1 Anatomie, Physiologie/Pathophysiologie des Schmerzes

Stefanie Adler

Schmerz ist eines der am häufigsten geklagten Symptome, das Patienten zum Arzt führt. Die Differenzialdiagnostik und Kenntnis der Therapiemöglichkeiten von Schmerzen sollten wesentliche Bestandteile der medizinischen Versorgung sein.

1.1 Schmerzdefinition

Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP):

»Schmerz ist eine unangenehme Sinnesempfindung, die mit einer echten oder potenziellen Gewebsschädigung einhergeht, oder mit Begriffen einer solchen beschrieben wird« (IASP 1994).

Schmerz ist laut dieser Definition mehr als nur eine Reizwahrnehmung. Er ist eine subjektive Empfindung, mit sensorischen und emotionalen Qualitäten, der objektivierbare somatische Auslöser fehlen können. Die Definition stellt einen Fortschritt zu der allgemein verbreiteten Annahme dar, dass ein bestimmter Schmerzreiz als Ausdruck einer organischen Ursache auftritt und die Intensität des Schmerzes den Grad der Schädigung angibt. Allerdings wird in dieser Definition weder auf die Unterscheidung von akutem und chronischem Schmerz noch auf das Schmerzverhalten eingegangen.

1.2 Unterschiede akuter und chronischer Schmerz

Die Unterscheidung von akutem und chronischem Schmerz ist ein wesentlicher Bestandteil der schmerztherapeutischen Differenzialdiagnostik.

Der akute Schmerz besitzt eine wichtige biologische Warnfunktion, indem er uns auf ein schädigendes Ereignis hinweist. Schmerzwahrnehmung und -weiterleitung gehören demnach neben Atmungs- und Kreislaufregulation, Husten- und Lidschlussreflex zum protektiven System des menschlichen Organismus.

Unter chronischen Schmerzen versteht man anhaltende oder wiederkehrende Schmerzen, die über den »normalen Heilungsprozess« hinaus bestehen bleiben. Es existieren widersprüchliche Angaben hinsichtlich des zeitlichen Verlaufs (> 3 Monate bzw. > 6 Monate). Bei der Entstehung chronischer Schmerzen hat der Schmerz seine ursprünglich schützende Funktion verloren und wird zum eigenständigen Krankheitsbild. Die Chronifizierung der Schmerzkrankheit stellt einen Prozess dar, bei dem neben körperlichen Symptomen auch psychische und soziale Faktoren beteiligt sind und zur Beeinträchtigung der Lebensqualität der Patienten führen.

Beim akuten Schmerz sind Schmerzempfindung, Schmerzverarbeitung und Schmerzerleben jedoch auch komplexe Geschehen, die von aktueller körperlicher und psychischer Verfassung, vorbestehenden Erfahrungen in Zusammenhang mit Schmerz sowie kulturellen Faktoren beeinflusst werden.

Schmerz ist individuellSchmerz ist das, was der Patient angibt.

Akuter Schmerz:

Chronischer Schmerz:

Tab. 1.1: Red Flags/Yellow Flags

Red Flags

Fraktur

Trauma, Osteoporose, Steroidtherapie

Tumor

Anamnese, B-Symptomatik, höheres Alter

Infektion

Fieber, Schüttelfrost, anamnestisch bakterielle Infektion, Immunsuppression, i. v. Drogenkonsum

Radikulopathie

Paresen, Parästhesien, Blasen-/Mastdarmentleerungsstörungen, Kaudasyndrom

Yellow Flags

Kognitionen

Überzeugungen, Katastrophisieren

Emotionen/Verhalten

Angst, Hilflosigkeit, Resignation, Depression, Schon-, Vermeidungsverhalten, Rückzug, Medikamentenmissbrauch

Familie

überprotektiver Partner, gravierende familiäre/partnerschaftliche Konflikte

Arbeitsplatz

Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Entlastungsmotivation

Diagnostik/Behandlung

mehrere sich zum Teil widersprechende Diagnosen, nicht indizierte invasive Maßnahmen, Inanspruchnahmeverhalten, Doctor hopping

Red Flags und Yellow Flags

Bei Erstvorstellungen, aber auch im Verlauf der Schmerztherapie ist es wesentlich, mögliche Ursachen eines akuten Geschehens bzw. einer plötzlichen Verschlimmerung eines chronischen Schmerzes abzuklären. Sogenannte Red Flag sollten als Warnflaggen berücksichtigt und ggf. abgeklärt werden. So können z. B. können unspezifische und unkomplizierte Rückenschmerzen von alarmierenden Symptomen differenziert werden.

»Yellow Flags« dienen dazu, Faktoren zu identifizieren (► Tab. 1.1), die ein Risiko für die Chronifizierung von Schmerzen darstellen (► Tab. 1.2).

Tab. 1.2: Akuter und chronischer Schmerz

Akuter Schmerz

Chronischer Schmerz

Stunden bis maximal Wochen

Schmerz der über den normalen Heilungsverlauf anhält (> 3 bzw. 6 Monate)

Warnzeichen, das auf eine Gefahr aufmerksam macht

keine Melde-, Schutz- und Heilfunktion

Schmerzwahrnehmung löst entsprechende Schutzreaktion aus

wird zur eigenständigen Schmerzkrankheit

vegetative Aktivierungs- und Stressreaktion

physische, psychische und soziale Zermürbung

Behandlung der Ursache

Behandlung der Symptome

Beispiele: Trauma, Kolik, Ischämie, postoperativer Schmerz

Beispiele: Kopfschmerz, Rückenschmerz, Neuralgie, Phantomschmerz

Komponenten der Schmerzempfindung

Die Schmerzverarbeitung erfolgt über ein Netzwerk von Neuronen; vier Komponenten fließen in Schmerzverarbeitung und Schmerzempfindung ein (► Tab. 1.3).

Tab. 1.3: Schmerzverarbeitung und Schmerzempfindung

sensorisch-diskriminative Komponente

Wahrnehmung von Reizort, Reizstärke, Reizdauer und Art des Reizes

kognitive Komponente

Einordnung und Bewertung des Schmerzes vor dem individuellen Hintergrund aus Erfahrungen, gegenwärtiger Stimmung und bestimmten Erwartungen

affektive Komponente

Erleben des Ereignisses »Schmerz« im individuellen emotionalen Kontext

autonome und somatosensorische Komponente

vegetative und motorische Reflexantwort auf den Schmerzreiz

1.3 Physiologische Grundlagen

I. Neuron der Schmerzverarbeitung

Nozizeptor

Periphere Schmerzen entstehen durch die Aktivierung von Nozizeptoren. Nozizeptoren sind freie Nervenendigungen von afferenten Aδ- und C-Fasern, die auf verschiedene überschwellige mechanische, thermische und chemische Reize reagieren und diese zum Zentralnervensystem weiterleiten. Der Schmerzreiz wird zum Hinterhorn des Rückenmarks geleitet und dort auf das II. Neuron umgeschaltet.

Nozizeptoren: freie, periphere Nervenendigungen, die mit der Aufnahme und der Verarbeitung von Schmerz befasst sind.

Arten von

Nozizeptoren:

polymodal

Reaktion auf Hitze, Druck, chemische Reize

unimodal

Reaktion auf Druck oder Hitze

schlafend

Sensibilisierung durch Entzündungsprozesse

Nervenfasern

Fasertyp

Funktion

Aα ++++

Motorik, Berührung, Druck, Tiefensensibilität

Aβ +++

Motorik, Berührung, Druck, Tiefensensibilität

Aγ ++

Muskeltonus

Aδ +

Schmerz, Temperatur

B

präganglionäre sympathische Funktion

C

Schmerz, Temperatur, Berührung, postganglionäre sympathische Funktionen

Aδ-Fasern epikritischer Schmerz scharfer stechender gut lokalisierbarer Schmerz,

Leitgeschwindigkeit 12–30 m, Myelin ++

C-Fasern protopathischer Schmerz polymodale Schmerzafferenzen (Temperatur, Schmerz, Jucken, diffuse taktile Empfindung von Haut und Eingeweiden),

dumpfe, brennende Schmerzen,

Durchmesser 0,5–1 μ,

Leitgeschwindigkeit 1 m/s,

unmyelinisiert

II. Neuron der Schmerzleitung

Die Umschaltung auf das II. Neuron erfolgt im Spinalganglion zum Hinterhorn des Rückenmarks. Der nozizeptive Einstrom führt zur Freisetzung von exzitatorischen (erregenden) Neurotransmittern (z. B. Glutamat, Substanz P).

Wenn die Schmerzpotenziale im Hinterhorn des Rückenmarks ankommen, werden sie auf synaptischer Ebene auf sogenannte Projektionsneurone umgeschaltet und erreichen nach zum Teil mehrfacher Verschaltung über entsprechende Tractus die verschiedenen Gehirnregionen (Kleinhirn und den Thalamus). Die bedeutendste afferente Schmerzbahn ist der Tractus spinothalamicus im Vorderseitenstrang des Rückenmarks.

Es existieren zwei verschiedene Arten von Projektionsneuronen:

→ NS = nozizeptorspezifisch

→ WDS = wide dynamic range (werden durch breites Spektrum an Reizen erregt)

Zudem beeinflussen Interneurone die nozizeptiven Impulse, teilweise sind diese in Reflexbögen eingeschaltet bzw. hemmen oder fördern die Schmerzweiterleitung.

Gate-Control-Theorie (Melzack und Wall 1965):

Neuronale Mechanismen im Hinterhorn des Rückenmarks (Substantia gelatinosa) haben die Funktion eines Tors (Gate), das die Projektion des peripheren Reizeinstroms zum ZNS steuert.

Neuronale Verschaltung auf Rückenmarksebene (► Abb. 1.1):

A

Schmerzafferenzen (Aδ- und C-Fasern)

B

Aβ-Fasern (Berührungs-, Druckempfinden)

C

hemmendes Interneuron

D

Kreuzung zur Gegenseite

E

Vorderseitenstrang (Tractus spinothalamicus)

F

motorische/sympathische Efferenzen

III. Neuron der Schmerzleitung

Der nozizeptive Reiz wird vom Rückenmark über den Vorderseitenstrang zum Thalamus weitergeleitet. Zudem bestehen Verbindungen zur Formatio reticularis des Hirnstammes. Hier beeinflussen die Schmerzreize vegetative Funktionen und die Wachheit.

Der Thalamus dient als »Schaltzentrale« der Umschaltung und Weiterleitung sensorischer Informationen und selektiert die Schmerzreize, die zum Kortex gelangen.

Man teilt in ein mediales und ein laterales System. Das mediale System zieht über Umschaltung in den medialen Thalamuskernen zum limbischen System und anderen Hirnregionen und vermittelt Gefühls- und Motivationsaspekte des Schmerzes. Impulse, die im lateralen System fortgeleitet werden, werden in der lateralen Kerngruppe des Thalamus auf das III. Neuron umgeschaltet, ziehen zum somatosensorischen Kortex, wo die Lokalisation und Differenzierung von Schmerzreizen stattfindet (► Abb. 1.2).

Vereinfachte Darstellung der zentralen Schmerzverarbeitung (► Abb. 1.3 und 1.4).

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Abb. 1.1: Neuronale Verschaltung auf Rückenmarksebene

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Abb. 1.2: Differenzierung von Schmerzreizen

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Abb. 1.3: Zentrale Schmerzverarbeitung

Neurotransmitter (Botenstoffe)

exzitatorisch (erregend):

inhibitorisch (hemmend):

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Abb. 1.4: Schmerzreiz

Körpereigene schmerzhemmende Systeme

Der Schmerzreiz kann auf Rückenmarksebene und auf Ebene des Gehirns durch körpereigene Hemmsysteme moduliert werden. Die Modulationen erfolgt teilweise bereits bei Umschaltung der afferenten Neurone auf das II. Neuron. Hier aktivieren Impulse aus Aβ-Fasern (Druck, Berührung) Schmerzhemmmechanismen durch Freisetzung von Endorphinen.

Die zwei wichtigsten körpereigenen Hemmsysteme sind das ARAS (ascending reticular activating system), das vom Hirnstamm absteigend über endogene Opioide (Enkephaline) wirksam ist. Darüber hinaus existiert ein zentrales Hemmsystem im Hypothalamus (periäquaductales Grau), das seine antinozizeptive Funktion über β-Endorphine ausübt.

Schmerz entsteht nicht nur durch Erregung von Schmerzrezeptoren, sondern auch durch verminderte segmentale Schmerzhemmung. So führt z. B. die Durchtrennung eines afferenten Nervs oft nicht zur Schmerzfreiheit, weil auch schmerzhemmende Aβ-Afferenzen durchtrennt werden.

1.4 Pathophysiologie von Schmerzen

Zur Diagnostik in der Schmerztherapie ist es unabdingbar, die Schmerzqualität zu erfragen. Darüber ist es möglich, die geschädigte Struktur genauer zu differenzieren. Die Klassifikation nach pathogenetischen Kriterien hat Konsequenzen für die Therapieplanung, insbesondere für die Auswahl der Medikamente. Während Nozizeptorschmerzen typische Indikationen für Analgetika darstellen, haben die »klassischen Analgetika« allein bei neuropathischen Schmerzen oft wenig Erfolg.

Hinsichtlich Ätiologie und Schmerzqualität werden unterschieden:

Nozizeptorschmerz (Gewebeschmerz)

Unter Nozizeptorschmerzen werden alle Arten von Schmerzen verstanden, die durch direkte Reizung von Schmerzrezeptoren, sogenannte Nozizeptoren entstehen.

Nozizeptorschmerz → entsteht nach direkter Gewebeschädigung, Entstehung durch schädigende Reize an den intakten Nozizeptoren. Dabei bleibt die Reizweiterleitung intakt.

Nozizeptorschmerzen werden nach ihrer Entstehungsursache weiter in somatische und viszerale Nozizeptorschmerzen unterteilt (► Abb. 1.5).

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Abb. 1.5: Nozizeptorschmerzen

Neuropathischer Schmerz (Nervenschmerz)

Durch Läsionen im peripheren oder zentralen Nervensystem kommt es zu einer Schmerzempfindung im Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven. Als Folge der Läsion verändern sich die schmerzleitenden aufsteigenden Neurone biochemisch, morphologisch und physiologisch (Neuroplastizität). Mit zunehmender Schmerzdauer können diese neuroplastischen Veränderungen irreversibel werden. Die Entstehung und Aufrechterhaltung neuropathischer Schmerzen sind das Resultat einer veränderten peripheren, spinalen und supraspinalen Signalverarbeitung.

Neuropathischer Schmerz → Schmerz, der durch eine Läsion oder Dysfunktion des zentralen oder peripheren Nervensystems verursacht wird.

Ursachen neuropathischer Schmerzen

Neuropathische Schmerzen können nach axonaler Läsion von Nervenfasern, z. B. nach Verletzungen bzw. Tumoren auftreten. Diese Schädigungen können sekundär zu Demyelinisierung der Nerven führen. Eine direkte Demyelinisierung kann z. B. durch Diabetes, Alkoholmissbrauch oder nach Chemotherapie hervorgerufen werden. In der Folge finden Reparaturprozesse statt, die eine Sensibilisierung auslösen. Weiterhin kann eine Mikroangiopathie der Vasa nervorum zu mangelnder Versorgung der Nerven und demzufolge zu deren Schädigung führen.

Ursachen von neuropathischen Schmerzen können z. B. sein:
Differenzierung neuropathischer Schmerzen

(► Tab. 1.4)

Tab. 1.4: Differenzierung neuropathischer Schmerzen

Peripher

Zentral

Polyneuropathie

Nervenläsion, -kompression

Neuralgie

Thalamusschmerz

Deafferenzierungsschmerz

Apoplex

Multiple Sklerose

Syringomyelie

Charakteristik neuropathischer Schmerzen

Typisch für Nervenschmerzen sind spontane Dauerschmerzen, häufig von brennendem Charakter. Bei einigen neuropathischen Schmerzsyndromen treten auch spontan einschießende, stechende Schmerzattacken auf. Evozierte Schmerzen werden durch einen äußeren Reiz ausgelöst. So kommt es zu Allodynie (ein nicht schmerzhafter Reiz löst Schmerzen aus) und/oder Hyperalgesie (ein leicht schmerzhafter Reiz löst eine inadäquate Schmerzreaktion aus).

Neuropathische Schmerzen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht direkt am Entstehungsort, sondern im Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven ausstrahlen. Die Kombination von positiven sensorischen Symptomen ist häufig.

Qualitäten von Spontanschmerzen:

→ neuralgieform: einschießend, stechend

→ kausalgieform: brennend, bohrend, reißend

Verletzte nozizeptive C-Fasern imponieren als

→ brennende Dauerschmerz oder einschießende Schmerzattacken

und verletzte mechanosensible Aβ-Fasern als

→ Kribbelparästhesien, Ameisenlaufen.

Negative sensorische Phänomene:
Positive sensorische Phänomene:
Sympathisch unterhaltene Schmerzen

Unter sympathisch unterhaltenen Schmerzen (symathetically maintened pain) wird eine Unterart von Nervenschmerzen verstanden, bei denen Spontanschmerz und evozierte Schmerzen durch die pathologische Aktivität sympathischer Nervenfasern aufrechterhalten werden. Für das komplexe regionale Schmerzsyndrom (früher: Morbus Sudeck) wird eine solche Entstehungsursache angenommen. Einige dieser Schmerzsyndrome sprechen gut auf Sympathikusblockaden an, hierbei wird die absteigende sympathische Innervation zum betroffenen Körperteil unterbrochen und somit eine Reduktion der Schmerzen erreicht.

Mixed Pain

Beim »gemischtem Schmerz« liegen die verschiedenen Schmerzkomponenten (Nozizeptorschmerz und neuropathischer Schmerz) gleichzeitig vor. So ist z. B. bei Rücken- oder Tumorschmerzen eine klare Unterscheidung der beiden Schmerzformen oft nicht möglich. Es ergeben sich therapeutische Konsequenzen für kombinierte Therapieverfahren.

1.5 Schmerzchronifizierung

Schmerzchronifizierung auf zellulärer Ebene

Sowohl der Entzündungsschmerz als auch der neuropathische Schmerz resultieren in einer Sensitivierung, d. h. in einer Erniedrigung der Reizschwelle peripherer Nozizeptoren, und nachfolgend in der wiederholten Entladung von Aktionspotenzialen, die zum Rückenmark weitergeleitet werden.

Periphere Sensibilisierung

Bei einem Gewebeschaden kommt es zu einer lokalen Entzündungsreaktion. Es werden Entzündungsmediatoren (z. B. Histamin, Kinine, Prostaglandine) und Neuropeptide ausgeschüttet (Substanz P, Calcitonin, Gene related Peptide, Neurokinin A). All diese Substanzen wirken entweder direkt durch eine Aktivierung von Ionenkanälen oder indirekt durch Aktivierung spezifischer Rezeptoren mit nachfolgender Herabsetzung der Reizschwelle der Zellmembranen auf die Nozizeptoren ein. Bei einer anhaltenden Freisetzung dieser Botenstoffe werden die Nozizeptoren sensibilisiert und zusätzlich »schlafende Nozizeptoren« aktiviert. In der Folge führen sowohl Spontanentladungen als auch unterschwellige Reize zu einer verstärkten Aussendung nozizeptiver Reize. Weiterhin kommt es durch Schädigung der C-Fasern zu einer spontanen Erregungsbildung über Neuentwicklung bestimmter Ionenkanäle (Na-Kanäle). Die Veränderungen im Rahmen der peripheren Sensibilisierung resultieren in einer gesteigerten Schmerzwahrnehmung (primäre Hyperalgesie).

Sensibilisierung peripherer nozizeptiver Neurone durch repetitive Noxen führt zu

Zentrale Sensibilisierung

Besonders starke oder lang anhaltende Schmerzreize können auf Rückenmarksebene zu bleibenden zellulären Veränderungen führen (= Neuroplastizität). Es kommt zur Bahnung der Schmerzfortleitung an den Synapsen des Rückenmarks und somit zur sekundären Sensibilisierung zentraler nozizeptiver Neurone im Hinterhorn. Bei repetetivem nozizeptivem Input resultiert eine gesteigerte Erregung der WDR-Neurone (= Wind-up-Phänomen). Weiterhin kann die chronische nozizeptive Aktivität zu Funktionsverlust des schmerzhemmenden Systems führen. Bei fehlender Schmerzhemmung kann die anhaltende Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter zu andauernder Erregung der postsynaptischen Membran und zur Bildung von neuen Rezeptoren (NMDA-Rezeptoren) führen.

All diese Prozesse resultieren in einer gesteigerten Schmerzempfindung (sekundäre Hyperalgesie). Neuroplastizität und Sensibilisierungsprozesse können dazu führen, dass normalerweise nicht schmerzhafte Reize (z. B. Berührung) als schmerzhaft empfunden werden (Allodynie).

Mechanismen zentraler Sensibilisierung:

Biopsychosoziales Modell

Die alleinige Berücksichtigung der zeitlichen bzw. körperlichen Aspekte bei der Entstehung chronischer Schmerzen wird der Problematik nicht gerecht. Chronifizierung ist in erster Linie ein Prozess. Neben organischen Veränderungen bestimmen psychosoziale Veränderungen in bedeutsamer Weise die Verminderung der Lebensqualität der Patienten. Bei einigen Patienten muss schon nach wenigen Monaten von einer Chronifizierung ausgegangen werden, bei anderen wiederum tritt trotz jahrelanger Schmerzanamnese keine Chronifizierung ein. Zur Beschreibung des Prozesses der Schmerzchronifizierung steht das biopsychosoziale Modell zur Verfügung (► Abb. 1.6), auf das an späterer Stelle in diesem Leitfaden eingegangen wird.

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Abb. 1.6: Biopsychosoziales Modell

Patienten mit verschiedenen Chronifizierungsgraden unterscheiden sich weniger in der Schmerzintensität als hinsichtlich der schmerzbedingten Beeinträchtigung und der verminderten Lebensqualität durch die Schmerzen.

Typische Charakteristika bei Patienten mit hohem Chronifizierungsgrad:

Der Schmerz hat seine Leit – und Warnfunktion verloren und selbstständigen Krankheitswert erlangt. In diesen Fällen führt das Schmerzleiden zu psychopathologischen Veränderungen. Der Patient erhebt den Schmerz zum Mittelpunkt seines Denkens und Verhaltens. Dadurch wird er seinem sozialen Umfeld entfremdet, was zu einer Vertiefung des psychopathologischen Krankheitsbildes führt (Präambel zur Schmerztherapie-Vereinbarung DÄ, 1997).

Um den Ausprägungsgrad der Chronifizierung zu erheben, hat sich in der Praxis das Mainzer Stadienmodell nach Gerbershagen (MPSS) bewährt. Hier werden zeitliche und räumliche Aspekte des Schmerzes, Medikamenteneinnahmeverhalten sowie Patientenkarriere erfasst. Der sich aus diesen Parametern ergebende Summenscore steht für das Chronifizierungsstadium (I–III; ► Abb. 1.7).

Das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (MPSS)
Auswertungsformular

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Abb. 1.7: Mainzer Stadienmodell, Auswertungsformular

2 Psychologische Aspekte des Schmerzes

Hilde A. Urnauer

Es ist nicht immer der Schmerz,

der das Leben unerträglich macht,

sondern häufig ist es umgekehrt das Leben,

das den Schmerz unerträglich macht.

(David Bresler 1979)

2.1 Schmerzverarbeitung

Die Beteiligung psychologischer Aspekte bei der Schmerzverarbeitung zeigt sich bereits in der Definition der International Association for the Study of Pain (IASP 1979), die Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis beschreibt. Schmerz hat immer auch eine kommunikative Funktion. Der Körper kommuniziert über den Schmerz mit dem Geist. Über den Schmerz wird auch mit der Umwelt kommuniziert, z. B. die Botschaft weitergegeben: »Ich bin erschöpft und brauche eine Auszeit.«

Bei der Schmerzverarbeitung sind komplexe periphere und zentrale Prozesse beteiligt. Es werden zwei Schmerzsysteme unterschieden: das laterale Schmerzsystem, das die sensorisch-diskriminative Komponente des Schmerzerlebens steuert, sowie das mediale Schmerzsystem, das als affektives/kognitives System den Sinneseindruck bewertet, verändert und emotional besetzt. Im limbischen System erfolgt die emotionale Bewertung des Schmerzreizes. Je nach situativer Gefühlslage und emotionaler Bewertung kann der Schmerzreiz verstärkt oder abgeschwächt werden. So kann eine aktuelle depressive oder ängstliche Stimmung zu einer Verstärkung des Schmerzreizes führen. Weitere beteiligte Hirnregionen sind der Hippokampus, das biografisches Gedächtnis sowie das Gyrus cinguli und der Cortex präfrontalis, die zuständig sind für Aufmerksamkeit, Motivation und Handlungsplanung. In der psychologischen Schmerztherapie spielt die Aufmerksamkeitsfokussierung eine wichtige Rolle. Das Lenken der Aufmerksamkeit auf schöne Erlebnisse kann zum einen den Schmerz in den Hintergrund treten lassen als auch zum anderen zu einer Verbesserung der Gefühlslage und somit zu einer Schmerzmodulation führen.

Über den Thalamus existiert eine Verbindung zwischen dem Schmerz- und dem Stress-System. Psycho-sozialer Stress führt zu Funktionssteigerungen des Schmerzzentrums. Es wird angenommen, dass frühe Belastungen im Leben zu einem erhöhten Stresslevel und dadurch zu einer anhaltenden Dysregulation führen (zentrale Stressverarbeitungsstörung). Die Folgen sind eine Störung der deszendierenden Schmerzhemmung und damit direkte Schmerzaktivierung durch Desensibilisierung der Opiatrezeptoren im PAG sowie eine gestörte Erholungsfähigkeit durch Überflutung mit Stresshormonen (Hemmung des Parasympathikus).

2.2 Schmerzchronifizierung

Sowohl bei Entstehung als auch bei Aufrechterhaltung von Schmerzen spielen neben somatischen immer auch psychologische und soziale Faktoren eine Rolle (► Abb. 2.1). Psychosoziale Faktoren können (Mit-)Auslöser für die Entwicklung von Schmerzen sowie auch Folgeerscheinungen langanhaltender Schmerzen sein. Das Befragen von Patienten nach psychischen Belastungen zu Beginn der Schmerzerkrankung lässt häufig einen deutlichen Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen und Schmerzentwicklung erkennen. Auch wenn für die Schmerzentstehung somatische Auslöser im Vordergrund stehen, wirkt sich ein länger anhaltender Schmerz auf Befinden und Verhalten des Patienten aus. Es können z. B. Schlafstörungen und Reduzierung von Leistungsfähigkeit auftreten. Mit fortschreitender Chronifizierung tritt häufig ein Circulus vitiosus ein. Es kommt zu Gefühlen von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein dem Schmerz gegenüber, zu sozialem Rückzug, Problemen im beruflichen und familiären Bereich bis hin zur Entwicklung einer behandlungsbedürftigen Depression. Diese mannigfaltigen psychischen und sozialen Konsequenzen tragen wiederum zur Aufrechterhaltung der Schmerzen bei.

Auf den Punkt gebracht lässt sich sagen, dass die Schmerzentwicklung individuell betrachtet werden muss, was die Einbeziehung der Ganzheit des Menschen unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeit, seiner Entwicklung und seiner individuellen Lebenssituation beinhaltet. Beim chronischen Schmerzpatienten sind die Mosaiksteine, bestehend aus medizinischen, psychologischen und sozialen Anteilen, zu sortieren und so zusammenzufügen, dass aus diesem Gesamtbild die individuellen Therapieziele und -pläne abgeleitet werden können.

Biopsychosoziale Schmerzchronifizierung

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Abb. 2.1: Biopsychosoziale Schmerzchronifizierung

Der Einfluss biopsychosozialer Faktoren bei der Schmerzchronifizierung soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden.

Fallbeispiel: 45-jährige Patientin mit chronischen Rückenschmerzen

Schmerzentwicklung: Seit dem 30. Lebensjahr immer wieder akute Schmerzattacken, die mit Massagen und Spritzen behandelt wurden. Vor zwei Jahren traten die Schmerzen wieder massiv auf. Es wurden wiederholt bildgebende diagnostische Maßnahmen durchgeführt, die keinen Befund ergaben. Trotzdem wurde die Patientin aufgrund der stark anhaltenden Schmerzen operiert. Die Schmerzen bestehen weiterhin und die Patientin ist erwerbsunfähig.

Sozialanamnese: Technische Zeichnerin, verheiratet, ihr Mann ist frühberentet. Ihr Mann ist sehr fürsorglich und nimmt seiner Frau aufgrund der Schmerzen die meisten Arbeiten im Haushalt ab. Ihre Hobbys wie Joggen und Bergwandern hat sie wegen der Rückenschmerzen aufgegeben.

An diesem Beispiel können wichtige Chronifizierungsfaktoren aufgezeigt werden, die durch Behandlungsmaßnahmen mit verursacht wurden (iatrogene Faktoren). Die oben dargestellte Patientin bekam über Jahre monokausale Behandlungen. Es wurde nur auf die Schmerzbeseitigung abgezielt und im Vorfeld keine biopsychosoziale Anamnese erhoben, in der auch psychosoziale Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Die Patientin war über einen langen Zeitraum arbeitsunfähig. Es gab keine Versuche der Wiedereingliederung und sie verharrte im passiven Verhalten.

Soziale Ebene der Schmerzchronifizierung

Auf der sozialen Ebene nehmen operante Faktoren Einfluss: Reaktionen der Umwelt auf das Schmerzverhalten des Betroffenen, die zu einer Verstärkung der Schmerzen bzw. des Schmerzverhaltens führen können. In dem o.g. Beispiel könnte es sich um eine negative Verstärkung in dem Sinne handeln, dass durch die Schmerzen unangenehme Aktivitäten z. B. im Haushalt vermieden und gesunde Verhaltensweisen nicht genügend belohnt wurden.

Eine direkte, positive Verstärkung der Schmerzen entsteht durch vermehrte Zuwendung, Aufmerksamkeit, die der Patient ohne Schmerzen nicht von seinem Partner oder seiner Umgebung erhalten würde. Dies trifft auch für Verhaltensweisen des medizinischen Personals zu. Ein Schmerzpatient, der erfahren hat, dass er durch Schmerzäußerungen viel Aufmerksamkeit und Verständnis von seiten der Behandler erfährt, die er vielleicht in seinem bisherigen Leben nicht bekam, wird versuchen, über Schmerzäußerungen diese positive Erfahrung immer wieder zu machen.

Psychologische Ebene der Schmerzchronifizierung

Hier spielen dysfunktionale Kognitionen und Einstellungen eine Rolle. »Fear-avoidance-beliefs« wie »Ich muss mich ruhig halten, sonst wird es schlimmer« führen zu Vermeidungsverhalten, Inaktivität, Ruhigstellung, Schonung, was einen Abbau von Kraft und Ausdauer sowie Unsicherheit in der Koordination und im Körper- und Selbstbild zur Folge hat.

Psychische Komorbiditäten (Somatisierungsstörungen, depressive Störungen, Angsterkrankungen) sowie biografische Belastungen (leistungsorientierte Zuwendung, körperlicher/psychischer/sexueller Missbrauch) können zur Schmerzaufrechterhaltung beitragen. Erhält ein Mensch nur aufgrund seiner Leistungen Zuwendung, wird er versuchen dieses Muster sein Leben lang aufrechtzuerhalten, was zu extremen Durchhaltestrategien und damit zu physischer und psychischer Überforderung sowie Überlastung führen kann.

2.3 Schmerzdiagnostik

Die Vielschichtigkeit des chronischen Schmerzgeschehens erfordert einen integrativen Behandlungsansatz, der somatische sowie psychosoziale Dimensionen in Diagnostik und Therapieplanung berücksichtigt. Die multiaxiale Schmerzklassifikation ermöglicht eine Systematisierung und Klassifizierung chronischer Schmerzen nach diesen Dimensionen. Sie umfasst einen somatischen (MASK-S) und einen psychologischen Teil (MASK-P, Klinger et al. 2000).

Die MASK-P beschreibt psychische und soziale Anteile bei der Schmerzentstehung und -aufrechterhaltung. Diese deskriptiven Merkmale lassen sich verknüpfen im Sinne einer Schmerzdiagnose, die Annahmen über biopsychosoziale Wechselwirkungen und Zusammenhänge beinhaltet.

Die MASK-P differenziert nach den Bedingungen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen beitragen sowie nach den maladaptiven Strategien der Schmerzverarbeitung. Diese Differenzierungen können Entscheidungskriterien für die Auswahl psychologischer Therapien darstellen – ob z. B. eine psychologische Therapie, die den Schwerpunkt auf die Vermittlung von adäquaten Strategien zur Schmerzverarbeitung legt, oder eine Psychotherapie im engeren Sinne indiziert ist. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass bei der Therapieauswahl ebenso die vorhandenen Ressourcen der Patienten, deren Therapiemotivation sowie deren Therapieerwartungen berücksichtigt werden müssen.

Lautet die Schmerzdiagnose z. B. chronische Rückenschmerzen bei ängstlich-vermeidender Schmerzverarbeitung, wird in der psychotherapeutischen Behandlung darauf fokussiert werden, diese dysfunktionalen Verhaltensweisen zu verändern. Ziele wären: Abbau von Ängsten vor dem Schmerz, Ängsten, dem Körper durch falsche Bewegungen zu schaden, Aufbau von körperlichen Aktivitäten, Wiedergewinnung des Vertrauens in den Körper.

Sind psychische Faktoren maßgeblich an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Schmerzen beteiligt und liegt z. B. eine Somatisierung psychischen Leidens vor, ist eine Psychotherapie im engeren Sinne indiziert.

Fallbeispiel »Somatiserung psychischen Leidens«

Eine Patientin, deren Rückenschmerzen zum ersten Mal auftraten, als sie von ihrem Mann verlassen wurde. Die Patientin konnte diesen psychischen Schmerz nicht verarbeiten und begann, »sich einen Panzer zuzulegen«. D. h., sie verschloss ihre Gefühle, um nie wieder eine solche Enttäuschung erleben zu müssen. Ihre verdrängten Gefühle der Trauer, Enttäuschung, Wut äußerten sich im körperlichen Schmerz. Es handelte sich dabei um verdrängte Gefühle, die sie bereits als Kind erlebt hatte, als sich ihre Eltern trennten, als sie vier Jahre alt war und der Kontakt zu ihrem Vater abbrach. In der aktuellen Trennungssituation wurden diese Gefühle reaktiviert.

In der Psychotherapie wird der Schwerpunkt darin liegen, dass die Patientin erkennt, dass sie ihre schmerzlichen Gefühle nur auf körperlicher Ebene wahrnehmen kann, und sie lernt die verdrängten Gefühle zuzulassen und zu verarbeiten.

Differenzialdiagnosen der
Schmerzerkrankungen nach Egle 2003

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Abb. 2.2: Differenzialdiagnosen der Schmerzerkrankungen

Differenzialdiagnosen der Schmerzerkrankungen nach Egle 2003

Ein durch somatische Faktoren verursachter Schmerz, wie z. B. ein Bandscheibenprolaps, wird ebenso durch psychische Faktoren wie eine dysfunktionale Schmerzverarbeitung beeinflusst wie ein durch psychische Faktoren verursachter Rückenschmerz z. B. durch Schonhaltung zu einer muskulären Unterversorgung und dadurch auf somatischer Ebene zu einer Schmerzverstärkung führen kann. Es ist daher nur theoretisch möglich, dass es einen hundertprozentigen Nozizeptorschmerz oder psychischen Schmerz gibt, praktisch handelt es sich immer um ein Kontinuum zwischen diesen beiden Enden der Skala (► Abb. 2.2). Es ist beim Schmerzgeschehen zu differenzieren, ob eine adäquate Schmerzverarbeitung vorliegt oder ob inadäquate Verhaltensmuster, wie z. B. Durchhaltestrategien oder Vermeidungsverhalten, den Schmerz mit aufrechterhalten. Liegen neben dem nozizeptiven/neuropathischen Schmerz psychische Störungen (Angst, Depression) vor, sind diese gleichzeitig und nicht selten auch vorrangig zu behandeln, da sie einen wesentlichen Anteil bei der Schmerzverstärkung haben. Beim psychosomatischen Schmerzgeschehen ist ferner zu unterscheiden, ob es sich um funktionelle Beschwerden bedingt durch psychovegetative Spannungszustände handelt oder ob psychische Faktoren maßgeblich für die Schmerzverarbeitung sind (► Kap. 14).

2.4 Psychotherapeutische Verfahren in der Schmerztherapie

Entspannungsverfahren

Entspannungsverfahren sind ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung chronischer Schmerzen, da beim Entstehungs- und Chronifizierungsprozess häufig muskuläre Verspannungen beteiligt sind, die einen Teufelskreis aus Schmerz-Anspannung-Schmerz in Gang setzen. Entspannungsverfahren werden häufig in psychologische Behandlungskonzepte integriert. Es ist jedoch wichtig, den Patienten zu vermitteln, dass es viele Möglichkeiten gibt, zu entspannen, und jeder für sich herausfinden kann, wie er am besten loslassen und abschalten kann. Patienten, die immer angespannt und aktiv sind, haben oftmals eher das Bedürfnis nach passiven Verfahren, bei denen sie nichts tun müssen, wie z. B. Imaginationsübungen, wohingegen Patienten, die eine ausgeprägte innere Unruhe beklagen, eher mit der Progressiven Muskelrelaxation besser zurechtkommen.

Was bewirken Entspannungsverfahren bei chronischen Schmerzen?

Schmerzpatienten versuchen häufig, Entspannungsübungen einzusetzen, wenn akut Schmerzen auftreten und sind dann enttäuscht, wenn sie nicht loslassen und sich nicht auf die Übungen konzentrieren können. Es ist daher sehr wichtig, den Patienten zu vermitteln, dass es sich um Wohlfühlübungen handelt und sie die Übungen abbrechen bzw. unterbrechen sollen, wenn sie merken, dass sie sich nicht auf die Übungen einlassen können, weil z. B. der Körper zu sehr angespannt ist oder sie zu unruhig sind und Grübelgedanken zu sehr im Vordergrund stehen. Dies zu vermitteln ist insbesondere unter Berücksichtigung der bei Schmerzpatienten häufig gezeigten Durchhaltestrategien erforderlich, nach dem Motto: »Ich muss mich jetzt entspannen lernen, Zähne zusammenbeißen und durch«.

Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson

Dieses Entspannungsverfahren lässt sich innerhalb weniger Wochen erlernen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass dieses Verfahren insbesondere bei muskulär bedingten Schmerzen, wie es bei Rückenschmerzen häufig der Fall ist, sehr wirksam ist.

Vorgehensweise: Die einzelnen Muskelpartien des Körpers werden nacheinander zunächst für einige Sekunden angespannt und anschließend bewusst wieder losgelassen. Es erfolgt eine Sensibilisierung für den Unterschied zwischen Anspannungs- und Entspannungsgefühlen. Kommt es bei den Übungen zur Schmerzverstärkung, sind die Patienten zu instruieren, die betroffenen Muskelpartien nur gering oder gar nicht anzuspannen.

Autogenes Training

Beim autogenen Training handelt es sich um konzentrative Selbstentspannungsübungen, die systematisch aufgebaut sind und schrittweise geübt werden. Durch Ruhe-, Schwere- und Wärmeerlebnisse, die sich die Patienten selbst suggerieren, wird ein Zustand der Entspannung und allgemeiner Ruhe erreicht.

Imaginative Verfahren

Sie bewirken eine Vertiefung von Entspannung sowie das Erleben von positiven Emotionen. Das Entwickeln von schmerzinkompatiblen Vorstellungen führt zu Veränderungen des emotionalen Zustandes. Hierzu gehört z. B. sich »einen Ort der Ruhe« vorzustellen.

Bei den schmerzfokussierenden Verfahren werden die Sinnesqualitäten des Schmerzes verändert. Wenn der Schmerz z. B. als rote grelle Farbe visualisiert wird, wird der Patient angeleitet, sich eine angenehme Farbe vorzustellen, wie z. B. eine Pastellfarbe.

Biofeedback

Beim Biofeedback werden mit Hilfe eines bioelektrischen Gerätes physiologische Größen, wie z. B. Muskelspannung, Hautleitwert, Weite der Blutgefäße, die den Spannungszustand eines Körpers anzeigen, rückgemeldet. Eine Veränderung des Spannungszustandes wird über optische oder akustische Signale wie z. B. über Veränderung von Tonfrequenzen angezeigt. Beim Biofeedback erlebt der Patient die psychophysiologischen Zusammenhänge und lernt physiologische Prozesse zu kontrollieren. Biofeedback ist insbesondere hilfreich für Patienten, die Schwierigkeiten haben, Verspannungen im Körper wahrzunehmen und die einen nachvollziehbaren Beweis für die Beeinflussbarkeit physiologischer Vorgänge im Körper benötigen.

Verhaltenstherapeutische Verfahren

Für chronische Schmerzpatienten ist wichtig, dass sie ihre eigenen Ressourcen – Fähigkeiten und Fertigkeiten – erkennen, die ihnen helfen, auf die Schmerzen Einfluss zu nehmen. Relevante Themen, die hierbei eine Rolle spielen können, sind:

Die Psychoedukation bezüglich der Zusammenhänge zwischen Schmerz, Stress und Verspannung stellt einen wesentlichen Bestandteil der psychologischen Schmerztherapie dar. Anhand von konkreten Beispielen aus den Lebenssituationen der Patienten werden diese Zusammenhänge erarbeitet. In Stress- und Verhaltensanalysen werden die Einflüsse von Gedanken, Gefühlen, Körperreaktionen und Verhaltensweisen auf den Schmerz aufgezeigt. Erst wenn die Patienten verstehen, dass ihr Verhalten und ihre Einstellungen zur Schmerzaufrechterhaltung beitragen können, werden sie motiviert sein, aktive Strategien zur Schmerzbeeinflussung zu erlernen und anzuwenden. Die Strategien zur Schmerzverarbeitung sind individuell für die Patienten herauszuarbeiten. »Ein Durchhalter«, der versucht die Reaktionen des Körpers zu ignorieren, benötigt eher Unterstützung beim Finden eines Ausgleichs zwischen Be- und Entlastung. Bei »Vermeidern«, die sich beim Auftreten von Schmerzen zurückziehen, wird der Fokus eher auf dem Aufbau von Aktivitäten liegen. Ein wesentliches Ziel für den überwiegenden Teil der Schmerzpatienten liegt in der Verbesserung der Körperwahrnehmung, Hierzu sollten sie lernen, die Signale des Körpers frühzeitig wahrzunehmen, und zu spüren, wo die Anspannung im Körper sitzt.

In verhaltensmedizinischen Schmerzbewältigungstrainings werden folgende Inhalte vermittelt:

Schmerzakzeptanz

Schmerzen bewältigen oder akzeptieren?

Verhaltenstherapeutische Verfahren in der multimodalen Schmerztherapie haben als Ziel die Schmerzbewältigung, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist. Das Erlernen von Verfahren zur Schmerzbewältigung führt dazu, dass Schmerzbetroffene Hilflosigkeitsgefühle, dem Schmerz ausgeliefert sein, abbauen und wieder aktiver werden können.

Andererseits führt das Vermitteln von Schmerzbewältigungsstrategien bei den Betroffenen oftmals zu einem Kampf gegen den Schmerz, der dann das gesamte Leben zu bestimmen droht. Die Patienten fühlen sich allein verantwortlich für ihren Schmerz und schuldig daran, wenn Misserfolge eintreten, d. h. die Schmerztherapie nicht anschlägt.

In der psychologischen Schmerztherapie kommt in den letzten Jahren zunehmend der Therapieansatz der Acceptance & Commitment Therapy zum Tragen (Hayes et al. 1999). In diesem Ansatz wird eine aktive Schmerzakzeptanz propagiert, die nichts mit einem passiven Resignieren zu tun hat. Ziel in der Schmerztherapie ist, den Schmerz mit dazugehörigen Gedanken und Gefühlen anzunehmen und dadurch mehr Lebensfreude zu gewinnen.

Der Versuch, den Schmerz mit seinen Gefühlen zu kontrollieren oder zu unterdrücken, kann zu einer Verstärkung der Symptomatik führen. Ein Beispiel, das jeder kennen wird. Man hat z. B. Angst vor einer Prüfung und sagt sich, »Ich darf jetzt keine Angst haben« und merkt, dass die Angstreaktionen wie Herzklopfen, Schweißausbrüche zunehmen. Anstatt die Angst anzunehmen und nach Lösungen zu schauen, mit ihr zurechtzukommen, ist man mit der Kontrolle der Angst beschäftigt.

Vorteile einer Schmerzakzeptanz sind, dass der Schmerz nicht mehr den Mittelpunkt eines Lebens darstellt und so eine Öffnung hin zu anderen Lebensthemen sowie zu Alternativen zur Schmerzbeeinflussung möglich wird. Das Reduzieren des Kampfes gegen den Schmerz kann auch negative Gefühle wie Wut und Angst dem Schmerz gegenüber verringern. Letztendlich führt dies zu einer Verbesserung der Lebensqualität.

Achtsamkeit

Achtsamkeitsübungen sind kognitive Entkoppelungsstrategien, die helfen, Erfahrungen von Bewertungen dieser Erfahrungen zu unterscheiden. Ein stechender Rückenschmerz ist z. B. die körperliche Erfahrung und die drohende Lähmung ist die Bewertung dieser Erfahrung. Die Patienten werden in Achtsamkeitsübungen angeleitet, sich auf das im Körper zu konzentrieren, was sie wahrnehmen ohne eine Bewertung vorzunehmen.

3 Schmerzmessung und Schmerzdokumentation

Doris Grünewald

Um eine effiziente/adäquate Schmerztherapie zu leisten, sind die Schmerzmessung und -dokumentation eine unabdingbare Voraussetzung. Die Beschreibung von Schmerzen durch die jeweils betroffene Person erfolgt immer aus ihrer subjektiven Perspektive. Die beiden folgenden Definitionen untermauern diese Aussage.

Schmerz ist: »Ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird« (International Association for the Study of Pain, IASP 1986).

»Schmerz ist das, was der Betroffene über die Schmerzen mitteilt, sie sind vorhanden, wenn der Patient mit Schmerzen sagt, dass er Schmerzen hat« (McCaffery et al. 1997, S. 12).

Eine Fremdeinschätzung ist nur dann zulässig, wenn der Patient sich nicht äußern kann. Da sich Schmerzen im üblichen Sinne nicht messen lassen, ist der Einsatz von Schmerzeinschätzungsinstrumenten zwingend notwendig. Es existieren eindimensionale (zur Schmerzintensität) und mehrdimensionale (zur Erfassung der Komplexität der Schmerzsituation) Methoden der Schmerzmessung. Welche Instrumente zum Einsatz kommen, hängt von der betroffenen Personen (z. B. Kinder, Erwachsene, alte Menschen, komatöse oder demente Personen) sowie davon ab, ob ein akuter oder ein chronischer Schmerz behandelt wird. Bei einem akuten Schmerz kann ein einfaches Instrument eingesetzt werden, um die Lokalisation und die Qualität des Schmerzes und seine Intensität einzuschätzen und zu beurteilten. Bei einem chronischen Schmerz ist der Einsatz eines umfassenden Fragenkatalogs notwendig, um Aufschluss über das multifaktorielle emotionale Schmerzerleben zu erhalten. Die erhobenen schmerzrelevanten Daten müssen zeitnah und lückenlos dokumentiert werden. Der Einsatz von einheitlichen Instrumenten und Dokumentationssystemen unterstützt die gewissenhafte Erhebung und ermöglicht ein strukturiertes Vorgehen.

Cave: Nicht identifizierte Schmerzen können nicht behandelt werden, darum den Betroffenen direkt zum Vorhandensein von Schmerzen befragen.

3.1 Schmerzmessung und -dokumentation bei Kindern

Der Einsatz von standardisierten Schmerzmessinstrumenten soll unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes erfolgen.