Bildung

V

Staat und Gesellschaft

 

14. KAPITEL: WANG YEN / Herrscherworte

 

15. KAPITEL: AI GUNG WEN WU I / Die Fragen des Herzogs Ai nach den fünf Stufen der Menschen

 

16. KAPITEL: AI GUNG WEN YÜ KUNG DSÏ / Die Fragen des Herzogs Ai an den Meister Kung

 

17. KAPITEL: DSÏ DSCHANG WEN JU GUAN / Mit Dsï Dschang über die Amtstätigkeit

 

18. KAPITEL: SCHONG DE / Lebendige Geisteskraft

 

19. KAPITEL: DA DSCHUAN / Die große Abhandlung

 

20. KAPITEL: SCHAU I / Kleine Regeln des Betragens

 

21. KAPITEL: BAU FU / Die kaiserlichen Lehrer

VI

Religion und Naturphilosophie

 

22. KAPITEL: BEN MING / Über die Bestimmung

 

23. KAPITEL: DSI I / Der Sinn des Opfers

VII

Historie und Biographie

 

24. KAPITEL: WEN WANG GUAN JEN / Wie König Wen seine Beamten anstellte

 

25. KAPITEL: WU WANG DSIËN DSU / Thronbesteigung des Königs Wu

 

26. KAPITEL: DSONG DSÏ WEN / Die Fragen des Dsong Dsï

VIII

Einzelne Riten und Verhaltensregeln

 

27. KAPITEL: TOU HU / Pfeilwerfen

 

28. KAPITEL: GUNG GUAN / Die Zeremonie der Männerweihe

 

29. KAPITEL: KÜ LI / Einzelsitten

 

30. KAPITEL: NE DSE / Regeln für den inneren Bereich

ANMERKUNGEN

ZUR EINFÜHRUNG

1. Die Bedeutung der Aufzeichnungen über die Sitte

Das vorliegende Übersetzungswerk gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammelwerken ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten. Sie zeigt darin die Gestalt, in der sie ihre grundlegende Einwirkung auf das staatliche und kulturelle Leben Chinas auszuüben begonnen hat. Konfuzius lebte am Wendepunkt zweier Zeiten. Durch eifriges Studium hatte er sich die Kultur der alten Herrscher nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrem tiefen Sinn zu eigen gemacht. Diese Kultur war ein organisches Gebilde, geschaffen durch eine Reihe bedeutender Männer, die über die Jahrhunderte hinweg an diesem Bau weitergearbeitet hatten. Konfuzius hätte die Fähigkeit gehabt, in diese Reihe einzutreten und die Kultur zeitgemäß zu erneuern und weiterzuführen. Allein die Verhältnisse erlaubten es nicht. Das Zeitalter der Heiligen auf dem Thron war vorüber. Weltlich-politische Gesichtspunkte bestimmten die Machtpolitik des Tages, die an Stelle der sittlichen Organisation der Menschheit ein System von rivalisierenden Staaten gesetzt hatte. Innerhalb dieses Systems war Kung Dsï mit seiner Auffassung notwendig zum Mißerfolg verurteilt. Allein dieser äußere Mißerfolg wurde für ihn der Anstoß zum Neuen. Während die Organisation der Kultur bisher die Aufgabe der Könige und Fürsten und ihrer Berater gewesen war, die allein im Besitz der Schlüssel der Überlieferung waren, holte sie Kung Dsï gleichsam auf die Erde herab, indem er eine private Überlieferungsgemeinde schuf, in der nicht nur das objektive Aktenmaterial – die klassischen Schriften – tradiert wurde, sondern die er auch in ein lebendiges Verständnis der inneren Grundsätze der Menschheitsorganisation einzuführen versuchte. Der »Edle«, der von jetzt ab das Ideal der chinesischen Gesellschaft wird, ist nicht mehr Geburtsadel, sondern Geistesadel. Konfuzius, der Nachkomme eines uralten Kaisergeschlechts, hat dieses Erbe seiner Klasse weitergegeben an die Klassen, die im Aufsteigen begriffen waren. Ein Edler konnte künftig jeder sein, der sich durch seine Gesinnung dieses Titels würdig machte. So wurde die prinzipiell klassenfreie chinesische Kultur begründet, die neben den Machthabern immer den Stand der Gebildeten kannte, die die öffentliche Meinung beeinflußten und schließlich immer gegen die brutale Macht gesiegt haben.

Nun ist es nicht leicht, ein solches Gebilde in weite Kreise zu überführen. Konfuzius hat darum nicht den Versuch gemacht, sich direkt ans Volk zu wenden, das in seiner Masse damals zu unentwickelt war, um irgendeine revolutionäre Bewegung tragen zu können. Sondern er versuchte mit seinen Grundsätzen in das herrschende System einzudringen, Staatsmänner heranzubilden, die fähig wären, einen Staat sachgemäß zu lenken, und dabei doch den Schwung der Überzeugung besaßen, der über eine bloß pragmatische Anpassung an die Tagesbedürfnisse hinausführte und der Politik eine große moralische Grundidee verlieh. Und in der Tat: die großen konstruktiven Staatsmänner der chinesischen Geschichte, die nicht für vorübergehende imperialistische Tendenzen, sondern für Ordnung auf lange Sicht gearbeitet haben, sind fast alle Erben der konfuzianischen Erziehung gewesen.

Aber neben den aktiven Staatsmännern, die zu ihrer Tätigkeit doch immer durch eine außerordentliche Geisteskraft befähigt sein müssen, galt es auch, Erzieher und Überlieferer heranzubilden. So machte Konfuzius denn aus seinen Schülern das, wozu jeder durch seine besondere Veranlagung befähigt war. Zweiundsiebzig nähere Schüler hat er im Lauf seines Lebens ausgebildet, an die sich noch etwa dreitausend in weiterem Abstand anschlossen.

Unter dieser Schar von Jüngern fanden sich nun viele, die fern vom öffentlichen Leben oder neben ihrer öffentlichen Tätigkeit die Überlieferung und Weiterbildung der Lehre des Meisters pflegten. So entstand die konfuzianische Lehrgemeinschaft, die aber nicht als Religionsgemeinschaft nach Art des Christentums oder des Buddhismus bezeichnet werden kann, weil ihr der prinzipielle Gegensatz zu den »Heiden« fehlt, die nur durch »Bekehrung« in den Kreis der »Geretteten« aufgenommen werden können. Vielmehr ist der Konfuzianismus einem Wege zu vergleichen, den jeder gehen kann, wenn er will, und den jeder so weit geht, als seine Kräfte und Neigungen es zulassen. Das Ziel, das man auf diesem Wege erreicht, ist weder der Zugang in einen Himmel nach dem Tode noch die Erlangung des Nirwana nach dem Durchqueren des Meers des Wahns, sondern einfach die Erlangung des vollen Menschentums, der wirklichen Güte. Gewiß gibt es Menschen, die von Natur dazu prädestiniert sind und dieses Ziel mit selbstverständlicher Leichtigkeit erreichen, und wieder andere, die durch ein Leben voll Arbeit und ernster Selbstzucht das Ideal erst erringen müssen, während es auch solche gibt, die aus äußeren Gründen der Klugheit ihm nachstreben, weil es immer auf die lange Dauer das Vorteilhafteste und Sicherste ist, ein anständiger Mensch zu werden. Aber als Voraussetzung zur Erreichung des Wegs – das Ideal selbst ist wohl für keinen lebenden Menschen je ganz zu erreichen – genügt das ehrliche Streben. Wer immer strebend sich bemüht, der gehört, ob begabt oder unbegabt, ob Chinese oder Barbar, zu der Gemeinschaft der Edlen, zur Aristokratie der Menschheit. Sünde und schlechte Veranlagung sind Hindernisse auf diesem Weg, aber nicht unüberwindlich. Es bedarf zu ihrer Überwindung nicht einer komplizierten äußeren Apparatur – sei es eines ausgedachten Sühnopferdienstes, sei es eines noch mehr ausgedachten Versöhnungsmythos –, sondern einfach der energischen Anstrengung. Denn die Sünde kann überwunden werden durch ein kräftiges Beschließen auf Grund einer unbedingten Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber. Vielleicht geht es nicht beim ersten Versuch, aber der Edle macht so lange weiter, bis es ihm gelingt. Er schämt sich, auf halbem Wege stehenzubleiben. Daß dies möglich ist, hat innere und äußere Gründe. Es wurde zwar zum Streitpunkt in der konfuzianischen Schule, ob der Mensch von Natur gut, d. h. ein geeignetes Material der Kultur mit positiven Trieben zur Selbstveredlung sei, oder ob er von Natur böse, d. h. gehemmt für die Erreichung des Ziels sei. In den beiden großen Nachfolgern des Meisters, Mong Ko und Sün Kuang, finden sich diese gegensätzlichen Anschauungen vertreten. Die Hauptsache bleibt aber, daß jeder den Weg zum Guten beschreiten kann, wenn er will. Und die Mittel zum Erfolg sind höchst einfach: ein klares, umfassendes Wissen um das, was recht ist (denn nicht ein dumpfer Drang, sondern eine klare Überzeugung ist es, die wirkliche Macht verleiht), und außerdem eine konsequente Übung des Gelernten. Dies sind die jedem zugänglichen Grundlagen der Selbsterziehung, durch die die magische Geisteskraft gewonnen wird, auf andere erziehend zu wirken. Denn diese Wirkung ist nicht etwas Äußerliches, sondern muß aus der Wesenstiefe des Überpersönlichen (Ming), das in jedem Menschen persönlich verkörpert ist (Sing), hervorkommen, um organisches Geschehen auf Erden zu bewirken. Diese Geisteskraft entfaltet sich als Liebe, Weisheit und Mut. Sie beruht auf der Basis der innerlichsten Gewissenhaftigkeit (Dschung) und dem Mitgefühl mit dem Nächsten (Schu). Indem es dem Edlen gelingt, sein Wesen mit seinen Trieben und Begierden nicht zu zerbrechen, sondern harmonisch zu formen (Dschung Ho), kommt er in den Besitz der weltumgestaltenden Macht; denn diese Macht des Himmels und der Erde (Natur) ist etwas, dessen Kern dem Menschen im Herzen ist, weshalb der große Mensch mit Himmel (geistiger Natur) und Erde (materieller Natur) die große Dreieinigkeit bildet.

Das Problem der Ethik ist also letzten Endes ein Problem der Erziehung. Der Selbsterzogene hat die Verantwortung und auch die Möglichkeit, andere zu erziehen. In drei Stufen vollzieht sich die Wirkung ins Breite: Familie, Staat, Menschheit. In der Familie sind die Einwirkungen am leichtesten; hier liegen die Wurzeln der menschlichen Gesellschaft: die sozialen Beziehungen von Mann und Frau, Vater und Sohn, älterem und jüngerem Bruder. Die Wirkung der blutmäßigen Zusammengehörigkeit, des unmittelbaren Zusammenseins ist hier die stärkste. Die Grundlage ist Liebe und Ehrfurcht. Der Staat ist die erweiterte Familie; die sozialen Beziehungen von Fürst und Diener und von Freund zu Freund treten hier den Familienbeziehungen zur Seite. Es fehlt der unmittelbare Zusammenhang des Bluts; er wird ersetzt durch die Pflicht. So ist der Staat zwar das abstraktere, aber auch das übergreifende Gebilde. Es kommt vor, daß der Edle wie sein eigenes Leben so auch Weib und Kind dem Staat zum Opfer bringt, aber es entspricht nicht dem Ethos, daß einer etwa um eines glücklichen Familienlebens willen den Staat verriete. Die Menschheit bildet noch eine höhere Stufe. Hier kommen wir in die kosmischen Verhältnisse hinein. An der Spitze der Menschheit steht der Himmelssohn, der ebenso Herrscher wie Priester ist und dessen Aufgabe es ist, das Tun der Menschen mit dem Naturlauf in Einklang zu bringen: Indem er sein Ich zum Ich der Menschheit erweitert, ist er fähig, die Menschen zu ordnen. Er wird nicht viel äußerlich machen und nach außen hervortreten. In tiefer Versenkung angesichts der kosmischen Urgründe stellt er in seinem Innern fest, was die Weltenstunde geschlagen hat, was an Kulturschöpfungen zeitgemäß geworden ist. Und das führt er aus, indem er die richtigen Leute an den richtigen Platz stellt und seine Geisteskraft in ihnen walten läßt.

Es könnte scheinen, als sei dies Weltbild eine bloße Utopie. Gewiß ist es wie jedes Weltbild, das ein Ziel enthält, auch Utopie, in dem Sinn, daß es erst verwirklicht werden muß, nicht irgendwo fertig vom Himmel herunterfällt, aber es ist nicht Utopie im Sinn einer wirklichkeitsfernen Schwärmerei. Wohl wird gelegentlich das Ideal der »Großen Gemeinsamkeit« aufgestellt, das im Grunde eine ideale Anarchie ist, da das Gesetz Bestandteil der Natur der Menschen geworden ist, aber dieses Ideal trübt nicht den Blick für die Wirklichkeit und ihre Aufgaben. Gerade hier liegt ein Vorzug des Konfuzianismus, indem er sich von allen überstiegenen Fanatismen fernhält und die mittlere Linie, Maß und Mitte, als das Wünschenswerteste bezeichnet. Diese mittlere Linie ist nicht die breite Mittelmäßigkeit des Philistertums, sondern die Grenze zwischen Fehler und Übertretung. Sie geht aus von den einfachsten und alltäglichsten Aufgaben, aber sie führt hinauf in kosmische Höhen, da es auch den größten Weisen schwerfällt, ihr zu folgen. Doch, wie gesagt, diese mittlere Linie behält den Kontakt mit der Wirklichkeit. Und da erheben sich nun die ganz klaren Aufgaben. Wie kann die Menschheit zur Ordnung erzogen werden? Wie können die Bindungen bewirkt werden, die nötig sind, daß das Zusammenleben der Menschen kein Chaos, sondern ein Organismus wird?

Verschiedene Wege zu diesem Ziel kennt die Geschichte. Der älteste Weg ist der naturhafte. Das Gruppenbewußtsein ist übergeordnet. Der einzelne wächst in die Gruppe hinein, deren unselbständiger Teil er wird, und lebt aus dem Gruppengeist heraus vielmehr als aus seinen eigenen Trieben. Hier ist das Problem noch latent. Es wird erst dann akut, wenn der »Sündenfall« des Individualismus einsetzt, wenn der einzelne sich mit seinen Ansprüchen der Gruppe gegenüberstellt, ohne daß er die Macht hätte, als Häuptling sozusagen Vertreter des Gruppenbewußtseins zu sein. Die Spukgestalten der Götter und Geister, die nach außen projizierten Phantasiegebilde des kollektiven Unbewußten, werden von Priestern und Herrschern mit der Autorität ausgestaltet, die auf das Gefühl der Menschen wirkt. Geheimnisvoll fürchterliche Bräuche führen dazu, diese Antriebe wirksam zu machen. Die Furcht vor der Rache der Götter, die Hoffnung auf Lohn sind es, die auf dieser Stufe die soziale Ordnung aufrechterhalten. In der Regel sind solche Religionen äußerst blutig, und Fememorde aller Art helfen nach, den Aberglauben zu stärken und ihm Dauer zu verleihen. Es finden sich in der chinesischen Geschichte auch Spuren dieser religiösen Epoche. Doch ist es gerade das Verdienst des Konfuzianismus, daß er sich dem Überwuchern der religiösen Motive energisch entgegengesetzt hat. Nicht in dem Sinn einer platten Aufklärung. Das dem religiösen Kult mit zugrunde liegende Gefühl der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der Umwelt wurde in vollem Maße anerkannt, und im Staatskult und Ahnendienst der Familien wurden feste Formen geschaffen, um diese Verehrung des Göttlichen zugleich in Verbindung mit sozialer Betätigung zu pflegen: Die Opfer waren immer zugleich Feste und Mahlzeiten, bei denen die gesellschaftlichen Abstufungen der Menschen ihren symbolischen Ausdruck fanden. Aber so sehr die religiös geweihte Kommunion geschätzt wurde: abgelöst von den sozialen Menschheitszusammenhängen gab es keinen Kult der Götter. Die Götter konnten infolge der konfuzianischen Haltung nie die menschliche Seele überwuchern. Sie wurden nicht zu blind geglaubten Phantasie-Realitäten, die zu ihrer Verwirklichung den niederen Fanatismus der Massen anstachelten, wie das anderwärts in Religionen der Fall war. Sondern die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen blieb in der Atmosphäre einer kühlen Zurückhaltung. Man ehrte die Götter, aber machte sich nicht mit ihnen gemein. Die Existenz des Göttlichen wurde nicht bezweifelt. Es ist ein Irrtum, wenn das auf europäischer Seite immer wieder behauptet wird. Gerade in unserem Werk haben wir genügende Beweise für die religiöse Grundhaltung. Aber die Wirklichkeit der Götter wurde auch nicht mit der materiellen Wirklichkeit in abergläubischer Weise vermischt. Der Wirkungsbereich des Göttlichen ist die Seele des Menschen. Durch Fasten und Kontemplation kommt zwar der pietätvolle Sohn vor seinem Opfer dazu, daß er die sieht, denen er opfert, aber es ist keine plumpe Wirklichkeit, sondern das kühle Zwischenreich des Als-Ob, das ebensowenig leere Einbildung wie sinnliche Wahrnehmung ist. Auf alle Fälle wurde das religiöse Gefühl von einer überwuchernden Besitznahme des ganzen Gemüts abgehalten. Die Frömmigkeit wurde anerkannt als Mittel zur Herbeiführung eines harmonischen Seelenzustands. Aber die Harmonie der Seele sollte nicht ertränkt werden durch ein Überströmen dumpfen Gefühls.

Gewöhnlich pflegt, wenn im Lauf der Geschichte die religiösen Vorstellungen verblassen und ihren Einfluß auf die Menschen verlieren, die staatliche Macht den Versuch zu machen, zu neuen Bindungen zu führen. Jetzt ist es nicht mehr das »numen tremendum«, das zu fürchtende Unbekannte, das die Seele ängstigt und im Bann der Moral hält, sondern jetzt sind es die höchst realen Staatsgesetze mit ihren höchst realen Belohnungen und Strafen, die dem Menschen Furcht und Hoffnung erwecken und ihn dadurch auf die vom Herrscher gewünschte Bahn zwingen wollen. Auch diese Richtung fand im antiken China ihre Vertreter. Es sind die sogenannten Gesetzeslehrer (Fa Gia), die zum Teil mit dem Unterbau einer taoistischen Metaphysik den Gesetzen eine ebenso unerbittliche Wirkung geben wollten, wie sie das von ihnen als Naturgesetz aufgefaßte Tao besitzt. Aber auch hiergegen wandte sich der Konfuzianismus. Denn wenn die religiöse Motivation zwar aus primitiven Bezirken der Seele aufquillt, aber immerhin innerlich ist, so ist die Motivation durch Furcht und Hoffnung im Hinblick auf Lohn und Strafe etwas rein Äußerliches. Die Wirkung wird die sein, wo nicht der Ernst der Überzeugung und das Vorbild der Herrschenden als geistige Macht dahintersteht, daß, das Volk sich der Strafe entzieht durch listige Vermeidung strafbarer Tatbestände bzw. deren Verdeckung und Verschiebung und an die Stelle der Ordnung das Chaos tritt, das vielleicht noch eine Zeitlang latent bleibt, aber schließlich den Ruin der Gesellschaft herbeiführt.

Hier zeigt sich nun im Konfuzianismus ein neuer Weg. Die genannten Mittel zur Erzielung wirksamer gesellschaftlicher Bindungen gehen alle von einem fertigen Tatbestand aus, der belohnt oder bestraft wird, sei es von jenseitigen, sei es von diesseitigen Mächten. Dieser zum mindesten hypothetisch vorausgesetzte Zustand soll verhindert, oder falls er doch wirklich geworden ist, in Zukunft beseitigt werden durch die damit verknüpften Folgen. Die Folge soll also in der Form des Motivs zur Ursache von Handlungen werden. Die psychologische Schwierigkeit der Situation liegt auf der Hand. Demgegenüber ist das Ziel des Konfuzianismus, den asozialen und damit bösen Seelenzustand in den Menschen gar nicht erst erwachen zu lassen, auf die Keime des psychischen Geschehens zu achten, um alles, was sich regt – ehe es Wirklichkeit geworden ist – in solche Bahnen zu lenken, da es sozial wertvoll wird. Dabei ist Voraussetzung, daß der Mensch als Naturwesen anerkannt wird. Er braucht keine Seite seines Wesens auszurotten, keine natürlichen Triebe und Begierden zu unterdrücken, sondern er muß es sich nur gefallen lassen, daß die sozial notwendige Hierarchie der Werte in ihm Gestalt gewinne, daß Wertvolles entwickelt und Wertloses hintangesetzt wird. Die Hierarchie der Werte setzt sich in der Gesinnung ohne Schwierigkeit durch, wenn die seelische Grundhaltung die Ehrfurcht ist. Darum ist Kern und Grundlage des Konfuzianismus die Pflege der Ehrfurcht. Die Ehrfurcht hat ihre naturgemäße Basis in der Familie, im Verhältnis der Kinder zu den Eltern. Hier wird nun alles getan, um die Familie so zu unterbauen, daß Ehrfurcht gedeihen kann. Das Verhältnis zu den Eltern wird seiner persönlichen Zufälligkeiten entkleidet, es gewinnt prinzipielle Bedeutung. Die Familie wird über die Gegenwart hinaufgeführt als eine die Zeit und ihren Generationswechsel überdauernde Kontinuität. Dies ist der Sinn des Ahnenkults. Das Alte ist ehrwürdig durch seine Dauer und die Folge seines Bestandes. In diesen Bestand reiht sich die Gegenwart willig als verbindendes Glied zur Zukunft ein. Aber von der Familie wird die Gesinnung der Ehrfurcht auf alles übertragen: auf das, was über uns, auf das, was uns gleich, und auf das, was unter uns ist. Was in der Familie der Ahnenkult, das ist in der Gesellschaft die Geschichte. Auch hier ist das Alte, der Weg der Heiligen und Kulturschöpfer, das Ehrfurchtgebietende. Darum hat der Konfuzianismus seine Lehren, auch soweit sie durchaus den Forderungen der eigenen Zeit entsprangen, mit der Autorität der alten Heiligen gedeckt. Er behauptete zu überliefern und nicht neu zu schaffen. Besonders war es eine Gestalt der Prähistorie, die er zum Ideal ausbildete: Schun, der Mann aus dem Volke, der trotz aller widrigen Verhältnisse an die Spitze des Weltreichs kam. Dieses Beispiel des Konfuzianismus war nicht vereinzelt. Auch andere Schulen suchten durch Projektion ihrer Ideale in die Vergangenheit Autorität für sich zu gewinnen. So hat der Taoismus sich auf Huang Di und noch ältere mythische Gestalten berufen, Mo Di auf den großen Yü, der sich im Dienst der Allgemeinheit verzehrte, gewisse agrarkommunistische Richtungen auf Schen Nung, den Göttlichen Landmann, u. a. m. Während so die älteste Geschichte (zu der als zweite wichtige Epoche dann die Anfangszeit des Hauses Dschou gerechnet werden muß) als Autorität in Anspruch genommen wird, wird die neuere Geschichte (Frühling- und Herbstannalen) einer kritischen Revision unterzogen, durch die die Begriffe richtiggestellt und die faktisch in Verfall geratene Hierarchie der Werte wieder zur Geltung gebracht werden sollte. Dies die Historie als Mittel zur Festigung der Autorität. Daneben gab es auch noch andere Mittel. Das Äußere und das Innere hängen zusammen. Wie die Gedanken des Inneren ihren Weg nach außen suchen, so wirkt auch das äußere Benehmen, die Haltung, die Gewöhnung des Handelns, ja die Kleidung und Stellung auf das Innere ein. Indem hier durch eine systematische Pflege der Sitte das System der Werte zunächst äußerlich gestützt wurde, war der Einfluß auf die Gesinnung ohne Anstrengung zu erreichen. Denn was Gewohnheit geworden ist, was in Fleisch und Blut übergegangen ist, das wird leicht; Gegenströmungen sind durch die Sitte schon vor ihrem Entstehen gehemmt. Die Keime werden beeinflußt. Von hier aus ist die zentrale Stellung der Sitte als Erziehungsmittel im Konfuzianismus zu verstehen. Die Sitte unterscheidet sich vom Gesetz dadurch, daß, während das Gesetz durch Einschüchterung fordert, also höchstens widerwilligen Gehorsam erzwingt, die Sitte immer auf Gegenseitigkeit, auf Geben und Nehmen, auf einem Ausgleich der Ansprüche und Leistungen beruht, der freiwillig erfolgt, weil er vom anderen auch freiwillig geboten wird. So wird durch Betonung der Sitte in allen Lebenslagen ein Mittel geschaffen, die Menschen zu einer freiwilligen sozialen Bindung zu bringen. Die Sitte verlangt gesellschaftliche Abstufungen; denn nur, wenn es den Unterschied von hoch und niedrig gibt, kann der Niedrige vom Hohen geehrt werden. Diese Abstufungen sind sozusagen das kraftspendende Gefälle der gesellschaftlichen Hierarchie. Aber dieser Unterschied verfestigt sich nicht in einer Erstarrung der Stände. Kasten hat es in China nie gegeben. Vielmehr hat Verdienst und Begabung immer die Möglichkeit des Aufstiegs, durch den dann auch diejenigen Familienmitglieder gefördert werden, die unmittelbar nicht daran teilhaben. So ist die Pflege der Sitte das wichtigste Mittel zur Volkserziehung. Alle wichtigen Handlungen des Lebens werden mit genau festgesetzten sakralen Sitten umgeben: Geburt, Männerweihe, Eheschließung, Gautrinken, Schützenfeste, Hoffeste und Audienzen, Begräbnis, Ahnenkult, Opfer: alles hat seine Sitten, und durch die Befolgung der Sitten wird das Innere beeinflußt, daß es sich freiwillig der sozialen Bindung fügt. Aber auch das äußerliche Betragen bis auf die Kleider, die für die einzelnen Anlässe vorgeschrieben sind, die Speisen, die man genießt, wird durch Sitten geregelt, und das Leben bekommt so einen sittlichen Halt. Alle Menschen mit höheren Tendenzen werden sich freiwillig diesen Regeln der Sitte anschließen. Und wo die Sitte herrscht, hat das Gesetz keine Macht. Gesetze und Strafen, auch Kriege und militärische Strafexpeditionen sind nur der äußere Zaun, der die Gesellschaft vor den Übergriffen der asozialen »unsittlichen« Elemente zu schützen hat. Sie beanspruchen keine selbständige Bedeutung.

Wenn so die Sitte von außen nach innen wirkt, so muß sie ergänzt werden durch ein Erziehungsmittel, das von innen nach außen wirkt. Das ist die Musik. Von hier aus ist die große Bedeutung zu verstehen, die der Musik im Konfuzianismus zukommt. Der Ausdruck Musik darf natürlich nicht im engen Sinn der Tonkunst genommen werden. Zu den Tönen der Instrumente gehörte der Text der Lieder, gehörten die sinnvoll rhythmischen Bewegungen der heiligen Tänze, gehörte die ganze Stimmung, die durch solche Darstellungen erzeugt wurde. Musik, die musische Seelenhaltung einer harmonischen Heiterkeit, die dem, was das Gefühl erschüttert, einen geordneten und adäquaten Ausdruck verleiht: das ist das zweite Erziehungsmittel des Konfuzianismus. Zur Musik in diesem Sinne gehört im einzelnen und öffentlichen Leben alles, was dem Gesetz der Schönheit durch die Gefühle und ihre Äußerungen Ausdruck gibt. Musik ist Kunst, wie Sitte Wissenschaft ist, beide nicht abstrakt getrennt, sondern als harmonische Verbindung von Logos und Eros.

Dies ist die Weltanschauung, die im Buch der Sitte niedergelegt ist. Mannigfaltige Brechungen zeigen die einzelnen Abschnitte. Sie geben bunte Abwechslung weit eher als dogmatische Geschlossenheit. Unter den Schülern des Konfuzius befanden sich solche, die die kleinen Sitten des Alltags mit besonderer Sorgfalt pflegten und durch Einzelarbeit zum Gesamterfolg strebten. Andere, wie die Schule des Dsong Schen, legten alles Gewicht auf die Kindesehrfurcht und machten sie sozusagen zum Maßstab aller Moral. Die Schule des Dsï Sï scheint von taoistisch-naturphilosophischen Gedanken berührt worden zu sein. Und Sün Kuang, der neben Mong Ko der bedeutendste Vertreter des Konfuzianismus war, legte den Hauptnachdruck auf die Sitte als das umgestaltende Medium der Menschenbildung. Alle diese Richtungen finden in den übersetzten Abschnitten ihren Ausdruck, wenn auch der Geist des Sün Kuang als vorherrschend bezeichnet werden muß. Daneben finden sich Überlieferungen aus alter Zeit und Fortbildungen der Lehre bis in das erste vorchristliche Jahrhundert hinein. So ist das Buch eine wichtige Quelle für das, was sich von den Lehren des Meisters Kung realisiert hat. Und manches steht darin, was dauernd Menschheitsbedeutung beanspruchen darf.

2. Die Geschichte des Textes

Li Gi oder das Buch der Sitte (genauer: Aufzeichnungen über die Sitten) gehört neben dem Buch der Urkunden, dem Buch der Lieder, dem Buch der Wandlungen und den Frühling- und Herbstannalen zu den fünf großen klassischen Büchern des alten China. Man kann es in verschiedener Hinsicht mit der Thora (Fünf Bücher Mosis) im Alten Testament vergleichen. Es ist ein Buch für den praktischen Gebrauch, da es die Regeln des rechten Verhaltens in allen Lebenslagen – von den Riten der heiligen Opfer für den höchsten Gott und die Ahnen bis herab zu den Regeln des alltäglichen Betragens bei Speise und Trank – enthält. Aber neben den praktischen Regeln enthält es auch die großen geistigen Grundlagen, auf denen das gesamte konfuzianische System aufgebaut ist. Es weist hinauf über Konfuzius zu den Patriarchen der alten Zeit, von denen die chinesische Kultur ihren Anfang nahm, und führt herab über Konfuzius bis zu den Lehren des einflußreichsten seiner Nachfolger (der mindestens auf Jahrhunderte selbst den glänzenden Stilisten Mong Dsï in den Schatten stellte), des berühmten Staatsministers und Philosophen Sün Kuang (auch Sün King = Minister Sün genannt).

Aber ähnlich, wie die Thora nicht das Werk des Mose ist, obwohl sie das Werk des Mose in sich enthält, ist das Li Gi nicht das Werk des Konfuzius, aber enthält so gut wie alles das, was aus dem von ihm gesäten Samen im Lauf der ersten Jahrhunderte aufgegangen ist. Wie die Thora auf eine Anzahl älterer Quellenschriften zurückgeht, die später vereinigt und redigiert wurden, so ist auch das Li Gi kein einheitliches Werk. Ja es ist noch weniger einheitlich als die Thora, weil von den Redaktoren gar nicht der Versuch gemacht worden ist, das Ganze einheitlich und dem historischen Verlauf nach zusammenzufassen. Vielmehr ist es zusammengesetzt aus lauter einzelnen Abhandlungen, die – oft selbst wieder Sammlungen von Sprüchen oder Anekdoten – von den Redaktoren, wie sie sie vorfanden, aneinandergereiht worden sind, ohne daß sich irgendwelcher Faden des Zusammenhangs dabei feststellen ließe. Das Li Gi verdankt, wie ein großer Teil der konfuzianischen klassischen Literatur, seine abschließende Zusammenfassung und Redaktion dem großen Gelehrten Dschong Hüan (Dschong Kang Tschong, 127–200 n. Chr.), der gewissenhaft das, was er aus dem Altertum überkommen hatte, zusammenstellte und kommentierte und nicht wagte, aus seinem Eigenen etwas dazu oder davon zu tun. Sehr im Gegensatz zu ihm steht sein abtrünnig gewordener Schüler Wang Su, der weit mehr mit seiner Person in den Vordergrund tritt und der versucht hat, ungefähr denselben Stoff, der ihm ebenfalls vorlag, unter dem Titel eines verlorengegangenen konfuzianischen Werks »Hausgespräche« (Gia Yü) einheitlich um den Meister Kung zu gruppieren, und dabei, wo es nötig war, auch vor stilistischen und verdeutlichenden Textänderungen nicht zurückschreckte.

Allein die Sammlung des Kanons hat eine jahrhundertelange Geschichte. Die Schule des Konfuzius hat sich unter der Leitung des Meisters mit der Sammlung und Sichtung derjenigen der alten Schriften und Überlieferungen befaßt, die geeignet waren, den Theorien des Meisters über die Organisation der Menschheit als Beleg zu dienen. Es wird mehrfach berichtet, daß die Zweiundsiebzig näheren Schüler und deren Jünger derartige Aufzeichnungen aus alter und neuer Zeit hinterließen, die nicht nur schriftlich, sondern auch im Gedächtnis aufbewahrt den literarischen Schatz der Schriftgelehrten (Ju, dies war der Titel, den die konfuzianische Schule von den anderen Philosophenschulen erhielt und auch selbst akzeptierte) bildete. Diese Texte, von denen die verschiedenen Schulen, die sich nach dem Tod des Meisters bildeten, teils die einen, teils die anderen ihren Überlieferungen und Schulunterweisungen zugrunde legten, erlitten eine große Einbuße durch den berüchtigten Tsin Schï Huang Di, der, um allein groß zu sein, die Vergangenheit zerstören wollte und daher ein Edikt erließ, daß die Bambustafeln, auf denen diese Aufzeichnungen geschrieben standen, eingeliefert und verbrannt werden sollten (nur die Kaiserliche Bibliothek behielt von jedem Werk ein Exemplar) und daß auch die mündliche Unterweisung in jenen Texten zu unterbleiben habe. So verschwanden denn jene literarischen Schätze aus der Öffentlichkeit. Vielleicht noch mehr als die Edikte des Tyrannen haben die furchtbaren Kriege, die von 209 bis 202 v. Chr. das Land in seinen Grundfesten erschütterten, dazu beigetragen, daß die Tradition der konfuzianischen Schule zwar noch nicht ganz unterbrochen, aber doch stark beschädigt wurde. Nachdem die Handynastie das Reich geeinigt hatte, gelang es gar bald einzelnen der Schriftgelehrten, den regierenden Herrschern zu beweisen, welche Stütze sie in den konfuzianischen Lehren für den Staat finden würden, und so wurde denn jenes Edikt des Schriftenverbots im Jahre 164 v. Chr. aufgehoben, nachdem es schon länger zuvor praktisch unwirksam geworden war. Die alten Traditionen wurden gesammelt, und damals entstand allmählich das, was wir als die konfuzianische klassische Literatur in ihrer gegenwärtigen Form vor uns haben. Alte Gelehrte schrieben aus dem Gedächtnis die Texte nieder, die sie von ihren Meistern seinerzeit gelernt hatten, und alte Bambustafeln, die in der Verfolgungszeit da und dort verborgen worden waren, kamen wieder ans Tageslicht und wurden nicht ohne Mühe entziffert. Die Schriftform hatte sich ja inzwischen geändert, und die alten Holztafeln waren wahrscheinlich zum großen Teil in ziemlich defektem Zustand. Belohnungen, die von Kaisern und Prinzen auf den Fund alter Schriften ausgesetzt wurden, regten den Sammeleifer mächtig an; besonders der Prinz Hiën von Ho Gien, ein Verwandter des Kaisers Wu (140–87 v. Chr.), konnte eine große Anzahl von alten Werken auf diese Weise retten. So kam ein Teil des alten klassischen Buchs der Sittenregeln (Li Ging) wieder schriftlich und mündlich zutage, das später unter dem Namen I Li unter die Klassiker aufgenommen wurde. Ebenso wurde angeblich die Beamtenordnung der Dschoudynastie (Dschou Guan, später Dschou Li genannt) dargebracht, doch bestehen über die Echtheit dieses Textes unter den chinesischen Gelehrten die größten Bedenken. Das Werk scheint eher eine in das damalige Mittelalter (ca. 1000 v. Chr.) zurückprojizierte Utopie als eine wirklich historische Urkunde zu sein. Auf jeden Fall handelt es sich bei beiden Werken um offizielle Aufzeichnungen der tatsächlich ausgeübten Bräuche, ohne den Versuch einer Erklärung ihres Sinnes oder ihrer weltanschaulichen Verankerung. Das war das Werk des Konfuzius gewesen, daß er die alten Texte nicht nur überlieferte, die alten Sitten nicht nur mit seinen Schülern einübte, sondern daß er gleichzeitig ihren Sinn klarmachte und von seiner Weltanschauung aus diese alten Texte erklärte und ausdeutete (ja zum Teil auch umdeutete). Diese Lehrtätigkeit des Meisters bildete den Stoff für die Aufzeichnungen (Gi) der Schüler. Von solchen Aufzeichnungen kam nun auch eine große Menge bunter Art zutage – lauter einzelne Schriften oder Sammlungen von Sprüchen, Lehren und Anekdoten. Keiner der Schüler des Meisters hat seine ganze Lehre weitergegeben – der einzige, der dazu imstande gewesen wäre, Yen Hui, starb vor dem Meister –, aber in all den verschiedenen Schulen, die von ihm ausgingen, waren neben den klassischen Texten, die sie zur Überlieferung ausgewählt hatten, Kompendien von Aufzeichnungen über die Erklärung des Meisters vorhanden, die er zu den klassischen Texten gegeben hatte. Diese Kompendien stimmten natürlich in manchen Punkten überein, während sie in anderen voneinander abwichen, so daß eine einfache Zusammenstellung vielfache Wiederholungen ergeben hätte. Der oben genannte Prinz Hiën (Ho Giën Wang) hat von diesen Aufzeichnungen der Jünger des Kung Dsï 132 verschiedene Kapitel zusammengebracht, von denen, als der bekannte kaiserliche Bibliothekar Liu Hiang im Jahr 51 v. Chr. eine Konferenz von Gelehrten über die Verwertung der Texte auf kaiserlichen Befehl abhielt, noch 130 Kapitel vorhanden waren; doch war inzwischen anderer Stoff dazugekommen, so daß die Abhandlungen über die Sitten die Zahl von 200 überstiegen. Darunter befanden sich offenbar viele Dubletten. Liu Hiang suchte den Stoff zu ordnen, wählte 130 Kapitel aus und stellte acht verschiedene Klassen auf:

1. Allgemeine Abhandlungen, 2. Regierungsmaßregeln, 3. Trauerkleidung, 4. Freudige rituelle Angelegenheiten, 5. Opfer, 6. Regeln für Söhne, 7. Aufzeichnungen über Musik, 8. Naturphilosophisches (Ming Tang Yin Yang).

Aus diesem Stoff traf nun der ältere Dai, Dai De, eine Auswahl von 83 Kapiteln unter Beiseitelassung aller Wiederholungen. Dieses Werk wurde Da Dai Li oder Da Dai Li Gi (Aufzeichnungen der Sitten des älteren Dai) genannt. Was heute von diesem Werk vorhanden ist, beläuft sich auf 38 Kapitel. Da diese noch ihre alte Numerierung tragen, so läßt sich das Verlorene leicht feststellen. Es fehlen zu Beginn 38 Kapitel und zum Schluß 4 Kapitel und an vielen Stellen dazwischen auch noch einzelne Stücke.

Der Grund für diese Verluste, die zugleich mit einer großen Vernachlässigung des Textes und dem Fehlen eines alten Kommentars zu mehreren Kapiteln verbunden sind, ist darin zu suchen, daß bald nach Dai De sein jüngerer Vetter Dai Schen ebenfalls eine Auswahl aus dem alten Stoff in 46 Kapiteln traf, die unter dem Namen Siau Dai Li Gi bald das andere Werk in Schatten stellte. Daskam zum Teil davon her, daß, wie schon in den Sui-Annalen berichtet wird, der Eindruck aufkam, daß ähnlich wie Dai De aus den 130 Stücken des Liu Hiang eine Auswahl des Wichtigsten getroffen, Dai Schen aus dieser Auswahl seines Vetters wieder das Wichtigste in seinen 46 Kapiteln ausgewählt habe. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie schon daraus hervorgeht, daß im Da Dai Li noch heute Stücke stehen, die auch im Siau Dai Li Gi enthalten sind (Tou Hu, Pfeilwerfen und Ai Gung Wen, die Fragen des Herzogs Ai), was nicht der Fall sein könnte, wenn das heutige Da Dai Li nur den übriggelassenen Rest von Siau Dai Li darstellen würde. Immerhin muß die Zahl der gemeinsamen Stücke ziemlich beträchtlich gewesen sein, und sehr vieles, was heute im Siau Dai Li Gi steht, wird wohl im Da Dai Li auch gestanden haben. Kurz, das kürzere Werk – das noch immer lang genug ist und auch noch immer ziemlich viele Wiederholungen zeigt – kam in Aufnahme, wurde unter die klassischen Schriften eingereiht, und das ältere Werk trat zurück und wurde vernachlässigt. Es bildete schließlich eine Abteilung der Han We Dsung Schu (gesammelte Werke der Han- und Wedynastie). Erst im Huang Dsing Ging Gië, dem großen Kommentarwerk der Gelehrten der Tsingzeit aus dem 18. Jahrhundert, wurde das Werk einer kritischen Bearbeitung unterzogen. Dai Dschen, der Zeitgenosse Kants, beschäftigte sich mit dem Text; eine kritische Ausgabe des Sungdrucks von Han Yüan Gi veranstaltete Wang Ba Gung. Einen sehr sorgfältigen Kommentar verfaßte Kung Giën Tau, ein Nachkomme des Konfuzius, und Yüan Yüan schrieb einen ausführlichen Kommentar zu dem Buch Dsong Dsï, das er aus dem Zusammenhang des Ganzen herausgenommen und als besonderes Werk ediert hat.

Die Aufzeichnungen über die Sitten durch den jüngeren Dai (Siau Dai Li Gi) haben wohl sechs verschiedene Quellen, die mindestens zum Teil mit denen des Da Dai Li übereinstimmen. Aus der Wezeit existiert ein Bericht, den Liang Ki Tschau zitiert, nach dem ein Mann aus Lu namens Schu Sung Tung die erste Sammlung von Aufzeichnungen über die Sitte gemacht habe. Dies dürften wohl die 130 Kapitel sein, die dem Bibliothekar Liu Hiang als Grundstock vorlagen und die er nach Klassen ordnete. In den Annalen von Sui heißt es weiter, daß Liu Hiang außerdem die Aufzeichnung über das Lichtschloß und die dunkle und lichte Urkraft (Ming Tang Yin Yang Gi) zur Verfügung gehabt habe, ferner die Aufzeichnung über die drei Audienzen des Konfuzius (heute im Da Dai Li vorhanden), die Aufzeichnungen des Wang, die des Schï und die Aufzeichnungen über die Musik (Yüo Gi). Diese fünf Quellen haben mit den Kapiteln von Schu Sung Tung zusammen die Zahl von 214 ausgemacht. In den Annalen der Handynastie werden angegeben: Li Gi (Aufzeichnungen über die Sitte) 131 Kapitel, Ming Tang Yin Yang 33 Kapitel, die Aufzeichnungen des Wang und des Schï 21 Kapitel, die Aufzeichnungen über die Musik 23 Kapitel, die drei Audienzen des Konfuzius 7 Kapitel: im ganzen 215 (also eines mehr als in den Suiannalen). Aus diesen Kapiteln trafen dann die beiden Dai – jeder selbständig – ihre Auswahl.

Den ersten Kommentar von Bedeutung schrieb Dschong Kang Tschong, der berühmte Sammler und Literat (127–200 n. Chr.). In der Tangzeit schrieb Kung Ying Da nähere Ausführungen dazu. Aber schon im Jahr 175 n. Chr. wurde der Text des Werkes unter die klassischen Schriften des Konfuzianismus aufgenommen, deren Text unter der Aufsicht von Tsai Yung in Steintafeln eingraviert wurde. Das Buch kam unter die dreizehn Klassiker und später, als unter diesen eine engere Wahl getroffen wurde, unter die fünf wichtigsten Schriften (Wu Ging), für die je zwei große Gelehrte zur Erklärung und Überlieferung vom Hof bestimmt waren. In europäische Sprachen ist das Buch trotz seiner Länge mehrfach übersetzt worden. Wir erwähnen nur die wichtigsten dieser Übersetzungen: J. Legge, in The Sacred Books of the East, The Texts of Confucianism, Part III/IV, the Li Ki, Oxford 1885, und S. Couvreur, Li Ki ou Mémoires sur les bienséances et les cérémonies. Texte Chinois avec une double traduction en Français et en Latin, 2. Auflage Ho Kien Fou 1913. Es wurde daher unsere Übersetzung auf die wichtigsten Teile beschränkt. Die Abschnitte von rein antiquarischem Interesse wurden weggelassen.

3. Über die Anordnung des Textes in der vorliegenden Ausgabe

Die beiden Werke: die Sammlung des älteren Dai und die Sammlung des jüngeren Dai, aus denen ein Auszug des Wichtigsten gegeben wurde, sind Sammlungen einzelner Abhandlungen aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenem Wert, die ohne ersichtlichen Zusammenhang einander folgen. Es ist daher keine Verletzung eines inneren Organismus, wenn versucht wurde, die Übersetzung nach sachlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Obwohl auch die einzelnen Kapitel oft sehr gemischtes Material enthalten, wurde doch davon abgesehen, auch hier noch scheidend vorzugehen. Sie wurden ihrem Platz jeweils nach ihrem Hauptinhalt zugewiesen, obwohl sie zum Teil mit anderen Abschnitten in andere Zusammenhänge gehörten. Aber das Ganze sollte eine Übersetzung, nicht eine Verzettelung des Textes sein.

An die Spitze wurde eine Anzahl von grundlegenden Abhandlungen gestellt, die ursprünglich ihr Sonderdasein führten und zum Teil später aus dem Zusammenhang des Li Gi wieder herausgelöst wurden, wie »Maß und Mitte« und die »Große Wissenschaft«, die in der Sungzeit mit den »Gesprächen des Kung Dsï« und den Werken des »Mong Dsï« zusammen die vier grundlegenden Bücher (Sï Schu) bildeten. Ebenso sind die Kapitel über die »Entwicklung der Sitte« und die »Aufzeichnungen über die Musik« von prinzipieller Bedeutung für die konfuzianische Lebensanschauung. Diese vier Abhandlungen entstammen der Sammlung des jüngeren Dai. Aus der Sammlung des älteren Dai ist das Werk über »die drei Audienzen des Konfuzius« nach seiner Heimkehr von der langen Wanderschaft und »das Buch Dsong Dsï« in diese Abteilung gestellt, beides Werke, die früher ihr eigenes Dasein führten, aber in ihrer selbständigen Form verloren sind, so daß ihre Aufbewahrung in dieser Sammlung mit besonderem Dank zu begrüßen ist.

Die übrigen Abhandlungen wurden nach den wichtigsten Themen geordnet: Pädagogik, Ethik, Sitte, Staat und Gesellschaft, Religion und Naturphilosophie, Historie und Biographie und endlich einzelne Riten und Verhaltensregeln. Weggelassen wurden hauptsächlich die unzähligen Wiederholungen und die detaillierten Ausführungen über Trauerbräuche und Trauerkleidung, wie sie sich in der Sammlung des jüngeren Dai finden, aber heutzutage nur noch von antiquarischem Interesse sind. Alle Wiederholungen ließen sich nicht vermeiden, da gewisse Gedankengänge in verschiedenem Zusammenhang stehen, der undeutlicher würde, wenn man sie an der einen oder anderen Stelle streichen würde. Ich hoffe, daß weder eine Überlastung mit Stoff noch ein Fehlen prinzipiell wichtiger Punkte ein falsches Bild der konfuzianischen Gedankenwelt, wie sie in diesen Werken niedergelegt ist, bewirkt.

I

GRUNDLEGENDE ABHANDLUNGEN

1. KAPITEL

DSCHUNG YUNG / Maß und Mitte

Kapitel 5