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1. Auflage 2011
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© 2011 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
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W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Allgemeine Bemerkungen

1.2 Die Psychopathologie aus historischer Perspektive

1.3 Konzept des Buchs

2 Methoden zur Untersuchung von Struktur und Funktion des Gehirns

2.1 Einführung

2.2 Die Systemphysiologie als Schnittstelle zwischen Hirnfunktion und Psychopathologie

2.3 Kernspintomografie (MRT)

2.3.1 Geschichte

2.3.2 Technische Voraussetzungen

2.3.3 Strukturelle Kernspintomografie

2.3.4 Diffusion Tensor Imaging (DTI)

2.3.5 Funktionelle Kernspintomografie (fMRT)

2.3.6 Arterial Spin Labeling (ASL)

2.3.7 Magnetresonanz-Spektroskopie (MRS)

2.4 Positronen-Emissions-Tomografie (PET)

2.4.1 Geschichte

2.4.2 Technische Grundlagen

2.4.3 Einzelphotonen-Emissions-Tomografie (Single Photon Emission Computed Tomography, SPECT)

2.5 Optische Bildgebung (NIRS)

2.6 Elektrophysiologie

2.6.1 Geschichte

2.6.2 Physiologische Grundlagen von Elektroenzephalografie (EEG) und Magnetenzephalografie (MEG)

2.6.3 Einteilung der elektrophysiologischen Methoden (EEG, EP – evozierte Potenziale)

2.6.4 Magnetenzephalografie (MEG)

2.6.5 Multimodale Bildgebung mit elektrophysiologischen Methoden

3 Funktionen und Funktionssysteme des Gehirns mit besonderer Bedeutung für die Psychiatrie

3.1 Modularität der Hirnfunktionen

3.1.1 Einleitung

3.1.2 Parallelität der Informationsverarbeitung

3.1.3 Modularität und Plastizität

3.1.4 Funktionelle und räumliche Modularität

3.1.5 Bedeutung von Domänen für die Psychopathologie

3.1.6 Domänen der zwischenmenschlichen Kommunikation

3.2 Neurotransmittersysteme

3.2.1 Amine

3.2.1.1 Acetylcholin

3.2.1.2 Dopamin

3.2.1.3 Noradrenalin

3.2.1.4 Serotonin

3.2.2 Aminosäuren

3.2.2.1 Glutamat

3.2.2.2 GABA

3.3 Perzeption

3.3.1 Das visuelle System

3.3.2 Das akustische System

3.3.3 Das haptische System

3.4 Limbisches System

3.4.1 Amygdala

3.4.2 Orbitaler präfrontaler Kortex

3.4.3 Ventromedialer Präfrontalkortex

3.4.4 Limbischer Anteil des anterioren cingulären Kortex

3.4.5 Nucleus accumbens und ventrales Striatum

3.4.6 Nucleus basalis Meynert

3.4.7 Hippokampuskomplex

3.4.8 Medialer Thalamus

3.4.9 Zusammenfassung

3.5 Motorisches System

3.5.1 Extrapyramidalmotorisches System

3.5.2 Basalganglien

3.5.3 Thalamus

3.5.4 Zusammenfassung

3.6 Sprache

3.6.1 Semantisches Gedächtnis und konzeptuelles Wissen

3.6.2 Sprechen

3.6.3 Denken

3.6.4 Logisches Denken

3.7 Theory of Mind

4 Pathophysiologie psychopathologischer Phänomene

4.1 Einleitung

4.2 Domäne der Sprache

4.2.1 Einführung

4.2.2 Halluzinationen

4.2.3 Denkstörungen

4.2.3.1 Formale Denkstörungen

4.2.3.2 Inhaltliche Denkstörungen

4.3 Domäne der Affekte

4.3.1 Einführung

4.3.2 Bedeutung der Terminologie zur Beschreibung von Gefühlen

4.3.3 Einteilung der Affekte

4.3.3.1 Trieblehre und Primäremotionen

4.3.3.2 Schichtenmodelle der Emotionen

4.3.3.3 Stimmung als universeller Modulator der Psyche

4.3.3.4 Angst, ihre Begleiterscheinungen und Folgen

4.3.3.5 Glück

4.3.4 Affekte bei psychischen Erkrankungen

4.3.4.1 Angststörungen

4.3.4.2 Emotionale Instabilität

4.3.4.3 Prämenstruelle Dysphorie

4.3.4.4 Affektive Erkrankungen

4.3.4.5 Schizophrenie und andere Psychosen

4.4 Domäne der Körperbewegungen

4.4.1 Einführung und grundsätzliche Überlegungen zu Bewegungsstörungen bei Psychosen

4.4.2 Neurobiologisch orientierte Einteilung der Psychomotorik

4.4.2.1 Mimik

4.4.2.2 Augenbewegungen

4.4.2.3 Gesten

4.4.2.4 Verhaltensbewegungen

4.4.2.5 Handlungen

4.4.3 Psychopathologie der Bewegungsstörungen

4.4.3.1 Quantitative Veränderungen

4.4.3.2 Qualitative Veränderungen

4.4.3.3 Subjektive Äquivalente

4.4.4 Bewegungsstörungen bei psychischen Erkrankungen

4.4.4.1 Zwangserkrankungen

4.4.4.2 Tics und Gilles-de-la-Tourette-Syndrom

4.4.4.3 Dissoziative Störungen

4.4.4.4 Psychosen

5 Ausblick

Literatur

Stichwortverzeichnis

Die Fortschritte der Neurowissenschaften haben weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis psychischer Erkrankungen. Die Pathophysiologie psychiatrischer Störungen konnte bisher zwar nicht definitiv geklärt werden. Dennoch verstehen wir die Wechselwirkungen zwischen menschlichem Gehirn, Verhalten und Charakter heute sehr viel besser als noch vor wenigen Jahren. Mit den verfügbaren Methoden ist es sogar möglich, höchste Hirnfunktionen wie Wahrnehmung und Denken auf biologischer und psychologischer Ebene in Einklang zu bringen. Dieses Buch gibt einen Überblick über aktuelle Grundlagen und Methoden in der psychopathologischen und biologischen psychiatrischen Forschung. Aufgrund der aktuellen Erkenntnisse unternimmt es den Versuch, menschliches Verhalten auf Gehirnfunktionen abzubilden, und umgekehrt. Schließlich wird eine neue Systematik der Psychosen vorgeschlagen, die sich an bekannten Kommunikationsstörungen und den damit verbundenen, höheren Hirnfunktionen orientiert.

 

Prof. Dr. med. Werner Strik, Psychiater und Psychotherapeut, Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie Bern. Prof. Dr. med. Thomas Dierks, Arzt und Neurowissenschaftler, Leiter der Abteilung für Psychiatrische Neurophysiologie an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie Bern.

Konzepte, Methoden und Praxis
der Klinischen Psychatrie

Begründet von Wolfgang Gaebel
Franz Müller-Spahn (†)

Herausgegeben von
Wolfgang Gaebel
Peter Falkai
Wulf Rössler

Werner Strik, Thomas Dierks

Biologische
Psychopathologie

 

 

Verlag W. Kohlhammer

1 Einleitung

1.1 Allgemeine Bemerkungen

Die Neurowissenschaften haben in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Schlägt man heute eine Tageszeitung oder ein Magazin darauf, so wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Bericht über eine neue Studie finden, die angeblich Auswirkungen auf unser Menschenbild oder unser Alltagsverhalten hat. Sogar in den traditionell eher biologiekritischen Geisteswissenschaften wie Soziologie oder Theologie werden zunehmend neurowissenschaftliche Ergebnisse beachtet und integriert. Tatsächlich können die Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten faszinierende Erfolge vorweisen. Einerseits gibt es bedeutende Fortschritte in Genetik und Molekularbiologie, die uns ein völlig neues Bild von der Steuerung des Wachstums und der Vernetzung von Nervenzellen sowie von komplexen Vorgängen wie z. B. der Entstehung chronobiologischer Rhythmen geben. Andererseits haben uns die verschiedenen Methoden der funktionellen Bildgebung völlig neue Dimensionen für die Untersuchung und das Verständnis des arbeitenden Gehirns eröffnet.

Insbesondere die bildgebenden Verfahren haben sowohl in der Fachwelt als auch bei Laien eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dieses Interesse einfach auf die vermeintlich leicht verständlichen, ästhetisch ansprechenden Bilder zurückzuführen, greift zu kurz. Tatsächlich wird durch die funktionell bildgebenden Verfahren eine Dimension zugänglich, die es erlaubt, die Arbeitsweise des Gehirns auf systemischer Ebene zu untersuchen. Das messbare Zusammenspiel elektrochemischer Vorgänge verstehen wir heute als das Abbild dessen, was das menschliche Gehirn, sozusagen als Ergebnis seiner Aktivität, erzeugt: nämlich unser subjektives Bewusstsein und unser objektiv beobachtbares Verhalten. Es handelt sich bei diesen Methoden also nicht nur um gefällige Visualisierungen, sondern um Messungen des biologischen Geschehens an der Schnittstelle zu dem, was wir als Psyche bezeichnen. Das Ausmaß des Fortschritts dieser Methoden wird erst dann klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass bis vor 20 Jahren noch keine Methoden existierten, um die schnellen elektrischen und metabolischen Vorgänge bei kognitiven Aufgaben zuverlässig lokalisieren zu können.

Das zeitlich hochauflösende Elektroenzephalogramm (EEG) lieferte zwar schon seit langer Zeit Hinweise auf die Lokalisation bestimmter kognitiver Vorgänge, allerdings ist es bei dieser Methode unmöglich, den Ort der Quelle der elektrischen Aktivität eindeutig nachzuweisen. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden Spekulationen über den Ort der Aktivität im Gehirn und ihre Beziehung zur Hirnfunktion als unwissenschaftlich angesehen und in die Nähe der Phrenologie gerückt. Gerade für die höchsten Hirnfunktionen, die in der Psychiatrie von Bedeutung sind, entstand damit – pointiert ausgedrückt – eine Vorstellung des Gehirns als amorpher Masse, deren hohe kognitive Funktionen wie Denken, Planen oder zielgerichtetes Handeln ungebunden von morphologischen Strukturen, sozusagen frei flottierend, entstehen und von Transmitterkonzentrationen moduliert werden.

Diese implizite Vorstellung einer von biologischen Gegebenheiten weitgehend unabhängigen Psyche existierte in der Psychiatrie viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts parallel zu den neurologischen und neuropsychologischen Disziplinen. Diese hatten ihrerseits trotz methodisch begrenzter Möglichkeiten bereits wesentliche Beiträge zur Lokalisation kognitiver Leistungen beigetragen, indem sie spezifische, anhand von bestimmten Testaufgaben ermittelte Leistungsschwächen mit makroskopischen regionalen Hirnschädigungen korrelierte. Dementsprechend entstanden Definitionen wie Arbeitsgedächtnis oder Exekutivfunktionen, die zwar wichtige Leistungen des Gehirns beschreiben, aber nicht leicht in eine sinnvolle Beziehung mit psychopathologischen Phänomenen gebracht werden können, wie sie bei psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Die Psychiatrie beschäftigt sich nämlich mit Veränderungen der Affekte, der Kognition und des Verhaltens bei Menschen, die keine neurologisch fassbaren Läsionen aufweisen. Erst in jüngerer Zeit ist es mit den funktionellen bildgebenden Verfahren gelungen, einen Zugang zu den Veränderungen wie z. B. Denkstörungen oder Halluzinationen zu finden.

Bei allen Einschränkungen, die in Bezug auf die Zuverlässigkeit und die Interpretation der Ergebnisse gemacht werden müssen, hat diese Forschung auf systemphysiologischer Ebene, an der Schnittstelle zwischen Gehirn und Psyche, viele neue Erkenntnisse zu unserem heutigen Menschenbild beigesteuert. Man kann die Neurowissenschaften heute als eine Leitwissenschaft ansehen, die auf verschiedensten Ebenen als Orientierung und Referenz verwendet wird. In Psychologie und Pädagogik nimmt man z.B. Bezug auf die neuronale Plastizität, um Lerntheorien und -techniken zu begründen (Ansari und Coch 2006). In der Psychotherapie werden die Therapierfolge mit funktioneller Bildgebung belegt (Beauregard 2008) und Versuche unternommen, den theoretischen Rahmen neurobiologisch neu zu formulieren (Grawe 2004); zentrale Phänomene wie Angst und Verdrängung haben hirnphysiologische Korrelate gefunden (Damsa und Moussally 2009; Depue et al. 2007). Die Ergebnisse der Hirnforschung beeinflussen unser Alltagsverhalten mit Schlagworten wie „Brain Jogging“ bis hin zu kognitiven Trainingsprogrammen in Spielkonsolen (z. B. Nintendo DS Brain Training Bundle) und stellen mit der Debatte über die Existenz eines freien Willens unser theologisch-moralisches und juristisches Menschenbild in Frage (Bieri 2001; Habermas 2006; Holderegger 2007; Northoff et al. 2006; Roth 1997).

Die Psychiatrie erwartet von den Neurowissenschaften Hinweise auf die Ätiologie und Pathophysiologie psychischer Störungen. Dafür muss sie aber neurobiologisch sinnvolle Definitionen von Symptomen und auch von Verlaufsformen (Gaebel 2004) psychischer Erkrankungen liefern, die auf die biologischen Verhältnisse des menschlichen Organismus übersetzt werden können. Dabei sind Studien von besonderem Interesse, die sich mit der charakteristischen Symptomatik der psychischen Störungen beschäftigen. Dagegen ist der Zusammenhang psychiatrischer Symptome mit psychologischen Funktionen, die von neurologischen Läsionsmodellen abgeleitet wurden, meist sehr spekulativ. Bis heute fällt es schwer, diagnostisch relevante Symptome psychiatrischer Erkrankungen so zu definieren, dass sie empirisch untersucht werden können. Dies ist bisher nur in wenigen Beispielen gelungen, namentlich bei Denkstörungen und akustischen Halluzinationen (Strik et al. 2008).

Der Fortschritt im Wissen über Ätiologie und Pathophysiologie der großen psychiatrischen Erkrankungen wie der Schizophrenie ist bis heute nicht befriedigend, entsprechend werden große Anstrengungen unternommen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen (Falkai et al. 2008). Insbesondere für die Kardinalsymptome der Schizophrenie wie Ich-Störungen, Wahnideen oder für die zentralen diagnostischen Kriterien der Depression wie die gedrückte Stimmungslage oder die Freudlosigkeit ist es bis heute nicht gelungen, einen direkten Bezug zu regionalen Hirnfunktionen herzustellen. In diesen Themengebieten beschränken sich die Forschungsergebnisse auf Unterschiede zwischen diagnostischen Gruppen, wobei es geradezu unmöglich ist, die Ergebnisse auf ein spezifisches Symptommuster im Sinne gestörter Hirnfunktionen zurückzuführen. Zudem muss bei allen Untersuchungen des lebenden Gehirns beim Menschen beachtet werden, dass es sich lediglich um Korrelationen handelt. Das heißt, es kann nur festgestellt werden, dass ein Phänomen (die regionale Veränderung der Aktivität des Gehirns) gleichzeitig und unter denselben Bedingungen wie ein anderes Phänomen auftritt. Dieser Umstand führt zu wesentlichen Einschränkungen der Interpretierbarkeit der Ergebnisse und hat oft zu nicht zulässigen Verkürzungen geführt (Bruer 2002).

So wurde in den ersten Jahren psychologischer und psychiatrischer Forschung mit funktioneller Bildgebung die aktivierte Region oft einfach mit dem untersuchten Phänomen selbst gleichgesetzt. Dabei wird übersehen, dass es sich in vielen Experimenten um Differenzbedingungen handelt. Es werden also nur die Regionen sichtbar, deren Aktivität sich während einer Aufgabe verändert, während Regionen, die für die Bewältigung der Aufgabe notwendig, aber auch in der Kontrollbedingung aktiv sind, unsichtbar bleiben. Weiterhin kann man sich bei gleichzeitig aktivierten, regional getrennten Regionen nicht damit begnügen zu sagen, dies sei das Netzwerk, das die entsprechende Funktion repräsentiere. Zusätzlich müssten nämlich die Wechselwirkungen zwischen diesen Regionen untersucht und beschrieben werden. Dazu sind strukturelle Informationen nötig, nämlich ob die nötigen Faserverbindungen tatsächlich vorhanden sind. Weiterhin muss die funktionelle Natur der Verbindungen verstanden werden, d.h. die zeitliche Dynamik kohärenter Neuronenaktivität sowie die Art der gegenseitigen Beeinflussung (Erregung oder Hemmung). Um diese zusätzliche Dimension zu berücksichtigen, spricht man heute oft von Regelkreisen (englisch: distributed circuitries, loops) oder Systemen statt von Netzwerken.

Mahnende Stimmen warnen, dass das zunehmende Wissen über die biologischen Grundlagen der Psyche die menschliche Dimension verdrängen würde (Hell 2003). Die verschiedenen Modelle der Psyche sind jedoch als unterschiedliche Erkenntnisdimensionen zu verstehen. Es wäre unsinnig, sie in einen inhaltlichen Gegensatz zu stellen, weil sie sich methodenbedingt gegenseitig weder bestätigen noch widerlegen können. Diese Art der Diskussion ist also eher als ein Appell zu verstehen, der einen oder anderen Perspektive mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Gegensatz dazu vertreten wir hier die Ansicht, dass sich die unterschiedlichen Erkenntnisebenen ergänzen und durch das breite Spektrum von der Kunst über die Geistes- zu den Naturwissenschaften zur besonderen Vielfalt und Faszination des Faches Psychiatrie beitragen. Allerdings gibt es, bei allem gegenseitigen Verständnis, auch grundsätzliche Unterschiede, die nicht aufzulösen sind. In der Naturwissenschaft ist nämlich der Determinismus, d. h. die kausale Abhängigkeit der Phänomene, ein zentrales Postulat. Bis in die letzte Konsequenz durchdacht führt dies zu einem monistischen, d. h. materiellen Menschenbild und steht damit in Widerspruch zur dualistischen Vorstellung einer vom materiellen Sein unabhängigen Seele.

Die Verantwortung des Neurowissenschaftlers ist jedenfalls groß. Aufgrund der Aufmerksamkeit der sensationshungrigen Medienöffentlichkeit und einer oft unbedachten und verkürzten Wiedergabe der Ergebnisse besteht das Risiko von Überinterpretationen und falschen Schlussfolgerungen. Diese können weitreichende negative Folgen verursachen, z. B.

wenn sie Auswirkungen auf Erziehung oder Rechtssprechung haben.

1.2 Die Psychopathologie aus historischer Perspektive

Bis heute fehlen verbindliche Definitionen psychischer Erkrankungen, die in Bezug zu messbaren biologischen Parametern stehen. Die psychiatrischen Diagnosen werden aufgrund von Kriterien gestellt, die durch die deskriptive Psychopathologie definiert wurden. Die Operationalisierungen, die seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts Standard sind, haben einen Zuwachs an Reliabilität bewirkt, konnten das grundsätzliche Problem der Subjektivität der Beurteilung aber nicht eliminieren, sondern lediglich von der Ebene der Diagnose auf die Ebene der Symptome verschieben. Mit anderen Worten hängt die Diagnose heute nicht mehr von dem mehr oder weniger nachvollziehbaren Urteil eines Experten ab, sondern wird nach einem Algorithmus festgelegt; die Symptome selbst können aber nicht gemessen werden sondern müssen – wie zuvor die Diagnosen – durch einen Beobachter beurteilt werden. Die Beispiele der Beurteilung von Affekten oder inhaltlichen Denkstörungen zeigen, dass es hier große Spielräume gibt, auch wenn diese z. B. durch strukturierte Interviews oder Rater-Trainings eingeengt werden können. Die eigentliche Operationalisierung greift mit ihrer arithmetischen Systematik erst dann, wenn die Symptome subjektiv festgestellt sind. Hinzu kommt, dass nicht nur die Diagnosen, sondern auch die psychiatrischen Symptome selbst ursprünglich entsprechend der gängigen Vorstellungen über die Genese der Erkrankungen formuliert werden. Sie sind daher nicht theoriefrei, sondern reflektieren implizite Annahmen über die Natur der Phänomene. Welche Auswirkungen dies noch heute auf unsere biologische Forschung hat, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

Die Psychiatrie konnte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als medizinisches Fach etablieren, nachdem erste therapeutische Ansätze durch neue Untersuchungen zur Neuroanatomie ergänzt wurden. Die neuen Entdeckungen zur Struktur des Gehirns weckten große Erwartungen zur Erklärung von Erkrankungen in Neurologie und Psychiatrie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dachten viele Neurologen und Psychiater, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis man die Ursachen der verschiedenen Erkrankungen finden würde. Dies betraf wohlgemerkt nicht nur neurobiologisch tätige Ärzte, sondern auch Psychotherapeuten wie Sigmund Freud.

Emil Kraepelin bezog sich in seinem Lehrbuch häufig auf die biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen und im Psychiatrielehrbuch von Carl Wernicke wird sogar der Versuch unternommen, die ganze Psychopathologie entsprechend der vermuteten, zugrunde liegenden neurobiologischen Ursache umzuformulieren (Wernicke 1900). Doch auch Eugen Bleuler verfasste eine „Naturgeschichte der Seele“ (Bleuler 1921) und ordnete psychologische Phänomene bestimmten mutmaßlichen Hirnfunktionen zu. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stagnierten die Neurowissenschaften jedoch in Bezug auf psychiatrische Erkrankungen. Während in der Neurologie fortschreitend wichtige Ergebnisse gefunden wurden und die Genese verschiedener Erkrankungen nach und nach aufgedeckt werden konnte, blieben die erwarteten spektakulären Erfolge in der psychiatrischen Ursachenforschung bis auf wenige Ausnahmen wie der progressiven Paralyse, der Epilepsie oder der Demenz aus.

So wurden die hochgeschraubten Erwartungenenttäuscht und die Stimmung kippte zugunsten einer geisteswissenschaftlichen Sichtweise der Psychiatrie. Diese konnte zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich einen höheren wissenschaftlichen Standard für sich beanspruchen als die Neurobiologie: Während die Bedeutung der Hirnfunktionen für psychiatrische Symptomespekulativ blieb, weil die notwendigen Messtechniken noch fehlten, wurde mit der Phänomenologie eine konsistent definierte Methode entwickelt, die es erlaubte, mittels der psychologischen Verstehbarkeit eindeutige und explizite Definitionen psychischer Erscheinungen und pathologischer Abweichungen zu formulieren. Dem neurobiologischen Ansatz, der exemplarisch im Lehrbuch Carl Wernickes vertreten ist (Wernicke 1900), stand der geisteswissenschaftliche Ansatz gegenüber, der in Karl Jaspers allgemeiner Psychopathologie einen einflussreichen Ausdruck fand (Jaspers 1913). Wir wissen heute, dass Carl Wernicke in vielen Bereichen ein sehr detailliertes Verständnis der Hirnfunktionen gewonnen hatte und bei seinen Hypothesen zur Entstehung psychopathologischer Phänomene eine geradezu prophetische Weitsicht bewiesen hat. Allerdings solltees noch Jahrzehnte dauern, bis die Techniken zur Verfügung standen, die es erlauben sollten, die Hypothesen empirisch zu überprüfen. Die neurobiologische Forschung geriet zunehmend in Beweisnot, weil ihre kausalen Erklärungen als zu spekulativ angesehen wurden. Dies wurde Wissenschaftlern wie Carl Wernicke von Seiten geisteswissenschaftlich orientierter Psychiater unter dem Begriff der „Hirnmythologie“ (Jaspers) zum Vorwurf gemacht.

Zur gleichen Zeit ergaben sich praktische Erfolgsmeldungen der Psychotherapie, insbesondere der Psychoanalyse, in die nun hohe Erwartungen gesetzt wurden. In der Psychopathologie finden sich bis heute noch Auswirkungen dieser Begeisterung, die auch die klinische Psychiatrie ergriffen hatte. So stammen der Begriff „Schizophrenie“ (Spaltungsirresein) sowie psychopathologische Symptomdefinitionen wie Ich-Störungen oder Dissoziation aus dem Versuch der Integration der Freudschen Assoziationspsychologie in die Psychopathologie durch Eugen Bleuler. Die geisteswissenschaftliche Psychiatrie erfuhr eine erhebliche Aufwertung, einerseits durch den aus damaliger Sicht methodisch korrekten, weil deskriptiven und wenig spekulativen phänomenologischen Ansatz, andererseits durch den Siegeszug der Psychoanalyse. Die biologische Psychiatrie wurde dagegen sowohl wissenschaftlich-methodisch, als auch, nach den schrecklichen Entgleisungen des deutschen Nationalsozialismus, moralisch in die Defensive gedrängt.

In den 1920er Jahren wurde noch eine heftige Diskussion zwischen Karl Kleist und Kurt Schneider ausgetragen. Kleist vertrat eine biologisch fundierte Psychopathologie während Schneider eine „reine Psychiatrie“ postulierte, die von den neurologischen Gegebenheiten des Gehirns unendlich weit entfernt sei (Kleist 1925; Schneider 1919). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Debatte allerdings eindeutig zugunsten der geisteswissenschaftlich orientierten Psychiatrie Kurt Schneiders und der Heidelberger Schule entschieden. In diesem Rahmen gab es zunehmend Raum für philosophische Grundsatzdiskussionen wie etwa um die Frage, ob es überhaupt möglich sei, psychische Phänomene auf materiell messbare Ereignisse zurückzuführen. Insbesondere in der deutschen Psychiatrie war eine Art Stolz auf die Besonderheit der Psychiatrie innerhalb der Medizin zu erkennen, die sich auf Philosophie und Geisteswissenschaften berufen konnte und sich damit gegenüber den naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen hervorhob.

Der Höhepunkt methodischer Rigorosität, die sich nicht mit Spekulationen und Theorien, sondern nur mit messbaren Beobachtungen auseinandersetzen wollte, wurde allerdings erst später mit den Forderungen von Skinner erreicht. Dieser außerordentlich einflussreiche Wissenschaftler erklärte die subjektive Sphäre der Psyche, d.h. Bewusstsein und subjektiv empfundene Gefühle, als empirisch grundsätzlich nicht untersuchbar („Blackbox“; Skinner 1953). Die Beschäftigung mit Phänomenen wie subjektiven Wahrnehmungen und bewusstem Denken wurde a priori als unwissenschaftlich deklariert und damit dem seriösen Wissenschaftler de facto verschlossen. Das Werk hatte einen großen Einfluss auf die empirische Psychologie mit der Folge, dass die Untersuchung von intrapsychischen Vorgängen jahrzehntelang als obsolet betrachtet wurde.

Diese Entstehungsgeschichte unserer Vorstellungen über die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung psychopathologischer Phänomene findet sich auch heute noch in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in Fachdiskussionen. So wird der biologischen Psychiatrie von manchen Seiten immer noch eine unkritische Fortschrittsgläubigkeit, zum Teil sogar eine menschenverachtende Haltung unterstellt. Glücklicherweise haben derartige Vorurteile mit den interessanten Forschungsergebnissen der letzten Jahre und den positiven Auswirkungen auf ein umfassendes und gerade deshalb humanes Menschenbild zusehends an Bedeutung verloren.

Ein anderes Erbe dieser psychiatriephilosophischen Geschichte übt bis heute noch einen erheblichen und vermutlich sogar entscheidenden Einfluss auf die psychiatrische Forschung aus. Wie bereits oben angedeutet, wurden die Symptomdefinitionen in jeder Epoche so formuliert, dass sie einerseits dem aktuellen Verständnis der Natur der Erkrankungen entsprachen, andererseits halfen, die Krankheitsbilder möglichst zuverlässig auseinanderzuhalten. Die Ich-Störungen nach Eugen Bleuler als Ausdruck der intrapsychischen Spaltung sind hierfür ein Beispiel. Noch in weit höherem Ausmaß wurden die diagnostischen Kriterien Kurt Schneiders von seinem geisteswissenschaftlichen Hintergrund und seinem daraus resultierenden Fokus auf die kognitiven Aspekte geprägt. Tatsächlich definierte er die Schizophreniediagnose mit einem starken Übergewicht zugunsten kognitiver Symptome (Schneider 2007).

Schneiders diagnostische Kriterien der Schizophrenie haben bis heute einen entscheidenden Einfluss auf die klinischen Untersuchungen, die Definition des Pathologischen selbst und auf wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit den als charakteristisch definierten Symptomen beschäftigen. Um zu verstehen, wie weitreichend dieser Einfluss ist, muss man sich vergegenwärtigen, dass die operationalen Diagnosekriterien der Schizophrenie des DSM und des ICD (American Psychiatric Association 2000; World Health Organization 1992) bis heute auf den Definitionen Kurt Schneiders beruhen. Eine spätere Entwicklung der Psychopathologie, die Affektivität und Psychomotorik ähnlich differenziert wie die kognitiven Störungen beschreibt und definiert (Leonhard 2003), wurde erst 1979 ins Englische übersetzt und fand, vermutlich aufgrund der damals bereits abgeschlossenen Arbeiten am DSM-III nur wenig Beachtung und keinen Eingang in die internationale Klassifikation (Carroll 1998). Veränderungen der diagnostischen Kriterien werden seit diesem Meilenstein der operationalen Diagnostik vorwiegend aufgrund empirischer Ergebnisse zur Therapieresponse oder unter dem Einfluss von Interessengruppen vorgenommen, aber nicht mehr unter Berücksichtigung anderer psychopathologischer Schulen.

Kurt Schneider vertrat ein metaphysisches Konzept der Psyche. Entsprechend forderte er, dass sich die „reine Psychiatrie“ nur mit den Phänomenen beschäftigen sollte, die nichts mit Neuronenaktivität zu tun haben (Schneider 1919). Man kann davon ausgehen, dass er auch bei der Formulierung der Symptome und diagnostischen Kriterien diesem Postulat folgte und Definitionen psychischer Leistungen suchte, die nicht in einen direkten Zusammenhang mit den bekannten neurologischen Funktionen des Gehirns gebracht werden können. So vermeidet er z. B. den Bezug zur Sprache und bezieht sich auf das neurobiologisch nicht definierte „Denken“ sogar bei Symptomen, die praktisch ausschließlich durch die Beurteilung gesprochener Sprache festgestellt werden, wie die formalen Denkstörungen. Motorische Störungen werden bei ihm lediglich summarisch aufgeführt und spielen als diagnostische Kriterien nur eine untergeordnete Rolle. Implizit werden sie als sekundäre Phänomene, nämlich als eine Folge kognitiver Desorganisation behandelt. Dagegen gehören zu den wichtigsten diagnostischen Kriterien, den Erstrangsymptomen, eine Reihe von ausgeklügelten Störungen des Urteils und der Perzeption.

Dass psychiatrische Symptome auch anders formuliert werden können, und zwar mit einer größeren Nähe zu den neurobiologischen Gegebenheiten, zeigen die Symptomdefinitionen der Schule von Wernicke, Kleist und Leonhard, die sich auf bereits bekannte, aber auch auf hypothetische Funktionssysteme des Gehirns berufen. So wurde die anfänglich ebenfalls relativ einseitig kognitive Sichtweise Carl Wernickes, der sich auf funktionelle Assoziationen verschiedener Hirnareale als Äquivalente für Bewusstseininhalte bezog, später von Karl Kleist um die affektive und die motorische Dimension ergänzt. Karl Leonhard vervollständigte diese Perspektive schließlich mit einer klinisch-psychopathologisch umfassenden Systematik, die in seinen beiden Schlüsselwerken, der „Aufteilung der endogenen Psychosen“ und der „Biologischen Psychologie“ festgehalten ist (Leonhard 1993; Leonhard 2003). Wenn diese Ansätze auch in der Vergangenheit als theorielastig und spekulativ angesehen wurden, so haben sie die moderne Psychiatrie bereits befruchtet, z. B. durch die Unterscheidung der monopolaren von den bipolaren affektiven Psychosen und der sorgfältigen Beschreibung der zykloiden Psychosen, die empirisch validiert werden konnten (Angst 1966; Brockington et al. 1982). Zudem sind sie in weiten Teilen mit unseren heutigen neurobiologischen Erkenntnissen vereinbar und geben einen brauchbaren Rahmen für eine moderne, systembiologische Hypothesenbildung. Sie beziehen sich nämlich auf zum Teil bekannte neurologische Regelkreise wie Sprachfunktionen, Willkürmotorik, auf das limbische System sowie auf Phänomene, die eine überregionale Koppelung neuronaler Netzwerke und die Neuroplastizität voraussetzen – Konzepte, die heute allgemein akzeptiert sind.

Weitere, in der Schule Wernickes entstandene, für die heutige Wissenschaft interessante Hypothesen bestehen darin, verschiedene Gefühlsebenen zu definieren und bestimmten Hirnregionen zuzuordnen. So stammt von Karl Kleist die, allerdings noch nicht im Detail ausformulierte Vorstellung, dass unbestimmte, mit der körperlichen Homöostase zusammenhängende Unlustgefühle mit der Aktivität des Hirnstamms zu tun haben müssten. Er nannte diese Art von Gefühlen Triebe, während Gefühle, die durch bedeutungsvolle Ereignisse in der Umwelt ausgelöst werden, in höheren Hirnregionen lokalisiert wurden. Karl Leonhard formulierte diese Ideen sehr viel detaillierter und ergänzte sie mit weiteren, qualitativ abgegrenzten Emotionen (Leonhard 1993). Allerdings verzichtete er darauf, die hypothetischen neurologischen Grundlagen dieser Gefühle zu bezeichnen, was wohl dem Zeitgeist der 1960er und -70er Jahre und den unzureichenden Methoden dieser Zeit zuzuschreiben ist, die es noch gar nicht erlaubt hätten, entsprechende Hypothesen zu testen. Die zugrunde liegende Idee, nämlich psychische und psychopathologische Phänomenen bestimmten zerebralen Systemen zuzuordnen, wird heute jedoch zunehmend wieder aufgegriffen und konkretisiert (Stahl 2004).

Diese Betrachtungen mögen auf den ersten Blick überflüssig erscheinen, sofern man sich auf den Standpunkt stellt, man könne auch in der Psychopatholgie einfach objektiv erfassen, was der Fall ist; die empirische Forschung könne dann die richtigen Symptome, d. h. jene, die mit den neurobiologischen Verhältnissen in Zusammenhang stehen, nachweisen. Dagegen spricht aber einerseits die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, in denen es nur in wenigen Fällen gelungen ist, die Symptomebene der psychiatrischen Erkrankungen mit der Systemphysiologie des Gehirns in einen direkten Zusammenhang zu bringen. Andererseits lässt sich anhand von theoretischen Überlegungen und von praktischen Beispielen illustrieren, dass eine falsche Definition des Forschungsgegenstandes in eine Sackgasse führen kann. Theoretisch ist aufgrund der bisherigen Ausführungen zu vermuten, dass sich die heute verwendeten diagnostischen Kriterien für schizophrene Psychosen auf komplexe Phänomene stützen, die nicht auf der Funktionsstörung eines bestimmten neurophysiologischen Systems beruhen, sondern die gemeinsame Endstrecke einer Kette von Ereignissen unter bestimmten Umständen sind. Eine Störung an einem beliebigen Punkt der Kette kann dabei zu dem identischen Endergebnis (Der Patient sagt: „Man will mich vergiften“) führen. Der gemeinsame Nenner für die Definition dieses Symptoms, das wir als Wahn bezeichnen, ist nicht seine mögliche Pathophysiologie, sondern seine soziale Bedeutung, nämlich der Verlust eines gemeinsamen Referenzrahmens für die Beurteilung der Realität und das Beharren auf einer einsamen, von der Umgebung nicht geteilten Überzeugung.

Man nehme vereinfachend an, eine Überzeugung beruhe auf der Kette von Ereignissen wie: Wahrnehmung einer Situation – Vergleich mit Erinnerungen – emotionale Beteiligung – Abwägung alternativer Interpretationen – Urteilsbildung – sprachliche Formulierung. Man muss annehmen, dass jeder dieser Schritte andere Systeme und Hirnregionen beansprucht, nach heutigem Wisssen: visuelle Assoziationsareale – Hippokampus – limbisches System – dorsolateraler präfrontaler Kortex und semantische Assoziationsregionen des hinteren Temporallappens – anteriores Cingulum – linkshemisphärische Sprachregionen. Wenn diese Stationen am Prozess der Urteilsbildung beteiligt sind, so kann auch angenommen werden, dass sehr unterschiedliche Kombinationen lokaler Funktionsstörungen zu einem ähnlichen Ergebnis führen können, nämlich zu ungewöhnlichen Überzeugungen und dem Phänomen des Wahns. Wenn dies bei der Schizophrenie der Fall ist und man diese Erkrankung vorwiegend durch das Phänomen des Wahns definiert, wird man bei funktionellen Untersuchungen des Gehirns in den an der Urteilsbildung beteiligten Regionen heterogene Messergebnisse finden. Das Gruppenergebnis entspräche dem vieler Jahrzehnte biologischer Forschung in der Schizophrenie: im Durchschnitt reduzierte Aktivierung in verstreuten Regionen und eine erhöhte Varianz im Vergleich zu den Gesunden. Ohne die gezielte Identifizierung homogener Patientengruppen anhand eines neurobiologisch sinnvollen psychopathologischen Phänomens (z. B. Halluzination oder formale Denkstörungen) oder die in anderen Fächern oft erfolgreiche sorgfältige Beobachtung von Einzelfällen, dürfte es auch weiterhin schwer sein, den pathophysiologischen Mechanismen auf die Spur zu kommen. Wenn man sich, wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war, um eine Optimierung von Prognose und Therapie bemüht und die Forschungsprojekte ohne Bezug auf eine Krankheitstheorie auf diese Parameter abstimmt, so ist das für die genannten Ziele durchaus sinnvoll und Erfolg versprechend. Allerdings führen Anpassungen der Diagnosekriterien an solche Ergebnisse möglicherweise noch weiter in die Sackgasse der psychiatrischen Forschung. Hier lauert nämlich eine Falle, die wieder mit einem Beispiel erläutert werden kann: Wenn man in der Inneren Medizin mit gleicher Logik versucht hätte, die diagnostischen Kriterien bestimmter Krankheiten dahingehend zu optimieren, dass man den Therapieerfolg von Aspirin möglichst gut vorhersagen kann, so hätten wir heute für Kopfschmerzen, Fieber, Gelenkschmerzen und Thrombosen eine einzige Diagnose, die – wie heute bei der Schizophrenie – aufgrund völlig unterschiedlicher Symptommuster (also polythetisch, d. h. die Diagnose kann bei zwei Patienten gestellt werden, die kein einziges Symptom gemeinsam haben) und operational gestellt werden könnte. Gleichzeitig wäre die Suche nach den Ursachen behindert worden, weil man Studienpopulationen mit unterschiedlichster Pathogenese zusammenwürfeln würde. Eine rein atheoretische, pragmatisch orientierte Definition kann zwar die Zuverlässigkeit und den praktischen Nutzen von Diagnosen verbessern, unter bestimmten Umständen aber auch die Grundlagen- und Ursachenforschung behindern. Ohne wissenschaftliche Theorien können keine empirisch überprüfbaren Hypothesen gebildet werden.

Zusammenfassend besteht bei den heutigen internationalen Klassifikationssystemen der Verdacht, dass insbesondere bei den Psychosen ätiopathogenetische „Common final pathways“ diagnosenspezifisch wurden und die Spur zu den Entstehungsbedingungen und den Ursachen verwischen. Die Symptome sind entsprechend der sozialen und psychologischen Relevanz definiert und nicht gemäß möglicher pathophysiologischer Mechanismen. Dies mag für den klinischen Alltagsgebrauch von Vorteil sein. Für den wissenschaftlichen Fortschritt muss allerdings der Versuch unternommen werden, Symptomdefinitionen zu finden, die sich an bekannten hirnphysiologischen Prozessen orientieren.

1.3 Konzept des Buchs

Aufgrund der neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaften erscheint die Zeit reif, die geisteswissenschaftliche und die neurobiologische Dimension der Psychiatrie wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu stellen. Dabei sollte es gelingen, die Errungenschaften der modernen psychiatrischen Diagnostik, nämlich explizit definierte Kriterien und eine möglichst weitreichende Unabhängigkeit der Diagnosen von Theorien, beizubehalten. Das bedeutet einerseits, sich weiterhin auf deskriptive statt wie früher auf explikative Symptomdefinitionen zu stützen und quantitativ-operationale statt qualitativer Diagnosekriterien anzuwenden. Andererseits müssen jedoch Freiräume für neue Formulierungen der Symptome geschaffen werden, um direkte Zusammenhänge mit bekannten Hirnfunktionen herstellen zu können. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass sich die Psychopathologie und ihre geisteswissenschaftlichen Methoden der Hermeneutik, der Phänomenologie und der Deskription mit der neurowissenschaftlichen Ebene und ihren empirischen Methoden fruchtbar ergänzen müssen. Aufgrund des Fehlens wissenschaftlicher Evidenz wurde die Psychopathologie in den vergangengen Jahrzehnten kaum noch weiterentwickelt und vor allem nicht den neuen Erkenntnissen über die höchsten Hirnfunktionen angepasst. Vielmehr sind einerseits ein Trend zur Vereinfachung und andererseits eine zunehmende Bedeutungslosigkeit festzustellen. Wir gehen weiterhin davon aus, dass Hypothesen, die aufgrund einer detaillierten Beobachtung psychopathologischer Phänomene gebildet wurden, nötig sind, um die zugrunde liegenden neurophysiologischen Mechanismen erfolgreich empirisch untersuchen zu können.

Daher wird hier der Versuch unternommen, insbesondere psychotische Symptome in einen sinnvollen Zusammenhang mit bekannten zerebralen Funktionssystemen zu bringen. Es wird jeweils vorausgesetzt, dass es sich bei den Symptomen um rein deskriptive Definitionen handelt und der Zusammenhang mit neurophysiologischen Mechanismen in den meisten Fällen hypothetisch ist. Die meisten Symptome orientieren sich an der klassischen Psychopathologie. Allerdings wird eine neue Systematik angewendet, die sich an den wichtigsten Kommunikationskanälen (→ Kap. 3.1.6) orientiert. Weiterhin werden die neurophysiologisch relevanten Polaritäten berücksichtigt, die subjektiv als Spannung/Entspannung, auf Verhaltensebene als Hemmung/Enthemmung und auf neurophyisiologischer Ebene als Erregung/Ruhe festgestellt werden können.

Mit diesem Ansatz soll die in den letzten Jahren zunehmend eingeforderte Neuformulierung der Psychopathologie, soweit es uns heute möglich erscheint, konkret realisiert werden (Andreasen 1997; Andreasen 2007; Gaebel und Zielasek 2008). Dieses Anliegen ist ehrgeizig und in vielen Punkten unvollständig. Allerdings halten wir diesen Versuch für einen notwendigen Schritt, um die oben genannten Veränderungen im Wechselspiel zwischen Klinik und Neurowissenschaften überhaupt einleiten zu können. In der Arbeit an den Konzepten dieses Buches konnten jedoch verschiedene, direkte Vorteile in Erscheinung treten: Erstens wird auf diese Weise klar, dass die Formulierungen und Definitionen der klassischen Psychopathologie keineswegs selbstverständlich und bereits unteilbare Grundelemente („Atome“) psychischer Erkrankungen abbilden, sondern dass es eine Reihe von unterschiedlichen Definitionen und Betrachtungswinkeln gibt, die im Popperschen Sinne ihre gleichwertige Berechtigung als wissenschaftliche Theorie haben, solange sie nicht widerlegt wurden (Popper 2005).

Alleine die Tatsache, dass ein bestimmtes Set von Symptomen seit Jahrzehnten in Gebrauch ist, heißt nicht, dass alternative oder ergänzende Symptomdefinitionen schlechter sind und a priori abgelehnt werden können. Denn es existieren keine empirischen Untersuchungen, die einen solchen Exklusivanspruch der aktuell gebräuchlichen Definitionen unterstützen. Zudem können geeignete Neuformulierungen dazu beitragen, neue Hypothesen für Forschungsprojekte zu generieren und in diesem Rahmen homogenere Patientenpopulationen zu untersuchen. Und schließlich konnten wir im klinischen Alltag feststellen, dass eine präzisere Feststellung und Formulierung der individuellen Symptome oft zu einer besseren Verständigung mit den Patienten und Angehörigen führt mit dem Resultat eines höheren gegenseitigen Respekts, eines besseren Vertrauensverhältnisses und einer besseren Compliance. Patienten fühlen sich besser verstanden und für das Personal öffnet sich ein wenig die gläserne Wand der psychotischen Kommunikationsstörung. So erhält die Erkrankung klarere Konturen und die Behandlung kann präziser auf die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse abgestimmt werden.

Dieses Buch ist keine lexikalische Sammlung der Psychopathologie und ihrer biologischen Korrelate mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr wird der Versuch einer konzeptionellen, zum Teil programmatischen Neuorientierung der Psychopathologie vorgestellt mit dem Ziel, die Symptome psychischer Erkrankungen konkret mit den heutigen Erkenntnissen über Physiologie und anatomische Ordnung der höchsten Hirnfunktionen in Einklang zu bringen. Die vorgeschlagene Systematik orientiert sich an verschiedenen Schulen psychiatrischer Symptomatologie und am aktuellen Wissen über die Neurobiologie psychischer Phänomene. So soll das Buch in seiner Systematik als ein Experiment verstanden werden, in seinem Inhalt als eine Zusammenstellung aktueller Evidenz und Hypothesen zu systemphysiologischen Korrelaten und Mechanismen psychiatrischer Symptome.

2 Methoden zur Untersuchung von Struktur und Funktion des Gehirns

2.1 Einführung

Der Einblick in die Funktion des Gehirns beim lebenden Menschen war bis vor einigen Jahren etwas Unvorstellbares. Umso mehr haben die Möglichkeiten der detaillierten, nicht-invasiven Darstellung unsere Vorstellungen von Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns grundsätzlich revolutioniert. Die bildgebenden Technologien stellen uns ungeahnte Möglichkeiten bereit, verschiedenste hirnphysiologische Prozesse wie z. B. Durchblutung, Sauerstoffverbrauch, elektrische Aktivität und Neurotransmittersysteme zu untersuchen. Diese Untersuchungen beleuchten sowohl die normale Funktion des gesunden Gehirns als auch die Veränderungen, die bei Patienten mit neuropsychiatrischen Störungen auftreten. Dabei können verschiedene Aspekte der physiologischen Prozesse im Gehirn mit unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Auflösung (→ Abb. 2.1) erfasst werden. Dies hat für die wissenschaftliche Untersuchung psychiatrischer Störungen Bedeutung. Wir unterscheiden dabei dauerhafte Veränderungen, die für eine bestimmte Störung charakteristisch sind (sog. Traits) von vorübergehenden Systemzuständen unterschiedlicher Dauer (sog. States). Letztere können sich im Sekundenbereich verändern, wie z.B. bei Halluzinationen. Aus diesem Grund hängen die Wahl der Technologie und die Interpretation der Messergebnisse vom zeitlichen Verlauf der Störung, der Art der Erkrankung bzw. vom untersuchten Symptom ab.

Des Weiteren werden die Technologien durch praktische Unterschiede charakterisiert (→ Tab. 2.1). Einige sind mit wenig Aufwand und niedrigen Kosten verbunden (z. B. EEG), andere sind sowohl in Bezug auf Betriebskosten als auch auf Infrastruktur (z. B. PET mit Zyklotron) extrem aufwendig. Für psychiatrische Patienten ist die Untersuchungsumgebung von besonderer Bedeutung. MRT-Untersuchungen mit der engen Röhre, der großen Lautstärke und unbequemen Lagerung können für die Patienten belastend sein; Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS)- und EEG-Untersuchungen werden meist ohne Probleme akzeptiert und durchgeführt.

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Abb. 2.1: Räumliche und zeitliche Auflösung von einigen Bildgebungs-Technologien

Tab. 2.1: Charakteristika einiger verschiedenen bildgebenden Verfahren

Investitions-
kosten

Invasivität

Zugang/Verbreitung

Aufwand Infrastruktur

Vielseitigkeit

Patienten-
freundlichkeit

EEG

Niedrig

Niedrig

Hoch

Niedrig

Niedrig

Hoch

MEG

Hoch

Niedrig

Niedrig

Moderat

Niedrig

Moderat

NIRS

Hoch

Niedrig

Niedrig

Niedrig

Niedrig

Hoch

SPECT

Moderat

Hoch

Moderat

Moderat

Moderat

Moderat

PET

Hoch

Hoch

Niedrig

Hoch

Hoch

Moderat

CT

Moderat

Hoch

Hoch

Moderat

Niedrig

Moderat

MRT

Hoch

Niedrig

Moderat

Moderat

Moderat

Niedrig

CT = Computertomografie; EEG = Elektroenzephalogramm; MEG = Magnetenzephalografie; MRT = Kernspintomografie; NIRS = Nah-Infrarot-Spektroskopie; PET = Positronen-Emissions-Tomografie; SPECT = Einzelphotonen-Emissions-Tomografie

Untersuchungen physiologischer Netzwerke finden bei Patienten und Probanden oft unter Versuchsbedingungen mit kognitiven Aufgaben statt. Der Aufbau der Versuchsanordnung beinhaltet dabei sehr unterschiedliche Herausforderungen: Während die Techniken zur Stimulationspräsentation und zur Erfassung der Antworten im MRT unter der Bedingung des starken magnetischen Feldes sehr aufwendig sind, können die Aufgaben bei NIRS- und EEG-Messungen unter weitgehend naturalistischen Bedingungen erfolgen.

Im Folgenden werden die wichtigsten bildgebenden Technologien, die bei der Untersuchung von Struktur und Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen zur Anwendung kommen, vorgestellt. Bei einer Suche in medizinischen Online-Datenbanken findet man mehr als 10000 Veröffentlichungen, die diese Technologien bei der Untersuchung von psychiatrischen Störungen eingesetzt haben. Dies zeigt die immense und weiterhin wachsende Bedeutung, die diese Methoden bei der Suche nach der Pathogenese psychiatrischer Erkrankungen erhalten haben.

2.2 Die Systemphysiologie als Schnittstelle zwischen Hirnfunktion und Psychopathologie