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Einführung

»Emotionen sind so lästig …«

»Aber nicht doch! Emotionen sind unser ganzes Leben!«

»Na toll – man hat einen Kloß im Hals, hat Herzklopfen, feuchte Hände ….«

»Fühlt sich vergnügt, ist verliebt!«

»Ist zornig oder von Neid zerfressen …«

»Man begeistert sich für etwas, ist zärtlich …«

»Bekümmert, deprimiert, niedergeschlagen …«

»Aufgekratzt, voller Energie!«

»Wie gelähmt, unfähig zum kleinsten vernünftigen Gedanken …«

»Inspiriert, voller Intuition!«

Die Debatte könnte noch lange so weitergehen, und beide Gesprächspartner hätten recht.

Was wäre Glück ohne Emotionen? Wollen wir in unserem Streben nach Glück nicht vor allem einen bestimmten emotionalen Zustand erreichen? Und bedeutet Unglück nicht, daß man sich von unangenehmen Emotionen gequält oder niedergedrückt fühlt?

Überhaupt – wie viele Irrtümer unterlaufen uns bei heftigen Gefühlsausbrüchen! Andererseits konnten wir auch viele Irrtümer vermeiden, weil wir auf unsere Emotionen oder die der Mitmenschen geachtet haben.

Emotionen stürzen uns in Verzweiflung oder versetzen uns in Ekstase, sie begleiten oder verursachen unsere Erfolge wie unsere Niederlagen.

Wir können ihre Macht und ihren Einfluß auf unsere Entscheidungen, unsere Beziehungen oder unsere Gesundheit nicht leugnen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht die Frage, ob und wie es uns gelingen kann, mit dieser Macht umzugehen.

Das erste Kapitel heißt »Überall Emotionen …« und berichtet davon, wie Wissenschaftler unterschiedlicher psychologischer Schulen die Emotionen heutzutage deuten. Daraus kann man erste Ratschläge ableiten, mit deren Hilfe man die eigenen Emotionen besser versteht.

Dann widmen wir jeder grundlegenden Emotion ein eigenes Kapitel: dem Zorn, dem Neid, der Freude, der Traurigkeit, dem Schamgefühl, der Eifersucht, der Angst und zu guter Letzt der Liebe. Neben den Basisemotionen behandeln wir auch immer verwandte bzw. ähnliche Emotionen. So werden wir von der Freude auf die gute Laune zu sprechen kommen, auf die Zufriedenheit und schließlich auf das Glücksgefühl.

Mit der Beschreibung jeder Basisemotion möchten wir:

– Ihnen helfen, sie zu erkennen, indem wir all ihre Erscheinungsformen aufzeigen;

– Ihnen ihre Nützlichkeit erklären, vor allem bezogen auf den Umgang mit Ihren Mitmenschen;

– analysieren, auf welche Weise eine Basisemotion Ihr Urteilsvermögen schärfen oder auch eintrüben kann;

– Ihnen Tips geben, wie Sie diese Emotion besser erkennen und erfolgreicher einsetzen können.

Was die Liebe betrifft, so wird zwar sie selbst nicht als Basisemotion angesehen (wir werden noch sehen, weshalb), dennoch haben wir ihr ein eigenes Kapitel gewidmet, da sie eine unerschöpfliche Quelle heftigster Emotionen darstellt.

Kapitel 1

Überall Emotionen …

»Aber hör mal«, fuhr er in verändertem Ton fort, »du siehst ja trübe aus! Was du brauchst, ist ein Gramm Soma.« Benito griff in die rechte Hosentasche und zog ein Röhrchen hervor. Ein Kubikzentimeter davon, und zehn Gefühle sind geheilt …

In seinem Roman Schöne neue Welt beschreibt Aldous Huxley nicht nur ein Universum der Klone und Retortenbabys, sondern auch eine Welt, aus der man jede unerfreuliche oder zu heftige Emotion zu verbannen versucht, sogar die Liebe.

Sollte es dennoch passieren, daß sich jemand ein wenig aufregt oder sich verbittert, frustriert, eifersüchtig oder unbestimmt verliebt fühlt – selbst in dieser perfekten Welt steigen die guten alten Emotionen der Menschen hin und wieder an die Oberfläche –, gibt es für jedermann eine einfache Lösung: Soma ist eine Droge, die einen sogleich in gute Stimmung versetzt, und das ohne irgendwelche Nebenwirkungen. Nun kann man die Versammlung weiterhin effizient leiten oder den Hubschrauber sicher steuern.

Wenn man Ihnen Soma anböte: Wären Sie bereit, eine Kapsel zu schlucken, um sich all Ihrer störenden Emotionen zu entledigen? Die Antwort hängt natürlich davon ab, welches Verhältnis Sie zu Ihren Emotionen haben. Betrachten Sie Ihre Gefühle als Feinde, die Ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen? Oder eher als Verbündete, die Ihnen Energie spenden?

Wenn man Emotionen im Überfluß hat

Was meinen Sie – sollte Anne es mal mit Soma probieren?

Ich habe schon immer zu starke Empfindungen gehabt. Zum Beispiel schrecke ich sehr leicht zusammen, was die anderen schon ausgenutzt haben, als ich noch ein kleines Mädchen war. Meine Geschwister machten sich einen Spaß daraus, mich zu erschrecken, denn sie wollten sehen, wie ich zusammenzucke oder losschreie. In der Schule bekam ich schrecklichen Bammel, wenn ich an die Tafel mußte. Dabei war ich eher eine gute Schülerin (meine Ängstlichkeit trieb mich zu fleißigem Lernen an). In meinen Freundschaften hat mir diese Überempfindlichkeit schon als Kind Kummer bereitet: Der kleinste Spott verletzte mich, und sobald jemand auch nur ein bißchen auf Abstand ging, schien es mir gleich, als würde er mich für immer von sich stoßen. Den kleinen Spielen und Intrigen jener Jahre fühlte ich mich schutzlos ausgeliefert. Zum Glück konnte ich trotzdem ein paar Freundinnen gewinnen. Sie können sich vorstellen, wie es später mit meinem Liebesleben aussah: Ich kann nicht anders, als mich schon im ersten Augenblick einer Beziehung Hals über Kopf zu verlieben. Dann lebe ich ständig in der Furcht, verlassen zu werden; mein Herz krampft sich zusammen, sobald der Mann, den ich liebe, mit einer anderen spricht, und die Augenblicke von Ekstase sind bei mir wie ein paar Bergspitzen in einer Landschaft voll tiefer Schluchten. Meine Freundinnen meinen, ich hätte Glück, so leidenschaftlich zu sein – wenigstens würde ich ein intensives Leben führen. Gewiß haben sie auch recht, aber manchmal finde ich, daß ich einfach zuviel leide. Außerdem fürchte ich mich nicht nur vor meiner Ängstlichkeit, sondern muß mich auch vor meinen Zornesausbrüchen in acht nehmen. Wenn ich sehr gestreßt bin, kann ich nämlich wegen einer Lappalie an die Decke gehen, was ich hinterher natürlich bedaure. Sogar in glücklichen Augenblicken fällt mir dieser Emotionsüberschwang zur Last: Mir kommen viel zu schnell die Tränen, und ich muß dauernd aufpassen, daß ich in einem Augenblick von Zärtlichkeit oder bei einer Wiederbegegnung nicht zu heulen anfange! Es reicht schon, daß ich von einem Film spreche, der mich bewegt hat – gleich werden meine Augen feucht. Deshalb meide ich auch eine Menge Gesprächsthemen, und vielleicht macht das ein Gespräch mit mir nicht so interessant?

Anne ist ein gutes Beispiel für ein sogenanntes »hypersensibles Temperament«.1 In ihr toben alle möglichen Emotionen. Bei anderen Personen dagegen dominiert eine bestimmte Leitemotion die ganze Persönlichkeit: Sie gelten dann bei ihren Mitmenschen oder auch im eigenen Urteil als ängstliche, zornige, eifersüchtige, traurige oder verschämte Menschen. Das bringt sie manchmal dazu, bei Ärzten oder Psychologen Hilfe zu suchen.

Wäre für all jene, die von einem Übermaß an Emotionen betroffen sind, ein bißchen Soma nicht nützlich? Oder sogar für uns alle, denn hat nicht jeder schon einmal an einer Emotion gelitten, die er nicht unter Kontrolle bekam, sei es nun Angst, Zorn, Schamgefühl, Traurigkeit oder Eifersucht?

Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen ein Mittel anbieten, welches diese unkontrollierbaren Emotionen ausschaltet. Wie sähe Ihr Leben dann aus? Führen Sie sich zunächst die unmittelbaren Vorteile vor Augen:

– Schluß mit dem Bammel, wenn man vor Publikum sprechen oder eine Liebeserklärung machen muß! Sie gingen diese Situationen mit heiterer Miene an und mit einer Seelenruhe, die Ihre Mitmenschen in Erstaunen versetzen würde.

– Nie wieder gäbe es all die Zornesausbrüche, in denen Sie sich immer zu Worten hinreißen lassen, die nicht wiedergutzumachen sind, und es wäre Schluß mit jener Wut, die in Ihnen frißt.

– Kein Mißerfolg könnte Sie erschüttern: Sie würden nie von Traurigkeit oder Mutlosigkeit bedrückt werden.

– Neidlos könnten Sie die Erfolge der anderen mit ansehen und eine Partnerschaftsbeziehung ohne Eifersucht durchhalten.

– Keine Verlegenheit mehr nach einem Tritt ins Fettnäpfchen, kein Schamgefühl wegen Ihrer sichtbaren oder versteckten Schwächen.

– Herzklopfen, Tränen, Bauchweh, Kopfschmerzen, Erröten, Erblassen, feuchte oder zitternde Hände? Alle körperlichen Äußerungen von Emotionen würden das Weite suchen.

– Auch würden Sie sich nicht mehr von Liebe oder Freude blenden lassen; künftig würden Ihnen überhaupt keine Irrtümer mehr wegen heftiger Gefühlswallungen unterlaufen.

Wären Sie nach der Auflistung all dieser Wohltaten bereit, das Medikament zu schlucken? Überlegen Sie es sich gut! Käme es nämlich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörden in Umlauf, würde in der Rubrik »Risiken und Nebenwirkungen bei längerem Gebrauch« wahrscheinlich folgendes stehen:

– Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, Untätigkeit;

– Verhaltensweisen, die für einen selbst oder die Mitmenschen riskant sind;

– Störungen des Gedächtnisses und der Urteilsfähigkeit;

– Beziehungsschwierigkeiten, unangemessenes Verhalten in Gesellschaft.

Nun wirkt dieses Medikament der Zukunft schon weniger sympathisch. Aber wie können wir so sicher sein, daß es diese Nebenwirkungen geben würde?

Wenn es an Emotionen mangelt

Früher war Eliott ein guter Ehemann und Familienvater. Seine Berufskollegen schätzten ihn als Geschäftsmann. Heute ist er nicht mehr derselbe. Nach wie vor ist er höflich und lächelt, selbst wenn man ihm unangenehme Fragen stellt. Aber dieses ewige Lächeln verwirrt die anderen ein bißchen, denn Eliotts Leben ist zur wahren Katastrophe geworden. Seine Frau hat ihn verlassen, und in seiner Firma hatte man keine Verwendung mehr für ihn. Bei Intelligenz- und Gedächtnistests erzielt er weiterhin exzellente Resultate, aber er setzt sich nicht mehr spontan an die Arbeit – man muß ihn dazu drängen. Und hat er sich einmal an eine Aufgabe gemacht, zum Beispiel an die Lektüre und das Ordnen von Akten, so scheint er nicht mehr imstande zu sein, sich die Arbeit einzuteilen: Es kommt vor, daß er plötzlich innehält, um den restlichen Tag mit einer einzigen Akte zuzubringen, oder er ändert plötzlich die Einordnungskriterien, ohne an die schon getane Arbeit zu denken. Bei alledem achtet er nicht auf die verstreichende Zeit. Im Alltag knüpft Eliott zwar schnell Kontakte, geht dabei aber wahllos vor, so daß er schon an Leute geraten ist, die ihn ausnutzten. Macht man ihn auf all diese Probleme aufmerksam, streitet Eliott sie nicht ab, doch verläßt die lächelnde Seelenruhe ihn auch jetzt nicht. Ihn quält kein Zuviel an Emotionen – er kann gar keine mehr empfinden. Ausgelöst wurde dieser Zustand nicht etwa durch einen Mißbrauch von Soma, sondern durch eine winzige Verletzung der vorderen Hirnrinde. Eliott gehört zu den Patienten, die der international renommierte Neurologe Antonio Damasio in seinem Buch Descartes’ Irrtum beschrieben hat.2 Infolge lokaler Schädigungen des Nervensystems haben diese bedauernswerten Menschen die Fähigkeit verloren, Emotionen zu verspüren, während ihre übrigen Fähigkeiten voll erhalten geblieben sind. Die meisten dieser Menschen sind aufgrund ihrer bemerkenswert gleichförmigen Stimmung für andere eine angenehme Gesellschaft. Es gelingt ihnen jedoch nicht mehr, einen Zeitplan aufzustellen oder einzuhalten; sie können nicht mehr sagen, was sie persönlich bevorzugen, können nicht mehr zwischen verschiedenen Lösungen für ein einfaches Problem auswählen und haben jegliche Motivation verloren. Sie haben entweder das Interesse an anderen Menschen eingebüßt oder zeigen sich übertrieben kumpelhaft oder unternehmungslustig, wobei die Resultate in beiden Fällen von Nachteil sind. Solchen Menschen fällt es nämlich auch schwer, den Gefühlszustand anderer Leute zu erkennen, wodurch ihnen häufig Taktlosigkeiten oder Fehleinschätzungen unterlaufen.

Bei diesen Patienten ist extrem und dauerhaft ausgeprägt, was uns allen von Zeit zu Zeit passieren kann: Wir irren uns, weil wir unsere eigenen Emotionen mißachtet haben oder die der anderen nicht begreifen konnten. Damasio schlußfolgert, daß unsere Fähigkeit, Emotionen zu verspüren und auszudrücken, einen Teil unserer Vernunft ausmache, und zwar im Guten wie im Schlimmen. Auf Emotionen können wir also nicht verzichten, auch nicht auf die unangenehmen!

Was ist nun aber eine Emotion?

Ein erster Definitionsversuch

Den Begriff »Emotion« zu definieren, ist nicht gerade einfach. Als wir dieses Buch zu schreiben begannen, haben wir die Frage nach der Definition oft im Bekanntenkreis gestellt. Die meisten Befragten umgingen daraufhin die Schwierigkeit, indem sie die einzelnen Emotionen einfach aufzählten. Sie waren sich schnell darin einig, daß Freude eine Emotion ist, ganz sicher auch Traurigkeit, Angst und Zorn … Aber wie sieht es mit der Liebe aus? Ist sie eine Emotion? Das Schamgefühl? Überdruß und Langeweile? Eifersucht? Einige versuchten, eine Emotion zu definieren, indem sie sie von einem Gefühl, einer Stimmung oder einer Leidenschaft abgrenzten.

Eines der frühesten Wörterbücher der französischen Sprache, Antoine Furetières Dictionnaire (1690)3, gibt uns folgende Auskunft:

EMOTION: Außergewöhnliche Bewegung, die Körper und Geist aufrührt und das Temperament oder das Gleichgewicht des Gemütes stört. Das Fieber beginnt und endet mit einer kleinen Emotion des Pulses. Bei einer heftigen Anstrengung verspürt man im ganzen Körper eine Emotion. Ein Liebhaber fühlt eine Emotion beim Anblick seiner Geliebten, ein Feigling beim Anblick seines Feindes.

Wir haben diese so alte Definition aufgenommen, weil sie paradoxerweise die wesentlichen Merkmale enthält, mit denen die moderne Wissenschaft Emotionen definiert:

– Eine Emotion ist eine »Bewegung«, das heißt eine Veränderung im Vergleich zu einem unbewegten Ausgangszustand. Eben noch zeigte sich in uns keine Gefühlsregung, und plötzlich ist sie da.

– Eine Emotion ist körperlich – sie kann sich am ganzen Leib äußern. Unser Herz schlägt schneller oder manchmal auch langsamer, wie wir noch sehen werden. Die modernen Wörterbücher berücksichtigen vor allem diese physiologische Komponente der Emotionen.

– Die Emotion bringt auch den Geist in Wallung, sie läßt uns anders denken als zuvor. Die Forscher nennen das die kognitive Komponente der Emotion. Sie trübt den Verstand oder schärft ihn manchmal auch.

– Die Emotion ist eine Reaktion auf ein Ereignis. Furetière führt als Beispiel die Emotion an, die uns bei der Begegnung mit der geliebten Frau oder dem Feind überfällt; es gibt noch jede Menge anderer Situationen, von denen unsere Emotionen ausgelöst werden können.

– Selbst wenn die Definition es nicht ausdrücklich sagt, darf man annehmen, daß die Emotion uns im ersten Fall dazu bringt, die Nähe der Geliebten zu suchen, und daß sie uns im anderen Fall den Feind bekämpfen bzw. uns vor ihm fliehen läßt. Eine Emotion bereitet uns also aufs Handeln vor, sie drängt uns oft geradezu zur Aktion. Hierin liegt die Verhaltenskomponente der Emotion.

Zusammenfassend kann man sagen, daß eine Emotion eine plötzliche Reaktion unseres gesamten Organismus ist, die physiologische (unseren Körper betreffend), kognitive (unseren Geist betreffend) und Verhaltenskomponenten (unser Handeln betreffend) enthält.

Diese Definition verrät uns jedoch nichts über die Zahl der Emotionen. Wie viele mag es geben? Sechs, wie Charles Darwin im Jahre 1872 vermutete? Sechzehn, wie der zeitgenössische Forscher Paul Ekman4 vorschlägt? Unendlich viele, wie andere denken? Und variiert die Anzahl der Emotionen nicht abhängig von der Gesellschaft, in die man hineingeboren wurde? Spürt man in Paris dieselben Emotionen wie in Kuala Lumpur, im Packeis dieselben wie im Amazonasdschungel?

Bevor wir uns an eine Auflistung der Emotionen machen, müssen wir die vier großen Theorien anschneiden, die es zu ihrer Erklärung gibt.

Vier Sichtweisen

Alle vier Theorien haben ihre Vorläufer und ihre zeitgenössischen Verfechter und bilden die Basis für spezielle praktische Anwendungen, die uns helfen können, mit den eigenen Emotionen besser zu leben. Wir wollen diese Sichtweisen ausgehend von ihrer jeweiligen Grundhypothese untersuchen.

Erste Hypothese:

»Wir verspüren Emotionen, weil es in unseren Genen steckt.«

Diesen Standpunkt vertreten die modernen Nachfolger Darwins, die Evolutionspsychologen. Wenn wir Zorn empfinden, Freude, Traurigkeit, Angst und andere Emotionen, dann weil uns diese Emotionen (ganz wie unsere Fähigkeit zum aufrechten Gang oder zum Ergreifen von Gegenständen) zum besseren Überleben und zur gelungeneren Fortpflanzung im natürlichen Milieu verholfen haben. Sie sind im Laufe der Entwicklungsgeschichte unserer Art als richtiggehende »mentale Organe« herausgebildet worden und werden auch weiterhin durch Vererbung übertragen. Hier einige Argumente der Evolutionspsychologen:

– Emotionen sind lebensrettend: Basisemotionen werden in Situationen ausgelöst, in denen für uns eine Menge auf dem Spiel steht, sei es für unser Überleben oder unseren Status. Angst hilft uns zum Beispiel, einer Gefahr zu entfliehen, mit Hilfe des Zorns können wir über Rivalen triumphieren, und die sinnliche Begierde treibt uns dazu, einen Partner zu suchen, mit dem wir uns fortpflanzen. Emotionen waren für das Überleben und die Reproduktion unserer Vorfahren förderlich, was auch ihre Weitergabe über alle Generationen erklären würde.

– Auch unsere tierischen Verwandten haben Emotionen: Bei unseren nächsten Verwandten, den Affen, stößt man auf Verhaltensweisen, die sehr bezeichnend für bestimmte Emotionen sind. Primatologen haben in zahlreichen Beobachtungen Indizien dafür gefunden, daß es bei unseren engsten Verwandten im Tierreich, etwa den Schimpansen, so etwas wie ein intensives Gefühlsleben gibt.5 Ihre Bündnisse, Konflikte, Rivalitäten und auch Versöhnungen geben ein verblüffendes Spiegelbild unserer alltäglichen Emotionen ab.

– Schon ein Baby verspürt Emotionen: Emotionale Reaktionen wie Zorn oder Angst erscheinen beim Menschen schon im zartesten Alter (die Freude mit drei Monaten, Zorn im Alter zwischen vier und sechs Monaten), was für eine »Programmierung« dieser Emotionen im Erbgut des Babys spricht. Dieses Erbgut ist aber das Ergebnis vieler Selektionen im Laufe der Entwicklungsgeschichte.

CHARLES DARWIN (1809–1882)

Anders als allgemein angenommen, hat nicht Charles Darwin, der englische Naturforscher der viktorianischen Ära, die Evolution der Arten entdeckt: Der Franzose Lamarck hatte dieses Phänomen bereits ein Jahr vor Darwins Geburt geistig vorweggenommen.6

Wenn Darwin schon nicht die Evolution entdeckt hat, dann doch zumindest ihren Wirkmechanismus, die natürliche Auslese. Demnach führen spontane Mutationen dazu, daß die Tiere ein und derselben Art unablässig in Größe, Gewicht, Aussehen und Stoffwechseleigentümlichkeiten variieren. In einer bestimmten Umgebung kommen manche dieser erblichen Mutationen dem Überleben oder der Fortpflanzung des Individuums zugute. Individuen mit dieser Mutation werden also mehr Nachkommen hinterlassen, und die Nachkommen dieser Nachkommen werden am Ende einer langen Entwicklung die gesamte Art repräsentieren.

Als zum Beispiel in der letzten Eiszeit die Eismassen immer mehr vorrückten, konnten sich am Ende die Wollmammuts als einzige Vertreter ihrer Gattung behaupten. Viele aufeinanderfolgende Mutationen hatten ihr Fell dichter werden lassen, wodurch sich Wollmammuts besser an das sich abkühlende Klima anpassen konnten. Die Stämme von Individuen, bei denen diese Mutation ausgeblieben oder schwächer ausgefallen war, starben hingegen aus. Darwin kam auf die Idee, daß die Natur unwillkürlich und in langen Zeiträumen eine ähnliche Arbeit leiste wie die Tier- oder Pflanzenzüchter bei ihren Versuchen, eine Art nach bestimmten Kriterien zu selektieren. Das soll nicht heißen, daß Darwin die natürliche Auslese für moralisch gehalten hätte – er tat es ebensowenig, wie ein Spezialist für Alterungsprozesse sich daran erfreut, uns (und sich selber) hinfällig werden zu sehen.

Die Natur ist nicht moralisch, die natürliche Auslese noch weniger, aber das bedeutet nicht, daß die Erforscher der natürlichen Auslese unmoralisch wären.

Zur Erläuterung der Evolutionstheorien werden wir oft auf die Lebensweise der Jäger und Sammler zurückkommen, und das mit einer Nachdrücklichkeit, die Sie vielleicht überraschen wird. Man muß sich vor Augen halten, daß wir, wie Jared Diamond erklärt, acht Millionen Jahre lang Primaten sowie Jäger und Sammler gewesen sind.7 Zum Homo sapiens wurden wir erst vor 100000 Jahren, und mit dem Ackerbau begannen wir sogar erst vor 10000 Jahren, und das auch nur in bestimmten Weltgegenden. Das Leben als Jäger und Sammler macht also 99 % unserer Evolutionsgeschichte aus, und viele unserer physischen und psychischen Merkmale sind Anpassungen an die Erfordernisse dieser heute beinahe verschwundenen Lebensweise.

Zweite Hypothese:

»Wir verspüren Emotionen,

weil unser Körper etwas spürt.«

Der amerikanische Psychologe und Philosoph William James (1842–1910) ist der Vorläufer einer Theorie, die man mit dem Schlagwort »Emotion ist Empfindung« charakterisieren könnte. Wir neigen zu der Ansicht, daß wir zittern, weil wir Angst haben, oder daß wir weinen, weil wir traurig sind. Nach James funktioniere es genau umgekehrt: Wenn wir spüren, daß wir zittern, bekommen wir Angst, und wenn wir weinen, macht uns das traurig.

Auf den ersten Blick widerspricht diese Hypothese dem gesunden Menschenverstand, aber die Forschung hat viele Beobachtungen zusammengetragen, die solche Annahmen untermauern. Es gibt zum Beispiel Situationen, in denen unsere körperliche Reaktion schon ausgelöst wird, ehe sich die Emotion im ganzen einstellt. So verhält es sich etwa, wenn wir beim Autofahren um Haaresbreite einer Kollision entgehen. Häufig verspüren wir die Angst nach dem Ereignis, während unser Körper innerhalb von Sekundenbruchteilen mit einem Adrenalinausstoß und einer Beschleunigung der Herzfrequenz reagiert hat.

Im übrigen wären unsere Emotionen inhaltsleer, wenn es nicht die Empfindungen gäbe, die von unserem Körper herrühren. Antonio Damasio spricht auch von somatischen Markern, die unseren Geist über das Vorhandensein einer Emotion informieren und uns helfen, schneller zu reagieren. Die unangenehmen körperlichen Empfindungen, welche mit der Angst verknüpft sind, werden uns zum Beispiel helfen, einer Gefahrensituation schnell auszuweichen. Patienten, die solche Marker nicht mehr wahrnehmen können, werden folglich keine Angst haben, was ein Vorteil sein kann, aber auch etwas sehr Riskantes.

Die Miene macht die Stimmung

Eine der frappierendsten Illustrationen dieser Theorie wird vom sogenannten facial feed-back geliefert. Mimt man absichtlich den Gesichtsausdruck, der für eine bestimmte Emotion typisch ist, werden die entsprechenden physiologischen Reaktionen und sogar die entsprechende Stimmung ausgelöst.8 Die Yogi, die empfehlen, immer ein leichtes Lächeln auf den Lippen zu tragen, haben also recht: Lächeln bringt bessere Laune! Es handelt sich allerdings um einen bescheidenen und vorübergehenden Einfluß: Große Traurigkeit oder gar Depressionen kann man nicht mit einem einfältig-seligen Lächeln behandeln.

DARWIN, MARX UND FREUD

In einem Brief an Engels schrieb Marx zu Darwins Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl: »Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält.«9

Auch Freud hat Darwin gelesen und kommt mehrfach auf dessen Gedanken zurück, 10 vor allem in Totem und Tabu, wo er Darwins Beschreibung der Urhorde ausführlich zitiert. Das Männchen habe damals eifersüchtig darüber gewacht, daß sich seine Nachkommen nicht an die Weibchen heranmachen konnten. Das führte diese Nachkommen dazu, den Vater zu töten. Später gingen sie dazu über, ein Gesetz zu schaffen. Dies bezeichnet nach Freud den Anfang der Kultur. Über Parallelen oder Unterschiede in den Ansichten Darwins und Freuds zur menschlichen Natur könnte man ein ganzes Buch schreiben. Besonders in Massenpsychologie und Ich-Analyse11 wird auf richtiggehend evolutionistische Weise beschrieben, wie sich die Veranlagung zum Altruismus herausbildete und durch Vererbung weitergetragen wurde.

Trotz der Distanz, die heute zwischen den Schülern Freuds und Darwins besteht, haben beide Wissenschaftler einst aus ähnlichen Gründen die heftigste Ablehnung hervorgerufen: Sie enthüllten, daß wir ohne unseren Willen von Mechanismen bewegt werden, die wir aus einer fernen Vergangenheit geerbt haben. Dabei halten wir uns doch so gerne für freie und vernunftgeleitete Geschöpfe …

Wir werden noch sehen, warum dieses animalische Erbe auch eine Bereicherung für uns ist: Der darwinistische Standpunkt ruft uns ins Bewußtsein, daß unsere Emotionen seit jeher nützlich gewesen sind und wir ihnen deshalb große Aufmerksamkeit widmen sollten.

Dritte Hypothese:

»Wir verspüren Emotionen, weil wir denken.«

Wenn ich einem Freund etwas auf den Anrufbeantworter gesprochen habe, und er ruft nicht zurück, wird meine Emotion davon abhängen, ob ich denke, daß er mich nicht mehr sehen will (Traurigkeit), daß er gerade bis über beide Ohren verliebt ist (ich freue mich für ihn oder bin neidisch) oder daß ihm vielleicht etwas zugestoßen ist (Sorge).

Die Hypothese »Wir verspüren Emotionen, weil wir denken« ist sicher am beruhigendsten für uns, da wir uns gern als vernunftgeleitete Wesen betrachten. Die Anhänger dieser sogenannten kognitiven Herangehensweise glauben, daß wir an alle Ereignisse unaufhörlich und mit großer Geschwindigkeit ein Entscheidungsraster anlegen: erfreulich/ unerfreulich; vorhergesehen/unvorhergesehen; kontrollierbar/unkontrollierbar; von uns verursacht/von anderen verursacht. Je nach der Kombination, die man dabei erhält, taucht die eine oder die andere Emotion auf. Die Mischung »unvorhergesehen-unerfreulich-kontrollierbar-von anderen verursacht« würde zum Beispiel unseren Zorn auslösen, die Kombination »vorhergesehen-unerfreulich-kontrollierbar« unsere Angst.

Diese Theorien kamen in verschiedenen Formen von Psychotherapien zur Anwendung, besonders bei den kognitiven Therapien12, die dem Patienten helfen sollen, anders zu denken. Ein depressiver Patient neigt zum Beispiel dazu, nachteilige Ereignisse als »unkontrollierbar« und »von mir selbst verursacht« einzuordnen. Die Analyse seiner Denkmechanismen kann ihm helfen, auf weniger stereotype Weise zu denken und Emotionen wie Traurigkeit und Angst zu dämpfen.

Vordenker einer solchen Herangehensweise finden sich unter den Philosophen, besonders unter den antiken Stoikern. Epiktet schrieb zum Beispiel: »Nicht die Ereignisse sind es, welche die Menschen betrüben, sondern ihre Vorstellungen über diese Ereignisse.«

Vierte Hypothese:

»Wir verspüren Emotionen, weil sie ein Teil unserer Kultur sind.«

Wenn wir nach einer Niederlage unseres Lieblingsvereins Traurigkeit verspüren oder wegen einer ausgebliebenen Gehaltserhöhung wütend werden, liegt das daran, daß wir diese emotionalen Rollen, die bestimmten Situationen unserer Gesellschaft angepaßt sind, erlernt haben. Niemand in unserer Umgebung ist erstaunt, wenn wir solche Emotionen verspüren. Man würde sich auch nicht wundern, daß wir sie ausdrücken, indem wir mit niedergeschlagener beziehungsweise empörter Miene ins Büro kommen. Unsere Mitmenschen haben dieselben Rollen erlernt und erkennen sie leicht wieder.

Für die Verfechter der bisweilen als kulturrelativistisch bezeichneten Methode ist eine Emotion zunächst einmal eine soziale Rolle, die wir in unserer Kindheit und Jugend in einer bestimmten Gesellschaftsform erlernt haben. Daraus würde folgen, daß Personen, die in anderen Kulturen groß geworden sind, Emotionen auch anders verspüren und ausdrücken müßten. Von einem Kontinent zum andern wären die menschlichen Emotionen ebenso breit gefächert wie die Sprachen der verschiedenen Völker. Spitzt man diese Hypothese extrem zu, könnte man sich vorstellen, daß gewisse ethnische Gruppen manche unserer Emotionen wie etwa sexuelle Eifersucht oder Traurigkeit gar nicht kennen. Wir werden später sehen, daß gründliche Forschungen diese Hoffnung, einen »guten Wilden« zu entdecken, zunichte gemacht haben.

Der berühmte kulturrelativistische Psychologe James Averill13 wies darauf hin, daß man uns dank der sozialen Rolle von Emotionen gewisse Verhaltensweisen durchgehen läßt, die ansonsten inakzeptabel wären: Man verzeiht uns ein böses Wort schneller, wenn es im Zorn ausgesprochen wurde, und wenn wir unsere Verliebtheit gestehen, toleriert man ebenfalls bestimmte Verhaltensweisen (wir langweilen unsere Freunde, indem wir jedes Auf und Ab unserer Liebesbeziehung hundertmal herbeten, oder vernachlässigen sie einfach; wir tanzen vor Freude oder fangen an zu schluchzen). In anderen Gesellschaften würde ein solches Verhalten womöglich als schockierend oder unverständlich aufgefaßt werden.

Das kulturrelativistische Verständnis von Emotionen erinnert uns daran, daß wir stets auf das soziale Umfeld achten müssen, ehe wir eine Emotion ausdrücken oder die Emotionen anderer interpretieren. Während man bei den einen zum Beispiel Aufmerksamkeit und Sympathie hervorruft, wenn man in der Öffentlichkeit weint, gilt das anderswo als Zeichen mangelnder Männlichkeit oder self-control.

AMERIKANER UND JAPANER

Ein unter Psychologen berühmtes Experiment14 illustriert die kulturellen Unterschiede beim Ausdrücken von Emotionen: Man führte amerikanischen und japanischen Studenten einen Film vor, der einen schweren chirurgischen Eingriff zeigt. Die Studenten beider Länder drückten mit ihrer Mimik auf ähnliche Weise Angst- und Ekelgefühle aus. Dann wiederholte man das Experiment mit zwei anderen Studentengruppen, diesmal aber im Beisein eines älteren Professors. Die Mimik der amerikanischen Studenten war genauso expressiv wie im ersten Versuch, während die japanischen Studenten eine ungerührte Miene aufsetzten oder sogar lächelten …

Anschauliche Beispiele für die kulturrelativistische Methode lassen sich in den Schriften Margaret Meads finden. In einem berühmten Buch aus dem Jahre 1928 beschrieb sie das Leben verschiedener ozeanischer Volksstämme und leitete aus ihren Studien Schlußfolgerungen über den Einfluß der Kultur auf unsere psychischen Mechanismen, besonders die Sexualbräuche und Neurosen, ab.15

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Moderne Beobachtungen und die Fortschritte in den anderen drei Theorien haben die langjährige Vormachtstellung der kulturrelativistischen Methode in Frage gestellt. Wir werden noch sehen, daß es immer schwieriger wird, die Hypothese von der kulturellen Bedingtheit unserer Emotionen aufrechtzuerhalten.

Die beste aller Theorien

Jeder hat gewonnen, und jeder verdient einen Preis.

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Man könnte annehmen, daß diese vier Emotionstheorien einander widersprechen und ihre jeweiligen Verfechter in strenger Abgrenzung voneinander forschen. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Sie treffen sich regelmäßig auf Kolloquien und teilen in Sammelbänden sogar die einzelnen Kapitel untereinander auf, wodurch jeder die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt einzubringen.

Jede der vier Theorien unterscheidet sich von den übrigen durch die Bedeutung, die sie einem besonderen Aspekt der Emotionen beimißt; damit leugnet sie freilich nicht, daß auch die anderen Sichtweisen von Interesse sind.

So geht selbst der eingefleischteste Evolutionspsychologe davon aus, daß emotionsauslösende Situationen und die Regeln für das Ausdrücken der Emotionen von Kultur zu Kultur variieren können. Umgekehrt weisen die modernen Kulturrelativisten die Vorstellung, daß es weltweit verbreitete Emotionen gibt, nicht von sich. Die Kognitivisten räumen ein, daß bestimmte emotionale Reaktionen unabhängig vom Denken ausgelöst werden, und die Vertreter der physiologischen Betrachtungsweise erkennen gern an, daß unsere Emotionen in manchen komplexen Situationen zunächst einmal davon abhängen, was wir denken.

Im vorliegenden Buch wollen wir uns bemühen, zu jeder Emotion den Standpunkt der vier verschiedenen Denkansätze zu berücksichtigen. Dennoch werden wir der Evolutionstheorie, die von allen vieren am spätesten entstand, manchmal etwas mehr Aufmerksamkeit widmen, denn ihre Denkweise ist weniger bekannt und erfordert oftmals mehr Erläuterungen oder ein paar Vorsichtsmaßregeln beim Gebrauch.

Basisemotionen

Auch wenn die Farben des Himmels oder einer Landschaft unendlich variieren, weiß man seit langem, daß sich in jedem Farbton drei Grundfarben mischen – Rot, Blau und Gelb. Kann man von unserer Gefühlslandschaft dasselbe behaupten? Gibt es so etwas wie Grundemotionen, deren jeweilige Verbindung die subtilen Nuancen unserer Stimmung hervorruft? Die meisten Forscher gehen von dieser Annahme aus und versuchen, diese Basisemotionen zu definieren.

Wenn es solche Emotionen gibt, muß es auch möglich sein, sie aufzulisten. Charles Darwin hielt im Jahre 1872 Freude, Überraschung, Traurigkeit, Angst, Ekel und Zorn für fundamental. Daher nennt man diese Emotionen bisweilen Darwins »big six«, nicht zu verwechseln mit Descartes’ »sechs einfachen und ursprünglichen Leidenschaften«: Bewunderung, Liebe, Haß, sinnliche Begierde, Freude und Traurigkeit.

Paul Ekman schlägt vor, die Liste auf sechzehn Emotionen zu erweitern; hinzukommen sollen seiner Ansicht nach Vergnügen, Verachtung, Zufriedenheit, Verlegenheit, Stimulation, Schuldgefühl, Stolz, Genugtuung, Sinnenlust und Scham. Er räumt jedoch ein, daß nicht alle diese Emotionen die erforderlichen Kriterien erfüllen: Gibt es zum Beispiel einen universell verbreiteten Gesichtsausdruck für Verachtung? So geht die Forschung weiter …

In unserem Buch versuchen wir, alle genannten Emotionen zu behandeln. Den Schwerpunkt legen wir aber auf solche, die unserer Ansicht nach einen prägenden Einfluß auf unser Wohlbefinden und die Anpassung an unsere Lebenswelt ausüben.

WORAN ERKENNT MAN EINE BASISEMOTION?

Um den Titel »fundamental« oder »elementar« zu verdienen, muß eine Emotion verschiedenen Kriterien genügen.16

– Sie muß abrupt einsetzen: Eine Emotion ist immer eine Reaktion auf ein Ereignis oder einen Gedanken.

– Sie muß von kurzer Dauer sein: Ein langanhaltender Zustand von Traurigkeit wird schon nicht mehr als Emotion betrachtet, sondern eher als ein Gefühl oder eine Stimmung.

– Sie muß sich von anderen Emotionen unterscheiden, und zwar so klar, wie sich Rot von Blau absetzt. Zorn und Angst können miteinander vermischt auftreten, sind aber zwei deutlich unterschiedene Emotionen. Angst, Bangigkeit und Beklemmung hingegen gehören zur selben Familie.

– Sie muß schon bei Babys vorkommen und sich auch in diesem Alter deutlich von den übrigen Emotionen unterscheiden.

– Sie muß in einer für sie typischen Weise auf den Körper wirken: Jede fundamentale Emotion muß sich in charakteristischen körperlichen Reaktionen äußern. So führen Angst und Zorn beide dazu, daß das Herz schneller schlägt. Aber im Zorn steigt die Oberflächentemperatur der Finger, während sie bei Angst sinkt. Dank moderner Untersuchungsgeräte wie dem Positronen-Emissions-Tomographen oder dem Kernspintomographen kann man diese Unterschiede sogar im Gehirn beobachten. Bei Traurigkeit werden zum Beispiel andere Hirnzonen aktiviert als bei Freude.

Die Evolutionspsychologen legen noch auf drei weitere Kriterien Wert:

– Es muß auf der ganzen Welt einen typischen Gesichtsausdruck für die betreffende Emotion geben: Dieses Kriterium war, wie wir noch sehen werden, Gegenstand einer langen Debatte.

– Sie muß von universellen Lebenssituationen ausgelöst werden: Wenn ein schwerer Gegenstand auf Sie niedergesaust kommt, so wird dadurch immer und überall Angst ausgelöst, und der Verlust eines geliebten Wesens ruft stets Traurigkeit hervor.

– Sie muß auch bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich zu beobachten sein: Wenn wir beobachten, wie sich zwei Schimpansen bei ihrer Begegnung umarmen, küssen und zu Luftsprüngen hinreißen lassen, können wir diese Tiere zwar nicht interviewen, aber die Annahme, sie würden Freude verspüren, ist sicher nicht absurd.

Kapitel 2

Zorn

Robert, ein Familienvater, kommt auf dem Flughafen an, von wo aus er in den Urlaub starten will. Er muß aber erfahren, daß alle Flüge des Tages auf Grund eines Streiks gestrichen worden sind. Robert beschimpft die Hostessen. Seine Frau versucht, ihn zu besänftigen; die Leute gucken; Roberts Töchter möchten am liebsten im Erdboden versinken.

Gerade in dem Augenblick, da Catherine nach zehnminütiger Suche endlich einen freien Parkplatz entdeckt, fährt ein anderes Auto an ihr vorbei und stößt in die Parklücke. Voll Wut rammt Catherine absichtlich die Stoßstange des Vordränglers.

Der achtjährige Adrien hat zum Geburtstag endlich den Roboter bekommen, den er sich seit Wochen gewünscht hatte. Er schafft es jedoch nicht, die einzelnen Teile zusammenzusetzen, und am Ende trampelt er heulend auf seinem Geschenk herum.

Wie kann es sein, daß Leute, die normalerweise ganz vernünftig sind (selbst Adrien ist ein besonnener kleiner Junge), auf diese Weise Dinge tun, die häufig ärgerliche Folgen haben? Und was soll man erst über die folgende Geschichte sagen, in der Véroniques Vater (gewöhnlich ein so ruhiger Herr) in Zorn gerät?

Das Gesicht des Zorns: vom Papa bis zum Papua

Ich erinnere mich noch gut, daß ich als kleines Mädchen (ich war damals vielleicht sechs Jahre) eines Tages von meinem Vater zum Angeln mitgenommen wurde. Ich war ganz aufgeregt, denn für mich war es das erste Mal, und ich hielt es für ein Privileg, denn meine Mutter begleitete ihn niemals. Nachdem wir eine Stunde warteten und die Zeit mir lang zu werden begann, hat etwas angebissen; die Angelsehne spannte sich sehr stark. Ich sah, wie mein Vater voller Konzentration an der Rolle drehte und dazu an der Angel zog. Im grünlichen Wasser konnte man einen großen Fisch erkennen. Meinem Vater gelang es, ihn mit dem Kescher ans Ufer zu holen (es war ein sehr schöner Zander), und er warf den noch zappelnden Fisch in einen großen Plasteeimer. Ich beugte mich nach vorn, um das Tier besser sehen zu können, glitschte aus und stieß den Eimer mitsamt Inhalt ins Wasser, worauf der Zander auf Nimmerwiedersehen verschwand. Ich schaute zu meinem Vater hoch. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Rot vor Wut, mit verkrampften Zügen, starrem Blick und zusammengebissenen Zähnen, ballte er die Fäuste und mußte sich offensichtlich zurückhalten, mich nicht zu schlagen. Ich schrie und verbarg mein Gesicht in den Händen. Es ist dann aber nichts passiert. Als ich die Augen wieder aufmachte, hatte er mir den Rücken zugedreht und versetzte dem Gebüsch die heftigsten Fußtritte.

Ich erinnere mich noch gut an dieses Erlebnis, denn mein Vater war ansonsten ein sehr ruhiger Mann, der so gut wie nie in Zorn ausbrach.

Eine solche Szene wirft mehrere Fragen auf. Weshalb steigert sich der Vater, der doch ein vernünftiges Wesen ist, derart in seinen Zorn hinein, obwohl der Fisch sowieso verloren ist und die kleine Tochter es nicht mit Absicht gemacht hat? Warum versetzt er den Büschen, die ihm nichts zuleide getan haben, Fußtritte? Und weshalb diese Grimassen, dieser puterrote Kopf – Zeichen, die Véronique schon als Sechsjährige ohne Mühe deuten konnte?

Ist solch ein Zorn nun eine weltweit verbreitete Emotion? Wenn ein Papua oder ein Chinese zu Zeugen dieser Szene geworden wären, hätten sie dann die Emotion des in seinem Anglerglück frustrierten Vaters erkannt und verstanden? Und unsere fernen Vorfahren, die vor fünfzehntausend Jahren vom Jagen, Sammeln und Fischen lebten, hätten sie diesen Zorn verstanden?

Die Stinklaune des Jägers und Sammlers

Weil es nicht möglich ist, sich um fünfzehntausend Jahre zurückversetzen zu lassen, hat der Anthropologe Paul Ekman1 wenigstens fünfzehntausend Kilometer zurückgelegt: Ende der sechziger Jahre lebte er bei einem Papuastamm, der noch wenig Kontakt mit der westlichen Zivilisation hatte. Die Eingeborenen lebten in einer abgelegenen Gebirgsregion Neuguineas wie steinzeitliche Jäger und Sammler. Weil sie bisher nur sehr wenig Berührung mit den Weißen gehabt hatten, erwartete Ekman, daß ihre Emotionen und deren Gesichtsausdruck sich von den unsrigen sehr unterscheiden würden. Die damals hoch im Kurs stehenden kulturrelativistischen Theorien (wie sie vor allem von der berühmten Anthropologin Margaret Mead vertreten wurden) behaupteten nämlich, daß die Emotionen und ihre Ausdrucksformen eine Frage der Erziehung seien und von Kultur zu Kultur variierten.

Ekman bat einen Papua, vor der Kamera die Emotion zu mimen, die er in folgendem Szenario verspüren würde: »Sie sind zornig und bereit, sich zu schlagen.« Der Papua runzelte die Stirn, biß die Zähne zusammen und verzog die Lippen zu einer bedrohlichen Grimasse.

Solche Szenarios benutzte Ekman, um mögliche Übersetzungsschwierigkeiten zu umgehen. Er ließ weitere Emotionen mimen, etwa zu folgenden Situationsmustern: »Ein Freund ist eingetroffen, und Sie freuen sich«, »Sie entdekken auf dem Weg den Kadaver eines Wildschweins, das schon lange tot ist«, »Ihr Kind ist gestorben«.

Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten zeigte Ekman die Fotos amerikanischen Bürgern, die überhaupt nichts von den Sitten und Gebräuchen der Papua wußten. Eine große Mehrheit ordnete den entsprechenden Gesichtsausdruck der Emotion Zorn zu. Ekman machte auch das umgekehrte Experiment: Er präsentierte seinen papuanischen Freunden Porträts zorniger Europäer und Nordamerikaner. Auch die Papua erkannten sofort, welche Emotion die Gesichter der Weißen verrieten. Auf anderen Fotos identifizierten sie mit hoher Treffsicherheit Emotionen wie Freude, Traurigkeit, Angst und Ekel.

Ekman und andere Forscher wiederholten das Experiment in 21 verschiedenen Kulturen, die über alle fünf Kontinente verteilt waren.2 Die Resultate waren eindeutig: Die meisten Papua erkannten die Emotionen der Esten, die wiederum die Emotionen der Japaner erkannten; die Japaner erkannten die Emotionen der Türken, jene die der Malaysier und so weiter … Die Forschungsergebnisse scheinen den universellen Charakter von Emotionen und ihren typischen Gesichtsausdrücken zu belegen.

Die weltweite Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucks zorniger Menschen ist nicht nur von anekdotischem Interesse: Sie führt uns zu der Annahme, daß unsere Fähigkeit, zornig zu werden, in unser genetisches Material eingeschrieben sei. Wir werden noch sehen, daß die Standpunkte der Kulturrelativisten aber auch nicht völlig haltlos sind: Kultur und Milieu legen die Regeln fest, nach denen man Zorn ausdrückt, und von ihnen hängt auch ab, welche Situationen und Beweggründe Zorn hervorrufen. Die Emotion selbst bleibt aber universal.

GESICHTSAUSDRUCK UND KOLONIALISMUS

Ein Jahrhundert vor Ekmans Studien, in der Glanzzeit des britischen Empire, untersuchte Charles Darwin die Emotionen des Menschen.3 Da er wegen seiner anfälligen Gesundheit nicht mehr reisen konnte, befragte er seine Landsleute – Reisende, Entdecker, Seeleute und Missionare. Seine Methode war nicht gerade streng wissenschaftlich, doch er leitete aus seinen Untersuchungen ab, daß es sechs Emotionen gebe, die mitsamt ihrem typischen Gesichtsausdruck weltweit verbreitet seien.

Diese Hypothese mißfiel manchen Zeitgenossen zutiefst. Darwin war schon angegriffen worden, als er behauptet hatte, der Mensch stamme vom Affen ab. Nun machte er alles noch schlimmer, indem er erklärte, daß die Dajak und die Zulus von denselben großen Emotionen bewegt würden wie die Absolventen von Eton. How shocking!

Die ehemaligen Eton-Schüler waren wahrscheinlich besonders verärgert über Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, weil man sie gelehrt hatte, die äußerlich sichtbaren Anzeichen für ihre Emotionen zu kontrollieren, besonders was das Mienenspiel betraf: Auf die berühmte stiff upper lip wurde in den gehobenen Klassen viel Wert gelegt.

Für Darwin und seine Nachfolger, die Evolutionspsychologen, haben Emotionen wie der Zorn die natürliche Auslese innerhalb unserer Art über Tausende von Generationen hinweg überdauert, weil sie für das Überleben und den Fortpflanzungserfolg all unserer Ahnen nützlich waren.

Nehmen wir also an, der Zorn sei eine universell verbreitete, im Laufe der Entwicklungsgeschichte selektierte Emotion. Wozu sollte sie uns aber dienen? Die Funktion einer Emotion kann man zum Beispiel verstehen, indem man beobachtet, welche körperlichen Veränderungen sie bewirkt.

Der zornige Körper

In mehreren Befragungen hat man Menschen aus verschiedenen Ländern gebeten, ihre Zornsymptome zu beschreiben. Hier die häufigsten Antworten:

– ein Gefühl von Muskelanspannung,

– eine Beschleunigung des Pulses,

– eine Wärmeempfindung.

Begriffe wie »heiß« und »Wärme« tauchen in den Antworten oft auf; man »kocht« oder »schäumt« vor Wut, jemand hat einen »hitzigen« Charakter, man sollte uns besser nicht »zur Weißglut bringen« etc. (In Comics ist es üblich, den Zorn einer Figur durch ein schwarzes Rauchwölkchen über ihrem Kopf darzustellen.)

Diese Symptome wurden übereinstimmend von Personen aufgezählt, die aus 31 Ländern aller fünf Kontinente stammten, was noch einmal für den universellen Charakter des Zorns und seiner äußeren Kennzeichen spricht.4 Die Beschreibungen entsprechen auch den von Forschern beobachteten Veränderungen im Organismus:

– Zorn bewirkt, vor allem in den Armen, eine stärkere Muskelspannung und führt oft auch dazu, daß man die Fäuste ballt.

– Die oberflächennahen Blutgefäße weiten sich, wodurch das Wärmeempfinden hervorgerufen wird (umgekehrt ist es bei der Angst). Zorn äußert sich häufig auch in einer Gesichtsrötung, einem Symptom, das von Comiczeichnern ebenfalls gern dargestellt wird und besonders bei kleinen Kindern deutlich sichtbar ist. Die Oberflächentemperatur der Finger steigt, während sie im Falle von Angst zurückgeht.

– Zorn geht auch einher mit einer Beschleunigung von Atemrhythmus und Herzfrequenz sowie mit einer Erhöhung des Blutdrucks. Im Zorn pumpen wir mehr Blut durch den Körper und versorgen ihn stärker mit Sauerstoff. Wir werden noch sehen, daß diese Auswirkungen auf Herz und Kreislauf nicht gerade harmlos sind für unsere Gesundheit.

Die Doppelfunktion des Zorns

Hören wir, was Jean-Jacques berichtet, ein hitzköpfiger Mann, dem seine Wutanfälle selbst nicht geheuer sind:

Ich hatte meinen Wagen zur Durchsicht in die Werkstatt geschafft und nachdrücklich darauf bestanden, daß er am nächsten Tag zur Mittagszeit fertig sein müsse, denn ich brauchte ihn, um zu einem Kundengespräch zu fahren. Den Reparaturtermin hatte ich lange im voraus ausgemacht, damit sie genug Zeit hatten, sich darauf einzurichten. Als ich am nächsten Tag in die Werkstatt komme, steht mein Auto noch genau dort, wo ich es abgestellt hatte. Ich wende mich an einen Mechaniker, der mir, ohne auch nur hochzugucken, sagt: »Müssen Sie den Chef fragen …« Ich beginne mich aufzuregen und suche den Werkstattchef in seinem Büro auf. Nein, die Durchsicht sei noch nicht gemacht, aber es werde irgendwann am Nachmittag passieren. Ich weise ihn darauf hin, daß es so nicht abgesprochen war und daß ich meinen Wagen sofort benötige. Er antwortet in mürrischem Ton: »Man kriegt eben nicht immer, was man will. Sie brauchen Ihr Auto ja nur mitzunehmen und ein andermal wieder vorbeizubringen.« Ich dachte, mein Herz bleibt stehen. Ich fühlte, wie mein Gesicht zur Maske erstarrte, wie meine Arme sich spannten und die Brust schwoll, und ich hatte wirklich Lust, diesem Idioten eins über den Schädel zu geben. Meine Frau bekommt immer Angst, wenn sie mich in diesem Zustand sieht. Dem Werkstattchef scheint es genauso ergangen zu sein, denn er änderte sofort seine Haltung: Er stammelte eine Entschuldigung und sagte, die Durchsicht werde sofort erledigt, und in einer halben Stunde könne ich meinen Wagen mitnehmen.