Abkürzungsverzeichnis

ACR

engl. „annual conversion rate“

AD

Alzheimer-Demenz

ADAS

engl. „Alzheimer’s Disease Assessment Scale“

ANI

engl. „asymptomatic neurocognitive impairment“

Apo E

Apolipoprotein E

APP

engl. „amyloid-precursor-protein“

BOSU

Bogenhausener Semantik-Untersuchung

BPSD

engl. „behavioural and psychological symptoms of dementia“

CAA

engl. „cerebral amyloid angiopathy“

CADASIL

Cerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie

CAG

Cytosin-Adenosin-Guanin

CANTAB

engl. „Cambridge neuropsychological test automated battery“

CBD

engl. „corticobasal degeneration“

CDR

engl. „Clinical Dementia Rating“

CERAD

engl. „Consortium to establish a registry for Alzheimer’s disease“

CJD

engl. „Creutzfeldt-Jakob disease“

CT

Computertomografie

DGPPN

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde

DLB

engl. „dementia with Lewy-bodies“

DSM IV

engl. „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition“

DWI

engl. „diffusion-weighted imaging“

EEG

Elektroenzephalografie

EOD

engl. „early-onset dementia“

ELISA

engl. „enzyme-linked immunosorbent assay“

FAB

engl. „Frontal Assessment Battery“

FLAIR

eng. „fluid attenuated inversion recovery“

FTD

Frontotemporale Demenz

FTLD

Frontotemporale lobäre Degenerationen

fvFTD

Frontale Variante der frontotemporalen Demenz

HAART

Hochaktive antiretrovirale Therapie

HAD

engl. „HIV-associated dementia“

HAND

engl. „HIV-associated neurocognitive disorder“

HIV

Humanes Immundefizienz-Virus

HMPAO

Hexamethyl-Propylen-Aminoxim

ICD

engl. „International Classification of Diseases“

IQCODE

engl. „Informant Questionnaire on Cognitive Decline“

LOD

engl. „late-onset dementia“

MCI

engl. „mild cognitive impairment“

MID

Multi-Infarkt-Demenz

MMST

Mini-Mental-Status-Test

MND

engl. „mild neurocognitive disorder“

MRT

Magnetresonanztomografie

MWT

Mehrfachwahl-Wortschatz-Test

NAI

Nürnberger-Alters-Inventar

NINCDS-ADRDA

engl. „National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke“ und „Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association“

NINDS-AIREN

engl./franz. „National Institute of Neurological Disorders and Stroke and Association Internationale pour la Recherché et l‘Enseignement en Neurosciences“

NOSGER

engl. „Nurses’ Observations Scale for Geriatric Patients“

NPH

engl. „normal pressure hydrocephalus“

NPI

engl. „Neuropsychiatric Inventory“

NSE

Neuronen-spezifische Enolase

PANDA

engl. „Parkinson neuropsychometric dementia assessment“

PCR

engl. „polymerase chain reaction“

PDD

engl. „Parkinson’s disease dementia“

PET

Positronen-Emissions-Tomografie

PIB

engl. „Pittsburg compound B“

PNFA

Progressive nicht-flüssige Aphasie

PrP

Prion-Protein

PSP

Progressive supranukleäre Blickparese

PSWC

engl. „periodic sharp and slow waves“

RWT

Regensburger Wortflüssigkeits-Test

SD

Semantische Demenz

SIDAM

Strukturiertes Interview zur Diagnose von Demenzen: Alzheimer-Typ, Multiinfarktdemenz und Demenzen anderer Ätiologie

SKT

Syndrom-Kurztest

SPECT

engl. „single photon emission computed tomography“

SVE

Subkortikale vaskuläre Enzephalopathie

TAP

Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung

TFDD

Test zur Frühdiagnostik von Demenz mit Depressionsabgrenzung

TMT

engl. „Trail-Making-Test“

TPHA

Treponema-Pallidum-Hämagglutinations-Assay

VDRL

engl. „Veneral Disease Research Laboratory“

WCST

engl. „Wisconsin Card Sorting Test“

WHO

engl. „World Health Organisation“

WMH

engl. „white-matter hyperintensities“

WML

engl. „white-matter lesions“

WMS

engl. „Wechsler Memory Scale“

YOD

engl. „young-onset dementia“

ZNS

Zentralnervensystem

Vorwort

Die Vorstellung, die eigene Fähigkeit zu denken, zu planen und zu erinnern durch einen langsam fortschreitenden demenziellen Abbauprozess zu verlieren, bereitet vielen Menschen Angst. Mit zunehmendem Wissen über die Pathophysiologie, die Symptomatik und den klinischen Verlauf von Demenzerkrankungen ist auch die Hoffnung auf ursächliche Therapien verbunden. Voraussetzung für eine Behandlung ist eine möglichst frühzeitige Diagnostik mit dem Ziel einer klaren nosologischen Zuordnung und darauf aufbauenden Therapieansätzen.

An die Frühdiagnostik demenzieller Erkrankung wird der Anspruch gerichtet, eine beginnende Demenzerkrankung von einer noch normalen altersassoziierten Vergesslichkeit zuverlässig zu unterscheiden. Darüber hinaus kommt der Frühdiagnostik ein Stellenwert bei der Differenzierung unterschiedlicher demenzieller Syndrome zu. Trotz moderner diagnostischer Verfahren wie der Labordiagnostik, bildgebenden Verfahren und neuropsychologischen Testverfahren sind der Frühdiagnostik erhebliche Grenzen gesetzt. In Bezug auf die Abgrenzung einer altersassoziierten Vergesslichkeit von einer leichten kognitiven Störung als Prodrom eines demenziellen Abbauprozesses und einer manifesten Demenzerkrankung ist festzustellen, dass es sich um einen graduellen und kontinuierlichen Übergang mit unscharfen Grenzen handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die demenziellen Syndrome eine erhebliche Variabilität des klinischen Verlaufs aufweisen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der Terminus der Demenz vom Alzheimer-Typ geprägt worden, der zum Ausdruck bringt, dass es zwar einen klinisch charakteristischen Prägnanztypen gibt, aber keine pathognomonischen Symptome, die eine sichere Diagnosestellung zu Lebzeiten der Betroffenen ermöglichen würden. Das klinische Erscheinungsbild der Demenzerkrankungen lässt keine zuverlässigen Rückschlüsse auf den neuropathologisch zugrundeliegenden Krankheitsprozess zu. Eine immer wieder beobachtete Überlappung der klinischen Syndrome lässt vom Standpunkt der Psychopathologie nur Wahrscheinlichkeitsdiagnosen zu.

Trotz dieser Unsicherheiten ist es dem erfahrenen klinischen Untersucher durchaus möglich, die Diagnose einer Demenzerkrankung mit einer hohen Treffsicherheit zu stellen. Die vorgelegte Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, typische klinische Erscheinungsbilder zu skizzieren und dem Untersucher eine Richtschnur an die Hand zu geben, mit welcher der diagnostische Prozess effizient und ökonomisch gestaltet werden kann. Der Frühdiagnostik sind methodische Grenzen gesteckt, die auch durch die Entwicklung verschiedener Biomarker in den letzten Jahren nicht überwunden werden konnten. Neben der fehlenden Krankheitswahrnehmung bei vielen Patienten, die dazu führt, dass die Betroffenen in frühen Krankheitsstadien gar nicht zur Untersuchung gelangen, sind singuläre Untersuchungen im Stadium der leichten kognitiven Störung einer Demenz nicht geeignet, eine zuverlässige Vorhersage über den weiteren Verlauf des Störungsbildes zu machen. Differenzierte neuropsychologische Tests konnten bereits in sehr frühen Erkrankungsstadien Gruppenunterschiede zwischen Personen identifizieren, die später eine Demenz entwickeln, und Personen, die keine Demenz entwickeln. Aber für die individuelle Prädiktion sind diese Tests nicht geeignet. Die bereits entwickelten Biomarker, insbesondere die mit der Alzheimer-Pathophysiologie in Zusammenhang stehenden Liquorparameter, sind für ein breites Screening in der Bevölkerung nicht geeignet.

Neben der häufigen Alzheimer-Demenz sind eine Reihe weiterer Demenzformen klinisch gut charakterisiert. Die unterschiedlichen Muster der klinischen Erscheinungsbilder und der diagnostischen Merkmale erlauben im Sinne einer Mustererkennung in vielen Fällen eine Differenzierung der Demenzsyndrome und eine Einordnung mit einer befriedigenden diagnostischen Sicherheit.

Einleitung

Der demografische Wandel führte in den westlichen Industrienationen bei steigender Lebenserwartung und sinkenden Geburtenraten in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung. Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wuchs, die Lebenserwartung stieg und in der Folge findet sich nun eine höhere Prävalenz von Demenzerkrankungen. Schätzungen zur Häufigkeit der Demenzerkrankungen sind abhängig von den gewählten diagnostischen Kriterien. Zählt man leichte und mittelschwere Demenzformen hinzu, so liegt in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig bei ca. 1,2 Millionen Menschen eine Demenzerkrankung vor. Bickel (2000) schätzt, dass sich gegenwärtig ca. 200 000 demenzielle Neuerkrankungen pro Jahr entwickeln, davon entfallen ca. 120 000 Fälle auf die Alzheimer-Erkrankung. Frauen sind in Folge ihrer höheren Lebenserwartung mit ca. 70 % der Erkrankungen stärker betroffen.

Unter den Demenzerkrankungen ist die Alzheimer-Demenz (AD) mit ungefähr 60–70 % die häufigste Form. Andere sind

Nicht nur bei der AD, auch bei anderen Demenzformen spielt das Lebensalter als wichtigster Risikofaktor eine entscheidende Rolle. Der demografische Wandel führt nicht nur zu einer Zunahme der AD, sondern auch zu einer Zunahme anderer Demenzformen. Sehr seltenen Erkrankungen wie der Creuzfeldt-Jakob-Erkrankung kommt zwar in der Differentialdiagnostik ein wichtiger Stellenwert zu, die Relevanz für die langfristige Versorgung und gesundheitsökonomische Aspekte ist wegen der großen Seltenheit der Erkrankung hingegen eher gering. Der größte Anteil der Demenzerkrankungen wird auch künftig auf die Demenz vom Alzheimer-Typ zurückzuführen sein, so dass sich die Ausführungen im Folgenden maßgeblich an dieser Demenzform orientieren werden.

Die Beschreibung spezifischer neuropathologischer Veränderungen bei einem klinisch prägnanten Erkrankungsbild einer präsenilen Demenz durch Alois Alzheimer im Jahre 1906 (Alzheimer, 1907) begründete eine Ursachenforschung, die sich auf zerebrale Amyloidablagerungen und damit verbundene sekundäre neurodegenerative Mechanismen fokussierte. Die sog. „Amyloidhypothese“ stellte in den vergangenen Jahrzehnten den zentralen Zugangsweg zum Verständnis der Alzheimer-Pathophysiologie dar. Ausgehend von der physiologischen Bildung des Amyloidvorläufer-Proteins (engl. „amyloid-precursor-protein“, APP), dessen physiologische Rolle noch nicht vollständig aufgeklärt ist, wurden enzymatische Mechanismen aufgedeckt, die zur Bildung toxischer Peptide führen: Aβ1–40 und Aβ1–42. Die Bildung dieser toxischen Amyloidfragmente aus dem APP stellt bis heute die wichtigste Hypothese in der Pathophysiologie der AD dar. Andere pathologische Befunde, wie die intrazelluläre Tauphosphorylisierung mit der Bildung von Neurofibrillen, werden als sekundäre Prozesse eingeordnet. Neuropathologische Charakteristika der AD sind damit extrazelluläre Amyloidablagerungen sowie intraneuronale neurofibrilläre Bündel. Während die extrazelluläre Amyloidablagerung eine hohe Variabilität aufweisen kann, findet sich ein charakteristisches Verteilungsmuster der intrazellulären neurofibrillären Bündel, die von Braak und Braak (1991) als Grundlage für eine neuropathologische Stadieneinteilung der AD herangezogen wurde. Der neurotoxische Effekt der Aβ-Peptide und die Bildung von Amyloidplaques sowie die Hyperphosphorilierung von tau-Protein, die zur Neurofibrillenbildung führt, unterliegen offenbar genetischen sowie umweltbedingten Einflüssen. Dabei kommen oxidativem Stress, entzündlichen Prozessen und zerebrovaskulären Veränderungen erhebliche Bedeutung zu (Blennow et al. 2006).

Der neurodegenerative Prozess der Demenzerkrankung scheint einen langsam progredienten Verlauf zu nehmen, der sich wahrscheinlich über Jahrzehnte entwickelt. Neuronaler Zelluntergang und synaptische Dysfunktion infolge der toxischen Amyloidablagerungen können offenbar über viele Jahre bis Jahrzehnte durch synaptische Plastizität und Adaptation kompensiert werden. In dieser klinisch unauffälligen (sog. „präklinischen“) Phase kommt es bereits zur histopathologisch fassbaren Zellschädigung, ohne dass kognitive oder mnestische Funktionsstörungen klinisch erkennbar wären. Kommt es dann durch zunehmenden Ausfall relevanter Neuronenverbände zu Funktionsdefiziten, so führen diese zwar zu messbaren Leistungseinbußen aber nicht gleich zu einem ausgeprägten Demenzsyndrom. Für diese Übergangsphase von kognitiven Dysfunktionen ohne das schwere Bild einer deutlichen Demenzerkrankung mit einer Leistungsbeeinträchtigung in Alltagsfertigkeiten hat sich im deutschen Sprachraum der Begriff „leichte kognitive Störung“, im englischen der Begriff „mild cognitive impairment“ (MCI) entwickelt. Die leichte kognitive Störung ist eine Übergangsphase von altersgemäßer, kognitiv-mnestisch normaler Leistungsfähigkeit zu einer Demenzerkrankung. Im Zentrum der Frühdiagnostik steht daher die leichte kognitive Störung, die als Vorstufe bzw. Frühform einer Demenzerkrankung aufgefasst werden kann.

Die Geschwindigkeit des neurodegenerativen Prozesses unterliegt einer starken interindividuellen Variabilität und wird neben genetischen Faktoren mit großer Wahrscheinlichkeit auch durch Umwelteinflüsse beeinflusst. Es gibt offenbar rasche Verlaufsformen, die zum Auftreten sog. „präseniler Demenzen“ führen. Hierunter werden Demenzerkrankungen verstanden, die bereits vor dem 60. Lebensjahr klinisch manifest werden. Andere Verläufe scheinen sehr langsam zu erfolgen und erst im sehr hohen Lebensalter zu einem diagnostizierbaren Demenzsyndrom zu führen. Dabei sind unterschiedliche Verlaufsformen des neurodegenerativen Prozesses denkbar. Diese werden anhand der Abbildungen 1a–c vereinfachend illustriert. In Abbildung 1a ist die Annahme eines stetigen und linearen neurodegenerativen Prozesses dargestellt. Hypothetisch könnte der neurodegenerative Prozess einem linearen Verlauf folgen, mit Beginn im mittleren Lebensalter und linearem Fortschreiten des kognitiven Abbauprozesseses. Alternativ wäre auch ein kurvenförmiger Verlauf denkbar, wie er in Abbildung 1b dargestellt ist. Im jüngeren und mittleren Lebensalter kommt es nur zu einem langsamen neurodegenerativen Geschehen, das gegen Ende des mittleren Lebensalters eine allmähliche Beschleunigung erfährt. Auch dieser nichtlineare Verlauf ist rein hypothetisch und kann derzeit weder klinisch noch neuropathologisch verifiziert werden. Aus der klinischen Beobachtung lassen sich auch ganz andere Verlaufsformen hypothetisch herleiten. Ein solcher nichtstetiger Verlauf des neurodegenerativen Prozesses ist in Abbildung 1c dargestellt. Nach einer zunächst linearen Phase kommt es in Folge eines zeitlich scharf umgrenzten Ereignisses (X) zu einer relativ plötzlichen Beschleunigung des Prozesses. Ein solches Ereignis könnte z. B. ein Schädel-Hirn-Trauma oder eine schwere somatische Erkrankung darstellen.

img

Abb. 1a–c:
Darstellung von unterschiedlichen Modellen des neurodegenerativen Prozesses bei der Alzheimer-Demenz. Linearer Prozess (1a), Akzeleration (1b) und nichtlinearer Verlauf (1c) nach einmaligem Ereignis (X).

Alle in den Abbildungen 1a–1c dargestellten Verlaufskurven sind hypothetisch und können nur als Modelle dienen. Tierexperimentelle Untersuchungen zum Verlauf des neurodegenerativen Prozesses sind nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar. Die relative Beschleunigung des neurodegenerativen Vorgangs mit einer klinisch deutlichen Verschlechterung wird gelegentlich bei postoperativen deliranten Syndromen beobachtet. Es steht außer Zweifel, dass der kontinuierliche neurodegenerative Prozess durch exogene Einflüsse moduliert werden kann. Die recht unterschiedlichen Verlaufskurven, wie sie in Längsschnittstudien mit neuropsychologischen Verfahren dargestellt wurden (Amieva et al. 2008), spiegeln nicht den tatsächlichen neurodegenerativen Prozess wider, sondern können durch andere Einflussfaktoren überlagert worden sein.

Aufgrund der dargelegten Überlegungen zum Verlauf des neurodegenerativen Prozesses ist nachvollziehbar, dass einmalige Untersuchungen des kognitiv-mnestischen Leistungsprofils nicht zur Frühdiagnostik geeignet erscheinen. Sie können zwar einen Absolutwert wiedergeben, aber erlauben keine Aussage über die Geschwindigkeit einer Leistungsminderung über die Zeit. Insbesondere in der Frühdiagnostik erscheint die Durchführung von zeitlich getrennten Messungen des Leistungsprofils angebracht, um eine Abschätzung der Geschwindigkeit des kognitiv-mnestischen Abbauvorgangs vornehmen zu können. Aufgrund der skizzierten nichtlinearen Verlaufskurven bleiben aber auch die zweizeitigen Untersuchungen mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet. Erschwert wird das Ganze noch durch passagere Phasen der Stabilisierung und sogar in gewissen Grenzen durch Phasen einer Reversibilität. Hierauf wird im Abschnitt der leichten kognitiven Störungen noch weiter einzugehen sein.

Palmer et al. (2008) führten eine Populationsuntersuchung mit einer Kohorte von 1 417 älteren Menschen (75–95 Jahre) durch, die nicht an einer Demenz erkrankt waren. Bei einer Nachuntersuchung drei Jahre später hatten 152 Menschen eine Alzheimer-Demenz entwickelt. Lediglich die Hälfte dieser Gruppe hatte bei der Eingangsuntersuchung drei Jahre zuvor von subjektiven Gedächtnisproblemen berichtet und mehr als ein Drittel hatte keine fassbaren Defizite in den neuropsychologisch untersuchten kognitiven Domänen gezeigt. Nur ca. 40 % der Demenzpatienten hatten in der Eingangsuntersuchung sowohl subjektive Gedächtnisprobleme als auch domänen-spezifische kognitive Defizite gezeigt. Diese Untersuchung weist darauf hin, dass Frühsymptome und kognitive Defizite nicht bei allen Menschen zu detektieren sind, die eine Alzheimer-Demenz entwickeln.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass für eine adäquate Frühdiagnostik der Demenzerkrankung vom Alzheimer-Typ eine Quantifizierung der pathophysiologisch zugrundeliegenden Amyloidprozessierung zu wünschen wäre, verbunden mit einer Darlegung der zeitlichen Dynamik des neurodegenerativen Prozesses. Es erscheint leicht nachvollziehbar, dass die klinisch messbaren Veränderungen der kognitivmnestischen Leistungsfähigkeit dem neurodegenerativen Prozess zwar folgen, aber erst erkennbar werden, wenn bereits erhebliche Schädigungen des ZNS eingetreten sind. Eine wirkliche Frühdiagnostik müsste demnach im Erwachsenenalter durchgeführt werden, dann, wenn sich erste Amyloidablagerungen entwickeln. Molekularbiologische Methoden, die eine solche Frühdiagnostik bei großen Fallzahlen ermöglichen würden, sind derzeit nicht in Aussicht. Die Frühdiagnostik, die heute klinisch möglich ist, bewegt sich im Bereich der leichten kognitiven Störung im Übergang zur beginnenden Demenzerkrankung. Für die Differentialdiagnostik demenzieller Syndrome ist neben dem klinischen Erscheinungsbild von entscheidender Bedeutung, in welchem Lebensalter sich die Erkrankung manifestiert. Die AD ist zwar in der Gruppe der Menschen > 65 Jahre die häufigste Demenzform, in der Gruppe der präsenilen Demenzen (< 65 Lebensjahre) entspricht die Häufigkeit der AD aber in etwa der Anzahl der frontotemporalen lobären Degenerationen, d. h. in dieser Altersgruppe hat die letztgenannte Demenzform einen viel höheren Stellenwert (Ratnavalli et al. 2002). Bei jungen Patienten spielen nun wiederum ganz andere Erkrankungen in der Differenzialdiagnostik eine Rolle, so dass eine Einteilung in „youngonset dementia“ (YOD) für Patienten im Alter von 17 bis 45 Jahren, in „early-onset dementia“ (EOD) für Patienten im Alter von 46 bis 64 und „late-onset dementia“ (LOD) für Patienten > 65 Jahre vorgeschlagen wurde (Kelley et al. 2009).

1 Das Problem der Krankheitseinsicht bei Demenzerkrankungen

Die Vorstellung einer Frühdiagnostik von Demenzerkrankungen ist geknüpft an die Vorstellung, dass die Betroffenen entweder aus eigenem Anlass oder aufgrund der Veranlassung durch Dritte eine Untersuchung in Gang bringen. Tatsächlich sieht man in einer Gedächtnissprechstunde nur einen Anteil von Menschen, die aufgrund subjektiv wahrgenommener Leistungsdefizite selbstbestimmt eine diagnostische Abklärung initiiert haben. Bei diesen Betroffenen handelt es sich meist um Menschen mit einem hohen prämorbiden Intelligenzniveau, bei dem ein kritisches Reflektieren über die eigene Leistungsfähigkeit im Vergleich zu Menschen der gleichen Altersgruppe besteht. Dem gegenüber steht aber ein großer Anteil von Menschen, die ihre Leistungsdefizite nicht wahrnehmen und die auch selbst nicht darauf gekommen wären, eine Gedächtnisuntersuchung zu veranlassen. Das Phänomen der gestörten Krankheitswahrnehmung bei Demenzerkrankungen, aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen ist lange bekannt und auch als ein Kernelement der Demenz eingeordnet worden (Scheller 1965). Babinski prägte 1914 den Begriff der „Anosognosie“, womit er das Phänomen beschrieb, dass sich Patienten mit rechtshemisphärischer Schädigung des Gehirns ihrer linken Körperhälfte nicht bewusst zu sein schienen. Die gestörte Krankheitswahrnehmung primär neurologischer Symptome wird heute als „Neglect“ bezeichnet. Der Begriff der Anosognosie beschreibt die Nichtwahrnehmung oder inadäquate Wahrnehmung einer Erkrankung und ist damit weiter gefasst als der Neglect. Bei der Erforschung von gestörter Krankheitswahrnehmung bei neuropsychiatrischen Erkrankungen ist inzwischen eine begriffliche Vielfalt entstanden, die einer Klärung bedarf.

Das Problem der gestörten Krankheitswahrnehmung ist komplex, da psychophysische Prozesse auf verschiedenen Ebenen involviert sein können. So kann einerseits ein primär sensorisches Defizit bestehen, das den Betroffenen die Wahrnehmung (engl. „monitoring“) unmöglich macht. Darüber hinaus kann neben der sensorischen Ebene auch die kortikale Repräsentation der Defizite und ihre bewusste Verarbeitung durch kognitive Beeinträchtigungen eingeschränkt werden. So erscheint es denkbar, dass zwar Defizite in der Leistungsfähigkeit wahrgenommen werden, diese in ihrer Bedeutung und Tragweite aber nicht verstanden und insofern nicht realisiert werden. Auf einer dritten Ebene ist es möglich, dass Defizite zwar wahrgenommen und erkannt werden, dass aber Verdrängungsprozesse entstehen, die einer dauerhaften Bewusstwerdung entgegenstehen. Solche Prozesse können durch schamhaftes Erleben des eigenen Leistungsversagens begünstigt werden und sind von einer tatsächlichen Störung der Selbstwahrnehmung häufig nur schwer abzugrenzen. Im englischen Sprachraum hat sich für die gestörte Krankheitseinsicht bei Demenzerkrankungen der Terminus „unawareness“ etabliert, der im Wesentlichen das Unvermögen, die eigenen Defizite wahrzunehmen, beschreibt. Mit dem Begriff „loss of insight“ wird weniger die Seite der gestörten Sensorik als vielmehr die der unzureichenden kognitiven Verarbeitung der erlebten Defizite beschrieben. Eine Verleugnungstendenz wird mit dem Ausdruck „denial of illness“ beschrieben. Das Konzept des „Meta-Gedächtnisses“ beruht auf der Vorstellung eines Wissens über Erinnerungsstrategien und deren Überwachung. Es bezeichnet die Fähigkeit, über eigene Gedächtnisleistungen- und strategien kritisch zu reflektieren. Dabei könnte eine beeinträchtigte Krankheitswahrnehmung in engem Zusammenhang sowohl mit der Selbstwahrnehmung als auch mit der Selbstkontrolle der eigenen kognitiven Leistungsfähigkeit stehen (Correa et al. 1996). Bei der Alzheimer-Demenz sind Beeinträchtigungen der Krankheitswahrnehmung bereits in frühen Stadien der Erkrankung gut dokumentiert (Clare 2004).

Retzt-Junginger et al. (2005) untersuchten bei Alzheimer-Patienten eine qualitative sowie eine quantitative Beurteilung ihrer eigenen Gedächtnisleistungen und der ihrer Bezugspersonen. Die qualitative Gedächtnisbeurteilung (persönliche Einschätzung der Veränderung der eigenen Gedächtnisleistung) erwies sich als unabhängig von aktuellen Leistungsdefiziten, während die Genauigkeit quantitativer Leistungsvorhersagen bezogen auf die eigene Gedächtnisleistung mit zunehmenden kognitiven Beeinträchtigungen abnahmen.

Es werden heute drei verschiedene Methoden zur Erfassung von Krankheitseinsicht bei Alzheimer-Demenz nach begonnener Erkrankung differenziert. Unterschieden wird

Bislang ist die systematische Erfassung der Krankheitswahrnehmung auch in Frühstadien von Demenzerkrankungen nicht befriedigend etabliert. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Einschätzung von Krankheitswahrnehmungen in Standardinstrumenten, wie sie im Screening von Demenzerkrankungen eingesetzt werden, nicht erfasst wird. Auch gut etablierte Verfahren zur Erfassung von Verhaltensstörungen im Rahmen von Demenzerkrankungen, wie das neuropsychiatrische Inventar (Cummings et al. 1994), sehen keine Bewertung gestörter Krankheitswahrnehmungen vor. Bislang wurde in der klinischen Erfassung dem hohen Stellenwert gestörter Krankheitswahrnehmung im Verlauf von Demenzerkrankungen nur eine unzureichende Bedeutung beigemessen. Dies überrascht, denn die fehlende Selbstwahrnehmung der Defizite ist einer der wesentlichen Gründe für die Limitation der Frühdiagnostik. Diejenigen Patienten, die bereits in frühen Krankheitsstadien eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Selbstwahrnehmung aufweisen, suchen aus eigenem Antrieb keine diagnostische Abklärung. Selbst sehr differenzierte Instrumentarien zur Frühdiagnostik werden dieses grundsätzliche Problem nicht gelöst bekommen. Auch für den Fall, dass hoch sensitive und spezifische Verfahren zur Früherkennung zur Verfügung stehen, wird in Folge der gestörten Selbstwahrnehmung nur ein geringer Teil der betroffenen Menschen erreicht werden. Damit ist die gestörte Krankheitswahrnehmung eine zentrale Beschränkung in den Bemühungen zur Früherkennung von Demenzerkrankungen und ist als solche in den verschiedenen Initiativen zur Verbesserung der Frühdiagnostik bislang nicht ausreichend kritisch gewürdigt worden. Zukünftig wird die Erfassung von Krankheitseinsicht im Verlauf von Demenzerkrankungen einen höheren Stellenwert erlangen müssen, da durch dieses Phänomen Gefährdungen der Patienten in einem erheblichen Maße mitbestimmt werden (Kessler und Supprian 2003).

Die Komplexität gestörter Krankheitseinsicht lässt sich durch Operationalisierung nur schwer fassen. Es zeigt sich eine große interindividuelle Variabilität bei Patienten hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit in Defizite verschiedener kognitiver und verhaltensbezogener Dimensionen. So kann die Wahrnehmung bezüglich mnestischer Defizite erhalten sein, obwohl die daraus resultierenden Schwierigkeiten in der Bewältigung von Alltagsanforderungen nicht erfasst werden. Andererseits gibt es betroffene Patienten, die ihren depressiven Affekt sehr wohl wahrnehmen, ihre kognitiv-mnestischen Beeinträchtigungen allerdings nicht adäquat einschätzen können. Green et al. (1993) konnten zeigen, dass bei Alzheimer-Patienten im mittleren Demenzstadium die Diskrepanz-Scores (Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbeurteilung) in den Bereichen Kurzzeitgedächtnis und Alltagsfertigkeiten (engl. „activities of daily living“) am stärksten ausgeprägt waren, die für Aufmerksamkeit geringer und jene für den Bereich Langzeit- und Altgedächtnis fielen nur minimal aus.

Klinische Einschätzung der Krankheitswahrnehmung

Eine methodisch einfache Erfassung von gestörter Krankheitswahrnehmung ist mittels eines freien oder strukturierten Interviews möglich (Auchus et al. 1994). Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um eine klinische Beurteilung der Krankheitseinsicht anhand von spontan geäußerten Problemen des Patienten in bestimmten kognitiven oder nicht-kognitiven Bereichen und auf der Basis von Patientenselbsteinschätzungen. Die Einschätzung der Angehörigen oder anderer Kontaktpersonen kann in die Beurteilung des Untersuchers mit einfließen. Eine kategorielle Unterteilung in fehlende, gering beeinträchtigte oder nicht gestörte Krankheitswahrnehmung ist dabei möglich. Als ein Ratinginstrument kann die „Clinical Insight Rating Scale“ genannt werden (Zanetti et al. 1999). Ein anderes Instrument zur Erfassung der Krankheitswahrnehmung ist das semistrukturierte Interview „Guidelines for the Rating of Awareness Deficits“ von Verhey et al. (1993). Dabei werden die Betroffenen und ihre Angehörigen zum Vorliegen und zu den Auswirkungen von kognitiven Defiziten des Patienten befragt. Aufgrund dieser Informationen erfolgt eine Einschätzung der Krankheitseinsicht in:

Mittels einer 3-Punkte-Skala werden die Patienten von uneingeschränkter Krankheitseinsicht (0 Punkte) bis total krankheitsuneinsichtig (8 Punkte) bewertet.

Eine weitere Möglichkeit zur Untersuchung der Krankheitswahrnehmung bietet die „performance prediction-postdiction“-Methode. Die Patienten werden zunächst gebeten, ihre Leistungsfähigkeit in bezug auf eine bestimmte Aufgabenstellung vorherzusagen. Im Anschluss erfolgt die Durchführung eines kognitiven Leistungstests. Nach der Testung wird die erbrachte Leistung erneut bewertet (postdiction). Gestörte Krankheitswahrnehmung wird hierbei als Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung des Patienten (vor und nach der Testung) und der tatsächlich erbrachten objektiven Leistung definiert. Dieses Vorgehen wurde beispielsweise in der Untersuchung von Barrett et al. (2005) gewählt.

Quack (2007) untersuchte eine repräsentative klinische Stichprobe von Alzheimer-Patienten einer stationären gerontopsychiatrischen Einrichtung. In dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, dass ein Teil der Patienten trotz bereits fortgeschrittener Demenzerkrankung eine noch recht gut erhaltene Selbstwahrnehmung aufwies. Hingegen zeigte sich bei einer Gruppe von Patienten mit beginnender Demenzerkrankung bereits eine deutlich beeinträchtigte Selbstwahrnehmung. Darüber hinaus konnte in der Stichprobe der bereits bekannte Befund bestätigt werden, dass mit zunehmender Demenzschwere auch das Krankheitsbewusstsein zunehmend abnimmt. Es zeigte sich, dass die gestörte Krankheitswahrnehmung einen Zeiteffekt aufwies, also mit Zunahme der Krankheitsdauer wurde eine gestörte Krankheitswahrnehmung zunehmend wahrscheinlicher. Möglicherweise kann eine Anosognosie als Marker einer langsameren Demenzprogression gewertet werden. Ein höheres Bildungsniveau scheint mit adäquaterem Störungsbewusstsein einherzugehen. Ein wichtiger und naheliegender Befund war die Assoziation von abnehmender Krankheitseinsicht mit Verhaltensstörungen und anderen psychopathologischen Symptomen, wie wahnhaftem Denken, Angst und Disinhibitionsphänomenen. Mit abnehmendem Störungsbewusstsein bei den Patienten wurde bei den Angehörigen eine Zunahme von Depressivität beschrieben. In der Beurteilung der Depressivität durch die Patienten selbst zeigte sich aber keinerlei Zusammenhang mit dem Krankheitsbewusstsein. Dieser Befund konnte dahingehend interpretiert werden, dass eine gestörte Krankheitswahrnehmung bei AD auch mit einer Alexithymie einhergehen kann. Der Zusammenhang zwischen gestörter Krankheitswahrnehmung und der Manifestation neuropsychiatrischer Symptome (erfasst mit dem Neuropsychiatrischen Inventar NPI) wurde auch durch andere Untersucher bestätigt (Vogel et al. 2010).

2 Diagnostische Verfahren

2.1 Klinische Anamnese und Fremdanamnese

In Zeiten knapper sozioökonomischer Ressourcen im Gesundheitswesen sind die Bestrebungen groß, kostengünstige apparative Diagnostikinstrumente zu entwickeln, die personal- und zeitintensive Verfahren der Diagnostik ersetzen. Die Erwartungen an valide und kostengünstige Demenztests sind unverändert groß. Bemerkenswert stark ist das Interesse an Laboruntersuchungen, die als Demenz-Screening-Verfahren eingesetzt werden können.

Trotz der beachtlichen Fortschritte in der apparativen Medizin hat die Einholung einer ärztlichen Anamnese bis heute nichts an ihrem Stellenwert verloren. Im Gegenteil, es muss immer wieder betont werden, dass die Grundlage einer jeden Diagnostik eine qualifizierte Anamneseerhebung darstellt. Der große Zeitdruck, der heutzutage in der ärztlichen Praxis dominiert, führt leider dazu, dass Anamneseerhebungen immer häufiger auf Minimaldatensammlungen reduziert werden. Die sich daraus ergebenden Gefahren sind vielfältig. Das ärztliche Anamnesegespräch ist die ideale Voraussetzung für die Bildung einer Arzt-Patienten-Beziehung, da Detailwissen um die Biografie des Kranken und die medizinische Vorgeschichte zu einer personenbezogenen Detailkenntnis führt, die das besondere Arzt-Patienten-Verhältnis begründet. Die Erhebung einer qualifizierten Anamnese und die daraus resultierende therapeutische Beziehung erleichtert nicht nur die Diagnosestellung, sondern auch die Kommunikation der sich daraus ergebenden Konsequenzen. Die Aufklärung über eine ggf. vorliegende Diagnose und die sich daraus ableitenden therapeutischen Konsequenzen lassen sich umso leichter durchführen, je mehr auf biografische und soziale Details aus dem Leben des Kranken Bezug genommen werden kann. Die Scheu vor einer adäquaten Aufklärung über eine Hirnleistungsstörung resultiert nicht selten aus den nur sehr kurzen Arzt-Patienten-Kontakten und der leider nur geringen Vertrautheit im Umgang miteinander.

Eine verkürzte oder gar unvollständige Anamneseerhebung birgt im Weiteren das Risiko einer diagnostischen Fehleinordnung. Vor der Durchführung apparativer aber auch neuropsychologischer Untersuchungsverfahren sollten genaue Kenntnisse über die Lebensgeschichte, die schulische und berufliche Laufbahn und das prämorbide Leistungsniveau vorliegen. Nicht selten werden Befunde fehlinterpretiert, weil anamnestische Details nicht bekannt waren. Beispielsweise findet sich in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe auch ein Anteil von Menschen ohne ausreichende Schreib- und Lesefähigkeit (Analphabeten). Vor der Durchführung und Interpretation einer neuropsychologischen Testuntersuchung sollte diese mögliche Leistungseinschränkung bekannt sein, da sie die Interpretierbarkeit der Ergebnisse erheblich beeinflusst. Auch bei der Interpretation von Befunden bildgebender Verfahren ist die Kenntnis der Anamnese von großer Bedeutung. Morphologische Veränderungen können fehlinterpretiert werden, wenn anamnestische Angaben fehlen. Als Beispiel seien hier strukturelle Läsionen aufgeführt, die einer ischämischen Ursache zugeordnet werden können, wenn nicht bekannt wird, dass ein Schädel-Hirn-Trauma in der Vorgeschichte vorlag, das für die strukturellen Läsionen verantwortlich zu machen ist. Auch können Schädel-Hirn-Traumata diffuse Hirnatrophien verursachen, die einem neurodegenerativen Prozess fehlzugeordnet werden könnten.

Im Zuge der Demenzdiagnostik sollte die Anamneseerhebung insbesondere der Abschätzung eines prämorbiden kognitiv-mnestischen Leistungsniveaus dienen. In der neuropsychologischen Diagnostik werden gelegentlich Verfahren zur Abschätzung des prämorbiden Intelligenzniveaus eingesetzt (so z. B. der Mehrfachwahl-Wortschatz-Test MWT). Diese Verfahren sind in ihrer Aussagekraft aber sehr begrenzt. Wichtiger als die Einholung numerischer Intelligenz-Scores ist die Interpretation von Leistungswerten in der Zusammenschau einer biografischen Entwicklung. In der Generation, die den 2. Weltkrieg erlebt hat, finden sich viele Menschen, die aufgrund der Kriegsjahre keine vollständige Schulausbildung erhalten haben. Die Jahre der Schulausbildung führen hier zu einem verzerrten Profil. Persönlichkeitsfaktoren spielen zusammen mit der primären Intelligenz und sozialen Einflussgrößen eine erhebliche Rolle bei dem Erlangen eines Bildungsniveaus und dem Aufbau einer beruflichen Laufbahn. In der älteren Generation war die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Bezug auf die schulische Ausbildung nicht so selbstverständlich wie heute und viele ältere Frauen hatten nicht die Möglichkeit zu einer beruflichen Entfaltung, wie dies heute der Fall ist. In vielen Untersuchungen zeigt sich eine geringere schulische Ausbildung und niedrigere berufliche Qualifikation bei Frauen im Vergleich zu Männern. Es erscheint daher notwendig, dass die Interpretation von Testergebnissen die schulische Ausbildung und berufliche Entwicklung im Einzelfall berücksichtigt.

Neben einer symptomgeleiteten Anamneseerhebung ist die routinemäßige Abfrage bestimmter anamnestischer Bereiche unabdingbar. Dafür eignen sich Anamnese-Checklisten durchaus, da sie durch die vorgegebene Struktur eine lückenlose Erfassung gewährleisten. Andererseits birgt das schematische Abfragen nach einem starren Schema das Risiko, dass relevante und wenig relevante Sachverhalte in gleicher Gewichtung erfasst werden. Eine auf den Einzelfall ausgerichtete vertiefte Anamnese hätte in Teilbereichen effizientere Informationen geliefert. Eine gewisse Flexibilität in der Anamneseerhebung macht es dem erfahrenen Untersucher einfacher, gezielt jene Informationen herauszufiltern, die für die klinische Beurteilung am Ende ausschlaggebend sind.

Die strukturierte Anamnese bietet den Vorteil, dass auch Themengebiete abgearbeitet werden können, die in einem intuitiven Interview möglicherweise ausgeklammert würden. Gerade bei älteren Menschen besteht eine gewisse Scheu zur Einholung von Sexualanamnesen, obwohl es gute Gründe gibt, auch in diesem Lebensbereich medizinische Informationen einzufordern. So finden sich HIV-Erkrankungen und damit ggf. auch HIV-assoziierte Enzephalopathien nicht nur in jüngeren Bevölkerungsgruppen, sondern durchaus auch bei älteren Menschen, sogar bei alleinstehenden älteren Damen. Eine gewisse Unbehaglichkeit auf Seiten der ärztlichen Untersucher darf nicht dazu verleiten, diesen Lebensbereich aus der Exploration auszuklammern. Ähnliches gilt für die Suchtmittelanamnese: Zwar wird der Konsum von Alkohol bei vielen ärztlichen Anamnesegesprächen auch bei älteren Menschen thematisiert, der Gebrauch illegaler Drogen wird bei ihnen aber häufig für derart abwegig gehalten, dass eine gezielte Exploration diesbezüglich gar nicht erst unternommen wird. Dabei findet sich ein Konsum illegaler Substanzen auch durchaus bei Menschen jenseits des 60. Lebensjahres und der negative Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit z. B. bei chronischem Cannabis-Konsum ist selbstverständlich auch bei dieser Personengruppe von erheblicher Relevanz.

In Übersicht 2.1 findet sich eine Auflistung von Anknüpfungspunkten für eine Anamnese bei der Evaluation einer Hirnleistungsstörung. Diese Auflistung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellt eine einfache Richtschnur dar, um medizinisch relevante Sachverhalte zu erfassen.

Übersicht 2.1: Checkliste für die Anamneseerhebung bei der Diagnostik einer Hirnleistungsstörung

Syndrombezogene Anamnese

Unabhängig von der biografischen Anamnese sollte eine auf die kognitiven und mnestischen Funktionsbereiche fokussierte, syndrombezogene Anamnese durchgeführt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Schilderung der erlebten Leistungsdefizite aus der Sicht des Betroffenen. Bestimmte Defizite werden recht häufig thematisiert: Probleme beim Erinnern von Namen von eigentlich bekannten Personen oder Verlegen bzw. Verlieren von Gegenständen im Haushalt. Die Darstellung von Persönlichkeitsveränderungen, die als frühes Symptom der erkennbaren Vergesslichkeit oft lange vorausgehen, erhält man von den Betroffenen nur selten. Die häufig vorgebrachte Beschwerde, Namen von ursprünglich bekannten Personen plötzlich nicht mehr parat zu haben, bedarf der genauen Betrachtung im individuellen Kontext. Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit oder sozialen Aktivitäten mit sehr vielen Menschen in Kontakt kommen und auch in der Lage sind, die Namen jederzeit abzurufen. Kaum jemand ist sich darüber im Klaren, wie viele Personen im Laufe des Lebens namentlich aus dem Gedächtnis abrufbar sind. Die Zahl reicht vermutlich von einigen Hundert bis über Tausend. Die korrekte Identifikation von Personen ist dabei häufig an einen Kontext gebunden. Trifft man Menschen außerhalb dieses Kontextes, kann das Erkennen und Zuordnen plötzlich erschwert sein. Die Identifikation von Personen und die namentliche Einordnung ist ein implizierter Gedächtnisprozess, der normalerweise nicht trainiert wird. Menschen, die aus beruflichen oder privaten Gründen viele Menschen kennenlernen, bemerken jedoch schnell, dass das Einprägen von Namen Mühe bereiten kann. Gelegentlich werden Schwierigkeiten diesbezüglich im beruflichen Bereich als vermeintlich frühes Zeichen einer Hirnleistungsstörung eingeordnet. Derartige Beschwerden schildern beispielsweise Manager, die aufgrund ihrer starken beruflichen Beanspruchung unter hohem psychophysischen Stress stehen und denen das rasche Einprägen von Namen nicht wie gewünscht gelingt. Diese physiologischen Grenzen dürfen aber nicht als Ausdruck eines neurodegenerativen Prozesses missverstanden werden. Eine sehr sorgfältige Anamnese bezüglich der beruflichen Beanspruchung erscheint angebracht. Zweifelsohne besteht eine hohe interindividuelle Variabilität bezüglich der Fähigkeit, sich Namen einzuprägen und auch über längere Zeiträume abrufbar zu halten. Auch kognitiv-mnestisch gesunde Menschen erleben, dass sie Namen von eigentlich bekannten Personen wieder vergessen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Namen zu vergessen, wird umso größer, je länger die letzte Begegnung mit der Person und die Aktualisierung des Namens zurück liegen.