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Julie Smith

Eine ehrenwerte Familie

Roman


Ins Deutsche übertragen von
Regina Winter


Edel eBooks

1

Wie in so vielen Städten Amerikas ist auch in New Orleans die Kriminalität Thema Nummer eins. Die jährliche Mordrate liegt so um die vierhundert und steigt stetig. Und dann werden jedes Jahr noch weitere zweitausend Menschen angeschossen, die ihre Verletzungen überleben.

Schlägereien gibt es dagegen kaum mehr, behaupten die Detectives der Mordkommission.

Wie üblich im Amerika der neunziger Jahre, ist die Polizei überarbeitet, unterbesetzt und unterbezahlt.

Die Weißen geben den Schwarzen die Schuld, und viele schaffen sich Schußwaffen an.

Die Schwarzen – und ein Großteil der zweitausendvierhundert jährlich Verwundeten oder Getöteten ist schwarz – haben das Gefühl, von allen Seiten unter Beschuß zu stehen; auch von ihnen bewaffnen sich viele.

Die Wirtschaft hat sich vom Einbruch des Ölpreises noch immer nicht erholt, aber es gibt Hoffnung. Das größte Kasino der Welt, dessen Baubeginn bevorsteht, könnte Arbeitsplätze schaffen und vielleicht jene Touristen anziehen, die die Stadt so dringend braucht – Leute mit geringer Intelligenz, aber um so mehr lockersitzendem Geld. Man wird mit dem Bau des Kasinos beginnen, sofern die Rangeleien über jedes Detail des Bauplans und künftigen Betriebs jemals ein Ende finden.

Kleine Gaunereien gehören in diesem Bundesstaat so sehr zum Alltag, daß die Einwohner von New Orleans den Touristen erzählen: »Louisiana toleriert korrupte Politiker nicht bloß, es braucht sie geradezu.«

Doch trotz Korruption und Kriminalität ist New Orleans unbestritten die schönste amerikanische Stadt; die anmutigste, die bezauberndste.

Auch die exzentrischste. Walker Percy, einer der bekanntesten Autoren der Stadt, hat festgestellt, daß »Touristen hier wahrscheinlich mehr Nonnen und nackte Frauen zu sehen bekommen als irgendwo sonst«, wobei der Reiz in der Kombination liegt. Aber Exzentrizität birgt Risiken: Auch in Louisiana ist Fahren unter Alkoholeinfluß verboten, und in New Orleans gibt es mehr als genug Alkoholiker – und dennoch blüht der Umsatz der Drive-in-Daiquiri-Bars.

Andererseits ist die zu Recht berühmte Extravaganz der Stadt auch ihr größter Reiz. Selbst wenn die Wohnviertel sich verändern, die Banden an Einfluß gewinnen und mehr und mehr Mittelstandsgattinnen eine Pistole in der Handtasche tragen. Transvestiten sind hier so willkommen wie Voodoopriesterinnen, und dasselbe gilt für Vampirschriftstellerinnen und Karnevalsprinzessinnen – solange sie nicht langweilen.

Wie in Mexiko und in der Karibik herrscht in dieser Stadt eine seltsame Mischung aus Improvisiertem und Archaischem – wobei letzteres immer noch eine größere Rolle spielt.

Aber vielleicht ändert sich auch das. In einer Lokalzeitung wurde kürzlich beklagt, daß immer weniger Leute davon sprechen, »einholen« zu gehen.

Oder nur noch selten den Bürgersteig als »Bankett« bezeichnen.

Immerhin haben ein paar der alten Gewohnheiten überlebt. Früher gab es montags überall rote Bohnen und Reis, weil Montag Waschtag war – man konnte die Bohnen aufsetzen und sich dann in Ruhe der Arbeit widmen. Und obwohl die Waschmaschine diesen Brauch sinnlos gemacht hat, folgen ihm immer noch etliche Restaurants. Und auch in einem illustren Haushalt, in dem dies sicher niemand vermutet hätte, im Haus von Sugar und Arthur Hebert, war er schon vor Jahren wiederbelebt worden.

Die Besitzer und Betreiber von Hebert’s (»A-Bear’s«, wird auf der Speisekarte den Touristen erläutert), einem Restaurant, in dem dieses Gericht nie angeboten wurde, waren der Ansicht, daß sie nach einer Woche mühevoller Arbeit an kreolischen Delikatessen nichts mehr genossen als Hausmannskost, und tischten dieses Gericht bei ihrem allwöchentlichen Familienessen auf – am Montag, ihrem Ruhetag.

Warum bloß? dachte Sugar, als sie an einem milden Juniabend Bohnen auftischte. Warum, wenn wir doch auch Krebssalat essen könnten? Warum Woche für Woche rote Bohnen und Reis und sonst nichts?

Warum?

Weil Arthur es so will. Und so ist es mit allem.

Warum haben Termiten das Haus beinahe aufgefressen? Weil Arthur es einfach nicht wahrhaben wollte. Warum hätte Nina beinahe gekündigt? Weil Arthur ein solcher Snob ist, daß er anfangs nicht mal mit ihr reden wollte.

»Mom, kann ich dir helfen?« Ihre Tochter Reed.

»Jetzt bin ich fertig.« Diese Hilfe hätte sie vor zwanzig Minuten brauchen können.

Die anderthalbjährige Sally saß bereits am Tisch, schaukelte auf ihrem Kinderstuhl und zappelte, um sich daraus zu befreien.

Dennis, Reeds Mann, versuchte ihr das auszureden.

Arthur entkorkte den Champagner.

Das war Arthurs kleine Ironie. Auch wenn er rote Bohnen mit Reis aß, er servierte immer einen hervorragenden Wein dazu. Und heute würden sie Champagner trinken, weil sie etwas zu feiern hatten.

Er schenkte ein.

»Ein Hoch«, sagte er, »auf la deuxième Hebert’s – ein Triumph gegen eine überwältigende Übermacht.«

»Möge unser Glück andauern«, sagte Dennis.

Arthur warf ihm einen Blick zu, der besagte: Was meinst du mit ›unser‹?

»Hört, hört«, rief Sugar, um die Wogen zu glätten.

»Wir haben’s geschafft«, stellte Reed fest. »Ich weiß nicht, wie, aber wir haben’s geschafft.«

»Auf daß du nie wieder eine Komiteesitzung ertragen mußt.«

»Darauf trinke ich.«

Ein Dutzend Restaurants – alteingesessene und neue – hatten um die Konzession für das Kasino gekämpft. Man wollte ein elegantes Restaurant, und es mußte Tradition haben, der Name mußte für die Touristen ein Begriff sein. Hebert’s erfüllte diese Bedingungen zweifellos, aber es stand gegen größere Namen – gewaltige Namen wie Antoine’s, Arnaud’s, Brennan’s.

Und doch hatten sie gewonnen.

Hebert’s hatte gewonnen. Reeds unermüdliches Pläneschmieden, ihre wiederholten Anfragen beim Komitee, die endlosen Abende, die sie der Planung des Restaurants und ihrer Strategie geopfert hatte, hatten sich bezahlt gemacht.

Sie ist ein Schatz, dachte Sugar. Der Stolz der Heberts, ganz sicher. Ein Wunder war geschehen, und Reed hatte es möglich gemacht.

»Es gibt noch was, auf das wir trinken sollten«, verkündete Dennis mit einem etwas schiefen Grinsen, ein wenig unsicher.

»Und auf was?«

»Arthurs Fünfundsechzigsten.«

»Herzlichen Glückwunsch, Daddy«, sagte Reed.

»Das haben wir doch schon hinter uns.«

»Feiern wir einfach noch mal.«

»Lieber nicht.«

Ach, sei doch kein Spielverderber. Sugar sprach es nicht aus, aber sie war verärgert; sie konnte es nicht ausstehen, wenn er Reed kränkte. Und Dennis zu kränken lief auf dasselbe hinaus.

Man sollte meinen, jetzt, wo Sally da ist, hätte er sich allmählich beruhigt. Aber er wird immer reizbarer. Ob er deprimiert ist? Fängt nicht Alzheimer so an?

Obwohl er so schlecht gelaunt war, tranken alle auf Arthur. Sugar brachte die Teller herein, wie jeden Montag, seit sie sich erinnern konnte.

Sally protestierte.

»Was ist denn, Kleines?« fragte Reed. »Was ist los? Hm. Rote Bohnen. Hm! Sallys Lieblingsessen.«

Arthur war verlegen. »He, Dennis, hör zu, da sind diese drei schwarzen Jungs, Jackson, Leroy und Clarence. Und Leroy sagt zu Clarence, also, er sagt...«

»Daddy, bitte nicht.« Reed zog ein gequältes Gesicht.

»Ach, Reed, immer mit der Ruhe – ich hab ja noch gar nichts gesagt.«

»Ich weiß jetzt schon, daß es einer von deinen Witzen wird, die ich nicht mag.«

»Na und? Muß denn immer alles so sein, wie gnä Frau es gern hätten?«

Verlegen senkte Reed den Blick.

»Du hast einfach keinen Sinn für Humor.« Er wartete einen Augenblick, aber niemand sagte etwas. »Oder?«

»Ich sehe einfach nicht ein, wieso du rassistische Witze erzählen mußt.«

»Ich bin kein Rassist, und das weißt du auch, Reed. Dennis stört das nicht. Dennis mag meine Witze, oder, Dennis?«

Dennis fletschte die Zähne, aber Sugar war nicht sicher, ob das wirklich ein Lächeln war.

»Immerhin behandle ich meine Angestellten besser als jeder andere im French Quarter. Und ich stelle Schwarze ein. Wer ist denn mein Stellvertreter im Restaurant – nicht nur eine Frau, sondern auch noch eine Schwarze! Und außerdem zahle ich die besten Prämien in der Branche. Also überleg dir lieber, wen du einen Rassisten schimpfst.«

»Ich finde solche Witze einfach unpassend, das ist alles.«

Um die beiden abzulenken, sagte Sugar: »Am Wochenende war wirklich viel los.«

»Reed hat am Samstag zwölf Stunden gearbeitet«, sagte Dennis. »Sally hat sich schon gefragt, ob sie überhaupt noch eine Mutter hat.«

Arthur schnalzte. »Dann hätte sie eben heimgehen sollen. Hätte eh keinen großen Unterschied gemacht.«

Reeds Stimme war ganz leise. »Ich tue, was ich kann.«

Sugar wußte, daß er es nicht ernst gemeint hatte – Reed war seit Jahren praktisch Leiterin des Restaurants; es war einfach seine Art zu reden.

»Außerdem«, meinte Reed, »kannst du dich bald ausruhen. Ab jetzt werde ich mich um alles kümmern.«

»Gott helfe uns.«

»Weißt du, was ich machen werde? Ich lasse das Restaurant cremefarben streichen – wie dieses Zimmer, wie euer Eßzimmer – und eine Menge Spiegel aufhängen.«

»Das wirst du nicht. Wir haben unsere Erfolgsformel gefunden – wieso sollten wir daran herumpfuschen?«

»Und ein paar Grünpflanzen. Ich möchte alles einfach nur ein bißchen modernisieren, auffrischen.«

»Wenn du Hand an Hebert’s legst, werde ich dich mal auffrischen, junge Frau.«

Reed ließ sich nicht entmutigen, sondern lächelte – sie war an solche Reaktionen gewöhnt. »Ich denke, beim Personal sind wir auch ein bißchen unterbesetzt. Wir hatten noch nie Kellnerinnen – ich werde ein paar Frauen einstellen.«

»Nein!« Ein Brüllen. »In einem Restaurant gibt es keine Kellnerinnen; Kellnerinnen sind was für Gaststätten.«

Sugar schaltete sich ein: »Immer mit der Ruhe, Arthur. Sie ist doch nur aufgeregt. Es braucht einige Zeit, bis sich alle umgewöhnt haben, wenn eine neue Chefin kommt.«

Auf der Geburtstagsfeier am Freitag zuvor hatte Arthur offiziell angekündigt, er werde in den Ruhestand treten und das Lokal seiner Tochter übergeben. Da Reed seit ihrer Teenagerzeit im Restaurant gearbeitet und Fachschulen besucht hatte, um dort zu lernen, wie man einen solchen Betrieb führt, ihr ganzes Leben lang nichts anderes als Hebert’s gekannt hatte, war dies der Höhepunkt ihrer Ausbildung und ihrer anstrengenden Arbeit.

»Und Reed schmiedet jetzt schon drei Tage lang Pläne – sie ändern sich nur alle paar Stunden.«

Reed selbst schien nicht zuzuhören. Sie sagte: »Daddy, was hältst du davon, einen Innenarchitekten dranzusetzen? Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich es wirklich nicht selbst versuchen.«

»Du wirst keinen Innenarchitekten dransetzen.«

Sugar hatte genug. »Sie kann machen, was sie will, Arthur. Reed ist jetzt die Chefin.«

»Na, ich glaube nicht, daß sie schon soweit ist.«

»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du ihr das Restaurant übergeben hast.«

»Ich habe es ihr nicht übergeben; das war nur Gerede.«

Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen, das Dennis schließlich brach: »Was meinst du mit ›nur Gerede‹?«

»Darf ein alter Mann nicht mal betrunken und sentimental sein? Ich war in guter Stimmung, wegen Hebert’s II, und überhaupt hatte ich Geburtstag.«

»Dad, willst du damit sagen, daß du mir das Restaurant nicht übergeben willst?« Reeds Stimme war wie eine Feder – körperlos, sie streifte kaum die Luft.

»Genau das will ich sagen, ja.«

»He!« Dennis’ Augen blitzten vor Zorn.

»Aber du hast ein Dokument unterzeichnet. Ich bin jetzt Geschäftsführerin.«

»Das will ich morgen wieder auf dem Schreibtisch haben.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Reed, du bist viel zu unreif, um einen Betrieb zu führen. Mit dir am Ruder wären wir innerhalb von zwei Wochen pleite.«

»Was redest du da?«

»Ich habe mich doch laut und deutlich ausgedrückt, oder? Ich war betrunken, ich habe es nicht ernst gemeint, und dieses Dokument hat auch nichts zu bedeuten. Ich trete nicht in den Ruhestand, und du wirst nicht übernehmen.«

»Das kannst du mir nicht antun! So kannst du nicht mit mir umspringen. Für mich ist das kein Spiel! Ich hab mein Leben lang für dich gearbeitet, und jetzt...« Sie hielt inne, breitete hilflos die Arme aus, rang um Worte. Mit der Hand streifte sie Sallys Teller auf dem Tablett des Kinderstuhls. Der Teller kippte dem Kind gegen die Brust und dann wieder aufs Tablett zurück. Heiße Bohnen tropften in Sallys Schoß.

Die Kleine schrie auf.

»Dumme Kuh!« brüllte Arthur. »Mein Gott, Reed, du bist dümmer, als die Polizei erlaubt. Sieh dir das arme Kind an. Steh nicht so dumm rum – wisch ihr das heiße Zeug ab, bevor sie ins Krankenhaus muß.«

Dennis streckte die Arme nach Sally aus und bedeutete Reed mit einem Blick, daß er gerne mehr getan hätte. »Schon gut, Kleines, alles in Ordnung«, murmelte er beruhigend und wischte die rötlichbraune Masse mit einer Leinenserviette ab.

»Seht euch das an«, sagte Arthur. »Ihre Sachen sind völlig hinüber.« Seine Stimme hatte einen merkwürdig zufriedenen Unterton.

Sugar ging in die Küche und nahm den Schlüssel zu Reeds Haus vom Haken; sie wohnten nur ein paar Straßen auseinander, und jede Familie hatte den Schlüssel zum Haus der anderen. »Ich hole ihr ein neues Kleidchen.«

Sugar schlüpfte beinahe unbemerkt hinaus. Zunächst wollte sie den Wagen nehmen, aber dann entschied sie sich, doch lieber zu Fuß zu gehen – es war ein Weg von etwa fünfzehn Minuten. Die Uhren waren schon auf Sommerzeit umgestellt, und bis zur Dunkelheit war es noch lang.

Sicher, sie wohnten mitten im Garden District, einem Stadtviertel mit hoher Kriminalitätsrate, aber die Kinder waren immer noch zum Spielen draußen, Leute sprengten den Rasen, kamen gerade von der Arbeit. Mochte es auch für die Heberts Wochenende sein, für alle anderen war es Montag.

Es war bestimmt noch ungefährlich draußen, und Sugar brauchte dringend ein bißchen Abstand von der Familie. Und frische Luft. Sie atmete tief ein. Die Innenstadt glich einer Sauna, aber langsam kam Wind auf. Es würde ein himmlischer, samtiger, subtropischer Abend werden.

Die Blumen blühten.

Sugar malte Blüten.

Es war ihr Hobby und mehr als das. Sie hatte im Restaurant arbeiten wollen, aber Arthur wollte sie dort nicht haben; sie hatte sich der Wohltätigkeit zugewandt, dabei aber immer das Gefühl gehabt, nur eine unter vielen zu sein. Sie hatte etwas gebraucht, was ihr alleine gehörte, und einen Kurs für Aquarellmalerei belegt.

Und das hatte sich als Volltreffer erwiesen. Sie liebte die sanften Farben, die weichen Blütenblätter; beides gehörte zueinander.

Sie hatte auch noch anderes versucht, war aber nicht damit zurechtgekommen. Menschen konnte sie nicht malen. Landschaften waren zu mühselig.

Blüten paßten einfach zu ihr, zu ihrem Charakter und zu ihrem Namen.

Sie wurde nicht ohne Grund von allen Sugar genannt – blond und mit einer Haut wie Pfirsich und Sahne, hatte sie ihre Eltern immer an eine besonders leckere Nachspeise erinnert. Das hatte ihr Dad ihr tausendmal erzählt.

Ihre Lieblingsfarbe war Rosa.

Sugar hätte am liebsten jede Erinnerung an die häßliche Szene am Tisch aus ihren Gedanken verbannt. Sie wollte eine Weile nichts damit zu tun haben.

Vielleicht möchte er, daß Nina das Restaurant führt.

Und vielleicht kann er es einfach nicht ertragen, es aus der Hand zu geben.

Je näher sie Reeds und Dennis’ Haus kam, desto langsamer ging sie – froh, der bedrückenden Atmosphäre zu Hause entkommen zu sein.

Arthur entkommen zu sein.

Was ist denn los mit mir? fragte sie sich. Er ist mein Mann, aber ich kann ihn kaum mehr ertragen. Je älter er wird, desto rechthaberischer wird er.

Sie dachte nicht darüber nach, wie das Problem mit Reed gelöst werden könnte – das interessierte sie nicht. Sie dachte nur an Arthur. Er war schrecklich unfair zu Reed gewesen, wenn man berücksichtigte, wie schwer sie für das Restaurant gearbeitet hatte. Aber Fairneß hatte selten Einfluß auf Arthurs Entscheidungen. Er wollte, was er wollte: im Recht sein und alles unter Kontrolle haben.

Wie konnte er auch nur einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielen, die Leitung des Restaurants aus der Hand zu geben? Er hatte erklärt, er wolle sich um Hebert’s II kümmern und nicht zwei Restaurants führen. Aber es wäre typisch für ihn, es zu versuchen, und zwar um jeden Preis.

War es eigentlich immer schon so, daß wir uns nicht ausstehen konnten? Er mag mich nicht, sonst würde er nichts mit anderen Frauen anfangen. Und ich mag ihn nicht mehr seit... seit wann eigentlich?

Wahrscheinlich, seit die Kinder auf der Welt sind. Man verliebt sich und bekommt Kinder und interessiert sich dann nur noch für sie, und eines Tages schaut man quer über den Tisch und fragt sich: »Was will ich bloß mit diesem Mistkerl da?«

Reeds Haus war schön. Geräumiger und besser restauriert als Sugars eigenes. Reed war keine große Gärtnerin – es blühten nur ein paar mehrjährige Pflanzen –, und das Haus war einfach weiß angestrichen, mit grünen Fensterläden. Sugar hätte sich etwas Phantasievolleres einfallen lassen.

Aber es war gepflegt und elegant, ein viktorianisches Gebäude mit einem wunderbar großen Vorbau, der auf ionischen Säulen ruhte.

Der Hof vor dem Haus war gewaltig. Zwei riesige Eichen überragten einen kleinen Bananenhain.

Sugar betrat den Hof durch ein kleines schmiedeeisernes Tor, ging rasch zum Vorbau hinauf und genoß dabei den Anblick, den das Haus bot

Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, schaltete die Alarmanlage aus und verschloß die Tür von innen wieder. Gerade als sie die Treppe hinaufeilte, hörte sie das Telefon klingeln. Sollte sie die Treppe hochlaufen oder lieber nach unten zu dem Anschluß in der Küche gehen? Sie entschloß sich für die Küche und erreichte den Apparat, als es gerade aufhörte zu klingeln.

»Hallo?« sagte sie.

»Hallo?« erwiderte eine Männerstimme. »Bist du das, Reed?«

»Hier ist Sugar Hebert, Reeds Mutter. Kann ich ihr etwas ausrichten?«

»Oh, hallo, Sugar, wie geht es Ihnen?« Sie verkrampfte sich ein wenig, weil in der Stimme etwas Gezwungenes lag, eine künstliche Forschheit. »Hier sprich Milton Foucher, Dennis’ Vater. Ich freue mich, Ihre Stimme zu hören.«

»Ich freue mich auch, Mr. Foucher.« Sie war ihm nur einmal begegnet – bei Reeds und Dennis’ Hochzeit –, und sie war ziemlich sicher, daß sie ihn nicht erkennen würde, wenn er jetzt hereinkäme.

»Wie geht es Ihnen, Sugar?«

»Sehr gut. Und Ihnen? Und Mrs. Foucher?«

»Oh, wir sind alle gesund und munter, Sugar. Uns geht es großartig. Es geht uns sogar ausgesprochen gut.«

Wieso konnte er nicht wie ein normaler Mensch reden? Hatte er noch nie davon gehört, daß man sich am Telefon kurz faßte? Sugar wollte noch einmal fragen, ob sie etwas ausrichten solle, aber er sagte: »Wir haben gehört, daß Hebert’s die Konzession für das Kasinorestaurant erhalten hat.«

»Ja.«

»Meinen herzlichsten Glückwunsch! Wir sind alle sehr stolz auf Sie.« Sugar kämpfte mit ihrem Snobismus. Einerseits wußte sie, daß Milton Foucher ein höflicher (wenn auch aufgeblasener) Mann war, der zu spät im Leben Vater zu vieler Kinder geworden war und viel durchgemacht hatte, hauptsächlich wegen seines Jüngsten, Dennis.

Doch andererseits sträubte sich alles in ihr dagegen zu akzeptieren, daß Foucher ein Verwandter war, wenn auch nur ein angeheirateter.

»Vielen Dank, Mr. Foucher. Soll ich...«

»Wir haben uns so für Sie gefreut, als wir davon gehört haben. Das ist wirklich eine bedeutende Auszeichnung für Sie.«

»Es wird uns alle ziemlich in Atem halten, nehme ich an.«

»Ich wünschte, Dennis hätte sich auch dieser Branche zugewandt« – er klang tatsächlich bedauernd –, »aber was kann man den jungen Leuten schon sagen? Man muß sie tun lassen, was sie wollen; anders geht es nun einmal nicht.«

»Ja.« Sie hoffte, daß in ihrer Stimme nicht die Bitterkeit mitschwang, die sie empfand.

»Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten, Ich habe schlechte Nachrichten für Dennis.«

»Er ist im Augenblick leider nicht hier. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Ja bitte. Sagen Sie ihm, Justin wird diese Woche vermutlich nicht überleben.«

Sugar durchforschte ihr Gedächtnis. War dieser Justin ein Verwandter? »Das tut mir sehr leid«, sagte sie.

»Es ist eine Schande, wirklich eine Schande.« Sugar konnte beinahe sehen, wie er den Kopf schüttelte. »So ein junger Mensch.«

»Ich werde es Dennis gleich erzählen.«

Sie legte auf, sah auf die Uhr und beeilte sich, das Kleid zu holen. Sie war schon fast zwanzig Minuten weg und würde noch mindestens zehn Minuten brauchen, selbst wenn sie sich beeilte, sich in keine Gespräche verwickeln ließ und nicht in anderer Leute Gärten spähte. Sie hoffte, die anderen würden sich nicht immer noch streiten, wenn sie zurückkam.

Sie hob die Hand, um die Alarmanlage einzuschalten, konnte sich aber nicht an die Kombination erinnern, die sie beim Hereinkommen unwillkürlich eingegeben hatte. Jetzt war ihr Kopf leer. Sie mußte sich hinsetzen und konzentrieren, bis es ihr wieder einfiel.

Auf dem Rückweg beeilte sie sich, aber als sie sah, daß ihr ein paar Jungen mit verkehrt herum aufgesetzten Baseballmützen entgegenkamen, überquerte sie die Straße und machte einen Umweg. Damit verlor sie weitere Minuten. Langsam bekam sie Schuldgefühle.

Sie begann, noch schneller zu gehen.

Als sie schließlich ein wenig atemlos vor ihrer Haustür stand, fiel ihr ein, daß sie ihre Handtasche nicht dabeihatte, sie hatte einfach nur nach Reeds Schlüssel gegriffen und war hinausgeeilt.

Sie kam sich albern vor, als sie an ihrer eigenen Tür klingelte und wartete. Es dauerte fast zwei Minuten, bis ihr klar wurde, daß niemand öffnen würde. Sie sah sich um und bemerkte, daß Reeds Auto nicht mehr an der Straße stand, und sie fragte sich, ob Reed und Dennis so wütend geworden waren, daß sie das Haus verlassen hatten.

Aber wieso war sie ihnen dann nicht begegnet?

Sie holte den Notschlüssel unter dem Stein hervor, wo sie ihn aufbewahrte, und schloß auf.

»Arthur?« rief sie. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie vom Flur ins Eßzimmer, wo sie ihre Familie vermutete.

Statt dessen fand sie Blut.

Rot auf den cremefarbenen Wänden verspritzt, als hätte ein Kind einen Ballon damit gefüllt und in einem großen Bogen herumgewedelt, um ihn zu leeren. Aber dieses Kind mußte dabei auf dem Boden gesessen haben. Das Blut war unten an der Wand, und oberhalb der Spritzer war ein blutiger Handabdruck zu sehen. Es gab auch eine Blutlache auf dem Boden.

Blut. Wie in einem Film. Oder im Fernsehen; etwas, das nur anderen Leuten passierte.

Der schwere Mahagonitisch war umgestoßen. Porzellan, Silber und Bohnen waren in alle Richtungen verstreut, die Stühle gleichfalls umgestürzt, bis auf Sallys leeren Kinderstuhl.

Arthur lag auf dem Boden, auf dem Rücken, mit offenen Augen, das Hemd rot durchtränkt. Auch auf seiner Hose war Blut, in der Leistengegend.

Es war so still im Haus, daß Sugars Atemzüge laut wie Schreie klangen.

2

»Mrs. Hebert? Ich bin Skip Langdon.«

Die Frau auf der Veranda schaute verständnislos drein. Sie sah ausgesprochen durchschnittlich aus, obwohl sie sich Mühe gegeben hatte – sie hatte eine Menge Make-up aufgelegt, und ihr mausfarbenes Haar war aufgehellt und dauergewellt. Sie war ein wenig zu dick, aber nicht sehr, nur ein bißchen rundlich, und trug teure rosafarbene Sporthosen mit einem ärmellosen weißen Stricktop, das am Ausschnitt mit kleinen Perlen besetzt war.

»Ja?« sagte sie und verstand offenbar nicht, was all diese Fremden in ihrem Haus wollten.

»Detective Skip Langdon. Von der Mordkommission.«

»Ach so.«

Skip war mit ihren Kollegen zusammen angekommen, alle im selben Auto, weil sie nicht annähernd genug Zivilwagen hatten. Sie mußten furchteinflößend ausgesehen haben: eine eins achtzig große Frau und drei Männer in Anzügen, die sich dem Haus wie eine Phalanx näherten. Skip hatte den anderen bedeutet, schon ins Haus zu gehen – sie würde sich um die Zeugin kümmern.

Die Frau auf der Veranda sah nicht unbedingt traurig aus, eher verwirrt und vollkommen verängstigt, obwohl sie inzwischen ein wenig Zeit gehabt hatte, sich zu beruhigen. Die zuständige Streife war zuerst am Tatort gewesen und hatte die Mordkommission verständigt. Skip wußte nur, daß Sugar Hebert nach Hause gekommen war und ihren erschossenen Mann im Eßzimmer gefunden hatte.

Mrs. Hebert sagte: »Sie sind verschwunden. Alle. Und ich war doch nur eine halbe Stunde weg.«

»Sollen wir uns ins Auto setzen?« Die Frau sah aus, als sollte sie sich besser hinsetzen.

»Ja. Bitte. Sie haben gesagt, ich könne nicht im Haus bleiben.«

»Es tut mir leid.«

Ein weiteres Auto hielt an – Paul Gottschalk von der Spurensicherung und Sylvia Cappello, Skips Vorgesetzte. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist?«

»Wir waren gerade beim Essen – mein Mann, meine Tochter, ihr Mann und ihre kleine Tochter. Jemand hat einen Teller umgestoßen, und Sallys Kleid bekam Flecken ab, also bin ich rübergegangen, um ihr ein neues zu holen. Als ich wiederkam, sah es hier so aus wie jetzt. Überall Blut, und Arthur...«

»Die anderen drei waren weg?«

»Weg! Verschwunden.«

Langsam zog Skip Sugar Hebert die ganze Geschichte aus der Nase – daß die Familie jeden Montagabend zusammenkam, daß sie vor kurzem Arthurs Geburtstag gefeiert hatten und er dabei angekündigt hatte, er wolle in den Ruhestand treten, das aber an diesem Abend wieder zurückgenommen hatte; wie sie sich gestritten hatten, die anderen drei, nur Sugar selbst hatte sich nicht eingemischt. Daß sie nur kurz weggewesen war – höchstens eine halbe Stunde –, um danach ihre Welt in Trümmern zu finden.

»Haben Sie irgendwas berührt?«

»Nein. Nicht mal Arthur. Ich konnte ihn überhaupt nicht ansehen, es war zu ... das war nicht mehr mein Mann. Ich bin rückwärts raus aus dem Zimmer, zum nächsten Telefon, und habe die Polizei gerufen.«

»Und wo war dieses Telefon?«

»Im Flur.«

Im Haus. Also hatte sie doch etwas angefaßt. »Haben Sie sonst noch jemanden angerufen?«

»Meinen Sohn Grady. Aber er war nicht daheim.«

»Möchten Sie es noch einmal versuchen?«

»Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« Sie sah sich um, als erwartete sie, Grady ebenfalls im Auto sitzen zu sehen.

Die schlüssigste Erklärung für Skip war, daß der Streit eskaliert war und jemand eine Waffe gezogen hatte – wahrscheinlich Dennis –, um Arthur zu erschießen. Dann waren Reed und Dennis mit ihrer Tochter geflohen.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte sie und wies eine Streife an, Reeds und Dennis’ Haus zu überprüf en.

Dann wandte sie sich wieder Sugar zu. »Wissen Sie, wohin sie sonst noch gefahren sein könnten?«

»Nein.« Sie schien sich unbehaglich zu fühlen.

»Sind Sie sicher?«

»Na ja, Dennis’ Eltern wohnen hier. Aber dort würden sie nie hingehen. Wieso auch?«

»Wie lautet die Adresse?« Skip bat die Streife, auch dort nachzusehen.

»Wissen Sie«, fragte sie schließlich, »ob Dennis eine Schußwaffe hatte?«

»Ich weiß, daß er keine hatte. Er und Reed waren absolut gegen Schußwaffen.«

»Also hatte Reed auch keine.«

»Nein.«

»Was ist mit Ihrem Mann? Hatte er eine Waffe im Haus? Gegen Einbrecher?«

Skip hörte rasche Schritte, blickte auf und sah, daß ein junger Mann auf das Auto zugelaufen kam, das Gesicht bleich, das Haar wirr. »Mutter? Mutter, was ist denn los?«

»Ach, Grady.« Sugar stieg aus, breitete die Arme aus und ließ sich gegen ihren Sohn fallen, ließ ihren Gefühlen endlich freien Lauf. Eine Weile schluchzte sie an seiner Brust, dann sagte sie: »Ach, Grady... und ich war nur kurz weg.«

»Was ist denn passiert?«

Rasch erzählte sie ihm alles. Skip stieg aus, um zuzuhören, aber Sugar wich nicht von dem ab, was sie bereits berichtet hatte.

Grady war ein schlaksiger junger Mann, groß und zu dünn, als würde er zuviel rauchen und zuwenig essen. Er trug ein weißes Hemd, das vor Alter schon grau war, und Jeans, die er seit dem letzten Waschen schon oft angehabt hatte. Er trug eine Brille und hatte fettiges Haar.

Skip stellte sich vor, starrte ihm ins Gesicht, versuchte, ihn einzuschätzen. Wie seine Mutter sah er völlig überrumpelt aus, versuchte immer noch, sich alles zusammenzureimen.

»Was ist hier passiert?« fragte er. »Wo sind Reed und Dennis?«

»Vielleicht haben Sie eine Idee.«

»Ich? Wieso ich?«

»Was hat Ihre Mutter Ihnen auf den Anrufbeantworter gesprochen?« Skip war selbst nicht sicher, wieso sie diese Frage stellte; es hatte damit zu tun, daß er so bleich und atemlos hier angekommen war.

»Sie sagte: ›Dein Vater ist ermordet worden. Komm, sobald du kannst.‹«

»Tatsächlich?« Sie konnte kaum glauben, daß die Dame im rosa Zuckerguß so kühl gewesen war.

»Na ja, es hat gewirkt.« Grady lächelte nervös. Es verunsicherte ihn, sich für seine Mutter entschuldigen zu müssen.

»Vielleicht können Sie uns helfen.«

Er aber schaute zu Sugar hin, die jetzt leise weinte. »Ich glaube, ich muß jemanden anrufen, der mir mit Mutter hilft.«

»Sie dürfen das Telefon im Haus leider nicht benutzen, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Wir versiegeln den Tatort zwar nicht, wenn ein Mord geschehen ist, aber wir werden noch lange im Haus zu tun haben.«

»Aber sie muß doch irgendwo bleiben können.« Er wandte sich seiner Mutter zu. »Mutter, hast du Nina angerufen?«

Sugar Hebert schüttelte den Kopf.

»Ich werde sie rüberholen.« Er eilte so schnell davon, wie er gekommen war.

Wahrscheinlich ist er froh, hier verschwinden zu können, dachte Skip. Er kam ihr nicht gerade wie der ideale Sohn vor.

Sie und Sugar stiegen wieder ins Auto. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Skip.

»Ich fühle mich wie betäubt. Ich wünschte, Reed wäre hier.

»Erzählen Sie mir von ihr.«

Sugar schaute verdutzt drein. »Was erzählen?«

»Was sie für ein Mensch ist. Wohin sie gehen würde, wenn sie Zuflucht sucht.«

»Zuflucht?« fragte Sugar nachdenklich, als wisse sie nicht genau, was mit dem Wort gemeint war. »Das paßt gar nicht zu Reed. Es ist eher umgekehrt: Die Leute suchen bei ihr Zuflucht.«

»Hat sie Freunde?«

»Nina. Die Frau, die mein Sohn holen will. Sie arbeitet für uns im Restaurant – sie ist so was wie Reeds Assistentin.«

»Ihre Sekretärin?«

»Nein, sie ist ihre rechte Hand. Sie war Reeds Trauzeugin.«

»Hat sie noch andere Freunde?«

Sugar überlegte. »Eigentlich nicht. Sie hat ziemlich viel zu tun, mit Dennis und Sally und dem Restaurant und so.«

»Und was ist mit Dennis?«

»Oh. Na ja. Seine Geschäftspartnerin. Sie haben eine Gärtnerei – Dennis mag Pflanzen. Wie seine Schwiegermutter.«

»Ach, Sie auch?«

»Ich mag Blüten. Ich male sie.«

»Sagen Sie, Mrs. Hebert – wenn Sie kein Familienmitglied wären, wie würden Sie Dennis und Reed beschreiben?«

»Ein reizendes, fleißiges junges Paar. Sie lieben ihre kleine Tochter abgöttisch. Arthur hat Reed nie zugetraut...« Ihre Augen blitzten jetzt, und sie hatte lauter gesprochen als zuvor, aber dann zögerte sie. »Das ist wohl eine Familienangelegenheit.«

Skip ließ es ihr durchgehen. Sie konnte es sich leisten, Geduld zu haben; bevor sie den Fall abschloß, würde sie jedes Geheimnis, das die Heberts hatten, jede noch so geringfügige »Familienangelegenheit« ans Licht gezerrt haben.

»Würden Sie mir einen Gefallen tun? Würden Sie mit mir aussteigen und mir Ihr Auto zeigen? Und das von Arthur, und das Ihrer Tochter?«

»Das da drüben ist meines. Und das von Arthur steht in der Einfahrt.«

»Würden Sie mir noch Reeds zeigen?«

Sugar öffnete die Autotür. »Ich versuche es.«

Es war inzwischen dunkel geworden. Aber als Sugar – offenbar zum erstenmal – auffiel, daß die Nachbarn draußen standen, wich sie zum Auto zurück. »Ich glaube, ich kann das nicht. Ist das schlimm?«

»Nein.« Skip konnte auch auf Grady warten. »Haben Sie ein Foto von Dennis und Reed?«

»Drinnen – auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer.«

»Und eins von Sally?«

»In meiner Handtasche – auf dem Tisch in der Halle.«

Skip fand die Handtasche, durchsuchte sie nach einer Waffe und bat Paul Gottschalk, die Tasche zu fotografieren und auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Währenddessen sah sie sich in aller Ruhe das Eßzimmer an, um sich das Bild des Tatorts einzuprägen, und suchte dann das Foto von Dennis und Reed.

Es war ein Hochzeitsfoto, ein Porträt: Reeds strahlendes Gesicht von Tüll umrahmt, Dennis mit leicht herausfordernder Miene. Reed war eine klassische Southern Belle, eine natürliche junge Frau mit glattem braunem Haar und gleichmäßigen weißen Zähnen – die sicher nicht billig gewesen waren, dachte Skip, aber das Ergebnis rechtfertigte die Kosten für den Kieferorthopäden.

Dennis war da schon anders. Seine Züge waren sehr ausgeprägt, sein Mund großzügig, der Blick ausdrucksvoll. Er hatte noch ein bißchen Babyspeck, wie der junge Brando, was ihn weicher wirken ließ, ihm eine gewisse Verletzlichkeit verlieh. Aber er hatte auch etwas Mürrisches an sich.

Heathcliff, dachte Skip; aber die Tatsache, daß er Begonien mochte – oder was immer er in seiner Gärtnerei züchtete –, paßte nicht in dieses Klischee.

Zunächst ließ sie das Foto, wo es war, damit Paul es nach Fingerabdrücken untersuchen konnte.

Sie kehrte wieder zu Sugar zurück.

»Können Sie mir sagen, was die drei anhatten? Und wie groß sie sind, das Gewicht, Augenfarbe – all das?«

Zu Skips Überraschung begann Sugars Unterlippe zu zittern. Sie versuchte, sich zusammenzunehmen, aber es gelang nicht. Sie stieß ein gequältes Keuchen aus, das beinahe ein Schluchzen war. »Sally!« sagte sie. »Sie hat immer noch das schmutzige Kleidchen an.«

Es dauerte einen Augenblick, aber dann erfuhr Skip, was sie wissen wollte: Dennis hatte dunkles Haar, Reed helles; er trug Jeans, sie ein Sommerkleid und Sandalen, und Sally Bohnen.

Skip fragte sich, ob noch irgendwelche Informationen rauszuholen waren. Sie wiederholte Sugars Aussage: »Reed und Dennis haben also was gegen Schußwaffen?«

»Sie hassen sie regelrecht. Arthur hat versucht, Reed eine kleine Pistole zu schenken, die sie in der Handtasche tragen sollte – Sie wissen, wie gefährlich es hier im Garden District ist –, aber sie wollten beide nichts davon wissen. Sie sagten, sie wollten nicht so leben.« Einen Augenblick lang wandte sie den Blick ab. Dann sah sie Skip wieder an. »Arthur hatte natürlich auch darüber seine eigenen Ansichten.«

Wieder hörte Skip Schritte. Es war Grady, der eine hübsche Frau mitbrachte, eine Schwarze, die sich selbst wahrscheinlich als Kreolin bezeichnet hätte. Ihre Haut war eher beige als braun, und sie hatte das glatte Haar zu einem Zopf geflochten.

»Das hier ist Nina Philips Sie ist unsere Restaurantleiterin bei Hebert’s.«

Bevor Skip Nina die Hand reichen konnte, veranstaltete Sugar dasselbe wie mit Grady – sie fiel Nina jammernd um den Hals.

»Schon gut«, sagte Nina. »Grady hat mir alles erzählt. Weinen Sie nur.«

Es war eine gute Gelegenheit, mit Grady zu sprechen. Da Sugar nicht zuhörte, stellte Skip ihm dieselben Fragen wie vorher seiner Mutter. »Erzählen Sie mir ein wenig über Reed und Dennis.«

Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Das typische Paar der Neunziger. Sie war der Kopf des Unternehmens. Und der Bauch.«

Skip lächelte. Das war sicher noch nicht alles. »Wie das?«

»Möge Gott verhindern, daß mich jemand als Feminist bezeichnet – es gibt Gegenden in dieser Stadt, wo man für so was erschossen wird –, aber wissen Sie, er hat’s leicht gehabt und sie nicht. Sie bringt die Brötchen heim und schmiert sie ihm auch noch; selbstverständlich, nachdem sie sich was Nettes angezogen und das Baby gewickelt hat.«

»Sie halten wohl nicht viel von Ihrem Schwager?«

»Vollkommen falsch. Netter Kerl, prima Kerl. Jemand, den mein Dad so sehr gehaßt hat, kann gar nicht schlecht sein.«

Skips Herz begann, schneller zu schlagen.

»Machen Sie sich bloß keine Hoffnungen.« Er zuckte die Achseln. »Es gab nicht viele Leute, die mein Vater mochte.«

»Hatte Ihr Vater Feinde?«

Grady war verblüfft. »Solche, die ihn umbringen würden, meinen Sie?«

Skip nickte.

»Daran hab ich noch nie gedacht. Er war ziemlich aufbrausend. Aber deshalb bringt man doch keinen um, oder?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Was soll ich Ihnen sagen? Daß ich ihn ermordet habe?«

Skip schwieg.

»Die Sache ist doch völlig klar: Irgendein Gauner ist eingebrochen und hat ihn umgebracht.«

»Und was ist in diesem Fall mit Reed und Sally und Dennis passiert?«

Gradys Gesicht, um dessen Ausdruckslosigkeit er sich so bemühte, wurde wieder bleich. »Das weiß ich nicht. Ich will gar nicht dran denken.«

Ich auch nicht, dachte sie. Die Heberts waren eine stadtbekannte Familie. Sie wußte nicht, wieviel Geld sie hatten, aber man konnte schon annehmen, daß sie ein hohes Lösegeld für ein Familienmitglied zahlen würden. Vielleicht war der Mord an Arthur das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Entführungsversuchs. Aber wieso hatten die Täter dann drei Personen mitgenommen, wenn eine genügt hätte?

Weil sie die Gesichter der Entführer gesehen haben.

Was nichts Gutes für ihre Zukunft bedeutet.

Sugar kam langsam wieder zu sich und redete leise auf Nina ein. Skip sprach die junge Frau an: »Wissen Sie, ob Reed oder Dennis eine Schußwaffe besaßen?«

Sugar meinte: »Ich hab Ihnen doch gesagt...«, aber Nina unterbrach sie lächelnd und schüttelte den Kopf: »Auf keinen Fall. Keiner von beiden. Dennis hat einmal... einen Verwandten verloren...« Sie ließ den Satz in der Luft hängen, dachte offensichtlich an etwas, das zu unangenehm war, um darüber zu sprechen.

»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, erklärte Sugar; es klang ziemlich jämmerlich.

»Und Arthur?«

»Arthur hatte eine Pistole.«

»Wo bewahrte er sie auf?«

»In einem Safe in seinem Büro. Hier. Hier, meine ich. In diesem Zimmer, das er als sein Büro bezeichnete.«

»Würden Sie das bitte Mr. Gottschalk erzählen? Dem Mann von der Spurensicherung?«

»Selbstverständlich.«

Skip lächelte Sugar an. »Kommen Sie einen Moment allein zurecht?«

Sugar wirkte ein wenig desorientiert, als ginge ihr alles zu schnell. »Ich glaube schon. Soll ich es ihm jetzt sagen?« Sie legte sich eine Hand auf die Brust.

Skip hätte nicht sagen können, ob sie schauspielerte oder nicht, aber sie nickte Grady zu. »Sie können sie begleiten, wenn Sie wollen – nur bis zur Veranda. Ein Officer wird Ihnen entgegenkommen.«

Sie wollte einen Augenblick mit Nina allein sein. »Sie tun mir leid«, sagte sie mit einem Blick auf Sugar und Grady.

Nina schüttelte einfach den Kopf, wie Skip es oft bei Verwandten und Freunden sah, die plötzlich mit dem Tod konfrontiert wurden.

»Arbeiten Sie schon lange für die Familie?«

»Ein paar Jahre.«

»Aus dem, was Grady sagt, schließe ich, daß der alte Herr wohl nicht ganz einfach war.«

Sie zuckte die Achseln. »Grady selbst ist auch nicht gerade pflegeleicht.«

»Und Mrs. Hebert?«

»Kompliziert. Sie tut mir leid.«

»Warum?«

»Arthur hat sie behandelt wie ein Stück Dreck. Und außerdem ist sie emotional nicht besonders gefestigt.«

»Wie das?«

»Sie hat kein besonders großes Selbstbewußtsein.« Nina Philips dachte einen Moment nach. »Und ich glaube, sie versucht, das zu überspielen, indem sie so tut als ob.«

Nina hatte die nervtötende Angewohnheit, sich so allgemein zu äußern, daß es zunächst wenig Sinn ergab. »Als ob was?« fragte Skip.

»Was auch immer. Unterschiedlich.«

Skip verstand immer noch nicht so recht, aber sie konnte sich damit nicht weiter aufhalten. Es gab zu viel, was schnell abgeklärt werden mußte. »Kannten Sie die Familie gut?«

Zu ihrer Überraschung schnaubte Nina. »Könnte man sagen. Grady und ich hatten mal was miteinander.« Sie hielt kurz inne. »Reed ist meine beste Freundin. Und Dennis ist mein Cousin.«

»Dennis! Aber ich dachte...« Sie hielt inne, aber etwas an Nina brachte sie dazu, den Satz zu beenden. »Ich dachte, er wäre weiß.«

»Ist er wohl auch. Jedenfalls stammt er aus dem weißen Zweig der Familie. Wir sind nicht zusammen aufgewachsen – ich wußte nicht mal was von den Fouchers, von den weißen. Dennis hat mich aufgesucht, als wir schon erwachsen waren.« Wieder schnaubte sie. »Er brauchte Geld.«

»War das, bevor Sie die Heberts kennenlernten oder danach?«

»Vorher. Er hat mich ihnen Jahre später vorgestellt. Sie müssen verstehen, daß er damals ein anderer Mensch war. Er war süchtig.«

»Aha.«

»Er ist nie gefährlich gewesen, kein bißchen. Er ist ein sanfter Mensch – ein sehr sanftmütiger Mann.« Sie hielt inne und starrte die Wand an. »Mein Gott.«

»Was ist denn?«

»Ich dachte nur gerade daran, wie ähnlich er und Grady sich sind. Passiv. Liebenswert, aber wenig nützlich.«

Grady war Skip nicht besonders liebenswert vorgekommen, aber sie hielt den Mund.

»Kein Wunder, daß er und Reed gleich aufeinander geflogen sind. Sie und ich, wir sind wie Spiegelbilder, eine weiß, die andere schwarz. Abgesehen davon könnten wir Zwillinge sein. Na ja, nicht ganz, ich bin rebellischer als sie.

Guter Gott! Rotkäppchen hat mehr von einer Rebellin als Reed.

Aber wir sind uns ähnlich, weil wir ziemlich besessen sein können. Wir geben keine Ruhe, bis alles erledigt ist, und zwar perfekt.

Aber ihr Vater hat alles kritisiert, was sie tat, und um ehrlich zu sein« – sie senkte die Stimme – »ihre Mutter ist kaum anders. Reed hat die Grenzen, die ihre Eltern gezogen haben, nie überschritten, und inzwischen glaubt sie selbst nicht mehr, daß sie irgendwas kann. Aber sie ist wunderbar. Eine tolle Mutter, eine großartige Köchin, führt den Haushalt, führt das Restaurant, hilft Dennis mit seinem kleinen Betrieb.«

»Eine Gärtnerei, nicht wahr?«

»Ja. Das meinte ich auch, als ich sagte, er sei sanftmütig. Er liebt seine Pflanzen abgöttisch.« In ihrer Stimme schwang so etwas wie Verachtung mit.

»Es hört sich an, als wäre Reed ziemlich unter Druck.«

Nina zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Sie strengt sich so sehr an, nett zu allen zu sein, daß es einem normalerweise nicht auffällt.«

Paul Gottschalk kam aus dem Haus, gefolgt von den beiden Heberts. Er sagte: »Die Waffe ist noch da. Ich glaube nicht, daß daraus geschossen wurde.«

Skip nickte. »Danke, Paul. Ich werde Sie jetzt allein lassen.« Sie wollte sich den Tatort noch einmal ansehen. »Aber, Mrs. Hebert, Sie werden mit mir durchs Haus gehen müssen, wenn wir fertig sind, um nachzusehen, ob irgendwas fehlt. Können Sie vorläufig bei Freunden wohnen?«

»Ich könnte im Haus von Reed und Dennis bleiben – ich glaube nicht, daß es sie stören würde.« Fragend sah sie Grady an, die Hände in Brusthöhe, einem Präriehund nicht unähnlich. Allmählich sah sie müde und sehr verängstigt aus. Skip nahm an, daß der Schock nachließ.

Grady sagte: »Meine Bude ist sicher nicht das richtige.«

»Meinst du, du könntest vielleicht...« Sie brach ab, wollte offenbar vermeiden, ihren Sohn um einen Gefallen bitten zu müssen.

Grady warf Nina einen hilfesuchenden Blick zu, aber sie ignorierte ihn. Schließlich sagte er: »Ja, Mutter, ich bleibe bei dir«, und das klang nicht annähernd so sanft, wie die Umstände es verlangt hätten. Zu Skip sagte er: »Darf ich sie zu mir bringen und wieder zurückbringen, wenn Sie anrufen?«

»Sicher, aber noch eins: Können Sie Reeds und Dennis’ Auto hier irgendwo entdecken?«

Er ging mit Skip die Straße entlang. »Es ist nicht da.«

»Nein?«

»Es ist ein beigefarbener Mercedes – sehen Sie irgendwo einen?«

Das war nicht der Fall. Sie gab allen ihre Karte, bat anzurufen, sobald sie von Reed oder Dennis hörten, verabschiedete sich dann und ging ins Haus.

Die Streifenpolizisten, die die Häuser von Dennis und Reed und Dennis’ Eltern überprüft hatten, berichteten, daß sie niemanden gesehen hatten. Skip gab eine Fahndungsmeldung nach Dennis, Reed und dem Auto aus.

Der letzte Schritt bestand darin, die Nachbarn zu befragen – eine Pflicht, die sie fürchtete. Die Leute im Garden District mit seinen Herrenhäusern und privaten Sicherheitsdiensten hatten von allen Bürgern der Stadt vielleicht die meiste Angst vor Verbrechen. Skip hatte keine Lust, ihre weitaufgerissenen Augen und verkniffenen Lippen zu sehen und ratlos dazustehen, wenn sie ihre manikürten Hände rangen und sie anflehten, ihnen doch zu sagen, wie man sich schützen könne.

Sie hatte nicht die geringste Idee, wie sie sie beruhigen sollte, und außerdem hatte sie jetzt nicht die Zeit dazu.

Zufällig waren die Bewohner des Hauses rechter Hand in Urlaub, wenn man den Nachbarn glauben durfte. Die Nachbarn auf der anderen Seite waren zur Zeit der Schießerei nicht daheim gewesen, und die gegenüber waren in ihrem klimatisierten Haus abgeschottet gegen die Geräusche der Außenwelt.

Zwei Häuser weiter jedoch, auf derselben Straßenseite wie das Haus der Heberts, glaubte eine Mrs. Gandolfo, einen Schuß gehört zu haben; sie hatte sogar durch die Vorhänge nach draußen gespäht. Sie hatte ihre Nachbarn angerufen, die zur linken Seite der Heberts, und als dort niemand an den Apparat gegangen war, hatte sie es bei den Heberts versucht. Ein junger Mann hatte geantwortet und erklärt, alles sei in Ordnung und er habe nichts gehört.

3

Das Rauschen des Bluts in ihren Ohren war wie ein wilder Trommelwirbel, das Lenkrad war glitschig von ihrem Schweiß. Reed fuhr den Mercedes wie einen Sportwagen und fluchte, weil sie die Kurven nur schwerfällig nehmen konnte.

Meine Schuld, dachte sie. Dennis könnte das besser. Verdammt noch mal, jeder könnte es besser.

Blind vor Tränen, versuchte sie, nicht nachzudenken, nur zu fahren. Seltsamerweise waren die Straßen fast leer, sonst wäre der Tercel vielleicht mit einem anderen Wagen zusammengestoßen. Oder sie selbst; oder ein Streifenwagen hätte sie stoppen können.

Aber es war eine träge Nacht im Big Easy – alle waren nach der Arbeit nach Hause gegangen und offenbar auch dort geblieben.

Sie glaubte, sich an einen Satz zu erinnern: »Wenn jemand mir folgt, werde ich ihn abknallen, das schwöre ich.«

Aber sie war nicht sicher. Zunächst hatte sie die Worte nicht verstanden. Sie hatte überhaupt nichts verstanden. Ihr Verstand hatte sich verabschiedet. Reed war einfach auf Autopilot.

Ihre Füße hatten noch funktioniert. So einfach war das.

Sie war ihnen hinterhergerannt, hatte gesehen, wie Sally grob in den Tercel geworfen wurde, als wäre so etwas wie ein Autositz noch nicht erfunden, und war zu spät gekommen. Die Autotür war bereits verriegelt gewesen.

Vor Reeds geistigem Auge flackerten Szenen auf wie in einem Alptraum. Sie sah sich selbst, wie es in Wirklichkeit überhaupt nicht möglich war, wie sie aus der Tür stürzte, beinahe die Treppe hinunterfiel und innehielt, um das Gleichgewicht zu bewahren, kostbare Millisekunden verlor, dann an der Autotür zerrte, durchs Fenster sah, wie Sallys kleiner blonder Kopf gegen die Tür auf der anderen Seite prallte; sie rief ihren Namen – Sally! –, dann hörte sie den Motor des Tercel anspringen. Der Schlüssel hatte noch gesteckt, der Wagen war fluchtbereit gewesen.

Reed hatte ihren eigenen Ersatzschlüssel erst unter dem rechten Kotflügel hervorfingern müssen, eine weitere folgenschwere Verzögerung. Dann begann die Verfolgungsjagd, Reed immer noch auf Autopilot, sie tat nur, was sie tun mußte, um ihr Kind zurückzubekommen. Sie achtete überhaupt nicht darauf, wohin sie fuhr, welche Stadtviertel sie durchquerte, wo sie auf die Schnellstraße einbog – sie fuhr einfach, und jetzt hatten diese Rückblenden begonnen, vielleicht ein erstes Anzeichen dafür, daß sie wieder zu Verstand kam.

War das wirklich Reed Hebert, die hier am Steuer saß? Was machte sie hier eigentlich?

Sie sollte anhalten und die Polizei rufen, aber sie wußte auch, daß sie es nicht tun würde. Wahrscheinlich würde sie keine Telefonzelle finden. Und wenn, dann war der Notruf vielleicht besetzt. Sie würde den Tercel verlieren.