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Marion Zimmer Bradley 






Die Zeit der hundert Königreiche

Ein Darkover Roman



Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck


Edel eBooks

Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

Vorbemerkung der Autorin

Wie alle Darkover-Romane ist auch dieser eine abgeschlossene Geschichte und nicht ein unvollständiger Teil einer Serie. Doch für jene, die Wert auf die Darkover-Chronologie legen, sei gesagt: Die Zeit der Hundert Königreiche spielt gegen Ende des Zeitalters des Chaos, in der Periode, die später – wie der Titel schon sagt – als Zeit der Hundert Königreiche bekannt wurde, rund zweihundert Jahre später, als Allart Elhalyn, wie in Herrin der Stürme berichtet, zu Hali und Thendara regierte. Kriege, in denen die Matrix-Wissenschaft zu zerstörerischen Zwecken eingesetzt wurde, hatten die alten Reiche in viele kleine unabhängige Königtümer, Stadtstaaten, Baronien, Grafschaften und Republiken aufgeteilt, die alle nicht sehr groß waren. Von einigen der Königreiche hieß es, der König könne sich auf einen Hügel stellen und von da aus über sein ganzes Land in das der Nachbarkönige hineinsehen.

Viele Männer jener Zeit träumten davon, die Hundert Königreiche zu vereinigen und die Anarchie zu Gesetz und Ordnung zurückzuführen. Einer dieser Männer war Varzil, dem die Geschichte den Beinamen Der Gute verlieh, Laranzu von Neskaya, ein zweiter Bard di Asturien, den man den Wolf der Kilghardberge nannte. Und dies ist ihre Geschichte.

Marion Zimmer Bradley

Prolog: Der Fremde

Paul Harrell erwachte, verwirrt, nur halb bei Bewußtsein und mit dem Gefühl, langdauernde Alpträume hinter sich zu haben. Die Muskeln seines Körpers schmerzten, als sei jeder für sich ein hohler Zahn, und sein Kopf fühlte sich an, als habe er einen wahrhaft monumentalen Kater. Verwischte Erinnerungen, ein Mann mit seinem Gesicht, seine eigene Stimme, die fragte: Verdammt noch mal, wer bist du? Doch nicht etwa zufällig der Teufel? Nicht etwa, daß er an den Teufel oder die Hölle oder eines jener Dinge glaubte, die erfunden waren, um die Menschen zu zwingen, das zu tun, was andere Leute für richtig hielten, statt das, was sie selbst wollten.

Er bewegte seinen Kopf, und der Schmerz darin ließ ihn zusammenzucken. Donnerwetter! Muß ich gestern abend einen draufgemacht haben!

Er streckte sich, versuchte sich umzudrehen und stellte fest, daß er bequem lag und genügend Platz für seine Beine hatte. Der Schock machte ihn hellwach.

Er konnte sich bewegen, sich strecken – er war nicht in der Stasis-Zelle!

War also alles nur ein Alptraum gewesen? Die Flucht vor der Alpha-Polizei, die Rebellion, die er in der Kolonie angeführt hatte, der letzte Kampf, bei dem seine Männer rings um ihn niedergeschossen worden waren, die Gefangennahme und der Prozeß – und schließlich das Grauen, als sich die Stasis-Zelle für immer um ihn schloß.

Für immer. Das war sein letzter Gedanke gewesen. Für immer.

Schmerzlos natürlich. Sogar angenehm, wie das Einschlafen, wenn man vollständig erschöpft ist. Aber er hatte um diesen letzten bewußten Augenblick mit aller Kraft gekämpft, weil er wußte, daß es wirklich der letzte war. Er würde nie mehr aufwachen.

Humane Regierungen hatten die Todesstrafe vor langer Zeit abgeschafft. Zu oft hatte sich ein paar Jahre nach der Hinrichtung des Gefangenen durch neues Beweismaterial seine Unschuld erwiesen. Der Tod machte den Fehler unwiderruflich und setzte das ganze Justizsystem in Verlegenheit. Die Stasis-Zelle hielt den Gefangenen sicher von der Gesellschaft fern... aber er konnte immer noch rehabilitiert und ins Leben zurückgerufen werden. Und es gab keine Gefängnisse, keine traumatischen Erinnerungen an die Gemeinschaft mit abgebrühten Kriminellen, keine Gefangenenaufstände. Überflüssig geworden waren Beratung, Erholung, Neuanpassung. Steckt sie einfach in eine Stasis-Zelle und laßt sie dort auf natürliche Weise altern und schließlich sterben, bewußtlos, leblos... falls sie sich nicht doch noch als unschuldig erweisen. Dann konnte man sie herausholen.

Nur hatte Paul Harrell gewußt, daß das in seinem Fall unmöglich war. Er war schuldig, und dessen hatte er sich auch noch gerühmt, und er hatte es darauf angelegt, vor der Gefangennahme niedergeschossen zu werden. Was noch schwerer wog, er hatte sich Mühe gegeben, so etwa zehn der verdammten Bullen mitzunehmen. Deshalb hatte er das gesetzliche Recht auf die Wahl zwischen Stasis-Zelle und Rehab verwirkt.

Der Rest seiner Männer, die nicht niedergeschossen worden waren, ließ sich demütig wie Schafe zur Rehabilitation treiben, wo man aus ihnen konformistische Nullen machte. Das war alles, was man in dieser idiotischen Welt wünschte. Marionetten. Tröpfe ohne Mumm. Und bis zum letzten Ende konnte er sehen, daß der Richter und alle seine juristischen Ratgeber hofften, er werde zusammenbrechen und um Gnade betteln – um eine Chance zur Rehab, damit sie ihn mit Drogen und Umerziehung und Gehirnwäsche in einen Niemand verwandeln konnten, der mit allen anderen im Gleichschritt durch das marschierte, was sie Leben nannten. Danke, das ist nichts für mich. Ich tue bei ihrem verdammten Spiel nicht mit. Als ich meinen Lauf beendet hatte, war ich bereit zu gehen, und ich ging.

Und so lange es dauerte, war es ein gutes Leben gewesen, dachte er. Er hatte Haschee aus ihren blöden Gesetzen gemacht, weil sich jahrelang niemand auch nur vorzustellen vermochte, jemand könne ein Gesetz anders als durch einen Zufall oder Unwissenheit brechen. Er hatte alle Frauen gehabt, die er wollte, und alle sonstigen Genüsse.

Frauen vor allem. Er ging nicht auf die blödsinnigen Spiele ein, zu denen die Frauen die Männer zwingen wollten. Er war ein Mann, und wenn sie einen Mann statt eines Schafes wollten, entdeckten sie auf der Stelle, daß sich Paul Harrell nicht nach ihren konformistischen Schwächlingsregeln richtete.

Dies verdammte Weib, das mir die Polizei auf den Hals gehetzt hat!

Wahrscheinlich hatte sie von ihrer Mutter gelernt, daß es eine Vergewaltigung sei und ein Mädchen Zeter und Mordio schreien müsse, wenn der Mann nicht vor ihr auf die Knie fiel und sich wie ein Kapaun benahm, wie ein Jammerlappen, der sich von einer Frau an der Nase herumführen ließ und sie niemals berührte, bis sie den Wunsch dazu äußerte! Teufel, er wußte es besser. In Wirklichkeit liebten die Frauen es, wenn einer ’ranging und ein Nein nicht als Antwort gelten ließ. Nun, sie hatte herausgefunden, daß er sich keine Vorschriften machen ließ, selbst wenn die Stasis-Zelle ihm drohte. Sie hatte wohl gedacht, er werde um eine Chance zur Rehab winseln, und dann würde man aus ihm ein Lämmchen machen, das sie spazierenführen konnte.

Zum Teufel mit ihr! Bis an ihr Lebensende würde sie jetzt nachts aufwachen und daran denken, daß sie ein einziges Mal einen wirklichen Mann gehabt hatte...

Als er in seinen Erinnerungen soweit gekommen war, setzte Paul Harrell sich hoch und riß die Augen auf. Er war nicht in der Stasis-Zelle, und er war auch an keinem anderen Ort, den er kannte. War dann alles nur ein Alptraum gewesen, das Mädchen, die Rebellion, die Schießerei mit den Polizisten, der Richter, der Prozeß, die Stasis-Zelle...?

War er jemals dort gewesen, war irgend etwas davon wirklich geschehen?

Und wenn ja, wie war er hinausgelangt?

Er lag auf einer weichen Matratze, bezogen mit einem sauberen, groben Leintuch. Zugedeckt war er mit Woll- und Steppdecken und einem Fell. Rings um ihn war ein sehr schwaches, trübes, rötliches Licht. Er streckte die Hand aus und stellte fest, daß das Licht durch schwere Bettvorhänge fiel. Er lag in einem Himmelbett, wie er es einmal irgendwo in einem Museum gesehen hatte, und die Vorhänge um das Bett schlossen das Licht aus. Es waren rote Vorhänge.

Er zog sie beiseite. Das Zimmer hatte er noch nie gesehen. Und er hatte nicht nur dies Zimmer noch nie gesehen, ihm war auch noch nie in seinem Leben etwas Ähnliches untergekommen.

Etwas war verdammt sicher. Er war nicht in der Stasis-Zelle, es sei denn, eine Serie bizarrer Träume gehörte mit zu der Bestrafung. Auch war er nirgends im Rehab-Zentrum. Er war nicht einmal auf Alpha, dachte er, als er durch das hohe Bogenfenster eine riesige rote Sonne erspähte, und auch nicht auf Terra oder einem anderen Planeten der Konföderierten Welten, die er schon einmal besucht hatte.

Vielleicht war das hier Walhalla oder so etwas Ähnliches. Es gab alte Sagen über einen idealen Ort für Krieger, die den Heldentod gestorben waren. Und er war gewiß kämpfend untergegangen. Beim Prozeß hatte es geheißen, er habe acht Polizisten getötet und einen weiteren fürs Leben verkrüppelt. Er war gefallen wie ein Mann, nicht wie ein Konformist, an dem eine Gehirnwäsche vollzogen worden war. Er hatte nicht um eine Chance gebettelt und gefleht, noch eine Weile länger auf den Knien in einer Welt herumrutschen zu dürfen, die keine Achtung vor einem Mann hatte, der lieber auf seinen Füßen starb!

Jedenfalls war er aus der Zelle heraus, das war schon mal ein guter Anfang. Aber er war nackt, wie man ihn in die Zelle hineingesteckt hatte. Sein Haar war immer noch geschoren wie zu dem Zeitpunkt, als ... Nein. Man hatte ihm den Kopf rasiert, und deshalb mußte er einen oder zwei Monate in der Zelle gewesen sein, weil er die dicke, weiche Wolle fühlen konnte. Er sah sich im Zimmer um. Es hatte einen Steinfußboden, auf dem ein paar dicke Fellteppiche lagen. An Möbeln gab es nichts außer dem Bett und einer mit reichen Schnitzereien versehenen schweren Truhe aus dunklem Holz.

Und jetzt fiel ihm trotz des Hämmerns in seinem Kopf noch etwas ein: Ein stechender Schmerz, blaue Blitze um ihn, ein Kreis aus Gesichtern, das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen – Schmerz und dann ein Mann. Ein Mann mit seinem eigenen Gesicht und seiner eigenen Stimme, der ihn fragte: Wer bist du? Doch nicht etwa zufällig der Teufel? Alte Sagen. Wenn man einen Mann mit dem eigenen Gesicht sah, seinen Doppelgänger, dann war das entweder der Teufel oder eine Warnung vor dem Tod. Aber praktisch war er ja gestorben, als man ihn in die Stasis-Zelle steckte. Was konnte ihm also noch irgendwer tun? Sicher war das ein Traum gewesen. Oder doch nicht? Oder hatten sie, nachdem er in der Zelle verschwunden war, einen Klon von ihm hergestellt und den Klon einer Gehirnwäsche unterzogen und aus ihm den guten, respektablen, konformistischen Bürger gemacht, den sie immer aus ihm hatten machen wollen?

Irgend etwas hatte ihn irgendwie hierhergebracht. Aber wer und wann und wie? Und vor allem: warum?

Und dann öffnete sich die Tür, und der Mann mit seinem Gesicht trat ein.

Nicht ein Mann, der ihm sehr ähnlich war wie ein Zwillingsbruder. Er selbst.

Wie er hatte der Mann blondes Haar, nur war es bei dem Fremden dick und lang und zu einem festen Zopf zusammengedreht, um den sich eine rote Schnur wickelte. Paul hatte noch nie einen Mann gesehen, der sein Haar auf diese Weise trug.

Auch hatte er noch nie einen Mann so angezogen gesehen wie den mit seinem Gesicht, mit Sachen aus schwerer Wolle und Leder: Eine geschnürte Lederweste, darunter eine Jacke aus ungebleichter Wolle, lederne Breeches, hohe Stiefel. Jetzt, wo Paul sich zum Teil unter seinen Decken hervorgearbeitet hatte, stellte er fest, daß es im Zimmer kalt genug war, um diese Art Kleidung ratsam erscheinen zu lassen. Und durch das Fenster sah er, daß der Schnee dick auf dem Boden lag. Nun, daß er nicht auf Alpha war, wußte er bereits, und wenn er daran noch Zweifel gehabt hätte, wären sie durch die schwach purpurnen Schatten auf dem Schnee und die große rote Sonne beseitigt worden.

Aber seltsamer als das alles war der Mann mit seinem Gesicht. Das war keine Ähnlichkeit, die sich auf kurze Entfernung verlor. Es war nicht einmal sein seitenverkehrtes Spiegelbild, sondern das Gesicht, das er auf Videoaufnahmen von seinem Prozeß gesehen hatte.

Ein Klon – wenn sich außer reichen Exzentrikern jemand so ein Ding leisten könnte. Eine absolute, identische Replik seiner selbst, bis zu dem gespaltenen Kinn und dem kleinen braunen Muttermal auf seinem linken Daumen. Was, zum Teufel, ging hier vor?

Er fragte: „Wer, zum Teufel, bist du?“

Der Mann in der Lederweste antwortete: „Ich komme, um dir die gleiche Frage zu stellen.“

Paul erkannte die Fremdheit der Silben. Sie hörten sich ein bißchen wie Alt-Spanisch an, eine Sprache, von der er ein paar Wörter kannte. Aber er konnte die Rede des Mannes deutlich verstehen, und das jagte ihm mehr Furcht ein als alles, was sonst geschehen war. Jeder las die Gedanken des anderen.

„Hölle und Verdammnis“, platzte er heraus, „du bist ich!“

„Nicht ganz“, meinte der andere Mann, „aber es kommt dem nahe genug. Und das ist der Grund, warum wir dich nach hier gebracht haben.“

„Nach hier.“ Paul klammerte sich an das eine Wort. „Wo ist hier? Welche Welt ist das? Welche Sonne ist das? Und wie bin ich hergekommen? Und wer bist du?“

Der Mann schüttelte den Kopf, und wieder hatte Paul das unheimliche Gefühl, er beobachte sich selbst.

„Die Sonne ist die Sonne“, sagte er, „und wir sind in dem Land, das man die Hundert Königreiche nennt; das hier ist das Königreich von Asturias. Und was die Welt betrifft, so wird sie Darkover genannt, und das ist das einzige Wort, das ich für sie kenne. Als ich ein Junge war, erzählte man mir eine Fabel darüber, daß die Sterne Sonnen wie unsere eigene seien, umkreist von einer Million Millionen Welten wie unserer, und vielleicht mit Menschen wie wir darauf. Aber ich habe immer gedacht, das sei eine Geschichte, um Babys und kleine Mädchen zu ängstigen! Doch in der letzten Nacht habe ich Seltsameres gesehen und gehört. Die Zauberei meines Vaters hat dich nach hier gebracht, und wenn du wissen willst, warum, mußt du ihn fragen. Aber wir führen nichts Böses gegen dich im Schilde.“

Paul hörte die Erklärung kaum. Er starrte den Mann mit seinem Gesicht, seinem Körper, seinen eigenen Händen an und versuchte zu ergründen, was er für den Mann empfand.

Sein Bruder. Er selbst. Er kann mich verstehen. Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und gleichzeitig machte sich plötzlicher Zorn breit: Wie kann er es wagen, mit meinem Gesicht herumzulaufen? Und dann, in völliger Verwirrung: Wenn er ich ist, wer, zum Teufel, bin dann ich?

Und der andere Mann sprach die Frage aus. „Wenn du ich bist...“ – seine Fäuste ballten sich – „... wer bin dann ich?“

Paul lachte hart auf. „Vielleicht bist du doch der Teufel. Wie ist dein Name?“

„Bard“, erwiderte der Mann. „Aber man nennt mich Wolf. Bard di Asturien, der Kilghard-Wolf. Und du?“

„Mein Name ist Paul Harrell“, sagte er und schwankte. War das alles ein bizarrer Traum in der Stasis-Zelle? War er gestorben und nach Walhalla gekommen?

Er verstand nichts von alldem. Absolut gar nichts.

Sieben Jahre früher...

1. BUCH

Die Pflegebrüder

2. BUCH

Der Kilghard-Wolf

3. BUCH

Der dunkle Zwilling

1

Licht fiel aus jedem Fenster und jeder Schießscharte von Burg Asturias. In dieser Nacht feierte König Ardrin von Asturias ein großes Fest, denn er verlobte seine Tochter Carlina mit seinem Pflegesohn und Neffen Bard di Asturien, dem Sohn seines Bruders Dom Rafael von High Fens. Die meisten Edlen von Asturias und ein paar aus den benachbarten Königreichen waren gekommen, der Verlobung und der Tochter des Königs die Ehre zu erweisen. Der Hof war ein Meer leuchtender Farben. Fremde Pferde und andere Reittiere, die in die Ställe gebracht wurden, reich gekleidete Adlige, gewöhnliches Volk, das sich vor den Toren drängte, um sich das Schauspiel anzusehen und die Gabe von Essen, Wein und Süßigkeiten in Empfang zu nehmen, die von der Küche aus an alle verteilt wurde. Diener rannten in wirklichen oder erfundenen Geschäften umher.

Hoch oben in den abgetrennten Räumen der Frauen blickte Carlina di Asturien mit Widerwillen auf den gestickten Schleier und das Überkleid aus blauem Samt, besetzt mit Perlen von Temora, das sie bei der Verlobungszeremonie tragen sollte. Sie war vierzehn Jahre alt, ein schlankes, blasses junges Mädchen mit langen dunklen Zöpfen, die unter ihren Ohren in Schaukeln hingen, und großen grauen Augen, die das einzige schöne Merkmal in einem zu schmalen und zu nachdenklichen Gesicht waren. Ihr Gesicht war um die Augenlider rot; sie hatte lange Zeit geweint.

„Nun, komm, komm“, drängte Ysabet, ihre alte Amme. „Du darfst nicht so weinen, Chiya. Und Bard ist so hübsch und tapfer. Denk doch nur daran, daß dein Vater ihn wegen seiner Tapferkeit in der Schlacht von Snow Glen zum Bannerträger gemacht hat. Und schließlich, liebes Kind, ist es ja nicht, als solltest du einen Fremden heiraten. Bard ist dein Pflegebruder und hier im Haus des Königs erzogen worden, seit er zehn Jahre alt war. Ihr habt doch als Kinder immer zusammen gespielt – ich dachte, du liebtest ihn.“

„Das tue ich auch – als Bruder“, flüsterte Carlina. „Aber Bard heiraten – nein, Amme, das will ich nicht. Ich will überhaupt nicht heiraten...“

„Also, das ist Torheit“, gluckste die ältere Frau und hielt das perlenbestickte Überkleid in die Höhe, um ihrem Pflegling hineinzuhelfen. Carlina ließ es zu, daß sie wie eine Puppe angekleidet wurde. Sie wußte, Widerstand hatte keinen Zweck.

„Warum willst du Bard denn nicht heiraten? Er ist hübsch und tapfer – wie viele junge Männer haben sich schon ausgezeichnet, bevor sie ihr sechzehntes Jahr erreichten?“ verlangte Ysabet zu wissen. „Ich zweifle gar nicht daran, daß er eines Tages General über alle Truppen deines Vaters sein wird. Du hältst ihm doch nicht vor, daß er Nedestro ist? Der arme Junge kann ja nichts dafür, daß ihn eine der Mätressen seines Vaters geboren hat und nicht seine gesetzliche Ehefrau!“

Carlina lächelte schwach darüber, daß jemand Bard einen „armen Jungen“ nennen konnte.

Ihre Amme kniff sie in die Wange. „Das ist die richtige Art, zu deiner Verlobung zu gehen, mit einem Lächeln! Laß mich noch die Verschnürung zurechtziehen.“ Sie zupfte an den Schnüren und steckte die Enden nach innen. „Setz dich her, meine Süße, damit ich dir die Sandalen anziehen kann. Sieh doch, wie niedlich, deine Mutter hat sie passend zu dem Gewand gemacht, blaues Leder mit Perlen! Wie hübsch du bist, Carlie, wie eine blaue Blume! Ich muß noch die Bänder in deinem Haar befestigen. Ich glaube nicht, daß es heute nacht irgendwo in neun Königreichen eine schönere Braut gibt! Und Bard sieht wirklich gut genug aus, um deiner würdig zu sein, so hell, wo du so dunkel bist...“

„Welch ein Jammer“, stellte Carlina trocken fest, „daß er dich nicht heiraten kann, Amme, da er dir so gut gefällt.“

„Komm, komm, mich würde er nicht wollen, alt und verschrumpelt, wie ich bin“, wies Ysabet sie zurecht. „Ein schöner junger Krieger wie Bard muß eine schöne junge Braut bekommen, und so hat dein Vater es befohlen... Ich weiß überhaupt nicht, warum ihr nicht heute nacht auch gleich verheiratet und zu Bett gebracht werdet!“

„Weil“, antwortete Carlina, „ich meine Mutter inständig darum bat, und sie sprach für mich bei meinem Vater und Herrn. Da stimmte er zu, daß ich nicht verheiratet werden soll, bis ich mein fünfzehntes Jahr vollendet habe. Die Hochzeit wird zum Mittsommer-Fest in einem Jahr ab heute stattfinden.“

„Wie hältst du es aus, so lange zu warten? Evanda segne dich, Kind, wenn ich einen so hübschen Liebhaber hätte wie Bard, könnte ich nicht so lange warten...“ Sie sah Carlina zusammenzucken und sprach sanfter weiter. „Fürchtest du dich vor dem Ehebett, Kind? Es ist noch keine Frau daran gestorben, und ich habe keinen Zweifel, daß du es angenehm finden wirst. Aber für den Anfang macht es doch schon etwas aus, daß dein Mann kein Fremder, sondern ein Spielgefährte und außerdem dein Pflegebruder ist.“

Carlina schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht, obwohl ich, wie ich schon sagte, keine Lust zum Heiraten habe. Ich würde mein Leben lieber in Keuschheit und mit guten Werken unter den Priesterinnen Avarras zubringen.“

„Der Himmel schütze uns!“ Die Frau machte eine schockierte Geste. „Das würde dein Vater nie erlauben!“

„Das weiß ich, Amme. Die Göttin weiß, ich habe ihn angefleht, mir diese Heirat zu ersparen und mich gehen zu lassen. Aber er erinnerte mich daran, ich sei eine Prinzessin, und es sei meine Pflicht zu heiraten und seinem Thron starke, mächtige Verbündete zuzubringen. So wie meine Schwester Amalie bereits König Lorill von Scathfell als Braut gesandt wurde. Jenseits des Kadarin, das arme Mädchen, allein in diesen nördlichen Bergen, und meine Schwester Marilla ist im Süden in Dalereuth verheiratet...“

„Ärgert es dich, daß sie mit Prinzen und Königen verheiratet wurden und du nur den Bastard des Bruders deines Vaters bekommst?“

Carlina schüttelte den Kopf. „Nein, nein“, sagte sie ungeduldig. „Ich weiß, was mein Vater im Sinn hat. Er möchte Bard mit einem starken Band an sich fesseln, damit er eines Tages sein stärkster Kämpfer und Beschützer ist. An mich oder Bard hat er keinen Gedanken verschwendet. Das ist nur eins der Manöver meines Vaters, Thron und Königreich zu schützen!“

„Nun, die meisten Ehen werden aus weniger guten Gründen geschlossen“, meinte die Amme.

„Aber es wäre nicht notwendig!“ brach es aus Carlina hervor. „Bard würde sich mit jeder Frau zufriedengeben, und mein Vater hätte irgendeine von hohem Rang finden können, die Bards Ehrgeiz Genüge tun würde! Warum muß ich gezwungen werden, mein Leben mit einem Mann zu verbringen, dem es ganz gleichgültig ist, ob ich es bin oder eine andere, solange sie nur seinem Ehrgeiz dienlich ist und ein hübsches Gesicht und einen willigen Körper hat? Avarra erbarme sich, glaubst du, ich weiß nicht, daß schon jedes dienende Mädchen in der Burg sein Bett geteilt hat? Sie prahlen hinterher damit!“

„Was das betrifft“, sagte Ysabet, „so ist er nicht besser und nicht schlechter als jeder deiner Brüder und Pflegebrüder. Du kannst es einem jungen Mann nicht verübeln, wenn er hinter den Mädchen her ist. Und wenigstens beweist ihre Prahlerei, daß er weder impotent noch ein Liebhaber von Männern ist! Wenn ihr verheiratet seid, mußt du ihm einfach in deinem Bett genug zu tun geben, um ihn aus anderen herauszuhalten.“

Carlina ließ sich anmerken, daß die vulgäre Bemerkung ihr mißfiel. „Ich gönne ihnen Bard und sein Bett“, erklärte sie, „und ich werde ihnen den Platz darin nicht streitig machen. Aber ich habe Schlimmeres gehört. Er erkennt keine Weigerung an. Wenn ein Mädchen ihm Nein sagt oder wenn er Grund zu der Annahme hat, sie werde ihm Nein sagen, setzt er seinen Stolz darein, einen Zwang über sie zu werfen, einen Glanz, so daß sie nicht widerstehen kann, sondern willenlos in sein Bett kommt, ohne die Kraft, sich selbst zu helfen...“

„Ich habe von Männern gehört, die dies Laran haben“, grinste Ysabet. „Es ist eine nützliche Sache, selbst wenn ein junger Mann hübsch und kräftig ist. Aber ich gebe nicht viel auf solche Geschichten über Zauberei. Welche junge Frau muß erst verhext werden, um zu einem jungen Mann ins Bett zu gehen? Sicher benützen sie das alte Märchen nur als Entschuldigung, wenn sie außer der Zeit einen dicken Bauch bekommen...“

„Nein, Amme“, widersprach Carlina. „In wenigstens einem Fall weiß ich, daß es wahr ist. Denn meine eigene Zofe Lisarda ist ein braves Mädchen, und sie hat mir erzählt, daß sie nichts dagegen tun konnte...“

Ysabet lachte häßlich auf. „Das sagt jede Schlampe hinterher.“

„Aber nein“, unterbrach Carlina wütend, „Lisarda ist knapp zwölf Jahre alt! Sie ist mutterlos und wußte kaum, was er von ihr wollte, nur daß ihr keine andere Wahl blieb, als ihm zu Willen zu sein. Armes Kind, sie war gerade erst zur Frau gereift, und sie weinte danach in meinen Armen, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum ein Mann eine Frau auf diese Weise haben will...“

Ysabet runzelte die Stirn. „Ich fragte mich schon, was mit Lisarda geschehen sei...“

„Mir fällt es schwer, Bard zu verzeihen, daß er ein junges Mädchen mißbraucht hat, das ihm nie etwas zuleide getan hat“, sagte Carlina, immer noch zornig.

„Nun, nun“, seufzte die Amme, „Männer tun so etwas hin und wieder, und von den Frauen erwartet man, daß sie sich damit abfinden.“

„Ich sehe nicht ein, warum!“

„Es ist der Lauf der Welt“, sagte Ysabet, und dann fuhr sie zusammen und sah auf die Uhr an der Wand. „Carlina, mein Schätzchen, du darfst zu deiner Verlobung nicht zu spät kommen.“

Carlina erhob sich und seufzte resigniert, als Königin Ariel, ihre Mutter, das Zimmer betrat.

„Bist du fertig, meine Tochter?“ Die Königin musterte das junge Mädchen von Kopf bis Fuß, von den unter den Ohren schaukelnden Zöpfen bis zu den mit Perlen bestickten zierlichen Schuhen. „In den Hundert Königreichen kann es keine hübschere Braut geben. Das hast du gut gemacht, Ysabet.“

Die alte Frau versank als Dank für das Kompliment in einem Knicks.

„Du brauchst nur noch einen Hauch Puder auf dem Gesicht, Carlie, deine Augen sind rot“, sagte die Lady. „Bring die Quaste, Ysabet. Carlina, hast du geweint?“

Carlina senkte den Kopf und antwortete nicht.

Ihre Mutter erklärte fest: „Es ist unschicklich, daß eine Braut Tränen vergießt, und das ist nur deine Verlobung.“ Mit eigenen Händen betupfte sie Carlinas Augenlider mit der Puderquaste. „So. Jetzt noch ein wenig Augenbrauenstift hier –“ sie wies Ysabet die Stelle, an der das Make-up repariert werden mußte. „Sehr hübsch. Komm, Liebes, meine Frauen warten...“

Ein kleiner Chor bewundernder Ausrufe wurde laut, als Carlina in ihrem Brautstaat zu den Frauen trat. Ariel, Königin von Asturias, umgeben von ihren Damen, streckte Carlina die Hand entgegen.

„Heute Abend wirst du unter meinen Damen sitzen, und wenn dein Vater dich ruft, trittst du vor und stellst dich neben Bard vor den Thron“, begann sie.

Carlina betrachtete das heitere Gesicht ihrer Mutter und überlegte, ob sie eine letzte Bitte wagen solle. Sie wußte, ihre Mutter mochte Bard nicht – wenn auch aus den falschen Gründen. Sie hatte einfach etwas gegen seinen Status als Bastard. Von Anfang an hatte es ihr nicht gepaßt, daß er als Pflegebruder von Carlina und Beltran aufwuchs. Es war jedoch nicht die Mutter, die diese Heirat arrangiert hatte, sondern der Vater. Und Carlina wußte, König Ardrin hatte nicht die Gewohnheit, sehr aufmerksam auf das zu hören, was sein Weibervolk wünschte. Ihre Mutter hatte ihm dies eine Zugeständnis abgerungen, daß Carlina nicht verheiratet werden sollte, bis sie volle fünfzehn Jahre alt war.

Wenn man mich zur Verlobung aufruft, werde ich schreien und mich weigern zu sprechen. Ich werde laut Nein rufen, wenn man meine Zustimmung verlangt, ich werde hinauslaufen... Aber im innersten Herzen wußte Carlina, sie würde nichts derart Peinliches tun, sondern die Zeremonie mit dem Anstand über sich ergehen lassen, wie es sich für eine Prinzessin von Asturias schickte.

Bard ist Soldat, dachte sie verzweifelt, vielleicht fällt er vor der Hochzeit in der Schlacht. Und dann fühlte sie sich schuldig, weil es einmal eine Zeit gegeben hatte, als sie ihren Spielgefährten und Pflegebruder liebte. Schnell verbesserte sie sich in Gedanken: Vielleicht findet er eine andere Frau, die er heiraten möchte, vielleicht ändert mein Vater seine Meinung...

Avarra, erbarmende Göttin, Große Mutter, hab Mitleid mit mir, erspare mir diese Heirat irgendwie...

Zornig, verzweifelt blinzelte sie die Tränen weg, die ihr wieder aus den Augen zu stürzen drohten. Ihre Mutter würde ärgerlich werden, wenn sie ihnen allen solche Schande machte.

In einem Raum weiter unten in der Burg wurde Bard di Asturien, Pflegesohn des Königs und sein Bannerträger, von zwei Kameraden und Pflegebrüdern für seine Verlobung angekleidet. Es waren Beltran, des Königs Sohn, und Geremy Hastur, der, ebenso wie Bard, im Haus des Königs erzogen worden war. Geremy war ein jüngerer Sohn des Lords von Carcosa.

Die drei Jünglinge unterschieden sich sehr voneinander.

Bard war groß und schwergebaut und hatte schon die Höhe eines Mannes. Sein dickes blondes Haar war im Nacken zum Kriegerzopf zusammengedreht. Die kräftigen Arme und schweren Muskeln waren die eines Schwertkämpfers und Reiters. Wie ein Riese ragte er über die anderen beiden empor. Prinz Beltran war ebenfalls groß, wenn auch nicht ganz so groß wie Bard. Aber er war immer noch schmal und fohlenhaft, und auf seinen runden Kinderwangen zeigte sich gerade der erste Bartflaum. Sein Haar war kurz geschnitten und dicht gelockt, und es war ebenso blond wie das Bards.

Geremy Hastur war kleiner als die beiden. Er hatte rotes Haar, ein schmales Gesicht, scharfe graue Augen und die Schnelligkeit eines Falken oder Frettchens. Er trug dunkle, einfache Kleidung, die eher die eines Gelehrten als die eines Kriegers war, und sein Benehmen war ruhig und bescheiden.

Jetzt sah er zu Bard hoch und sagte lachend: „Du wirst dich schon hinsetzen müssen, Pflegebruder. Weder Beltran noch ich können deinen Kopf erreichen, um dir die rote Schnur um den Zopf zu binden. Und ohne sie kannst du nicht zu einer feierlichen Handlung gehen.“

„Ausgeschlossen“, stimmte Beltran zu und zog Bard auf einen Stuhl hinunter. „Jetzt binde du die Schnur, Geremy, deine Hände sind geschickter als meine oder Bards. Ich denke an den letzten Herbst, als du die Wunde dieses Leibwächters genäht hast...“

Bard lachte vor sich hin. Er beugte den Kopf, damit seine jungen Freunde ihn mit der roten Schnur schmücken konnten, die nur einem Krieger, der sich in der Schlacht erprobt und durch Tapferkeit ausgezeichnet hatte, zustand. Er sagte: „Ich hatte dich immer für feige gehalten, Geremy, weil du nicht im Feld kämpfst und deine Hände so weich wie die Carlinas sind. Aber als ich das sah, entschied ich, du habest mehr Mut als ich, denn ich hätte es nicht getan. Ein Jammer, daß es keine rote Schnur für dich gegeben hat!“

Geremy antwortete mit seiner gedämpften Stimme: „Dann müßten wir auch jeder Frau im Kindbett und jedem Meldegänger, der ungesehen durch die feindlichen Linien schlüpft, eine rote Schnur geben. Der Mut nimmt viele Formen an. Ich glaube, ich komme ohne den Zopf oder die rote Schnur eines Kriegers aus.“

„Vielleicht werden wir eines Tages“, meinte Beltran, „wenn ich einmal über dies Land regiere – möge die Herrschaft meines Vaters lang währen! –, Mut auch in einer anderen Form belohnen als der, die wir auf dem Schlachtfeld sehen. Was meinst du dazu, Bard? Du wirst dann mein Kämpfer sein, wenn wir alle so lange leben.“ Plötzlich sah er stirnrunzelnd zu Geremy hin. „Was ist los mit dir, Mann?“

Geremy Hastur schüttelte seinen roten Kopf. „Ich weiß nicht – eine plötzliche Kälte; vielleicht hat ein wildes Tier, wie man in den Bergen sagt, auf den Boden gepißt, wo mein Grab sein wird.“ Er wickelte den letzten Rest der roten Schnur um Bards Kriegerzopf, reichte ihm Schwert und Dolch und half ihm, sich zu gürten.

Bard erklärte: „Ich bin Soldat, ich weiß sehr wenig über andere Formen des Mutes.“ Mit einem Rucken der Schultern brachte er den bestickten Zeremonienumhang in die richtige Lage. Die leuchtend rote Farbe des Stoffes paßte zu der roten Schnur, die seinen Zopf der ganzen Länge nach umwickelte. „Ich sage euch, es verlangt mehr Mut, sich heute abend diesem ganzen Unsinn zu stellen. Ich ziehe es vor, meinen Feinden mit dem Schwert in der Hand gegenüberzutreten!“

„Was redest du da von Feinden, Pflegebruder?“ Beltran sah seinen Freund forschend an. „Du hast doch bestimmt keine Feinde in meines Vaters Halle! Wie viele junge Männer deines Alters haben wohl schon die Kriegerschnur erhalten und sind zum Bannerträger des Königs ernannt worden, noch bevor sie sechzehn Jahre alt wurden? Und als du Dom Ruyven von Serrais und seinen Friedensmann tötetest und bei Snow Glen zweimal das Leben des Königs rettetest...“

Bard schüttelte den Kopf. „Lady Ariel liebt mich nicht. Sie würde diese Heirat mit Carlina unterbinden, wenn sie könnte. Und sie ist zornig, daß ich es war und nicht du, Beltran, der Ruhm auf dem Schlachtfeld errang.“

Das wollte Beltran nicht wahrhaben. „Vielleicht liegt das in der Art einer Mutter. Es ist ihr nicht genug, daß ich Prinz und Erbe des Throns meines Vaters bin. Ich soll auch noch Kriegerruhm erringen. Oder vielleicht...“ – er versuchte, einen Scherz daraus zu machen, aber Bard spürte, daß auch Bitterkeit dabei war – „... vielleicht fürchtet sie, dein Mut und dein Ruhm werden meinen Vater veranlassen, von dir besser zu denken als von seinem Sohn.“

Bard entgegnete: „Ja, Beltran, du hast den gleichen Unterricht gehabt wie ich, auch du hättest dir die Ehrenzeichen eines Kriegers gewinnen können. Das sind eben die Wechselfälle des Krieges, nehme ich an, beziehungsweise die des Schlachtfeldes.“

„Nein“, widersprach Beltran, „ich bin kein geborener Krieger, ich habe nicht deine Begabung dafür. Alles, was ich fertigbringe, um mit Ehren aus der Sache hervorzugehen und meine Haut in einem Stück zu halten, ist, daß ich jeden töte, der sie mir ritzen will.“

Bard lachte. „Glaub mir, Beltran, mehr tue ich auch nicht.“

Aber Beltran schüttelte düster den Kopf. „Manche Männer sind zum Krieger geboren, andere werden zum Krieger gemacht. Ich bin keins von beiden.“

Geremy versuchte, einen leichteren Ton ins Gespräch zu bringen. „Aber du brauchst kein großer Krieger zu sein, Beltran. Du mußt dich darauf vorbereiten, eines Tages Asturias zu regieren. Dann kannst du so viele Krieger haben, wie du möchtest, und wenn sie dir gut dienen, spielt es gar keine Rolle, ob du weißt, an welchem Ende man ein Schwert halten muß. Du wirst der eine sein, der alle Krieger befehligt, und auch alle Zauberer... Willst du mich, wenn dieser Tag kommt, als deinen Laranzu haben?“ Er benutzte das alte Wort für Zauberer, und Beltran grinste und schlug ihm auf die Schulter.

„Ich werde einen Zauberer und einen Krieger als Pflegebrüder haben, und wir drei zusammen werden Asturias mit dem Schwert und mit Zauberei gegen alle seine Feinde schützen. Aber die Götter mögen uns gnädig sein und diese Tage noch weit in der Zukunft liegen. Geremy, schick deinen Pagen noch einmal in den Hof, ob Bards Vater zur Verlobung seines Sohnes gekommen ist.“

Geremy wollte dem Jungen schon winken, der für Botengänge bereitstand, aber Bard schüttelte den Kopf.

„Erspare dem Kind die Mühe.“ Sein Kinn schob sich vor. „Er wird nicht kommen, und es ist nicht notwendig, so zu tun, als käme er, Geremy.“

„Er will nicht einmal sehen, wie du mit des Königs eigener Tochter verheiratet wirst?“

„Vielleicht kommt er zur Hochzeit, wenn der König es klarmacht, daß er sein Fernbleiben als Beleidigung auffaßt“, sagte Bard. „Für eine bloße Verlobung kommt er nicht.“

„Aber die Verlobung ist die eigentliche Bindung“, wandte Beltran ein. „Vom Augenblick der Verlobung an bist du Carlinas gesetzmäßiger Gatte, und sie kann keinen anderen nehmen, solange du lebst. Es ist nur, daß meine Mutter meint, sie sei noch zu jung für das Ehebett, so daß dieser Teil der Zeremonie um ein Jahr verschoben wird. Aber Carlina ist deine Frau, und du, Bard, bist mein Bruder.“

Das sagte er mit einem scheuen Lächeln, und Bard war ungeachtet seiner gleichmütigen Fassade gerührt. Er sagte: „Das ist wahrscheinlich das Beste daran.“

Geremy bemerkte: „Wundern tut es mich doch, daß Dom Rafael nicht zu deiner Verlobung kommt. Bestimmt ist ihm die Nachricht zugesandt worden, daß du für Tapferkeit auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet wurdest, daß du Bannerträger des Königs bist, daß du Dom Ruyven und seinen Friedensmann mit einem Streich getötet hast – wenn mein Vater so etwas von mir hörte, wäre er außer sich vor Stolz und Freude!“

„Oh, ich zweifle nicht daran, daß Vater stolz auf mich ist.“ Bards Gesicht zeigte eine Bitterkeit, die bei einem so jungen Menschen merkwürdig berührte. „Aber er hört in allen Dingen auf Lady Jerana, seine gesetzmäßige Frau. Und sie hat nie vergessen, daß er es anderswo versuchte, als sie zwölf Jahre nach ihrer Heirat immer noch kinderlos war, und ebenso hat sie meiner Mutter nie verziehen, daß sie ihm einen Sohn gebar. Und sie war zornig darüber, daß mein Vater mich in seinem eigenen Haus großzog und mich im Waffenhandwerk und in höfischen Sitten unterrichten ließ, statt mich irgendwo in Pflege zu geben, wo ich hätte lernen können, wie man hinter dem Pflug geht oder den Boden aufkratzt, um Pilze anzubauen!“

Beltran sagte: „Sie hätte froh sein sollen, daß eine andere ihrem Mann einen Sohn schenkte, wo doch sie es nicht konnte.“

Bard zuckte die Schultern. „Das ist nicht Lady Jeranas Art. Statt dessen umgab sie sich mit Leroni und Zauberinnen – die Hälfte ihrer Hofdamen hat rotes Haar und ist zur Hexe ausgebildet –, damit früher oder später irgendein Zaubermittel ihre Unfruchtbarkeit heilte. Dann gebar sie meinen kleinen Bruder Alaric. Und dann, als mein Vater ihr nichts verweigern konnte, weil sie ihm einen legitimen Sohn und Erben geschenkt hatte, machte sie sich daran, mich loszuwerden. Oh, Jerana konnte mir nicht genug Freundlichkeit erweisen, bevor sie ihren eigenen Sohn bekam. Sie tat, als sei sie mir eine echte Mutter, aber ich konnte hinter jedem falschen Kuß, den sie mir gab, den zurückgehaltenen Schlag sehen. Ich denke, sie fürchtete, ich würde ihrem eigenen Sohn im Licht stehen, denn Alaric war klein und kränklich, und ich war gesund und stark, und sie haßte mich umso mehr, weil Alaric mich liebte.“

„Ich hätte mir vorgestellt“, wandte Beltran wiederum ein, „daß sie glücklich gewesen wäre, einen starken Bruder und Schützer für ihren Sohn zu haben, einen, der sich um ihn kümmern konnte...“

„Ich liebe meinen Bruder“, sagte Bard. „Manchmal denke ich, es ist sonst keiner auf der Welt, den es kümmert, ob ich lebe oder sterbe. Seit Alaric alt genug war, mein Gesicht von anderen zu unterscheiden, lächelte er mich an und streckte seine Ärmchen nach mir aus, damit ich ihn Huckepack trug, und bettelte, daß ich ihn auf meinem Pferd reiten ließ. Aber in Lady Jeranas Augen war es nicht schicklich, daß ein Bastard-Halbbruder der erwählte Friedensmann und Spielgefährte für ihr Prinzchen war. Sie wollte Prinzen und die Söhne von Adligen als Gefährten ihres Kindes haben. Und so kam eine Zeit, wo ich ihn nur noch heimlich sehen konnte, und einmal ärgerte ich sie, als Alaric krank war, weil ich mich ohne Erlaubnis in sein kostbares Kinderzimmer schlich. Ein Kind von vier, und sie wurde böse, weil sein Bruder ihn in den Schlaf singen konnte, und wenn sie ihm schmeichelte, schlief er nicht.“ Sein Gesicht wurde hart und bitter in Erinnerung daran.

„Und danach ließ sie meinem Vater keinen Frieden, bis er mich wegschickte. Und statt ihr zu befehlen, sie solle still sein, und in seinem eigenen Haus zu herrschen, wie es ein Mann sollte, zog er es vor, Frieden in seinem Bett und an seiner Feuerstelle zu haben, indem er mich aus meinem Heim und von meinem Bruder entfernte!“

Beltran und Geremy verstummten angesichts seiner Verbitterung. Schließlich klopfte Geremy ihm auf den Arm und sagte mit halb verlegener Zärtlichkeit: „Nun, du hast zwei Brüder, die heute abend an deiner Seite stehen, Bard, und bald wirst du hier Familie haben.“

Bard lächelte freudlos. „Königin Ariel liebt mich nicht mehr, als es meine Stiefmutter tut. Sicher wird sie einen Weg finden, Carlina gegen mich aufzuhetzen, und vielleicht euch beide auch. Ich mache meinem Vater keinen Vorwurf, ausgenommen den, daß er auf das Wort einer Frau hört. Zandru verrenke meinen Fuß, wenn ich je darauf höre, was eine Frau sagt!“

Beltran lachte. „Man sollte nicht glauben, daß du ein Weiberfeind bist, Bard. Das, was die Mägde sagen, klingt ganz nach dem Gegenteil. An dem Tag, wo du mit Carlina zu Bett gebracht wirst, wird es im ganzen Königreich Asturias ein großes Weinen geben.“

„Ach, das...!“ Bard bemühte sich, auf den lustigen Ton einzugehen. „Ich höre nur an einem bestimmten Ort auf Frauen, und ihr werdet erraten, was das für ein Ort ist...“

„Und doch“, meinte Beltran, „erinnere ich mich, daß du immer auf Carlina hörtest, als wir alle noch Kinder waren. Du bist auf einem Baum geklettert, auf den sich sonst keiner wagte, um ihr Kätzchen herabzuholen, und wenn sie und ich miteinander stritten, lernte ich bald, daß ich nachgeben mußte, oder du würdest ihre Partei ergreifen und mich verhauen.“

„Oh – Carlina.“ Bards bitteres Gesicht entspannte sich zum Lächeln. „Carlina ist nicht wie andere Frauen. Ich möchte von ihr nicht im gleichen Atemzug wie von den Huren und Schlampen hier sprechen. Glaubt mir, wenn ich einmal mit ihr verheiratet bin, werde ich keine Muße mehr für den Rest haben. Ich versichere euch, sie wird es nicht nötig haben, sich mit Zaubermitteln zu umgeben, wie es Lady Jerana tat, um sich meine Treue zu erhalten. Von Anfang an, als ich hierherkam, ist sie freundlich zu mir gewesen...“

„Wir alle wären freundlich zu dir gewesen“, protestierte Beltran, „aber du wolltest mit niemandem sprechen und drohtest, dich mit uns zu schlagen...“

„Trotzdem, Carlina gab mir das Gefühl, daß es vielleicht doch noch jemanden gebe, den es kümmert, ob ich lebe oder sterbe“, sagte Bard, „und sie habe ich nicht bedroht. Jetzt hat dein Vater beschlossen, sie mir zu geben – sie, die zu gewinnen ich nicht zu hoffen wagte, weil ich als Bastard geboren bin. Lady Jerana mag mich aus meiner Heimat und von meinem Vater und meinem Bruder vertrieben haben, aber jetzt finde ich vielleicht hier eine Heimat.“

„Selbst wenn du Carlina mit in Kauf nehmen mußt?“ zog ihn Beltran auf. „Sie ist nicht der Typ, den ich mir aussuchen würde, mager, dunkel, unscheinbar – da könnte ich gleich mit der Vogelscheuche ins Bett gehen, die auf den Feldern die Krähen verscheucht!“

Bard gab heiter zurück: „Von ihrem Bruder kann ich nicht erwarten, daß er ihre Schönheit wahrnimmt, und es ist nicht ihre Schönheit, wegen der ich sie will.“

Geremy Hastur, der das rote Haar und die Laran-Gabe der Hastur-Sippe von Carcosa hatte, das Talent, Gedanken auch ohne die Sternensteine zu lesen, die die Leroni oder Zauberer benutzten, folgte Bards Gedanken, als sie sich für die Verlobungszeremonie nach oben in die Große Halle begaben.

Fürs Bett gibt es viele Frauen auf der Welt. Aber Carlina ist anders. Sie ist die Tochter des Königs; wenn ich sie heirate, bin ich nicht länger ein Bastard und ein Niemand, sondern des Königs Bannerträger und Kämpfer. Ich werde ein Heim, eine Familie und Brüder und eines Tages auch Kinder haben... Der Frau, die mir das verschaffen kann, werde ich mein ganzes Leben lang dankbar sein. Ich schwöre, sie soll nie Grund haben, ihrem Vater vorzuwerfen, daß er sie dem Bastard seines Bruders gegeben hat...

Natürlich, dachte Geremy, das ist ein ausreichender Grund für eine Heirat. Vielleicht begehrt er Carlina nicht um ihrer selbst willen, aber er begehrt sie als Symbol alles dessen, was sie ihm mitbringt. Jeden Tag werden in den Königreichen Ehen aus weniger guten Gründen geschlossen. Und wenn er gut zu Carlina ist, wird sie bestimmt zufrieden sein.

Aber er war unruhig, weil er wußte, daß Carlina sich vor Bard fürchtete. Er war anwesend gewesen, als König Ardrin zu seiner Tochter von der Heirat sprach, und er hatte Carlinas entsetzten Aufschrei gehört und sie weinen gesehen.

Ja, da ließ sich nichts machen. Der König würde tun, was er wollte, und es war auch richtig, daß er seinen Bannerträger, der gleichzeitig sein Neffe – wenn auch ein Bastard – war, mit Ehren und einer Einheirat in seinen Haushalt belohnte. Das würde Bard als Kämpfer an König Ardrins Thron binden. Es mochte für Carlina schlimm sein, aber früher oder später wurde jedes Mädchen verheiratet. Sie hätte einem ältlichen Wüstling oder einem ergrauten alten Krieger oder sogar irgendeinem barbarischen Räuberhauptmann aus einem der kleinen Königtümer jenseits des Kadarin überantwortet werden können, wenn ihr Vater es zweckmäßig gefunden hätte, ein Bündnis mit einem anderen Staat zu besiegeln. Statt dessen gab er sie einem nahen Verwandten, der ihr Spielgefährte und Pflegebruder gewesen war und sie in ihrer Kinderzeit beschützt hatte. Carlina würde sich bald darein fügen.

Aber Geremys scharfe Augen entdeckten die geröteten Augenlider auch unter Puder und Schminke. Er hob den Blick und sah Carlina voller Mitleid an, und er wünschte, sie kenne Bard ebenso gut, wie er es tat. Wenn sie ihren zukünftigen Mann richtig verstände, könnte sie seine Verbitterung verringern, ihm das Gefühl geben, nicht ganz so isoliert, nicht ganz der Ausgestoßene unter den anderen zu sein. Geremy seufzte. Er dachte an sein eigenes Exil.

Denn auch Geremy Hastur war nicht freiwillig an König Ardrins Hof gekommen. Er war der jüngste Sohn König Istvans von Carcosa und als Zeichen freundschaftlicher Beziehungen zwischen dem königlichen Haus von Asturias und dem Haus der Hasturs von Carcosa halb als Geisel, halb als Diplomat zu König Ardrin geschickt worden. Er hätte sich gewünscht, seines Vaters Ratgeber, ein Zauberer, ein Laranzu zu sein. Sein ganzes Leben lang war ihm klar gewesen, daß er nicht das Zeug zum Soldaten hatte. Aber sein Vater hatte in ihm einen Sohn zuviel gesehen und ihn als Geisel weggeschickt, wie er eine Tochter zum Heiraten weggeschickt hätte. Wenigstens, dachte Geremy, brauchte Carlina dieser Ehe wegen ihr Zuhause nicht zu verlassen!