cover



Ein besonderes Kaliber

 ein Tatsachen-Krimi

 

 

 



 

von

Volker W. Degener



Impressum

 

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-384-9

MOBI ISBN 978-3-95865-385-6

 

 

 

 

Urheberrechtshinweis:

 

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency” reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Inhalt

 

Ein großer realer Kriminalfall im Ruhrgebiet. Ein zwanzigjähriger Deutscher, aus Kasachstan stammend, der hier lebt und zur Schule gegangen ist, gerät ins Drogenhändlermilieu und erschießt im Lauf eines halben Jahres sieben junge Männer in Herne, Wanne-Eickel, Rotterdam und Düren.

Volker W. Degeners Roman beschreibt die Ermittlungsarbeit des Teams um Steffen Kinski und begleitet das Ermittlungsteam bis zum Gerichtsentscheid. Der Roman versucht nachzuvollziehen, warum und wie diese Taten geschahen, und den Charakter des gefühllos wirkenden Täters zu ergründen.

 

 

 

 

 

 

 

»Gewalt ist das Analphabetentum der Seele.«

 

(Rita Süssmuth)

 

1

»Komm schon, komm!«, zischt Kinski. Er atmet heftig.

Zwanzig Meter vor ihm eine schmale Schattenfigur, die sich langsam nach links bewegt. Die hat er genau im Blick. Aber da ist noch so ein Scheißkerl. Im Schatten eines Baumstamms. Einen Moment lang taucht sein verdammtes Gesicht auf. Und ein silbernes Schießeisen.

Mit der linken Schulter drückt sich Kinski an eine Holzwand, reißt blitzschnell seine Hand mit der Pistole hoch und drückt ab. Noch vor dem Knall blitzt zum zweiten Mal das Mündungsfeuer des Täters auf. Dessen verbissene Visage lässt den Willen erkennen,

nicht aufzugeben. Trotz des Treffers im Oberarm.

Der Kerl verschwindet hinter einer Hauswand, springt dann plötzlich in eine grüne Ligusterhecke, dreht sich im Sprung herum und schießt ein drittes Mal. Kinski erwidert das Feuer mit einem Schuss und hält, während er auf eine Reaktion des Gegners wartet,

seine Waffe weiter auf den Täter gerichtet. Der aber verschwindet im Halbdunkel.

»Okay, das reicht!«, sagt eine unaufgeregte Stimme hinter Kinski, der seine Walther P 99 in das lederne Schulterholster schiebt.

Er zieht den Ohrschutz vom Kopf und sieht den Ausbilder eher vorwurfsvoll als fragend an.

»Daneben? Mensch, ich hab ihn doch zweimal getroffen. Klarer Fall. Notwehr. Aber die Sicht war verdammt ungünstig.«

»That’s live, Kollege Kinski.«

»Blöde Szene! Alles kam viel zu überraschend.«

»Das ist halt so bei Schießlagen.«

»Scheißlagen!«

Kinski macht kopfschüttelnd kehrt und entfernt sich langsam von der Filmwand. Er zupft seine schwarze Lederweste zurecht, die jetzt wieder das Schulterholster verdeckt. Dann öffnet er einen weiteren Knopf an seinem blauweiß gestreiften Hemd.

»Moment Kollege! Abkleben!«

Der Ausbilder deutet auf die Stirnwand in der Halle.

»Ach so, ja.«

Die Wand ist jetzt hell erleuchtet. Auf dem Boden liegt eine Menge leergeschossener Patronenhülsen, Schmauchschwaden breiten sich aus. Kinski bückt sich nach einer der Kleberollen auf dem Boden und klebt seine Einschusslöcher zu. Eigentlich will er so schnell wie möglich den langgestreckten, mit hellbraunem Heraklit verkleideten Betonraum verlassen. Nicht nur das monotone Rauschen der Dunstabzugsanlage geht ihm auf die Nerven.

»Na dann der Nächste bitte!«

Die Eingangstür wird entriegelt. Ein zweiter Ausbilder kommt hinzu. Ein ganz junger Mann, den Kinski hier noch nie angetroffen hat. In jüngster Zeit gibt’s zu viele neue Gesichter, findet Kinski. Nichts ist mehr so wie gewohnt.

»Herr Kollege, ein Anruf für Sie. Sie sollen sich gleich bei ihrer Gruppenleiterin einfinden.«

Der Angesprochene schüttelt den Kopf.

»Keine Panik, Leute. Erst muss mein Mitarbeiter seine Übungen geschossen haben. In aller Ruhe. Wir kommen doch nicht hierher, um auf der Stelle kehrt zu machen.«

Kinski steht vor dem Tresen in der Regieecke und lässt sich von dem jungen Mann 16 neue Patronen geben, schiebt sie nach und nach in die beiden Magazinfächer und schlendert auf den Vorraum zu.

»So viel Zeit muss sein. Mal sehen, ob man ihm einen besseren Film serviert. Wäre irgendwie ungerecht.«

Hartmut Beyer kommt ihm entgegen. Gertenschlank und um einen Kopf größer als Kinski, steht er oft ein wenig gekrümmt da. So auch jetzt. Er sieht auf Kinski herunter.

»Schon gehört? Wir müssen sofort zurück. Ich jag’ aber noch schnell meine paar Dinger raus.«

»Geschenkt! Die Chefin hat Zeit«, sagt Kinski. »Seit wann tanzen denn OK-Leute nach ihrer Pfeife.«

Als sein Kollege verschwunden ist, steckt er sich erst mal eine Zigarette an, die letzte. Mit einem eleganten Bogenwurf befördert er die leere Schachtel in einen Plastikkorb. Er lässt sich auf einen der unbequemen Stühle sinken und streckt die Beine von sich. Die überquellenden Aschenbecher auf den beiden Tischreihen mit nackter Resopalfläche erinnern ihn wieder einmal daran, endlich das Scheißrauchen aufzugeben.

Eindeutig beherrscht wird der Raum von einer dunkelbraunen Pokalvitrine, die mit ihrer Glasfront bis zur Decke reicht. Urkundenserien und hässliche Pokale in allen Größen, silbern und bronzefarben. Weil er Pokale hasst, hat Kinski die Vitrine zu Beginn aus seinem Blickfeld ausgeblendet. Jetzt sieht er sich aufs Schönste in seiner Abneigung bestätigt. An der grau gestrichenen Längsseite des Raums hängt ein rechteckiger Spiegel an der Wand. Am unteren Rand des Spiegels beobachtet Kinski den hochwirbelnden Qualm, während er gedämpfte Schussgeräusche hinter der verriegelten Eisentür wahrnimmt.

Gnadenlos, dieses Spiegelbild. Es zeigt zwei Falten, die sich von der Nase zu den Mundwinkeln ziehen, eine Art Klammer, die den Mund umschließt. Kinski bläst den Rauch in die Höhe. Okay, als Mittvierziger weist er immer noch eine passable Figur vor. Seine Gewichtsprobleme hat er im Griff und seiner Haarfarbe muss noch nicht nachgeholfen werden. Der erste Grauschimmer, der sich abzeichnet, ist noch akzeptabel.

Aber. Ja doch, es wird langsam Zeit, mehr für sich zu tun. Ja, ja, ja – regelmäßige Spaziergänge in frischer Luft. Musik. Theater. Sport. Stimmt – sich mal wieder in einer Muckibude sehen lassen ...

Scheiße. Mit einem Mal ist die lästige Frage wieder da, die im Laufe der Zeit mehr und mehr verblasste, jetzt aber von dem verdammten Spiegelbild hervorgezaubert wird: Was hast du dir vor Jahren vorgenommen und was hast du davon verwirklicht? Und jedes Mal fällt ihm als Antwort immer weniger ein.

Kinski springt auf und geht zu den Fenstern. Er beobachtet den Garagenhof, auf dem gerade zwei uniformierte Kollegen lachend aus ihrem Streifenwagen steigen. Dann setzt er sich wieder. Die runde Uhr an der anderen Seite des Raums nimmt er spiegelverkehrt wahr.

»Nur Geduld, Madam, Geduld!«

Bis sein Mitarbeiter seine Übungen absolviert hat, vergeht fast eine halbe Stunde.

»Hast du eine Ahnung, was die Neue von uns will?«, fragt Hartmut Beyer später, als sie auf dem Weg zum Präsidium im Auto sitzen.

»Absolut null«, sagt Kinski. »Könnte ja sein, dass es um die Reorganisation der Neuorganisation geht. Garantiert was Unangenehmes. Ich hab’ so ein komisches Gefühl. Deshalb möchte ich, dass wir zu zweit bei der Dame auflaufen.«

Hartmut Beyer grinst ihn verständnisvoll an. Er steuert den dunkelgrauen Opel, dessen Sitze kalt und ziemlich ausgeleiert sind.

»Oh oh, der Bochumer Leiter des KK 21 scheint nicht viel von den genialen Neuerungen aus Düsseldorf zu halten.«

»Erraten. Aber das ist doch nichts Neues.«

»He, so was wie innere Kündigung? Burn out sogar?«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Bullshit! So was gibt’s weder bei mir noch bei dir. Klar? Halt mal an.«

Kinski steuert auf einen Lottoladen zu und kommt mit drei Päckchen Marlboro zurück. Während der Weiterfahrt fragt er per Handy in seinem Geschäftszimmer nach Neuigkeiten. Es gibt nichts Neues, meldet Ulla Brandenburg-Sonn, die Sekretärin des Kommissariats.

»A propos innere Kündigung«, greift Hartmut Beyer den Faden wieder auf. »Du solltest mal mit deinem Stellvertreter reden. Der hängt irgendwie durch.«

»Ich weiß, Norman hat private Sorgen. Aber du kennst ihn ja auch schon eine Weile, man kommt schlecht an ihn heran.«

Beyer hüstelt.

»Du weißt, dass ich mich bewerben will.«

»Habe so was läuten hören.«

»Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel.«

»Wieso denn? Aber was willst du beim Einbruch? Ist doch todlangweilig. Kein Mensch geht von uns zum KK 31.«

»Immerhin A 12, irgendwann mal A 13. Das ist der einzige Grund.«

»Versuch’s um Gottes Willen.«

»Danke!«

Eine Zeitlang suchen sie auf dem zweistöckigen Garagenhof am Präsidium nach einem Parkplatz.

»Erst zur Dienststelle oder gleich zur Griese?« will Beyer wissen.

»Wir sind schon spät dran«, meint Kinski. »Besser, wir springen gleich ins Auge des Taifuns.«

Sie nehmen den erstbesten Aufzug zum zweiten Stock. ZKB, Abteilungsleiterin Griese, Kriminaloberrätin. Sie gilt als entscheidungsfreudig, überaus durchsetzungsfähig. Aber sie ist noch nicht lange da. Sie muss sich noch Respekt verschaffen.

Im engen Vorzimmer gibt es einen Personalauflauf. Fast die gesamte MK 2 ist anwesend. Die Kollegen verabschieden sich gerade. Andreas Schmitz, der Leiter, strahlt nicht gerade Zufriedenheit aus. Fünf mal Hallo und Händeschütteln. Frau Griese wünscht der MK alles Gute und bittet Kinski und Beyer zu sich ins Dienstzimmer, während die Schreibkraft, Frau Krüger, ihnen freundlich zunickt. Das tut sie eigentlich immer.

Kinski bleibt abwartend in der Mitte des Raums stehen. Seit dem letzten Gespräch bei Griese hat sich einiges in ihrem Dienstzimmer verändert. Auf dem Schreibtisch ein moderner Halogenstrahler, drei große abstrakte Grafiken an der Wand gegenüber der Fensterreihe, und auf einem Beistelltischchen stehen frische gelbe Tulpen.

»Macht sich gut«, stellt Kinski fest, indem er auf die Bilder deutet. Hartmut Beyer beeilt sich zustimmend zu nicken. Er geht zwei Schritte auf die Bilder zu, um die Künstlernamen zu entziffern, bricht den Versuch dann aber ab.

»Kunst im öffentlichen Raum«, stellt die Oberrätin mit einem dünnen Lächeln fest, des abschätzig wirkt. »Aber meine Herren nehmen Sie doch Platz.«

»Ich bitte um Verständnis, dass wir mit Verspätung eintrudeln«, verkündet Kinski betont locker und zieht sich einen Stuhl etwas näher an den Schreibtisch der KOR’in heran, wobei er allerdings mit einer Zimmertanne kollidiert. »Wir waren in der Herner Strasse, zum Schießen.«

»Ich weiß, deshalb hatte ich dort anrufen lassen.«

»Ach so, stimmt ja.«

»Wir sind gehalten, unsere Schießintervalle genau einzuhalten«, ergänzt Beyer schnell, nachdem auch er Platz genommen hat. »Dreimal pro Jahr. Wer sich drückt, kriegt mächtigen Ärger, und zwar von ganz oben.«

»Alles bekannt, alles kein Problem. Im Gegenteil. Ich musste mit den Herren vom MK 2 noch einiges besprechen. Das Ganze hat sich länger hingezogen als geplant.«

Annette Griese, eine schlanke, drahtig wirkende Person in einem dunkelgrauen Kostüm, macht eine kleine Pause und sieht die beiden eindringlich an.

»Also, es gibt da eine Änderung. Deshalb sind Sie hier.«

Hartmut Beyer wirft seinem Dienststellenleiter einen kurzen Seitenblick zu, als Bestätigung für die vorher bereits vermuteten Probleme. Aber es kommt dann doch anders.

»Wir haben einen Mord in Herne.«

»Neue Arbeit für den Kollegen Schmitz«, vermutete Kinski und spürt so etwas wie Erleichterung.

»Ja. Eigentlich.«

Frau Griese lehnt sich in ihrem Ledersessel zurück und lässt ihre Augen hin und her wandern.

»Das klingt nach einem ›Aber‹.«

Die Erleichterung verflüchtigt sich.

»Genau. Es gibt Anzeichen, die mich und das LKA veranlasst haben, die Sache beziehungsweise die Ermittlungsarbeit in Ihre Hände zu legen.«

Unwillkürlich schaut Kinski auf die Hände seiner Chefin. Erstaunlich breite Hände, stellt er fest. Mit einem fragenden Blick versucht Kinski etwas mehr zu erfahren. Das klappt sogar.

»Nun ja, es sieht alles nach organisierter Kriminalität aus, und Rauschgift spielt dabei eine nicht zu kleine Rolle.«

Vermutlich so von Annette Griese beabsichtigt, entsteht eine kleine Pause, in der Kinski eine Menge durch den Kopf geht. Seit Jahren bemüht er sich darum, Todesermittlungen mit klarem Bezug zur organisierten Kriminalität selbst bearbeiten zu dürfen, obwohl das im Geschäftsverteilungsplan nicht so vorgesehen ist. Zwölf Jahre Erfahrung. Er weiß, dass sich die Aufklärung solcher Delikte äußerst schwierig gestaltet. Sie sind eingebettet in langfristig aufgebaute, gut funktionierende kriminelle Strukturen, die aufwändigste Ermittlungen und ungewöhnliche Methoden erfordern. Sie scheint das erkannt zu haben. Erstaunlich! Aber bei der Neuen ist Vorsicht angesagt. Deshalb gibt sich Kinski zurückhaltend:

»Wir hängen gerade an einer dicken Sache mit bulgarischen Falschgeldleuten. Sehr personalintensiv, vor allem wegen der Telefonüberwachungen.«

»Und ein Kollege ist seit langem krank«, ergänzt Hartmut Beyer.

»Die Bulgaren laufen euch nicht weg. Der Mord hier ist brandaktuell und vermutlich nur die Spitze eines Eisbergs. Das sagt mir jedenfalls meine Intuition. Und ihr habt die größeren Erfahrungen.«

Kinski schaukelt mit seinem Oberkörper hin und her. Auf seinem Stuhl rückt er ein Stück nach hinten.

»Was heißt das nun konkret?«

»Ist hier nachzulesen.«

Schmunzelnd schiebt sie einen Aktenordner über den Schreibtisch und erhebt sich, was ein wenig feierlich wirkt.

»Also, Steffen Kinski, übernehmen Sie. Keine leichte Aufgabe, aber zu packen. Viel Erfolg!«

2

Hinterher fragte sich Heinz-Wilhelm Soppart, warum er sich an diesem kalten Dezembermorgen ausgerechnet für die große Hunderunde entschieden hatte. Weniger Zufall oder Eingebung, eher Schicksal. Darauf konnte er sich einlassen. Dem Schicksal kann man einfach nicht entfliehen, schon gar nicht an einem Samstag, dem Dreizehnten.

Lisa hatte, wie an den meisten Tagen, die Führung übernommen. Ein Jack-Russell will mehrmals täglich beschäftigt sein. Soppart blieb stehen und lauschte, weil er in der Nähe ein Motorgeräusch wahrnahm. Er zog die Hundeleine aus seiner Jackentasche.

»Lisa, komm! Hier her! Sofort!«

Mist! Gerade noch rechtzeitig erkannte er den weißen Peugeot auf einem Seitenweg. »Hunde-Erziehungsberatung Logisch« stand auf der rückwärtigen Tür, die geöffnet war. Und im nächsten Moment füllte sich der Trampelpfad mit fünf jungen Frauen, die alle einen Hund an der Leine führten. Die Hundeführerinnen machten einen sehr ernsthaften, konzentrierten Eindruck. Ihre Gesichter waren von hundepädagogischem Wissen geprägt. Nur das Keuchen der Tiere war zu hören, sonst nichts. Die Gruppe umkreiste mehrmals das Auto und verschwand dann in den Büschen.

Spätestens jetzt verfluchte Soppart seinen Entschluss zu dieser Runde. Lisa zog wie wild an der Leine. Die Nase am Boden. Die Frauen machten kehrt, um ihren Törn ein zweites Mal anzugehen. Verärgert suchte Soppart ein freies Gelände, auf dem er niemanden anzutreffen hoffte. Als er seinen weiß-braun-schwarzen Freund endlich wieder von der Leine lassen konnte, stürmte der wie aufgedreht los.

»Nicht so weit, Lisa!«

Fröstelnd ging Soppart auf und ab, warf sich die Hundeleine über die Schulter und schob seine Hände in die Jackentaschen. Eigentlich hatte er richtig ausschlafen wollen an diesem Samstag. Aber dann hatte Lisa in aller Herrgottfrühe an der Schlafzimmertür gekratzt ...

Hektisches Hundegebell. Soppart hörte seinen Hund und hatte gleich so ein komisches Gefühl. Weil das Gekläff nicht aufhörte, folgte er einem Schotterweg, der etwas anstieg. Soppart rutschte in einer ausgewaschenen Schlackerinne aus und fluchte vor sich hin.

»Lisa aus! Aus!«

Schon von weitem sah er eine am Boden liegende Person. Lisa umkreiste den Mann aufgeregt und bellte ihn unentwegt an.

»Lisa aus!«

Soppart riss den Hund am Halsband zurück, leinte ihn wiederan. Er atmete erst einmal durch. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich der Person.

Keine Bewegung, kein Atmen. Der Mann war eindeutig tot.Seine Hand- und Fußgelenke waren mit Plastikschnüren gefesselt. Er lag dort in einer unnatürlichen Stellung, als habe er bei seinem Tod auf einer Bank gesessen. Sein Kopf war entstellt von blutigen Einschusslöchern.

Soppart mochte gar nicht genau hinsehen und er versuchte dem Mann auch nicht noch ein Stück näher zu kommen. Mit zittrigen Fingern fischte er sein Handy aus der Hosentasche.

»Vera, ich bin’s. Hier ist was passiert. Nein, uns nicht. Wir haben erst die große Samstagsrunde gemacht und sind dann abgebogen. Aber hier liegt ein Toter. Ja, ein Toter. Vera, ruf sofort die Polizei an, bitte.«

Er versuchte seiner Frau den genauen Ort anzugeben, was in diesem Gelände schwierig war. Schlackenhalde am Ende der Hofstraße, rechts ab, der Straßenname: Hinter Belmers Hof, Nähe Tierheim, ja klar, Röhlinghausen.

Soppart wartete lange auf die Bestätigung durch seine Frau. Dann war er wieder an der Reihe.

»Verdammter Mist! Ich hab mich so auf ein gemütliches Frühstück gefreut, hab’ den Kaffee schon gerochen. Du, ich fürchte, ich muss so lange hier bleiben, bis jemand von der Polizei kommt. Ich kann doch jetzt nicht einfach abhauen. Hast du verstanden? Die Polizei muss her, sofort.«

Keine Menschenseele, kein Hundegebell. Soppart schaute auf seine Uhr. Acht Uhr dreiundvierzig. Vielleicht war die genaue Uhrzeit später von Bedeutung. Auch, dass er nichts an dem Toten und dem Fundort verändert hatte. Die Sache war ja eindeutig.

Soppart blickte sich um. Er suchte seine eigenen Fußspuren. Aber der Boden war an dieser Stelle so fest, dass man keine Eindrücke oder Sohlenabdrücke erkennen konnte. Immerhin merkte er sich die Richtung, aus der er gekommen war. Lisa zerrte an der Leine, pinkelte einen Stein an. Wer macht so was, fragte sich Soppart, und er wusste, dass es eine alberne Frage war. Es gibt immer einen Grund.

Nach einer Viertelstunde hörte er endlich Motorgeräusche, Autotüren wurden geschlagen. Vielleicht die Polizei. Tatsächlich erschien ein Uniformierter. Er kam mit entschlossenen Schritten auf Soppart zu. Von seinem Alter her war er nahe an der Pensionsgrenze.

»Morgen. Nichts verändert, nichts berührt? Sonstige Zeugen?«

Soppart nickte und schüttelte zugleich seinen Kopf.

»Ich war hier ganz allein. Mit Lisa, meinem Hund. Der hat eine gute Nase.«

Der Polizist näherte sich vorsichtig dem Toten.

»Erschossen!«, sagte er. »Aber wenig Blut. Kann eigentlich nicht alles versickert sein.«

Er sprach in sein unglaublich großes Funkgerät, bestätigte die Angaben der Anruferin. Dann ging er wieder zu dem Toten.

»Gefesselt mit handelsüblichen Kabelbindern«, sagte er. »Sieht nach generalstabsmäßiger Planung aus. Am besten hätten sie ihn gleich hier nebenan verbuddelt.«

Dann kam ein zweiter Beamter hinzu.

»Wir sind vom Präsenzdienst«, stellte er sich vor. »Von einem Sondereinsatz kurzfristig abgezogen. Arzt und Kripo sind bereits verständigt. Das volle Programm.«

Er umkreiste den Toten. Es sah so aus, als wollte er irgendeine Absperrung vornehmen, eine provisorische Absperrung zumindest.

»Die Todesursache wird die Obduktion durch die Gerichtsmedizin in Essen ergeben«, sagte er.

Dann fragte er Soppart nach dessen Personalien und notierte sie.

»Danke. Nicht schön für Sie, das hier, aber so ist das Leben.«

Bevor er ein paar Schritte auf den benachbarten Friedhof zu machte, wurde er wieder dienstlich:

»Warten Sie bitte so lange hier, bis unsere Spezialisten eingetroffen sind. Das geht doch. Oder?«

Soppart zog die Schultern hoch.

»Ja, ja, natürlich. Ich weiß Bescheid. Nicht anders als im Krimi.«

»Bewegen Sie sich am besten nicht vom Fleck. Der Tote ist bestimmt hierher transportiert worden. Wahrscheinlich mit einem Auto. Dann gibt es Reifenspuren. Die müssen gesichert werden.«

Der Polizist mit dem Funkgerät bekam immer wieder Rückfragen wegen des Einsatzortes. Mehrmals wiederholte er seine Durchsagen.

»Nee, keine Eile geboten«, verkündete er abschließend. »Tot ist tot.«

Lisa zerrte jetzt wieder heftiger an der Leine. Soppart sah auf seine Uhr und hatte das Gefühl, es jetzt schon tausend Mal getan zu haben. Zwei buntgekleidete Jogger trabten plötzlich über das Wiesengelände und stoppten ihren Lauf sofort ab.

»Laufen Sie bitte weiter!«, rief ihnen der Beamte entgegen. »Aber im großen Bogen um dieses Gelände herum!«

Die keuchenden Läufer ignorierten das Kommando, trabten auf der Stelle und blieben dann in 20 Metern Entfernung stehen. Mit starrem Blick auf den Toten machten sie immer wieder neue Dehnübungen.

Was Soppart seit längerer Zeit befürchtete, trat tatsächlich ein. Er hörte die lauten Stimmen der Hundeführerinnen und eilte der Gruppe entgegen.

»Halt. Hier geht es nicht weiter«, erklärte er und bekam Unterstützung von einem der Uniformierten. Der legte fest, auf welchem Pfad die Frauen mit ihren Hunden den weißen Peugeot erreichen durften. Nachdem die Hunde in dem Auto verstaut waren, blieben die Frauen abwartend davor stehen. Soppart ging langsam zurück zum Fundort der Leiche.

»Eigentlich«, sagte der jüngere der beiden Polizisten, »eigentlich hatte ich gehofft, der Fall wäre für unsere Gelsenkirchener Kollegen. So dicht an der Stadtgrenze. Aber leider gehört der Kerl zu uns. Und damit die ganze Arbeit. Einer Wasserleiche könnte man ja noch einen Schubs geben, damit sie am anderen Ufer ankommt. Aber hier ...«

Dann kam ein Polizeiwagen mit Blaulicht über den engen Zufahrtsweg. Kurz darauf näherte sich ein Wagen der Feuerwehr, und danach lief das angekündigte »volle Programm« an. Soppart erkannte, dass er nun nicht mehr wichtig war. Er zog sich mit seinem Hund ein paar Schritte zurück. Er hatte das Bedürfnis, sich auf eine Bank zu setzen, nur noch zuzuschauen. Aber hier gab es nirgendwo eine Bank oder einen einladenden Baumstamm. Und es war kalt.

Mit vier Eisenstangen und rotweißem Flatterband entstand eine Absperrung um den Toten herum. Kriminalbeamte zogen sich weiße Overalls über. Ein Fotograf umkreiste den Erschossenen, ging in die Hocke und machte kurz über dem Boden ein Menge Fotos, richtete sich auf und fotografierte weiter. Einer der Männer tastete, nachdem er Gummihandschuhe übergestreift hatte, die Kleidung des Toten ab. Er hatte wohl Erfolg bei seiner Suche, denn er nickte mehrmals seinen Kollegen zu, die ihm mehrere Plastiktüten anreichten. Um welche Gegenstände es sich handelte, konnte Soppart nicht erkennen. Eigentlich war ihm das auch egal.

»Bin ich hier noch erforderlich?«, fragte er schließlich einen der Kriminalbeamten, von dem er annahm, dass er der Leiter des Teams war.

»Sie haben die Leiche gefunden?«

»Genau genommen mein Hund.«

»Schön. Ihre Personalien haben wir?«

»Der uniformierte Kollege hat sie aufgenommen.«

»Okay, ich notiere sie vorsichtshalber auch noch.«

Mit dem Hinweis, dass er in den nächsten Tagen als Zeuge vernommen werden würde, konnte sich Soppart entfernen.

Als er sich nach einem ungemütlichen Frühstück und mehrmaliger Schilderung des Sachverhalts nach etwa zwei Stunden noch einmal der Fundstelle näherte, war die Arbeit der Kripo immer noch nicht beendet. Der anthrazitfarbene Wagen eines Beerdigungsunternehmens stand mit geöffneten Türen auf dem Zufahrtsweg, in ziemlich großer Entfernung zum Fundort des Toten.

Dieses Mal hatte Heinz-Wilhelm Soppart Lisa zu Hause gelassen.