Die amerikanische Originalausgabe Jimmy erschien 2011 im Verlag Darker Dreams Media.
Copyright © 2013 by William Malmborg
1. Auflage Dezember 2014
Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: iStockphoto.com
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-350-1
www.Festa-Verlag.de
»Wow, was ist denn hier los?«, fragte Tina, als Alan, Jimmy und sie am Donnerstagmorgen den Schulparkplatz betraten. Sie waren noch so müde, dass sie während des Fußmarschs zur Schule außer einer schlichten Begrüßung kaum miteinander geredet hatten, was durchaus typisch war für die frühe Uhrzeit. Der Trubel vor der Schule hingegen war gänzlich untypisch, und einen Moment lang blieben alle drei unwillkürlich stehen, um den Anblick auf sich wirken zu lassen.
»Sieht aus, als stünden an jedem Eingang Cops«, stellte Alan fest.
»Ob es eine Schießerei gegeben hat?«, fragte Tina.
»Nein«, antwortete Alan. »Sonst würden sie niemanden reinlassen. Sieht eher aus, als würden sie den Verkehr regeln.« Er wandte sich an Jimmy. »Was meinst du?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Jimmy mit einem Schulterzucken. Was gelogen war. Natürlich wusste er, was im Gange war. Zumindest kannte er den Auslöser dafür. Schlagartig bedauerte er, eine Tüte mit Bondage-Videobändern, die er während der Mittagspause entsorgen wollte, in seinen Rucksack gestopft zu haben, denn unter Umständen würden die Polizisten die Schüler durchsuchen.
Nein, wahrscheinlich stellen sie den Schülern nur ein paar Fragen, sagte er sich in dem Versuch, ruhig zu bleiben. Du hast nichts zu befürchten.
Dennoch empfand er es als dumme Idee, die Videokassetten in die Schule mitgebracht zu haben. Er hätte sie zu Hause lassen und am Nachmittag wegwerfen sollen. In den sieben Stunden, die er außer Haus sein würde, hätte sich schon nichts ereignet. Niemand hätte sein Zimmer durchwühlt.
Und falls man es doch durchsucht, dann deshalb, weil man etwas weiß, und dann wären die Videos nur ein weiterer Sargnagel für dich.
»Scheiße!«, zischte Jimmy.
»Was ist?«, fragte Alan.
»Ich hab irgendwo meinen Stift verloren.« Er zog eine leere Hand aus der Tasche, obwohl sich der Stift nach wie vor darin befand. »Ich glaube, ich weiß, wo er rausgefallen ist.«
»Ich habe einen Reservekugelschreiber«, sagte Tina. Sie setzte dazu an, ihre Handtasche zu öffnen.
»Nein, schon gut, ich hänge an dem Stift.« Damit drehte er sich rasch um und marschierte den Gehsteig hinunter, bis er nahe der Spielerbank des Baseballfelds um die Ecke bog, wo eine verbeulte Mülltonne stand. Sie enthielt nur ein paar Limonadenflaschen und eine leere Zigarettenschachtel. Gleich darauf gesellte sich die Tüte mit den verfänglichen Videos dazu. Ein Gefühl des Verlusts setzte ein. Jimmy hatte so viele Stunden damit verbracht, sich diese Videos zu besorgen und sie sich nachts anzuschauen, und sie nun ganz sang- und klanglos wegzuwerfen, konnte er kaum ertragen.
Dennoch tat er es, bevor er zum Parkplatz zurückeilte, wo Alan und Tina warteten. Mit dem Stift in den Händen verkündete er: »Gefunden!«
»Glück gehabt«, meinte Alan.
»Ich weiß, aber ich konnte mich erinnern, etwas fallen gehört zu haben, als wir an der Spielerbank vorbeigegangen sind. Und tatsächlich, genau dort lag er. Ich brauchte gar nicht lang danach zu suchen.« Er schaute zur Schule und zu den Scharen der Schüler an jeder Tür, wo sie von den Cops nacheinander hineingelassen wurden. Die Kassetten entsorgt zu haben, erfüllte Jimmy mit Erleichterung, doch es genügte nicht, um die Angst, geschnappt und für die Entführung von Samantha und Megan verhaftet zu werden, völlig verschwinden zu lassen. Schlimmer noch, er bezweifelte, dass sich diese Angst überhaupt durch irgendetwas vollständig vertreiben ließe. Selbst wenn er die Mädchen umbrachte und ihre Leichen vernünftig entsorgte, blieb immer ein Restrisiko, dass irgendjemand etwas finden könnte, das seine Täterschaft verriet.
Spekulationen und willkürliches Geplapper erwarteten sie, als sie sich einer Gruppe von Schülern anschlossen, die an Eingang drei warteten – insgesamt verfügte die Schule über sechs Eingänge. Durch die verschiedenen Gesprächsfetzen, die miteinander kollidierten und ineinanderflossen, ergab sich größtenteils nur unverständliches Kauderwelsch.
»... suchen wahrscheinlich nach Drogen ...«
»... haben sie gestohlen ...«
»... Megan Reed wird vermisst ...«
Jimmy drehte sich um und hielt nach dem Mädchen Ausschau, von dem die letzte Äußerung stammte, doch er konnte nicht feststellen, woher die Worte gekommen waren. Zugleich wusste er, dass es eigentlich keine Rolle spielte. Sich Megan Reed zu schnappen, war allein schon durch ihre Verwandtschaft mit dem Sheriff ein Fehler gewesen. Bei jedem anderen Mädchen hätte sich der Sheriff vielleicht trotz wachsender Besorgnis seitens der Bürger immer noch gegen die Vorstellung gewehrt, dass ein Verbrecher den jungen Frauen von Ashland Creek auflauern könnte. Aber bei Megan lehnte er sich offensichtlich nicht tatenlos zurück.
Du hattest keine andere Wahl, behauptete ein Teil seines Verstands. Sie hätte den Bunker gefunden.
Oder sie hätte vielleicht das Interesse auf das Hood-Haus gelenkt, was dann letztlich zur Entdeckung des Bunkers hätte führen können.
Oder vielleicht wäre auch gar nichts passiert.
Was geschehen ist, ist geschehen.
Abgesehen von allem anderen genoss er es, Megan im Bunker zu wissen. Sie an den Handgelenken hängen zu sehen, fand er ultrageil. Megan hatte sogar so scharf ausgesehen, dass er sie an diesem Morgen gar nicht herunterlassen wollte, allerdings hatte er es trotzdem getan, weil er gefürchtet hatte, sie sonst versehentlich zu töten – ihre Lunge hatte bedenklich gerasselt, als er den Bunker in den Stunden vor dem Morgengrauen betreten hatte. Zwar beabsichtigte er, sie letztlich zu töten – das hatte er beschlossen, als er vergangene Nacht im Bett gelegen hatte; er würde sie langsam am Hals aufhängen –, aber er wollte dafür sorgen, dass er es genießen konnte, statt herauszufinden, dass sie längst abgenippelt war. Wenn es ihm Spaß machte, den Weibern beim Krepieren zuzuschauen, sollten sie wenigstens mit dem Wissen verrecken, dass ihr Tod einen Sinn hatte, auch wenn dieser darin bestand, dass er sich währenddessen einen runterholte.
Schließlich erreichten die drei die Schultür und wurden von einem Polizisten hineingewunken, der sie aufforderte: »Bitte geht für eine Ankündigung in die Turnhalle.«
»Wieso?«, fragte ein Schüler hinter ihnen.
»Bitte geht einfach in die Turnhalle«, wiederholte der Deputy. »Dort wird man euch alles erklären.«
Die drei kamen der Anweisung nach und beschlossen, nicht zuerst zu den Spinden zu gehen, da sie keine Jacken trugen und ihre Taschen danach ohnehin zum Unterricht mitnehmen mussten.
»Scheiß drauf«, brummte Brett. »Verschwinden wir.«
»Wohin?«, fragte Matt.
»Zu dir, Mann. Ich will mir ansehen, was die Schwuchtel weggeworfen hat.«
»Wen interessiert’s?«
»Mich interessiert’s«, gab Brett barsch zurück. »Und ich will verdammt sein, wenn ich mich eine Stunde lang in eine dämliche Versammlung setze, obwohl ich mir in der Zeit ansehen könnte, was auf den Videokassetten ist.«
»Mann, das ist bloß Müll.«
»Ja, und er hat ihn rein zufällig weggeworfen, als er vor der Schule die Bullen sah. Was ist los mit dir, bist du blöd oder was? Er hatte Schiss, dass die Bullen sehen, was auf den Bändern ist. Wahrscheinlich hat er wie du gedacht, die Bullen würden jeden durchsuchen.« Brett schüttelte den Kopf. »Und Scheiße, Mann, wenn wir schon dabei sind – warum hast du diesen erstklassigen Stoff aus Kalifornien rausgeworfen, den ich dir zur Aufbewahrung gegeben habe? Hast du eine Ahnung, was das Zeug gekostet hat?«
»Was würdest du denn tun, wenn du auf einmal die Cops vor der Schule siehst, hä?«, konterte Matt. »Und außerdem wollte ich das Zeug auf dem Heimweg wieder holen, ich wollte bloß nicht in der Schule damit erwischt werden.«
Kaum hatte Matt die Polizei vor der Schule erblickt, hatte er beschlossen, den Marihuana-Beutel wegzuwerfen, den Brett ihm unlängst zum Verwahren gegeben hatte, weil sich sonst dessen älterer Bruder daran vergriffen hätte. Matt mochte das Zeug ohnehin nicht, und das Letzte, was er wollte, war, so kurz vor dem Abschluss mit Drogen erwischt zu werden, schon gar nicht mit einer solchen Menge. Anscheinend hatte er nicht als Einziger etwas weggeworfen, obwohl er nie im Leben damit gerechnet hätte, ausgerechnet Jimmy Hawthorn dabei zu beobachten, wie er etwas entsorgte. Durch den Umstand, dass es sich um einen Haufen VHS-Kassetten handelte, schien es noch ungewöhnlicher zu sein; deshalb hatte er es Brett erzählt. Natürlich konnte es Brett nicht dabei bewenden lassen – der Typ war regelrecht besessen; er hatte sich sowohl die Videobänder als auch den Marihuana-Beutel geholt.
»Du wolltest das Gras auf dem Heimweg wieder auflesen?«, raunte Brett. »Schau mal zum Himmel hoch. Weißt du, was die dunklen Wolken bedeuten? Bitte sag, dass du nicht so bescheuert bist. Gott hat vor, den ganzen Tag lang auf uns runterzupissen, und du glaubst allen Ernstes, das Gras würde in der Mülltonne unversehrt bleiben?« Wieder schüttelte Brett den Kopf. »Die Eintüter im Supermarkt haben mehr Hirn als du.«
Matt erwiderte nichts. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, dass er nur noch wenige Wochen vor sich hatte, dann würde alles überstanden sein. Er würde fortziehen, um das College zu besuchen, und Brett würde nicht mitkommen.
»Los jetzt, fahren wir zu dir. Ich weiß, dass bei dir keiner zu Hause ist. Wir chillen in deinem Keller.«
»Ich kann nicht einfach schwänzen«, protestierte Matt.
»Kumpel, wir sagen einfach, wir hätten gedacht, es dürfte niemand rein, weil es einen Notfall gab wie damals, als bei dem Rohrbruch im Klo alles unter Wasser stand.«
Diesmal schüttelte Matt den Kopf.
»Jetzt sei kein Weichei«, sagte Brett und zückte die Autoschlüssel. »Komm mit.«
Matt folgte ihm zum Auto.
»Wow, das ist ernst«, meinte Tina.
Jimmy nickte.
»Kannst du dir vorstellen, wie es sein muss, auf dem Heimweg von der Schule entführt zu werden?«
»Nein«, erwiderte Jimmy.
»Ich meine, warum sollten sie so nah ans Auto des Entführers rangehen?«, fragte Tina. »Das hätten sie nur getan, wenn sie ihn kannten.«
»Aber das würde bedeuten, dass jemand aus der Stadt dahintersteckt«, sagte Jimmy.
»Glaubst du das etwa nicht?«
»Keine Ahnung, aber falls ja, wer könnte es sein?«
Tina schüttelte den Kopf. »Du kennst die Menschen hier besser als ich. Auf jeden Fall ist es schon beängstigend.«
Jimmy spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Als er sich umdrehte, erblickte er eine Lehrerin, die er vom Sehen kannte, bei der er aber noch nie Unterricht gehabt hatte; sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Tribünengang. »Seid ruhig und hört zu«, sagte sie.
»Sorry«, flüsterte Jimmy.
Unten redeten der Sheriff und der Schuldirektor weiter über Sicherheit, darüber, dass man den Weg zur und von der Schule ab sofort nur noch in Dreier- oder Vierergruppen absolvieren sollte, dass es mit sofortiger Wirkung verboten war, die Schule zum Mittagessen zu verlassen, welche Telefonummer man anrufen konnte, falls man etwas wusste, und dass über eine zeitweilige Ausgangssperre diskutiert wurde – der letzte Teil wurde mit wütenden Buhrufen quittiert.
»Die sollen uns bloß nicht den Abschlussball vermasseln«, raunte ein Mädchen unter ihnen so laut, dass überall in dem Tribünenbereich die Köpfe herumfuhren.
Die Lehrerin, die Jimmy auf die Schulter getippt hatte, steuerte auf die Sitze dort zu und wollte von den Schülern wissen, welches der Mädchen das gesagt habe. Niemand gestand es.
Überlasst sie einfach mir, dachte Jimmy. Ich bringe sie zum Reden. Vor seinem geistigen Auge tauchte ein Bild von jedem der Mädchen auf, wie es an den Handgelenken hing und sich langsam im Kreis drehte.
Die Lehrerin forderte die Schülerinnen auf, nach der Versammlung zu ihr zu kommen. Wahrscheinlich würde jede von ihnen nachsitzen müssen, bis eine den lockeren Spruch gestand. Solche Kollektivstrafen waren gemein; es war, als würde man ein Dutzend Menschen ins Gefängnis sperren, bis einer von ihnen den Ladendiebstahl gestand. Aber keine der Schülerinnen protestierte.
»Mann, ist das krank«, stieß Matt hervor, während er beobachtete, wie eine gefesselte junge Frau in roter Lederkluft gezwungen wurde, an einem hautfarbenen Dildo zu lutschen. »Schalt das aus.«
»Warte, wahrscheinlich ist es ohnehin gleich zu Ende«, erwiderte Brett, durch und durch fasziniert von dem Videoband, das sie sich ansahen. »Das andere hat auch nicht allzu lange gedauert.«
Die beiden befanden sich in Matts Keller, den er mit Zustimmung seiner Eltern als Treffpunkt für seine Freunde eingerichtet hatte. Trotzdem verbrachte die Clique die meiste Zeit woanders. Da Bretts Eltern dort immer in unmittelbarer Nähe waren, diente der Keller den Jungs nur als allerletzte Alternative. Zum Schwänzen allerdings eignete er sich perfekt.
Grässliche Würgelaute dröhnten aus dem Fernseher, als der Kopf der jungen Frau weiter auf den Plastik-Penis hinabgedrückt wurde.
Matt wandte den Blick ab und forderte Brett erneut auf auszuschalten, aber sein Freund hörte nicht auf ihn.
»Stell dir mal vor, das wär’ dein Schwanz«, sagte Brett stattdessen. »Mann, das wäre geil.«
»Würdest du echt ein Mädchen fesseln und zu so was zwingen?«
»Quatsch. Das ist krank. Aber wenn eine Frau das macht, weil sie es möchte, ist doch nichts dagegen einzuwenden.«
»Außer, sie kotzt dich dabei mit ihrem Mittagessen voll.« Er richtete den Blick einige weitere Sekunden lang auf den Bildschirm. Dem Mädchen wurde von einer in Leder gekleideten Frau befohlen, sich aufzurichten. Dann setzte sich die Frau auf den Dildo und fing an, darauf zu reiten. Dabei ließ sie sich von dem gefesselten Mädchen mit der Zunge befriedigen. »Mann, echt jetzt, schalt aus. Ich will diese Scheiße nicht in meinem Haus haben.«
»Was hast du denn? Macht es dich zu sehr an?«
»Leck mich doch«, gab Matt zurück, ging zum Fernseher und schaltete ihn aus.
»Na schön«, gab sich Brett geschlagen. »Schauen wir mal, was auf den anderen Kassetten ist.« Brett drückte die STOPP-Taste der Fernbedienung und ging zu der Tüte mit den Videobändern. »Hier steht SB-927 drauf. Was glaubst du, bedeutet das?«
»Keine Ahnung. Mann, warum sieht sich Jimmy solchen Mist an?«
»Weil er ein kranker, perverser Drecksack ist.«
Damit hatte Brett recht.
Das nächste Video begann.
»Na toll, das hier ist auch noch in einer anderen Sprache«, stellte Brett fest, als etwas, das wie Französisch aussah, über den Bildschirm flimmerte.
»Ich glaube kaum, dass Leute, die sich so was reinziehen, die Sprache besonders interessiert«, meinte Matt.
»Du musst es ja wissen.«
Zwei Mädchen erschienen auf dem Bildschirm. Beide trugen eine weiße Bluse und darüber einen schwarzen Pullunder. Die beiden sahen wie Schülerinnen aus, waren aber vermutlich 19 oder 20 – hoffte Matt jedenfalls. Sie knieten mit geneigten Köpfen in einem hell erleuchteten Raum. Das Bildmaterial wirkte körnig, fast wie ein Amateurvideo, und abgesehen von der fremden Sprache erwies sich der Ton als zu leise, war kaum zu hören. Offensichtlich hatte man beim Dreh keine professionellen Mikrofone verwendet.
»Die sind eigentlich ziemlich hübsch«, befand Brett. »Die mit den Hängeohrringen und dem blauen Lidschatten erinnert mich irgendwie an deine Schwester.«
Matt schleuderte Brett einen zornigen Blick zu.
»War deine Schwester schon mal im Ausland?«, stichelte Brett weiter.
»Noch ein Wort, und ich schlag dir mit dem Rohr dort drüben den verdammten Schädel ein«, warnte Matt.
Brett musste in Matts Tonfall etwas gehört haben, das ihn beunruhigte, denn er verstummte.
Auf dem Bildschirm verlagerten die beiden Mädchen die Haltung so, dass sie kniend die Hintern in die Luft streckten. Eine ältere Frau, auch in Leder gekleidet, wenngleich spärlicher als ihr Pendant in dem anderen Video, hob beide Röcke an, um die nackten Hintern zu entblößen. Dann begann sie, mit einer langen, dünnen Gerte darauf einzudreschen.
Die Schreie der Mädchen klangen so echt wie die schmerzhaft aussehenden Hiebe.
Zwei Minuten nach Beginn des Hintern-Versohlens drückte Brett auf die Vorlauftaste und wartete. Schließlich endeten die Schläge, und die beiden Mädchen begannen, aneinander herumzuspielen, bevor ihnen befohlen wurde, zu einem schwarzen Riesendildo auf einem kleinen runden Tisch zu gehen. Gemeinsam begannen sie, an dem Ding herumzulutschen.
»Dieselbe Handlung, andere Mädchen«, sagte Matt. »Mehr ist an der Scheiße nicht dran.«
»Ja«, pflichtete Brett ihm bei.
Die beiden jungen Burschen arbeiteten sich weiter durch Jimmys Videosammlung. Der Vormittag ging in den Nachmittag über. Was sie zu sehen bekamen, faszinierte und verstörte sie gleichermaßen. Ein Video erwies sich als so heftig, dass Brett derjenige war, der ausschaltete. Dabei sagte er: »Die Scheiße kann ich mir nicht ansehen.« Durch den Umstand, dass in dem Video eine Einlaufszene vorkam, traf seine Äußerung sowohl buchstäblich als auch bildlich zu.
»Was hast du mit den Kassetten vor?«, fragte Matt, nachdem sie gesehen hatten, wie ein gefesselter Mann von zwei Frauen mit Umschnalldildos gleichzeitig in den Arsch und in den Mund gefickt wurde.
»Keine Ahnung. Vielleicht lasse ich sie über die Schulfernseher laufen und erzähle allen, dass sie Jimmy gehören«, antwortete Brett.
»Ja, also, äh, ich kann mir nicht vorstellen, dass man dir das abkaufen würde. Wenn er in den Videos vorkäme, wär’s etwas anderes, aber die Kassetten könnte jeder weggeworfen haben. Man würde eher denken, du willst ihn anschwärzen, und dann würde man sich wohl fragen, wieso du die Kassetten hast.«
»Gutes Argument.«
Die beiden verstummten. Durch den Kellerraum drangen nur die Schreie einer Frau, die brutal ausgepeitscht wurde.
»Ich überlege gerade, ob Jimmys Freundin von den Videos weiß«, ergriff Brett nach einer Weile das Wort.
»Was?«
»Falls nicht, sollten wir sie vielleicht darüber unterrichten, damit sie weiß, was für ein kranker, perverser Penner er ist.«
»Noch mal: Du hast keinen Beweis dafür, dass sie ihm gehören«, erinnerte Matt seinen Freund.
»Schon, aber wenn sie ihn damit konfrontiert, ist ihm das vielleicht nicht auf Anhieb klar, und ihm könnte rausrutschen, dass es stimmt. Richtig?«
»Richtig«, räumte Matt ein. »Willst du es noch heute tun?«
»Nein. Ich hab eine bessere Idee.«
Vor vielen Jahren hatte Megans Vater die Familie nach Wisconsin zum Campen am Redstone Lake geschleppt, einen Ort, an dem er als Kind oft mit seinen Eltern gewesen war. Um sie zu erschrecken, hatte er damals behauptet, es spuke dort. Die Familie nahm für den Ausflug zwei kleine Zelte mit, beide aus der Pfadfinderzeit ihres Vaters. Bis dahin hatten die Zelte während Megans gesamtem Leben auf einer Ablage in der Garage gelegen, versiegelt von einer zwei Zentimeter dichten Staubschicht. Hunderte Insekten hatten im Laufe der Zeit in den Falten des zusammengelegten Zelts eine Heimat gefunden. Anfangs war es lustig gewesen, doch irgendwann während der Nacht schlug das Wetter um und ein Gewitter zog auf. Innerhalb weniger Minuten zeigte sich der Verschleiß der Zelte, indem durch fast jeden Quadratzentimeter des durchhängenden Dachs Wasser tropfte. Leider erwiesen sich die Zeltböden als besser erhalten, denn das Wasser, das durch die Decke und die Wände eindrang, sammelte sich zu einer Lache, durchtränkte alles und machte es ihnen unmöglich zu schlafen, obwohl sich Megan und ihr Bruder in einer kleinen, zunächst scheinbar wasserdichten Ecke einrollten. Schlimmer noch, das Unwetter machte es schwierig, das über eine Meile entfernt geparkte Auto zu finden. Als sie es letztlich doch noch fanden, stellten sie fest, dass sie zwar nicht mehr dem Regen ausgesetzt waren, aber wegen der Schwüle im Wageninneren weder trocknen noch schlafen konnten. Ebenso wenig konnten sie sich hinlegen, weil sie wegen der Benzinpreise entschieden hatten, mit dem kleineren Kombi statt mit dem Van zu fahren. Es war eine grauenhafte Nacht gewesen, bis gestern die schlimmste in Megans Leben – dennoch wäre sie nun mit Freuden bereit, jene Nacht immer und immer wieder zu erleben, wenn sie dafür nur von diesem schrecklichen Ort weg könnte.
Wenigstens stehst du wieder auf den Beinen.
Anfangs war Megan eine Zeit lang gar nicht klar gewesen, dass sie wieder stehen durfte. Ebenso wenig konnte sie sich daran erinnern, dass Jimmy an diesem Morgen hier gewesen war – sie hatte nur bruchstückhaft im Gedächtnis, dass er geredet und sich herumbewegt hatte, was jedoch genauso gut Erinnerungen vom Vortag sein konnten. Als sie erwacht war, hatte sie nach wie vor die Schmerzen des Am-Seil-Hängens verspürt. Auch beim Atmen hatte sie dieselben Schwierigkeiten, deshalb hatte sie vermutet, immer noch zu hängen. Dann aber hatten ihre Beine den Boden gespürt, sich aber nicht darauf gestellt, was Megan sofort nachholte.
Darauf folgten Schmerzen anderer Art, und zum ersten Mal begriff Megan, warum Samantha am Vortag so geschrien hatte, als sie wieder stehen konnte. Es lag am Blut, das in die Finger zurückkehrte, nur fühlte es sich völlig anders an als das unangenehme Kribbeln, das sich einstellte, nachdem man die ganze Nacht auf seiner Hand gelegen hatte. Nein, dies waren blanke Qualen, fast so, als wolle das Blut das Gewebe durch Schocks wieder zum Leben erwecken.
Da Megan nicht schreien wollte, biss sie die Zähne zusammen und wartete darauf, dass es besser wurde. Irgendwann legten sich die Schmerzen tatsächlich, doch bis dahin konnte Megan an nichts anderes denken. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nur auf das Gefühl von Millionen winzigen Rasiermessern, die durch ihre Adern strömten.
Die Zeit verging.
Megan hatte keine Möglichkeit mehr, ihr Verstreichen zu messen. Was Minuten zu sein schienen, konnten ebenso gut Stunden sein, was Stunden zu sein schienen, waren in Wirklichkeit vielleicht nur Minuten.
Während sie darüber nachgrübelte, schaute sie zu ihrer Freundin. Samantha schaukelte am Seil hin und her, ihre Zehen nur schwache Anker am kalten Betonboden.
»Samantha?«
Ihre Freundin antwortete nicht.
»Samantha!« Den Namen ihrer Freundin zu brüllen, beraubte sie aller Energie, was sie erschreckte. Noch erschreckender aber war, ihre Freundin leblos hängen zu sehen, also brüllte sie erneut, immer und immer wieder, bis Samantha irgendwann zittrig die Lider öffnete.
Doch nicht tot!
Samanthas Augen bewegten sich ein paarmal hin und her, dann schloss sie die Lider wieder. Ihr Körper unternahm keinen Versuch, aufrecht zu stehen.
»Samantha, wach auf!«
Nichts.
»Samantha!«
Wut kochte in Megan hoch.
Ein Teil von ihr wollte, dass Samantha aufwachte, weil sie das Gefühl hatte, in wachem Zustand würde man nicht so leicht in den Tod abgleiten. Ein anderer – größerer Teil – wollte, dass sie aufwachte, weil Megan das Alleinsein nicht ertragen konnte, und solange Samantha bewusstlos war, war sie praktisch allein.
Bitte wach auf. Diesmal spürte sie ihre Erschöpfung zu sehr, um es laut auszusprechen. Bitte!
Samantha rührte sich immer noch nicht, und als sie sich wieder anpinkelte, folgte kein erleichtertes Stöhnen. Das verängstigte Megan mehr als alles andere. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin starb.
Später sollte sie sich fragen, ob der Tod nicht besser gewesen wäre. Schließlich sah es nicht danach aus, als würde ihr Vater sie finden.
Hättest du nur früher versucht, ihn anzurufen!
Der Gedanke markierte den Beginn mehrerer Stunden, während derer sich Megan ohne Unterlass für ihre Dummheit schalt. Die Wut, die sich dabei gegen sich selbst richtete, stellte alles in den Schatten, was sie bis dahin erlebt hatte. Es war grauenhaft.
»Meine Mutter hat in der Schule angerufen, als sie das von Megan Reed erfuhr«, erzählte Tina beim Mittagessen. »Sie will, dass ich nach der Schule hier bleibe und warte, bis sie mich abholt.«
»Was?«, fragte Jimmy nach.
Die beiden aßen, nur hatten sie diesmal keine Tischhälfte für sich allein, weil die Erlaubnis, zu Mittag die Schule zu verlassen, vorübergehend ausgesetzt worden war. Dennoch blieb ein Stuhl zwischen ihnen und den anderen Schülern frei, die sich sichtlich widerwillig an ihren Tisch gesetzt hatten, und obwohl keine Unterhaltung zu ihm drang, fühlte sich Jimmy extrem bedrängt und achtete penibel auf seine Worte. Ihm missfiel die Möglichkeit, belauscht zu werden, obwohl sie über keine vertraulichen Themen redeten und ihr Gespräch für niemanden interessant gewesen wäre.
»Zuerst hab ich nein gesagt, aber sie hat die Schule aufgefordert, mich nachsitzen zu lassen, wenn ich nicht auf dem Gelände bleibe und meine Ballkarte zu annullieren.« Tina schüttelte den Kopf. »Ich glaube zwar nicht, dass sie die Karte wirklich annullieren würden, aber ich bin nicht sicher, ob ich das Risiko eingehen soll, verstehst du?«
Jimmy nickte. »Ich finde, es wäre besser, wenn du bleibst. Wär’ echt blöd, wenn du nicht kommen könntest.«
»Stimmt. Andererseits würde ich wetten, dass sie mich reinlassen würden, wenn ich hinkäme, selbst wenn meine Karte annulliert wäre. Ich meine, wie würden sie das schon überprüfen?«
»Mag sein, aber trotzdem, warum das Risiko eingehen? Es ist ja bloß ein Nachmittag.«
»Sie will, dass ich morgen auch hier bleibe.«
»Aber die Oberstufe darf morgen doch schon mittags nach Hause.«
»Ist ihr egal. Sie möchte nicht, dass ich allein zu Hause bin. Ich glaube, teilweise liegt’s daran, dass ich alles durchstöbert habe und die Eintrittskarte fand, die sie mir weggenommen hatte. Ist so was wie eine Bestrafung.«
»Hat sie was dazu gesagt?«
»Nichts. Was ziemlich merkwürdig ist. Irgendwie hab ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache.«
Danach schwiegen sie, während in der Kantine alles andere als Stille herrschte. Durch die zusätzlichen Schüler war es unglaublich laut – so laut, dass Jimmy und Tina manchmal fast schreien mussten, um sich verständlich zu machen.
»Ist die Bibliothek überhaupt bis halb sechs offen?«, fragte Jimmy nach einer Weile.
»Dachte ich schon«, sagte Tina. »Warum denn nicht?«
»Budgetkürzungen. Der Staat hat dieses Jahr einen Großteil seiner Zahlungen nicht geleistet, deshalb hat die Schule bei einigen Dingen Einsparungen vorgenommen, unter anderem beim Bibliothekspersonal.«
Tina wollte fragen, woher Jimmy das wusste, dann jedoch fiel ihr ein, dass er Wirtschaftsunterricht hatte, und nahm an, der Lehrer hätte es der Klasse erzählt.
»Ich glaube, sie schließt jetzt um Viertel nach vier«, fügte Jimmy an.
»Na toll. Und was mache ich dann?«
»Keine Ahnung. Deine Mutter sollte dich einfach nach Hause gehen lassen. Dir passiert schon nichts.«
»Das hab ich ihr auch gesagt. Ich hab ihr erklärt, dass ich ja mit dir und Alan nach Hause gehe, aber das interessiert sie nicht. Sie ist verrückt.«
»Vielleicht sollte ich sie mal kennenlernen, damit sie einen Eindruck von mir bekommt«, meinte Jimmy. »Aus irgendeinem Grund scheinen mich Erwachsene zu mögen.«
»Meine Mutter ist anders«, entgegnete Tina. »Du könntest der tollste Kerl der Welt sein und sie würde dich trotzdem nicht mögen.«
»Wow, bin ich etwa nicht der tollste Kerl der Welt?«
Tina lachte.
Während Brett im Wartebereich des Dekansbüros saß, musste er unwillkürlich an die Videos denken, die er gefunden hatte, und daran, dass sie Jimmy aufgeilten. Er hatte immer gewusst, dass mit Jimmy etwas nicht stimmte, aber nicht was. Jetzt wusste er es. Besser noch, bald würde es auch die ganze Schule wissen, denn beim Abschlussball würde er allen vor Augen führen, wie pervers Jimmy war. Es würde toll werden.
Die Tür zum Dekansbüro öffnete sich, und Mr. Williamson kam kurz heraus, sah sich um, erblickte Brett und forderte ihn auf: »Mr. Murphy, wenn Sie bitte hereinkommen würden.«
Die Gedanken an Jimmy verflogen, als sich Brett von seinem Sitz erhob und Mr. Williamson in dessen Büro folgte. Dabei ging ihm durch den Kopf: Die werden uns nichts tun. Dieselben Worte hatte er in Matts Keller laut ausgesprochen, als die Schule bei Matt zu Hause angerufen hatte. Durch die Anrufererkennung hatten sie gewusst, wer es war. Natürlich war Matt ausgeflippt und wollte sofort zurück zur Schule, aber Brett hatte gemeint, er solle kein solcher Hosenscheißer sein und bleiben. Letztlich waren sie doch zurückgefahren, weil Matt beschlossen hatte, mit oder ohne Brett zu gehen, und allein konnte Brett nicht im Keller bleiben. Nach Hause wollte Brett auch nicht, weil er sich dort Mist von seinem Bruder hätte anhören müssen, also war auch er zur Schule zurückgekehrt. Die vier verbleibenden Unterrichtsstunden hatte er wie einen Berg empfunden, mit dessen Besteigung er nicht einmal beginnen wollte. Zum Glück hatte Mr. Williamson beschlossen, dass er ihn sehen wollte, wodurch ein großer Brocken des Naturwissenschaftsunterrichts wegfiel – noch dazu Laborzeit, was Brett noch besser fand. Das spätere Nachsitzen war nicht so schlimm. Er hatte sowieso nichts Besseres zu tun.
»Heute nicht«, sagte Jimmy. »Ihre Mutter lässt sie in der Schule warten, weil sie fürchtet, Tina könnte wie Samantha King und Megan Reed entführt werden.«
»Selbst wenn sie mit uns nach Hause geht?«, fragte Alan. »Was denn, hält sie etwa uns für die Entführer?«
Jimmy ließ darüber ein mattes Lachen vernehmen. »Vielleicht, wer weiß? Aber irgendwie kann ich ihre Besorgnis schon verstehen. Das Problem ist, Tina glaubt, dass ihre Mutter gar nicht um ihre Sicherheit besorgt ist, sondern ihr bloß ihren Willen aufzwingen will, weil sie sich über Tinas trotziges Verhalten aufregt.«
»Gott, da merkt man erst, was für Glück wir haben, dass Ma und Dad so gut miteinander auskommen und sich nie scheiden ließen«, meinte Alan.
»Stimmt.«
»Ich meine, sieh dir nur an, wie festgefahren Tinas Situation ist.«
»Allerdings glaube ich nicht, dass es nur an der Scheidung ihrer Eltern liegt«, warf Jimmy ein. »Da ist mehr dran. Sie hat mir nicht viel erzählt, aber es hat gereicht, um mir das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Mutter wohl ein bisschen labil sein dürfte. Offenbar hat sie ihre Familie kurz nach Tinas Geburt verlassen, um zu ihrer Mutter zu ziehen, was ich einfach nur schräg finde.«
»Auf jeden Fall haben wir ziemliches Glück.«
»Ja.« Jimmy verstummte kurz. »He! Wo ist meine Cola?«
»Was?«,
»Du hast gesagt, du würdest mir heute eine Cola kaufen, weil du meine gestern fast ausgetrunken hast. Wo ist sie?«
»Tut mir leid, hab ich vergessen«, entschuldigte sich Alan. »Willst du zurückgehen?«
»Nein.« Sie hatten den Parkplatz bereits halb überquert, außerdem war es nach dem Regenguss entsetzlich schwül geworden. »Schon gut.«
»Ich hol dir morgen eine, versprochen.«
»Ha, morgen geh ich früher nach Hause, weil ich in der Oberstufe bin.«
»Kacke. Dann eben Montag.«
»Abgemacht.« Gleich darauf fügte Jimmy hinzu: »Aber wenn du’s vergisst, bleiben Samantha und Megan nicht die einzigen Teenager, die in der Gegend verschwunden sind.«
»Oooooh, ich hab ja solche Angst«, sagte Alan. »Sieh nur, wie ich zittere.«
Die beiden traten vom Parkplatz auf den Bürgersteig. Vor ihnen tauchte die Mülltonne auf, in die Jimmy am Morgen die Videokassetten geworfen hatte. Durch den Regen waren sie vermutlich im Arsch, wenngleich er sie ohnehin nicht wieder mitgenommen hätte, schon gar nicht in Alans Gegenwart.
Trotzdem verspürte er ein Gefühl von Verlust und Enttäuschung, sodass er im Vorbeigehen einen kurzen Blick in die Tonne werfen musste.
Er blieb abrupt stehen.
Die Videos sind weg!
In der Tonne lag jede Menge anderer Müll, was bedeutete, dass sie nicht von der Müllabfuhr geleert worden sein konnte.
Wer kann die Videos genommen haben?
Was, wenn es die Polizei war? Was, wenn sie irgendwie zurückverfolgen können, wem die Videos gehören?
Jimmy hatte keine Ahnung, ob das möglich war, aber beim heutigen Stand der Technik musste man damit rechnen.
»Jimmy, was ist los?«, fragte Alan.
Jimmy wandte den Blick von der Mülltonne ab. Sein Bruder befand sich mehrere Schritte vor ihm.
»Du siehst aus, als müsstest du kotzen.«
»Ach was«, erwiderte Jimmy. »Quatsch.« Er winkte ab. »Ich dachte, ich hätte mein Geschichtsbuch vergessen, dabei ist es schon zu Hause.« Kaum war ihm die Lüge eingefallen, arbeitete er damit weiter. »Ja, es ist ganz sicher zu Hause, weil ich gestern noch an Spickzetteln für mein Referat nächste Woche gearbeitet habe.«
»Okay«, meinte Alan nur. Etwas am Tonfall seines Bruders verriet Jimmy, dass er Alan nicht überzeugt hatte.
Die beiden gingen weiter.
»Tut mir leid, aber die Bibliothek schließt gleich«, verkündete eine Frau mittleren Alters, die durch und durch wie der Prototyp einer High-School-Bibliothekarin aussah. Die meisten Schüler mochten die Frau nicht und hielten sie für ein Miststück, aber Tina hatte nie Probleme mit ihr gehabt und bemühte sich immer, nett zu ihr zu sein.
»Oh, schon gut. Äh ... wissen Sie vielleicht, wo ich bis halb sechs warten kann?«, fragte Tina und legte ein Lesezeichen in den Roman, den sie mitgebracht hatte. »Meine Mutter möchte wegen der verschwundenen Mädchen nicht, dass ich zu Fuß nach Hause gehe, deshalb muss ich warten, bis sie mich abholt.«
»Ach ja«, sagte die Bibliothekarin und legte die Hände an die Brust. »Was für eine Tragödie. Diese armen Mädchen.« Kurz verstummte sie. »Gut, dass deine Mutter so besorgt ist. Die meisten Eltern interessiert gar nicht mehr, was ihre Kinder treiben. So viele junge Mädchen werden einfach achtlos ins kalte Wasser des Lebens geworfen.«
Tina wartete, doch als die Frau nicht fortfuhr, fragte sie sie nach einem Ort, an dem sie warten konnte.
»Ich schlage vor, du fragst mal im Sekretariat, denn mir fällt nichts ein. Sämtliche Schulaktivitäten sind für dieses Jahr bereits beendet.«
»Das hatte ich befürchtet«, sagte Tina, als sie ihr Zeug zusammenpackte. »Ich geh einfach mal im Sekretariat fragen.«
»Du meine Güte, was liest du denn da, Liebes?«
Tina blickte auf ihr Buch hinab. Es handelte sich um Necroscope von Brian Lumley, und auf dem Cover prangte ein gruseliger Totenschädel. »Es handelt von einem jungen Mann, der mit Toten kommunizieren kann und während des Kalten Kriegs gegen Vampire kämpft.«
»Wie schrecklich.«
»Ist gut geschrieben. Viel besser als der romantisch angehauchte Vampirschrott, den die meisten Leute lesen.«
Die Bibliothekarin lächelte. »Kein Biss-Fan?«
»Großer Gott, nein!« Am liebsten hätte Tina ihren Worten einen Würgelaut angefügt, doch sie hielt sich zurück.
»Gott sei Dank. Also gibt es an dieser Schule wenigstens noch ein vernünftiges Mädchen.«
Tina lächelte. Sie hatte Geschichten über die regelrechten Kämpfe gehört, die ausgebrochen waren, als die Schule die Biss-Bücher bekommen hatte – einige davon waren ausgeartet, vor allem, als jemand gerufen hatte, dass Jacob ein Loser sei. Jimmy hatte ihr davon erzählt. Ein paar durchgeknallte Mütter hatten doch tatsächlich in der Schule angerufen, weil sie wütend waren, dass ihre Söhne und Töchter – vorwiegend Töchter – die Bücher nicht für ihre Referate verwenden durften. Die Lehrerin hatte die Titel nicht grundsätzlich als Referatsthemen verboten, aber nur wenigen ausgewählten Schülern gestattet, über sie zu referieren. Einige Eltern hatten sich darüber aufgeregt, weil sie fanden, dass ihr Sohn oder ihre Tochter viel besser in der Lage wäre, dem Thema gerecht zu werden.
»Ich persönlich bin ja Fan von Anne Rice, aber ich mag auch neue Vampirgeschichten, wenn sie gut geschriebene sind«, verriet die Bibliothekarin.
»Dann sollten Sie es mal mit einem Titel aus dieser Reihe probieren«, meinte Tina und hob das Buch an. »Mein Freund hat es mir geliehen und gesagt, es gibt noch ein Dutzend Titel davon.«
»Mach ich. Und jetzt schließe ich besser ab. Viel Glück dabei, ein Plätzchen zum Warten zu finden.«
»Danke«, gab Tina zurück und machte sich auf den Weg zur Tür. Zehn Minuten später saß sie vor dem Umkleidebereich für Mädchen im äußersten linken Bereich der Schule. Sie lümmelte mit aufgeschlagenem Buch auf einer zerschlissenen Holzbank. Ihr Blick wanderte von Zeile zu Zeile, denn sie konnte es kaum erwarten zu erfahren, ob es Harry Keogh gelingen würde, die von den Sowjets unterstützte ostdeutsche Polizei zu überlisten und zum Grab des Mannes zu gelangen, mit dem er reden musste.
Es war eine spannende Szene.
Plötzlich kam aus dem Nichts eine Brise auf und blätterte mehrere Seiten des Buchs um. Tina fluchte und blätterte zurück, bis sie die Stelle fand, an der sie gewesen war.
Allerdings kehrte ihr Blick nicht auf die Seite zurück, sondern betrachtete das verwaiste Spielfeld. Da die Schule in zwei Wochen endete – beziehungsweise in drei für diejenigen, die Abschlussprüfungen zu absolvieren hatten –, präsentierte sich das Feld leer. Die Sportprogramme für das Schuljahr waren vorbei. Ein schauriger Gedanke nistete sich in ihrem Kopf ein, als ihr klar wurde, wie allein sie hier war. Sicher, in der Schule hielten sich noch der Hauswart, Lehrpersonal und Büroangestellte auf, aber ringsum war weit und breit niemand zu sehen. Sie hatte sich einen denkbar abgeschiedenen Warteplatz ausgesucht. In der Freiluftsportsaison wimmelte es hier nur so vor Mädchen, die zu den Umkleiden gingen oder von dort kamen, aber nun war niemand hier. Tina war mutterseelenallein.
Was, wenn mich der Entführer gerade beobachtet?
Hinter dem Sportplatz verlief der Bürgersteig, auf dem sie immer nach Hause ging. Von allen Seiten hieß es, dass auch Samantha King und Megan Reed diesen Weg eingeschlagen hatten, als sie verschwanden – obwohl es in Megans Fall niemand verstand, weil sie auf der anderen Seite der Stadt wohnte.
Tina schauderte bei der Vorstellung, dass auf dem Heimweg plötzlich jemand auf sie zukommen könnte. Zum Glück hatte sie immer Jimmy dabei.
Wurden Samantha und Megan wirklich entführt? Was, wenn die beiden nur eine Show abzogen?
Den Gedanken hatten nach der Versammlung einige Schüler geäußert, aber niemand hielt es für besonders wahrscheinlich. Ein Mädchen, das kurz vor dem Abschlussball und dem Ende der High School verschwand, konnte man sich vielleicht noch damit erklären, dass sie von zu Hause ausgerissen sein könnte, aber bei zwei Mädchen in so kurzem Abstand schien das entsetzlich weit hergeholt zu sein.
Andererseits galten die beiden als gute Freundinnen, also konnte man es auch nicht völlig ausschließen. Trotz allem gehörte Tina mittlerweile zur Mehrheit, die glaubte, dass sich etwas Schlimmes ereignet haben musste. Die Frage lautete: was und warum?
Tina schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ihrem Buch zu, aber sie konnte sich nicht mehr auf die Geschichte konzentrieren. Ständig schaute sie auf und ließ den Blick prüfend über den Horizont wandern, der zunehmend dunkler wurde, da sich wieder dichte Regenwolken zusammenbrauten.
Hinter ihr wurde die Tür zu den Umkleidekabinen aufgestoßen und prallte mit einem Knall gegen die Wand. Tina sprang erschrocken von der Bank auf und wirbelte herum, das Buch an die Brust gedrückt. Gleich darauf schob ein Hauswart einen riesigen Reinigungshandwagen mit einer Mülltonne, einem Besen, einem Mopp, einem Eimer und weiteren Putzhilfsmitteln durch die Tür heraus.
Tina betrachtete die Ausrüstung und hoffte, dass sie nicht eines Tages so geschickt im Umgang damit werden würde, um als Profi betrachtet zu werden.
Der Mann starrte sie mehrere Sekunden lang an, dann fragte er: »Was machst du denn noch hier?« Die Stimme versuchte zwar, Autorität zu vermitteln, doch es misslang ihr völlig – es war die Stimme eines Mannes, der auf dem Gang vor Lehrern kuschte, obwohl sie derselben Generation wie er angehörten. Die Lehrer wiederum redeten von oben herab mit dem Besitzer der Stimme und behandelten ihn wie einen Schüler.
»Äh ... ich warte, dass meine Mutter mich abholt«, antwortete Tina. Sie stand immer noch mit dem Buch an der Brust da, die sich bei jedem Atemzug heftig hob und senkte.
»Die Schule ist geschlossen. Es dürfen keine Schüler mehr auf dem Gelände sein.« Nach einer Sekunde fügte er hinzu: »Kein Rumlungern. Das verstößt gegen die Regeln.« Nach dem Spruch schien er stolz auf sich zu sein.
Sheriff
Danach begaben sie sich zu dritt ins Büro. Tina achtete darauf, dass der Schulmitarbeiter zwischen ihr und Scott stand.
»Sag mal, Ma«, wandte sich Alan an seine Mutter. »Ist dir in letzter Zeit etwas Merkwürdiges an Jimmy aufgefallen?«
Die beiden waren in der Küche. Alan half, das Chaos zu beseitigen, das die Familie beim Abendessen hinterlassen hatte. Jimmy war unten in seinem Zimmer, ihr Vater sah sich eine Folge von Das Büro an.
»An Jimmy? Nein.«
»Wirklich nicht?«, hakte Alan nach.
»Dir schon?«, erwiderte sie. Dabei beäugte sie skeptisch einen alten Schwamm, der auf dem Geschirr wahrscheinlich mehr Bakterien hinterlassen würde, als er davon entfernte.
»Na ja, ich weiß nicht recht«, meinte Alan zögerlich, weil er wusste, dass Jimmy manchmal wie aus dem Nichts auftauchte; die Bewegungen seines Bruders wirkten auf fast natürliche Weise verstohlen. »Er scheint in letzter Zeit irgendwie nicht er selbst zu sein ...«
»Ich zieh mit dem Fahrrad los!«, rief Jimmy, den niemand an der Tür bemerkt hatte, bis er das Wort ergriff.
»In Ordnung, Schatz«, gab seine Mutter zurück. »Sei vorsichtig.«
Alan wartete, bis sein Bruder gegangen war, dann sagte er: »Siehst du, genau das mein’ ich. Warum auf einmal all die Radtouren?«
»Er fährt doch nur abends nach dem Essen ein bisschen herum«, erwiderte seine Mutter und warf den Schwamm in den Abfalleimer. »Ich habe Freunde, die jeden Abend spazieren gehen oder jeden Morgen joggen.«
»Ja, aber er zieht jeden Tag mehrmals los. Morgens steht er um fünf Uhr auf und macht sich in der Dunkelheit auf den Weg, und nachts, wenn alle im Bett sind, fährt er manchmal auch noch weg.«
Kelly holte einen neuen Schwamm aus seiner Verpackung und befeuchtete ihn.
»Das ist ... ich weiß auch nicht ...«, fügte Alan hinzu, bevor sie etwas darauf sagen konnte.
»Er ist einfach nur rastlos«, meinte Kelly und begann, die Teller zu waschen.
»Vielleicht«, räumte Alan ein, obwohl er wusste, dass dem nicht so war. Irgendetwas stimmte nicht. Es ging nicht nur um die Radtouren. Jimmys ganze Persönlichkeit schien sich zu verändern. Manchmal wirkte er geradezu auf der Hut vor etwas. Anfangs hatte Alan vermutet, es läge an Tina und dem bevorstehenden Abschlussball, doch inzwischen glaubte er das nicht mehr.