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Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

Marion Zimmer Bradley 






Gildenhaus Thendara

Ein Darkover Roman



Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck


Edel eBooks

Der Eid der Freien Amazonen

Von diesem Tag an entsage ich dem Recht zu heiraten, außer als Freipartnerin. Kein Mann soll mich di catenas binden, und ich werde in keines Mannes Haushalt als barragana leben.

Ich schwöre, dass ich bereit bin, mich mit Gewalt zu verteidigen, wenn man mich mit Gewalt angreift.

Ich schwöre, dass ich von diesem Tag an nie mehr den Namen eines Mannes führen will, sei er Vater, Vormund, Liebhaber oder Gatte, sondern einzig und allein als die Tochter meiner Mutter bekannt sein werde.

Ich schwöre, dass ich mich von diesem Tag an einem Mann nur hingebe, wenn ich den Zeitpunkt bestimmen kann und es mein eigener freier Wille ist.

Ich schwöre, dass ich ein Kind nur dann gebären will, wenn es mein Wunsch ist, das Kind von diesem Mann und zu diesem Zeitpunkt zu empfangen. Weder die Familie noch der Clan des Mannes, weder Fragen der Erbfolge noch sein Stolz oder sein Wunsch nach Nachkommenschaft sollen dabei Einfluss auf mich haben.

Von diesem Tag an enden für mich alle Verpflichtungen, die ich gegenüber Familie, Clan, Haushalt, Regent oder Lehnsherr hatte. Achtung schulde ich wie jeder freie Bürger nur den Gesetzen des Landes, dem Königtum, der Krone und den Göttern.

Ich werde an keinen Mann Rechtsansprüche stellen, dass er mich beschütze, mich ernähre oder mir helfe. Eine Treuepflicht habe ich nur gegenüber meiner Eidesmutter, meinen Schwestern in der Gilde und meinem Arbeitgeber, solange ich bei ihm beschäftigt bin.

Und weiter schwöre ich, dass jedes einzelne Mitglied der Gilde freier Amazonen für mich sein soll wie meine Mutter, meine Schwester oder meine Tochter, geboren aus einem Blut mit mir. Ich schwöre, dass ich von diesem Augenblick an den Gesetzen der Gilde Freier Amazonen und jedem rechtmäßigen Befehl meiner Eidesmutter, der Gildenmutter und meiner gewählten Anführerin gehorchen werde. Und wenn ich ein Geheimnis der Gilde verrate oder meinen Eid breche, dann werde ich mich der Strafe unterwerfen, die die Gildenmütter über mich verhängen, und wenn ich das nicht tue, dann möge sich die Hand jeder Frau gegen mich erheben, sie sollen mich erschlagen dürfen wie ein Tier und meinen Körper unbeerdigt der Verwesung und meine Seele der Gnade der Göttin überlassen.

I
Sich widersprechende Eide

1

Magdalen Lorne

Es fiel leichter Schnee, aber nach Osten zu sah die blutige Sonne Darkovers – von den Terranern Cottman IV genannt – wie ein großes, blutdurchschossenes Auge durch eine Wolkenlücke.

Fröstelnd ging Magdalen Lorne die Straße zum Terranischen HQ hinunter. Sie trug darkovanische Kleidung, deshalb zeigte sie den Raumsoldaten am Tor ihren Ausweis. Einer von ihnen kannte sie jedoch vom Sehen.

»Ist schon gut, Miss Lorne. Aber Sie müssen zu dem neuen Gebäude hinübergehen.«

»Dann sind die Räume für den Nachrichtendienst endlich fertig?«

Der Uniformierte nickte.

»So ist es. Die neue Leiterin ist vor ein paar Tagen von Alpha Centauri gekommen – haben Sie sie schon kennen gelernt?«

Für Magda waren das echte Neuigkeiten. Darkover war ein geschlossener Planet der Klasse B, und das bedeutete, dass Terraner – zumindest offiziell – auf bestimmte vertraglich festgelegte Zonen und Handelsstädte beschränkt waren. Einen Nachrichtendienst gab es eigentlich gar nicht, abgesehen von einem kleinen Büro in der Abteilung Archiv und Kommunikation, das vom Personal des Koordinators verwaltet wurde.

Es ist auch Zeit, dass hier endlich eine Dienststelle eröffnet wird. Eine Abteilung für Fremd-Anthropologie könnte ebenso wenig schaden. Dann überlegte Magda, was es für ihren eigenen ziemlich irregulären Status bedeuten mochte. Sie war auf Darkover geboren, in Caer Donn. Dort hatten die Terraner ihren ersten Raumhafen errichtet, bevor sie das neue Imperiumshauptquartier hier nach Thendara verlegten. Magda war unter Darkovanern aufgewachsen. Damals galt die Vorschrift noch nicht, dass Raumhafengebäude mit erdnormalem Licht beleuchtet werden mussten – eine Vorschrift, die die rote Sonne Darkovers und das grimmig kalte Klima ignorierte. Es war eine vernünftige Politik im Hinblick auf Personal, das auf normalen Imperiumsplaneten selten länger als ein Jahr Dienst tat und sich nicht zu akklimatisieren brauchte. Aber die Bedingungen auf Darkover waren, um das Mindeste zu sagen, für einen Imperiumsplaneten nicht normal.

Magdas Eltern waren Linguisten gewesen und hatten einen Großteil ihres Lebens in Caer Donn verbracht. Ihre Tochter war eher Darkovanerin als Terranerin, eine der nur drei oder vier Personen, die die Sprache wie Eingeborene beherrschten und im Stande waren, in Verkleidung Sitten und Gebräuche zu erforschen. Magda hatte Darkover nur einmal verlassen, als sie drei Jahre zur Ausbildung an der Akademie des Nachrichtendienstes auf Alpha verbrachte. Es ergab sich von selbst, dass sie danach eine Stellung in der Abteilung Kommunikation annahm. Aber was für ihre Vorgesetzten nichts als eine passende Verkleidung gewesen war, in der sie auf dem Planeten ihrer Geburt als Undercover-Agentin arbeiten konnte, wurde für Magda zu ihrem eigentlichen Ich.

Und diesem darkovanischen Ich Margali muss ich jetzt treu bleiben, nicht der Terranerin Magda. Ich bin auch nicht einfach Margali, sondern Margali n’ha Ysabet, Entsagende von den Comhi’Letzii, die von den Terranern die Freien Amazonen genannt werden. Das ist es, was ich jetzt bin und was ich hinfort sein muss, men dia pre’zhiuro ... Erschauernd flüsterte Magda die ersten Worte des Eides der Entsagenden vor sich hin. Es würde nicht leicht sein. Aber sie würde tun, was sie geschworen hatte. Für einen Terraner war ein unter Gewaltandrohung erzwungener Eid nicht bindend. Mich als Darkovanerin bindet der Eid nun einmal. Schon der Gedanke daran, ihn zu brechen, wäre unehrenhaft.

Magda riss ihre Gedanken von diesem Endlosband in ihrem Gehirn los. Neue Räume für den Nachrichtendienst, hatte der Mann gesagt, und eine neue Leiterin. Wahrscheinlich, dachte Magda mit resigniertem Schulterzucken, eine Frau, die über ihre Aufgabe beträchtlich weniger wusste als sie selbst. Magda und ihr ehemaliger Mann Peter Haldane waren beide hier geboren, waren zweisprachig aufgewachsen, kannten und akzeptierten die darkovanischen Sitten als ihre eigenen. Doch das war nicht die Art, wie das Imperium an eine Sache heranging.

Das Büro des Nachrichtendienstes war hoch über dem Raumhafen in einem Wolkenkratzer untergebracht worden, der noch vor Neuigkeit glänzte. In dem erdnormalen Licht, zu hell für Magdas Augen, sah sie eine Frau stehen, eine Frau, die sie kannte oder doch einmal sehr gut gekannt hatte.

Cholayna Ares war größer als Magda und braunhäutig. Sie hatte weißes Haar, und Magda hatte nie herausgebracht, ob es vorzeitig ergraut oder von Natur aus immer silberweiß gewesen war, denn ihr Gesicht wirkte ungewöhnlich jung, damals wie heute. Sie lächelte und streckte in einer herzlichen Geste die Hand aus, und Magda ergriff die Hand ihrer alten Lehrerin.

»Es ist kaum zu glauben, dass du deinen Posten an der Akademie aufgegeben hast«, sagte Magda. »Bestimmt doch nicht, um hierher zu kommen ...«

»Oh, aufgegeben habe ich ihn eigentlich nicht«, lachte Cholayna Ares. »Es gab den üblichen bürokratischen Hickhack – jede Gruppe versuchte, mich auf ihre Seite zu ziehen, und deshalb wünschte ich beiden die Pest an den Hals und stellte einen Antrag auf Versetzung. So landete ich – hier. Es ist kein begehrter Posten, deshalb gab es keine Konkurrenz. Ich erinnerte mich, dass du von hier stammtest und dass du diese Welt liebtest. Nicht viele Leute bekommen die Chance, den Nachrichtendienst auf einem Planeten der Klasse B aus dem Nichts aufzubauen. Und mit dir und Peter Haldane – habe ich nicht einmal gehört, du hättest ihn geheiratet?«

»Die Ehe ist letztes Jahr in die Brüche gegangen«, antwortete Magda. »Das Übliche.« Sie wehrte die teilnahmsvolle Neugier, die aus den Augen ihrer früheren Lehrerin sprach, mit einem harten Schulterzucken ab. »Das einzige Problem, das daraus entstand, ist, dass man uns nicht länger gemeinsam zum Feldeinsatz hinausgeschickt hat.«

»Wenn es hier gar keinen Nachrichtendienst gab, was habt ihr dann im Feldeinsatz gemacht?«

»Wir gehörten zur Abteilung Kommunikation«, berichtete Magda, »und betrieben Sprachforschung. Einmal ließ man mich auf dem Marktplatz Witze und Redensarten sammeln, nur um mit der Entwicklung der Sprache beziehungsweise des Slangs Schritt zu halten, damit Leute, die tatsächlich ins Feld mussten, keine dummen Fehler machen würden.«

»Und du bist an meinem ersten Tag in der neuen Stellung hergekommen, um mich zu begrüßen und willkommen zu heißen?«, fragte Cholayna. »Setz dich – erzähl mir alles über diesen Planeten. Es ist lieb von dir, Magda. Ich habe immer gesagt, dass du im Nachrichtendienst Karriere machen würdest.«

Magda senkte den Blick. »Ich bin nicht deinetwegen hierher gekommen – wusste gar nicht, dass du hier warst.« Sie sagte sich, dass ihr nichts übrig blieb, als mit der Wahrheit herauszurücken. »Ich bin gekommen, um zu kündigen.«

Cholaynas dunkle Augen verrieten, wie bestürzt sie war.

»Magda! Du und ich, wir beide wissen doch, wie es im Zivildienst zugeht: Natürlich hätte man dir diesen Posten anbieten sollen, aber ich dachte immer, wir seien Freundinnen und du wärest bereit, zumindest für eine Weile zu bleiben!«

Das war nicht Magdas Grund, nur war das natürlich der Eindruck, den Cholayna gewinnen musste. Magda wünschte, die neue Leiterin sei eine völlige Fremde gewesen oder doch jemand, den sie nicht mochte, nicht eine Frau, die sie immer gern gehabt und respektiert hatte.

»O nein, Cholayna! Ich gebe dir mein Wort, es hat nichts mit dir zu tun! Ich wusste nicht einmal, dass du hier warst, ich war bis gestern Abend im Feld ...« In ihrem Eifer, Cholayna von der Wahrheit zu überzeugen, begann sie zu stottern. Cholayna runzelte die Stirn und winkte ihr, sich zu setzen.

»Du solltest mir vielleicht besser alles von Anfang an erzählen, Magda.«

Magda nahm Platz. Ihr war unbehaglich zu Mute. »Du warst heute Morgen nicht bei der Besprechung. Du weißt es noch nicht. Während ich draußen im Feld war – habe ich den Eid einer Entsagenden geleistet.« Auf den verständnislosen Blick ihrer Kollegin hin erläuterte sie: »In den Akten werden sie die Freien Amazonen genannt; sie lieben den Namen nicht. Ich bin verpflichtet, ein halbes Jahr zur Ausbildung im Gildenhaus von Thendara zu verbringen, und danach – danach bin ich mir nicht sicher, was ich tun werde, glaube jedoch nicht, dass es Arbeit für den Nachrichtendienst sein wird.«

»Aber, Magda, das ist doch eine wundervolle Gelegenheit!«, rief Cholayna aus. »Ich denke nicht im Traum daran, deine Kündigung anzunehmen! Wenn du möchtest, versetze ich dich für dies halbe Jahr in inaktiven Status, aber denke einmal an das wissenschaftliche Material, das du hieraus gewinnen kannst! Deine Arbeit wird bereits als beispielhaft betrachtet – das habe ich von dem Legaten gehört«, setzte sie hinzu. »Wahrscheinlich weißt du mehr über darkovanische Bräuche als sonst irgendwer, der hier arbeitet. Mir wurde auch berichtet, die Medizinische Abteilung habe zugestimmt, eine Gruppe Freier Amazonen auszubilden ...« Sie sah Magda leicht zusammenzucken und verbesserte sich: »Wie hast du sie genannt? Entsagende? Klingt wie ein Nonnenorden, welchen Dingen entsagen sie denn? Das scheint mir ein seltsamer Ort für dich zu sein.«

Magda lächelte über den Vergleich. »Ich könnte dir den Eid zitieren. Hauptsächlich entsagen sie – wir – im Ausgleich für gewisse Freiheiten dem Schutz, den die Gesellschaft den Frauen bietet.« Sogar in ihren eigenen Ohren klang das jämmerlich unzulänglich, aber wie sollte sie es erklären? »Ich tue es jedoch nicht, um eine Dissertation zu schreiben, weißt du, oder dem Terranischen Nachrichtendienst Informationen zu liefern. Aus dem Grund möchte ich kündigen.«

»Und aus dem gleichen Grund weigere ich mich, deine Kündigung anzunehmen«, sagte Cholayna.

»Glaubst du, ich werde meine Freundinnen im Gildenhaus bespitzeln? Niemals!«

»Ich bedauere, dass du es auf diese Weise ansiehst, Magda. Ich sehe es nicht so. Je mehr wir über die verschiedenen Gruppen eines Planeten wissen, desto leichter ist es für uns – und ebenso für den Planeten, auf dem wir uns befinden, weil es weniger Möglichkeiten für Missverständnisse und Ärger zwischen dem Imperium und den Einheimischen gibt ...«

»Ja, ja, das habe ich alles auf der Akademie des Nachrichtendienstes gelernt«, erklärte Magda ungeduldig. »Das ist die offizielle Politik, nicht wahr?«

»So würde ich es nicht ausdrücken.« In Cholaynas Stimme klang etwas wie sorgfältig unter Kontrolle gehaltener Ärger mit.

»Aber ich, und ich begreife allmählich, wie es missbraucht werden kann.« Jetzt geriet auch Magda in Harnisch. »Wenn du meine Kündigung nicht genehmigen willst, Cholayna, muss ich eben ohne deine Genehmigung gehen. Darkover ist meine Heimat. Und wenn ich mein Bürgerrecht im Imperium dafür aufgeben muss, eine Entsagende zu werden, dann ...«

»Nun mal langsam, Magda, bitte!« Cholayna hob die Hand und unterbrach den wütenden Wortstrom. »Und setz dich wieder, ja?« Magda merkte jetzt erst, dass sie aufgesprungen war. Langsam ließ sie sich auf ihren Stuhl niedersinken. Cholayna ging zu der Bestellautomatik an der Wand des Büros, wählte zwei Tassen Kaffee und kam, die heißen Tassen auf der Handfläche balancierend, zu Magda zurück. Sie nahm neben ihr Platz.

»Magda, vergiss einmal eine Minute lang, dass ich deine Vorgesetzte bin. Ich habe immer gedacht, wir seien Freundinnen. Ich kann nicht glauben, dass du weglaufen willst, ohne mir eine Erklärung zu geben.«

Ich habe sie auch für meine Freundin gehalten, dachte Magda und nahm einen Schluck Kaffee. Aber jetzt weiß ich, dass ich in Wirklichkeit nie Freundinnen gehabt habe; ich habe nicht einmal gewusst, was Freundschaft ist. Ich habe mich immer so sehr darum bemüht, beruflich akzeptiert zu werden, dass ich nie darauf geachtet habe, was andere Frauen taten oder unterließen. Bis ich Jaelle begegnete und erfuhr, was es bedeutet, eine Freundin zu haben, für die ich kämpfen und, wenn es sein muss, sterben würde. Cholayna ist auch gar nicht meine Freundin, sie ist meine Vorgesetzte und benutzt unsere Freundschaft dazu, mich zu zwingen, dass ich tue, was sie will. Vielleicht bildet sie sich ein, eben das sei Freundschaft, das ist die terranische Denkungsweise. Ich bin einfach keine Terranerin mehr. Vielleicht bin ich nie eine gewesen.

»Warum erzählst du mir die ganze Geschichte nicht, Magda?« Cholaynas freundlicher Blick verwirrte Magda von neuem. Vielleicht sieht sie sich tatsächlich als meine Freundin.

Sie fing ganz am Anfang an und berichtete Cholayna, wie Peter Haldane, ihr Freund und Partner und eine Zeit lang ihr Mann, von Räubern entführt worden war, die ihn irrtümlich für Kyril Ardais, den Sohn der Lady Rohana Ardais, hielten. Magda, die sich fürchtete, als Frau allein zu reisen, hatte sich von Lady Rohana überreden lassen, sich als Freie Amazone zu verkleiden. Die Täuschung wurde offenbar, als sie einer Gruppe echter Entsagender, angeführt von Jaelle n’ha Melora, begegnete.

»Die Strafe für einen Mann, der sie in Frauenkleidung infiltrierte, wäre der Tod oder die Kastrierung gewesen«, erläuterte Magda. »Bei einer Frau besteht die Strafe nur darin, dass die Lüge zur Wahrheit gemacht werden muss; sie darf die Freiheit, die der Eid ihr gewährt, nicht genießen, ohne vorher auf den Schutz verzichtet zu haben, den das Gesetz speziell den Frauen bietet.«

»Ein erzwungener Eid ...«, begann Cholayna. Magda schüttelte den Kopf.

»Nein. Mir wurde freie Wahl gelassen. Sie boten mir an, mich in ein Gildenhaus zu bringen, wo eine der Mütter entscheiden würde, ob man mich in Anbetracht der besonderen Umstände nicht einfach laufen lassen solle, wenn ich verspräche, alles Erlebte geheim zu halten.« Sie seufzte und fragte sich müde, ob es das wert gewesen sei. »Dadurch hätte ich zu viel Zeit verloren. Peter sollte zu Mittwinter getötet werden, wenn das Lösegeld bis dahin nicht gebracht war. Freiwillig entschied ich mich für den Eid, aber ich leistete ihn mit einer ganzen Menge von Vorbehalten. Ich empfand genauso wie du jetzt. Nur hat sich meine Einstellung zwischen damals und heute – geändert.«

Ihr war klar, dass das lächerlich klang. Doch als sie weitersprach, verriet sie nur wenig von den grausamen inneren Kämpfen, als sie halbwegs entschlossen gewesen war, zu fliehen und ihren Eid zu brechen, selbst wenn sie dazu Jaelle hätte töten oder sich von den Räubern hätte abschlachten lassen müssen, und wie sie sich an der Seite Jaelles kämpfend wiedergefunden und ihr das Leben gerettet hatte ...

Cholayna lauschte der Geschichte. Sie stand nur einmal auf, um die Kaffeetassen neu zu füllen. Schließlich sagte sie: »In gewissem Ausmaß kann ich verstehen, warum du dich verpflichtet fühlst.«

»Es ist nicht nur das«, erwiderte Magda. »Der Eid ist für mich sehr real geworden. Ich fühle mich in meinem Herzen als Entsagende – ich glaube, ich wäre längst eine geworden, wenn ich gewusst hätte, dass es sie gibt. Jetzt ...« Wie sollte sie es erklären? Sie trank den Rest kalten Kaffees aus und schloss hilflos: »Es ist etwas, das ich tun muss

Cholayna nickte. »Das sehe ich ein. Ich weiß nicht, ob es einen Präzedenzfall gibt. Von Männern, die auf einigen Imperiumsplaneten ›über die Mauer gegangen‹ sind und sich den Eingeborenen angeschlossen haben, weiß ich, doch ich glaube nicht, dass ich das jemals von einer Frau gehört habe.«

»Ich gehe nicht eigentlich »über die Mauer‹«, protestierte Magda. »In dem Fall säße ich nicht hier in deinem Büro und reichte nicht offiziell meine Kündigung ein.«

»Die ich nicht akzeptieren werde«, gab Cholayna zurück. »Nein, hör mir zu – ich habe dir auch zugehört, nicht wahr? Es gibt hier keinen Präzedenzfall; ich glaube, eine vereidigte Angestellte des Zivildienstes hat gar keine Möglichkeit, auf ihr Bürgerrecht im Imperium zu verzichten. Du hast deine Wahl getroffen, als du den Entschluss fasstest, drei Jahre lang die Akademie des Nachrichtendienstes zu besuchen ...«

»Ich habe genug gearbeitet, um dem Imperium die Kosten zurückzuzahlen ...«

Cholayna brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Das stellt niemand in Frage, Magda. Ich bin gern bereit, dich in den inaktiven Status zu versetzen, wenn du deine sechs Monate – dies halbe Jahr – haben musst. Wie lang ist übrigens ein darkovanisches Jahr? Aber mir ist hier etwas auf den Schreibtisch geflattert, das eine Ergänzung zu dem, was du mir erzählt hast, darstellt.«

Sie griff nach einem Ordner mit Ausdrucken. »Zufällig habe ich hier eine Nachricht des Rates«, sagte sie. Magda warf einen Blick darauf. Vor diesem Rat war Lord Hastur gezwungen worden, den Eid einer Terranerin als gültig anzuerkennen, und gleichzeitig hatten die Gildenmütter verlangt, die Terraner sollten der Entsagenden Jaelle n’ha Melora den Posten im Hauptquartier geben, den Magda innegehabt hatte, und dazu noch ein dutzend Freie Amazonen einstellen. »Ja, ja, schon gut, ein Dutzend Entsagende«, berichtigte Cholayna sich schnell. »Sie sollen in unserer Medizinischen Abteilung zu medizinisch-technischen Assistentinnen und möglicherweise noch in anderen Wissenschaften und Berufszweigen ausgebildet werden. Wenn Jaelle bei uns arbeitet, solange du im Gildenhaus bist, solltest du dich meiner Meinung nach in diesem halben Jahr besonders dafür qualifizieren, Richtlinien für die Beschäftigung darkovanischen Personals, besonders weiblichen, festzusetzen. Wir sind bereit, dich solange zu beurlauben. Unter Darkovanerinnen lebend, kannst du herausfinden, welche Frauen mit dem Kulturschock fertig würden, wenn sie in den Dienst des Imperiums träten, du kannst uns sagen, wie wir sie behandeln müssen, um die bestmögliche Kommunikation zwischen Terranern und Darkovanern zu erreichen. Du bist der einzige Mensch, der dazu geeignet ist, wenn du tatsächlich in einem Gildenhaus lebst.«

»Also hast du das alles schon gewusst, Cholayna! Warum hast du mich dazu gebracht, es dir zu erzählen?«

»Ich wusste nur, was du gesagt und was die Gildenmütter über dich gesagt hatten«, erwiderte Cholayna. »Ich wusste nichts von deinen Gefühlen in dieser Sache. Wenn die Studentin, die ich gekannt habe, die richtige Art von Mädchen war, heißt das noch lange nicht, dass die Frau, die eine ausgebildete Agentin geworden ist, zu der Art gehört, der wir trauen dürfen.«

Cholayna fuhr fort, und irgendwie besänftigten ihre Worte Magdas Zorn: »Verstehst du das nicht? Es ist für deine Entsagenden ebenso gut wie für das Imperium, wenn sie hierher kommen und die schlimmsten Folgen des Kulturschocks gedämpft werden. Außerdem ist es von Vorteil, zu wissen, bei welchen Terranern wir uns darauf verlassen können, dass sie die Darkovanerinnen anständig behandeln. Du weißt es – und ich war mir darüber im Klaren, noch bevor ich zehn Tage hier war –, dass Russ Montray sich, sobald hier eine Botschaft errichtet wird, zum Legaten ebenso wenig eignet wie ich mich zur Pilotin eines Sternenschiffes! Ihm gefällt der Planet nicht, und er hat kein Verständnis für seine Bewohner. Du hast es, das erkenne ich an der Art, wie du von ihnen sprichst.«

Versucht sie, mir zu schmeicheln, damit sie mich dahin kriegt, wohin sie mich haben will? Natürlich wusste Magda, dass Montray weitaus weniger geeignet war als sie selbst. Aber auf einem Planeten wie Darkover mit seinen streng vorgeschriebenen traditionellen Rollen für Männer und Frauen würde Magda, das war ihr klar, niemals die Stellung eines Legaten oder einen vergleichbaren Posten erreichen, weil die Darkovaner eine Frau in einer solchen Position niemals anerkennen würden. Cholayna war nur deshalb zur Leiterin des Nachrichtendienstes ernannt worden, weil sie lediglich mit ihren Feldagenten, aber nicht mit Darkovanern in direkten Kontakt kommen würde.

»Magda, so wie du mich ansiehst, macht dir doch irgendetwas an dieser Sache Sorgen ...«

»Ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass ich meine Schwestern im Gildenhaus ausspioniere ...«

»Es würde mir nie einfallen, das von dir zu verlangen«, versicherte Cholayna. »Du sollst nur für Terraner, die mit darkovanischen Frauen, besonders mit den Entsagenden, die für das Imperium arbeiten werden, in engen Kontakt kommen, bestimmte Verhaltensregeln ausarbeiten. Das ist zu unserm Vorteil, gewiss – aber ich könnte mir vorstellen, dass deine ... deine Gildenschwestern noch mehr Nutzen davon hätten.«

Das ließ sich unmöglich leugnen. Tatsächlich würde Magda Darkover genau den Dienst erweisen, den die Gildenmütter sich wünschten, wie sie bei jener Ratssitzung gesagt hatten. Sie erinnerte sich an die Worte Mutter Laurias:

»Deshalb sind wir heute hierher gekommen, um euch solche Dienste anzubieten, die geeignet zur Entwicklung einer sinnvollen Kommunikation zwischen unseren Welten sind: als Kartenzeichnerinnen, Führerinnen, Dolmetscherinnen und Fachkräfte in anderen Bereichen, wo die Terraner Darkovanerinnen einzusetzen wünschen. Wohl wissend, dass ihr vom Imperium uns viel zu lehren habt, verlangen wir im Ausgleich dafür, dass eine Gruppe unserer jungen Frauen als Lehrlinge in euren Gesundheitsdienst und andere wissenschaftliche Abteilungen aufgenommen wird.«

Und das war ein wirklicher Durchbruch gewesen. Vor diesem Tag hatten die Männer des Imperiums die Kultur Darkovers nur nach den Frauen einschätzen können, die sie in den Raumhafenbars und auf dem Marktplatz kennen lernten. Als sie Mutter Lauria dies sagen hörte, erkannte Magda, dass sie eine der Ersten sein würde, die kamen und gingen und Brücken zwischen ihrer neuen und der alten Welt bauten. Sie senkte den Kopf und kapitulierte. Noch immer war sie eine Agentin des Nachrichtendienstes, ganz gleich, wie sie es bedauern mochte.

»Was deine Kündigung angeht – vergiss sie. So etwas kannst du nicht machen, ohne sehr viel länger darüber nachgedacht zu haben. Lass die Türen offen. In beiden Richtungen.« Cholayna streichelte Magdas Hand. Es war eine so unerwartete Geste, und irgendwie vertrieb sie Magdas Feindseligkeit.

»Wir müssen wissen, wie wir diese Entsagenden behandeln sollen, wenn sie bei den Terranern arbeiten. Was sind ihre Kriterien für gutes Benehmen? Was mag sie unter Umständen beleidigen oder aus der Fassung bringen? Und während du im Gildenhaus bist, könntest du die endgültige Entscheidung treffen, welche Frauen sich als Lehrlinge für die Medizinische Abteilung qualifizieren, aufgeschlossene Frauen, flexibel gegenüber sich ändernden Bräuchen ...«

Magda fragte geduldig: »Glaubst du wirklich, dass die meisten von ihnen unwissende Wilde sind, Cholayna? Darf ich dich daran erinnern, dass Darkover, wenn auch eine geschlossene Welt der B-Klasse, eine sehr komplexe und entwickelte Kultur besitzt ...«

»Auf einem Niveau, das noch keine Raumfahrt und keine Industrie kennt«, stellte Cholayna trocken fest. »Ich zweifele nicht daran, dass sie große Dichter und eine beachtliche musikalische Tradition oder sonst etwas haben, was euch Kommunikationsleute dazu veranlasst, von einer hoch entwickelten Kultur zu sprechen. Die Malgamins von Beta Hydri haben ebenfalls eine hoch entwickelte Kultur, aber sie schließt rituellen Kannibalismus und Menschenopfer ein. Wenn wir diesen Leuten unsere eigene fortschrittliche Technologie geben wollen, müssen wir eine gewisse Vorstellung davon haben, was sie damit anfangen werden. Ich nehme an, du bist mit den Theorien von Malthus vertraut und weißt, was mit einer Kultur passiert, wenn man – zum Beispiel – anfängt, das Leben von Kindern zu retten oder wenn die Bevölkerung aus religiösen oder anderen Gründen nicht auf gleicher Höhe gehalten werden kann? Denke an die Kaninchen in Australien – oder bringt man in der Anthropologie dieses klassische Beispiel nicht mehr?«

Magda hatte nur noch eine ganz undeutliche Erinnerung an das klassische Beispiel, wusste aber, um was es bei der Theorie ging. Schränkte man die Verluste durch Raubtiere ein oder erhöhte man die Überlebensrate von Neugeborenen, stieg die Bevölkerung in einer Exponentialkurve, und die Folge war Chaos. Die Terraner waren oft kritisiert worden, dass sie Eingeborenen aus genau diesem Grund medizinisches Wissen vorenthielten. Magda kannte die Richtlinien und die dahinter stehende harte Notwendigkeit.

»Wenn du erst einmal Zeit gehabt hast, das alles zu überdenken, wirst du erkennen, warum du mit uns zusammenarbeiten musst, auch um der Sache deiner Schwestern in deinem ...« – sie zögerte und suchte nach dem Wort – »... Gildenhaus zu dienen.« Cholayna stand auf. Sie erklärte knapp:

»Viel Glück, Magda. Solange du detachiert bist, wirst du zwei Gehaltserhöhungen bekommen, weißt du.« Die Geste ordnete Magda wieder in den Dienst ein. Ihr schoss die Frage durch den Kopf, ob sie salutieren solle.

Und mir ist nicht gelungen, durchzusetzen, weswegen ich gekommen bin. Ich habe nicht gekündigt. Ich habe es so verzweifelt nötig, das eine oder das andere zu sein, nicht auf diese Weise zwischen zwei Welten hin- und hergerissen zu werden. Mein wirkliches Ich, mein wahres Ich ist darkovanisch. Trotzdem bin ich zu sehr Terranerin, um eine echte Darkovanerin zu sein ...

Sie hatte nie wirklich irgendwohin gehört. Vielleicht würde sie im Gildenhaus herausfinden, wo ihr Platz war – aber nur, wenn die Terraner sie in Ruhe ließen.

Sie verließ das Büro des Nachrichtendienstes und überlegte kurz, ob sie ihr altes Quartier aufsuchen und ein paar Besitztümer, an denen ihr Herz hing, holen sollte. Nein. Im Gildenhaus nutzten sie ihr nichts und würden sie nur als Terranerin kennzeichnen. Noch einmal zögerte sie. Sie dachte an Peter und Jaelle, die heute Vormittag eine Ehe als Freipartner schließen würden – die einzige Ehe, die für eine Entsagende legal war. Jaelle hätte sie bei der Trauung bestimmt gern dabei, und Peter auch, als Zeichen dafür, dass sie ihm nicht grollte, weil er jetzt Jaelle liebte und begehrte.

Ich will Peter nicht mehr. Ich bin nicht eifersüchtig auf Jaelle. Wie sie Cholayna Ares erzählt hatte, war die Ehe zerbrochen, noch bevor sie Jaelle kennen gelernt hatte. Und doch hatte sie irgendwie das Gefühl, das Glück der Jungvermählten nicht mit ansehen zu können.

So eilte sie zum Tor und ging hindurch. Draußen nahm sie ihre Identitätsplakette für das Terranische HQ ab und warf sie im Vorübergehen in einen Mülleimer.

Setzt hatte sie die Brücken hinter sich verbrannt; ohne besondere Vorkehrungen konnte sie das HQ nicht wieder betreten, denn sie war keine Angestellte mehr. Auf diesem geschlossenen Planeten gab es keinen freien Verkehr zwischen terranischem und darkovanischem Territorium. Was sie getan hatte, band sie unwiderruflich an das Gildenhaus und an Darkover.

Schnell schritt sie durch die Straßen, bis sie das feste Gebäude sah, fensterlos und blind zur Straße hin, mit einem kleinen Schild an der Tür:

THENDARA-HAUS
GILDE DER ENTSAGENDEN

Sie läutete die kleine, verborgene Schelle und hörte irgendwo, von ganz weit drinnen, eine Glocke anschlagen.


II
Entzweiung

1

Es schneite. Die Welt außerhalb des hohen HQ-Turms, vor den Fenstern von Cholayna Ares’ Büro war in wirbelndem Weiß untergegangen. Jaelle sah hinaus und wünschte sich, draußen im Sturm, nicht hier drinnen in dem gelben Licht zu sein, wohin keine Spur des natürlichen Wetters jemals eindrang.

Peter bemerkte ihren sehnsüchtigen Blick und drückte ihre Hand. Seit dem Abend von Alessandro Lis Empfang hatte er sich gegen sie sanft, zart, abbittend benommen. Sie brachte es nicht fertig, zornig zu bleiben, und er hatte in den letzten Wochen versucht, wieder der Mann zu sein, in den sie sich auf Sain Scarp verliebt und an den sie sich auf Ardais geklammert hatte. Trotz seiner terranischen Erziehung hatte er sich bewusst Mühe gegeben, ihr ihre Unabhängigkeit zu lassen, sie niemals als selbstverständlich hinzunehmen.

Jaelle hatte von neuem zu hoffen begonnen. Vielleicht, vielleicht konnten sie, auch wenn ihnen verloren gegangen war, was sie anfangs zusammengeführt hatte, in eine Gemeinschaft hineinwachsen, die stärker und besser war. Ich hätte wissen müssen, dass diese erste sexuelle Glut nicht für immer sein würde. Aber jetzt, wo mich die verspätete erste Liebe nicht mehr gefangen hält, mögen Piedro und ich die Chance haben, uns etwas Reiferes, Echteres aufzubauen. Es ist nicht allein seine Schuld. Ich bin selbstsüchtig und kindisch gewesen.

Peter meinte freundlich: »Ich würde auch gern dort draußen durch den Schnee wandern«, und sie fragte sich – so genau waren sie aufeinander eingestimmt – ob auch er rudimentäres Laran besitze wie viele, vielleicht die meisten Terraner. Im Prozess ihres Zusammenwachsens mochte es sich entwickeln, und dann würde ihnen die Art von gegenseitigem Verständnis zuteil werden, nach der sie sich sehnte.

Cholayna lächelte ihnen zu und sagte mit einer Spur von Ironie: »Wenn ihr beiden Liebesvögel einen Augenblick Zeit für mich habt ...« Peter ließ Jaelles Hand los, und die Röte der Verlegenheit kroch in sein Gesicht. »Oh, entschuldigt euch nicht«, fuhr Cholayna fort. »Ich wollte, ich könnte euch ein Jahr Urlaub und die Möglichkeit verschaffen, fortzureisen und richtige Flitterwochen zu verleben, aber die Umstände erlauben es einfach nicht. Magda hat inzwischen reichlich Zeit gehabt, festzustellen, ob im Thendara-Gildenhaus Frauen sind, die sich als medizinisch-technische Assistentinnen oder für andere Arbeiten hier bei uns eignen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu einer Besprechung herkommen kann, Jaelle?«

»Absolut Null«, gab Jaelle prompt zurück. »Ich habe es Ihnen gesagt; sie darf in diesem halben Jahr der Ausbildung das Haus nicht verlassen, es sei denn, eine Gildenmutter befiehlt es ihr.«

Cholayna runzelte leicht die Stirn. »Sind Sie nicht ihre Vorgesetzte? Können Sie nicht nach ihr schicken und ihr befehlen zu kommen?«

»Das könnte ich wohl«, überlegte Jaelle, »aber ich möchte ihr das nicht antun. Es würde sie von den anderen absondern und unter Umständen verhindern, dass sie jemals eine von ihnen wird.«

»Ich glaube, du bist übergewissenhaft«, warf Peter ein. »Die Entscheidung, Freie Amazonen – entschuldige, Entsagende – bei den Terranern zu beschäftigen, ist für unsere beiden Welten wichtig und sollte gefördert werden, soweit es menschenmöglich ist, bevor sie an Momentum verliert.«

»Trotzdem wäre es nicht richtig, Magda zu enttarnen«, gab Cholayna zu bedenken. »Wenn sie als eine von ihnen ins Gildenhaus eingetreten ist, wollen wir sie nicht auf diese Weise herausheben. Jaelle, könnten Sie hingehen und unter vier Augen mit ihr reden?«

Plötzlich wurde Jaelle von Heimweh überwältigt. Das Gildenhaus zu besuchen, wieder eins mit ihren Schwestern zu sein! »Das werde ich gern tun, und ich kann auch mit Mutter Lauria darüber sprechen.«

»Die Sache hat nur einen Fehler«, brummte Peter. »Ich kann nicht mitkommen, oder?«

»Nicht ins Gildenhaus, tut mir Leid«, sagte Jaelle, aber sie lächelte. Sie dachte, dass sie eines Tages, bald schon, zusammen im Schnee durch die Stadt gehen würden, die sie liebte. Er liebte sie auch, er hatte jahrelang als Darkovaner in ihrer Welt gelebt. Warum hatte sie angefangen, von ihm als einem Terraner und Fremden zu denken? Für ihn ebenso wie für sich selbst musste sie den darkovanischen Piedro, den sie geliebt hatte, zurückgewinnen.

»Reden wir einmal darüber, welchen Typ von Frauen wir hier brauchen«, regte Cholayna an. »Vor allem müssen sie flexibel sein, fähig, neue Arten des Denkens und Handelns zu erlernen, sich an eine fremde Umgebung anzupassen. Im Grunde ...« – sie lächelte Jaelle zu, und es war wie eine warme Berührung ihrer Hand – »... müssen sie wie Sie sein, Jaelle, dazu im Stande, den Kulturschock zu überleben.«

»Ah«, sagte Peter, »aber es gibt keine Zweite wie Jaelle mehr. Als sie geschaffen worden war, wurde die Form zerbrochen.«

»Ich glaube nicht, dass ich so einzigartig bin«, wehrte Jaelle lachend ab. Schon ging sie im Geist eine Liste der Frauen durch, die sie im Gildenhaus kannte. Andere, die sie nicht kannte, mochten sich ebenfalls zur Ausbildung durch die Terraner eignen. Aus Rafaella würde niemals eine medizinisch-technische Assistentin werden, aber sie war eine ausgezeichnete Bergführerin, und ihr Wissen über die Reisemöglichkeiten im Gebirge und vor allem in den Hellers wäre für die Terraner von großem Wert. Marisela – Jaelle dachte an das Geschick der Hebamme. Und ihre Anpassungsfähigkeit erlaubte es ihr, in der Stadt bei Frauen Geburtshilfe zu leisten, die Freie Amazonen normalerweise verabscheuten. Marisela ihrerseits hätte auch Vorteile von dieser Ausbildung, aber konnte man sie im Gildenhaus entbehren? Mit einem Schulterzucken schob Jaelle diese Überlegungen beiseite; das musste sie alles mit Mutter Lauria besprechen. Sie hob den Blick und begegnete Cholaynas Lächeln.

»Wo sind Sie gewesen?«, fragte Cholayna freundlich.

Jaelle lachte und entschuldigte sich. »Ich habe über die Frauen im Gildenhaus nachgedacht.«

»Dann gehen Sie nur und regeln Sie die Sache mit Ihren Gildenmüttern«, entließ Cholayna sie. »Lässt es sich wohl machen, dass ich eines Tages ein Gildenhaus besuche?«

»Ich wüsste nichts, was dagegen spräche.« Wieder reagierte Jaelle auf die spontane Freundlichkeit der Frau. »Ich glaube, Sie würden Mutter Lauria gefallen, und ich wünschte, Sie hätten meine Eidesmutter Kindra kennen lernen können.« Sie waren sich, dachte Jaelle auf dem Weg nach unten zu ihrer Wohnung, in vieler Beziehung ähnlich. Obwohl Cholayna in einer Welt aufgewachsen war, wo ihr niemand verwehrt hatte, zu lernen und sich zu entwickeln, und sie ihre Kraft nicht, wie es eine Amazone tun musste, durch Widerstand und Entsagung gewonnen hatte, sondern einfach, indem sie sich für diese Arbeit entschied ...

Und dann entsetzte sich Jaelle über sich selbst. Kritisierte sie ihre eigene Welt zu Gunsten der Terranan? Hatten ein paar Mal zehn Tage sie so sehr korrumpiert?

Korrumpiert? Bin ich korrumpiert, wenn ich Peter liebe, wenn ich seine Welt anerkenne? Sie knallte die Tür ihrer Wohnung hinter sich zu und riss sich die Uniform mit zitternden Händen vom Leib. Es war wahrhaftig Zeit, dass sie ihr Zuhause wieder einmal besuchte!

Sie zog ihre bestickte leinene Unterjacke an, die dicke Unterhose, die Hose aus schwerem Wollstoff und die Überjacke. Sie setzte sich, um ihre Stiefel zuzuschnüren. Fluchend fuhr sie sich mit der Hand durch ihr langes, dichtes Haar. Es war Zeit, wirklich höchste Zeit, dass sie es schneiden ließ. Nein, verdammt noch mal, warum sollte sie? Sie lebte als Peters Freipartnerin – was die Bedingungen ihres Eides ihr gestatteten, versicherte sie sich selbst heftig. Doch der Gedanke quälte sie weiter. Was würde Rafaella sagen, was Camilla, wenn sie im Gildenhaus mit wallender Mähne erschien statt mit einem Haarschnitt, der sie deutlich als Entsagende auswies, die damit ihre Unabhängigkeit von jedem Mann proklamierte? Oh, zur Hölle mit ihnen allen! Sie griff nach einer Schere, sah nachdenklich in den Spiegel und erinnerte sich daran, wie Peters Hände ihr Haar gestreichelt hatten. Schon hatte sie die Schere an der Nackenlinie angesetzt, als sie von neuem wütend fluchte und sie zu Boden warf. Es war ihr eigenes Haar und ihr eigenes Leben, und wenn sie ihrem geliebten Freipartner gefallen wollte, stand ihr das Recht zu. Trotzdem fühlte sie sich schuldig.

Draußen schneite es, da musste sie sich zum Schutz gegen den Wind und die Kälte das Gesicht eincremen. Sie wühlte in der Schublade und hatte ihre Freude an den terranischen Kosmetika. Sie dufteten ein bisschen stärker, sie fühlten sich ein bisschen glatter an als die Artikel, die sie auf dem Markt hatte kaufen können, oder die Salben, die einige der Frauen im Gildenhaus herstellten, wenn man dort eine Zeit lang knapp mit dem Geld war. Während sie die Creme auf ihrem Gesicht verteilte, fiel ihr Blick auf das kleine Gebilde aus Perlen, das sie dazu benutzte, Buch über ihre Periode zu führen. Die Perlen trugen die Farben der vier Monde, violett, pfauenblau, hellgrün und weiß. Sie schob eine violette Perle nach unten, denn sie hatte bemerkt, dass Liriels Scheibe voll war, und dann starrte sie die Perlen bewegungslos an. Schon vor mindestens zehn Tagen hätte sie eine rote Perle für die Blutung verschieben müssen. Der schreckliche Streit mit Peter und das Elend danach, die anstrengende Arbeit mit Cholayna und Aleki, das alles hatte sie so aufgeregt, dass sie jeden Tag die Perlen mechanisch weiterbewegt hatte, ohne dass es ihr aufgefallen war.

War das nichts weiter als eine Störung, die, wie man sie gewarnt hatte, beim Leben in dem künstlichen gelben Licht auftreten konnte? Oder sollte sie schwanger sein? War es Peter bei der ekstatischen Vereinigung, die ihrem Streit gefolgt war, gelungen, sie zu schwängern?

Im ersten Augenblick flackerte tief in ihrem Inneren ein Funken von Freude auf. Sofort folgten ihm Zweifel und Angst. Wollte sie dies wirklich? Wollte sie der Gnade eines kleinen Parasiten in ihrem Körper ausgeliefert sein, wollte sie Übelkeit, Entstellung, die schreckliche Tortur der Geburt, an der ihre Mutter gestorben war? Eine Sekunde lang geisterte ihr Alptraum durch ihren Kopf ... Rotes Blut auf dem ausgedörrten Sand eines Wasserlochs unter der aufgehenden Sonne ... Sie spürte einen scharfen Schmerz in den Händen. Ohne es zu wissen, hatte sie die Fäuste so fest geballt, dass sich die Fingernägel in die Handflächen bohrten. Welch ein Unsinn! Ließ sie sich von einer Mischung aus alten Alpträumen ängstigen?

Peter würde sich so freuen, wenn sie es ihm erzählte! Sie stellte sich das Entzücken vor, das sich auf seinen Zügen ausbreitete, die Zärtlichkeit und der Stolz, die ihm aus den Augen leuchteten.

Stolz – die Worte des Eides hallten in ihrem Kopf wider: ... weder Fragen der Erbfolge noch sein Stolz oder sein Wunsch nach Nachkommenschaft ... Ach, Quatsch. Peter war kein Comyn, auch wenn er Kyril so ähnlich sah, ihn interessierten Fragen der Erbfolge, ein so wichtiger Bestandteil im Leben der Comyn, überhaupt nicht. Ein weiterer Gedanke schlich sich ein: Auch Rohana wird sich freuen, dass ich mich entschieden habe, der Aillard-Domäne ein Kind zu gebären. Sie verjagte ihn ebenfalls. Nicht für Aillard. Nicht für Peter. Für mich selbst, weil wir einander lieben und dies die Bestätigung unserer Liebe ist! Für mich selbst, verdammt noch mal!

Aber sie schob die Schublade schnell zu – und fast hatte sie ein schlechtes Gewissen dabei –, als sie Peters Schritt hörte.

»Jaelle? Liebes, ich dachte, du wolltest ins Gildenhaus gehen ...«

»Ich bin schon fast weg«, antwortete sie und versuchte, nicht schuldbewusst nach der Schublade hinzuschielen. Wäre er Telepath wie Kyril, würde er es wissen, ohne dass ich es ihm sagte, ja, ohne die Perlen zu sehen. Sie hatte ihm das Gerät einmal erklärt, aber er hatte nie viel Aufmerksamkeit dafür gehabt, wenn er auch einräumte, so etwas auf dem Markt als Verkaufsartikel gesehen und sich gefragt zu haben, ob es sich um eine Art Abakus handele. Er hatte ihr gezeigt, wie man mit einem Abakus rechnet, und ihr erzählt, es sei die älteste terranische Spielart einer Rechenmaschine.

»Du willst doch sicher nicht in diesem Blizzard ausgehen, Jaelle ...«

»Du bist zu lange in der Terranischen Zone gewesen, wenn du das bisschen Schneegestöber einen Blizzard nennst«, erwiderte sie fröhlich. Sie wollte sich hineinstürzen in die erfrischende Kälte, nicht hier in der verweichlichenden künstlichen Wärme der HQ-Gebäude herumlungern.

»Lass mich mitkommen«, sagte Peter und griff nach Stiefeln und Jacke für draußen. Sie zögerte.

»Schatz, in Amazonenkleidung sollte ich nicht mit dir durch die Straßen gehen, und es würde dich zudem hässlichen Bemerkungen aussetzen ...« Auf seinen verständnislosen Blick hin setzte sie erläuternd hinzu: »Du bist noch in Uniform.«

»Ach so. Das. Ich kann mich umziehen«, bot er an. Jaelle schüttelte den Kopf.

»Mir wäre es lieber, du tätest es nicht. Sei nicht böse, Peter, ich möchte gern allein gehen. Wenn ich in der Gesellschaft eines Terraners – oder überhaupt eines Mannes – ins Gildenhaus komme, gibt es Gerede, das mir meine Aufgabe erschweren wird.«

Er seufzte. »Wie du willst.« Er zog sie an sich und küsste sie. Der Kuss wurde zur Aufforderung.

»Möchtest du nicht lieber hier bleiben, wo es warm und gemütlich ist?«

Es war eine Versuchung. Hatte sie schon die terranische Gewohnheit angenommen, nach der Uhr zu lieben, ohne Raum für emotionale Spontaneität? Entschlossen löste sie sich aus seinen Armen.

»Ich bin im Dienst, Liebling. Ich muss gehen. Du erinnerst mich so oft daran, dass Montray dein Vorgesetzter ist. Meine Vorgesetzte ist Cholayna.«

Er gab sie fast zu schnell frei. »Bist du vor dem Dunkelwerden zurück?«

»Vielleicht verbringe ich die Nacht im Gildenhaus«, antwortete sie. »Was wir zu besprechen haben, lässt sich nicht in einer Stunde erledigen.« Er sah so niedergeschlagen aus, dass sie lachen musste.

»Piedro, Schatz, es bedeutet nicht das Ende der Welt, wenn wir eine einzige Nacht getrennt schlafen.«

»Das wohl nicht«, knurrte er. »Aber du wirst mir fehlen.«

Das machte sie weich. »Du mir auch«, flüsterte sie an seinem Hals und schmiegte sich von neuem an ihn. »Es wird jedoch Zeiten geben, wenn du draußen im Feld bist und ich allein schlafen muss. Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir uns schon einmal daran gewöhnen.«

Der verletzte Ausdruck in seinen Augen verfolgte sie die Treppe hinunter, hinaus ins Freie, vorbei an den Wachposten der Raumpolizei, die das HQ von der Handelsstadt trennten. Jaelle fühlte die willkommene Kälte des Schnees auf ihren Wangen und wünschte, sie hätte der Trennung mit ihrer guten Nachricht den Stachel genommen.

Nun, sie konnte es ihm immer noch sagen.

Würde man sie beschimpfen, dachte Magda, wäre es nicht so schlimm. Alles wäre besser als dieses endlose, vorwurfsvolle Schweigen, diese betonte Höflichkeit.

»Wenn du wirklich wieder dazu fähig bist, Margali«, sagte Rafaella, »willst du dann mit Doria und Keitha arbeiten? Ich finde, sie brauchen mehr Übung im Fallen.«

Magda nickte. Der große Raum, den sie den Waffensaal nannten, war erfüllt von dem weißen Licht des Schnees draußen, denn der größtmöglichen Helligkeit wegen waren die Fenstervorhänge ganz zurückgezogen. Auf dem Fußboden waren Matten ausgebreitet, und ein Dutzend Frauen machten die Übungen des Streckens und Beugens, mit denen sie sich auf den Unterricht im unbewaffneten Kampf vorbereiteten. Rafaella war die Lehrerin.

Magda dachte an ihren dritten Tag im Haus, als sie bei Rafaella ihre erste Stunde gehabt hatte. Nach mehreren Tagen des Ringens mit so ungewohnten Aufgaben wie Brotbacken, Melken und Stallausmisten war es eine große Erleichterung gewesen, an etwas zu geraten, das sie beherrschte. Sie war an der Akademie des Nachrichtendienstes auf Alpha gründlich im unbewaffneten Kampf ausgebildet worden und brannte darauf, Rafaella zu zeigen, dass sie keine völlige Idiotin sei.

Magda war – damals – bereit gewesen, Rafaella gern zu haben, wusste sie doch, dass die schlanke dunkle Frau Jaelles Partnerin in ihrem Reiseorganisationsgeschäft war. Außerdem hatte sie an ihrem ersten Abend im Haus Rafaella zur Harfe singen gehört. Magdas Mutter war eine beachtliche Musikerin gewesen, die erste Terranerin, die viele der darkovanischen Volkslieder aufgeschrieben und die historischen Verbindungen zwischen darkovanischer und terranischer Musik untersucht hatte. Magda selbst war keine Musikerin – sie hatte ein gutes Gehör, aber keine Singstimme –, doch sie bewunderte dieses Talent bei anderen. Sie war bereit gewesen, Rafaella nicht nur gern zu haben, sondern zu bewundern.

vaidokan