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Über den Autor
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Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zum Teil internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg.
Bei Beltz & Gelberg erschienen u.a. Der Käpt’n aus dem 13. Stock, Paule Glück. Das Jahrhundert in Geschichten, Monsun oder Der weiße Tiger, Ein Trümmersommer sowie der Roman-Sammelband Frank oder Wie man Freunde findet, die drei Paula Kussmaul-Romane, Piratensohn und Kiko.
Impressum
Ebenfalls lieferbar: »Die Reise zur Wunderinsel« im Unterricht
in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62706-3
Beltz Medien-Service, Postfach 100565, 69445 Weinheim
Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
»Die Reise zur Wunderinsel« ist auch als Hörbuch erhältlich,
gelesen von Eva Gosciejewicz
ISBN 978-3-407-81011-3
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74105-9)
www.beltz.de
© 1983, 1988 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: b3K Hamburg – Frankfurt
Einbandbild: Jutta Bauer
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74552-1

Inhalt

Etwas ungeheuer Großes
Herr Pitt kehrt um
Wie im Traum
Eine Prinzessin
Wo es uns gefällt
Die OMA BREUER wird getauft
Der Käppen, der Stürmann, der Bootsmann und ich
Zwei Jahre
Gekochte Krebse
Der Junge am Kai
Abendwind
Eine verrückte Sache
Mister und Mammi Pitt
Windstille
Der schlaue Kostas
Einkäufe mit Ibrahim
Im Kanal
Der See der Krokodile
Korallen und Fliegende Fische
Sara und Mara
Kurs Indien
Die schwarze Wand
Wo ist die SAMARA?
Das Land der tausend Geheimnisse
Diebe
Alles falsch?
Kostas der Zweite
Wie die Robinsons
Durch die Sonne
Neptun kommt an Bord
Ein Wiedersehen
Schöne Tage sind selten
Auf der Eidechsen-Insel
Haie
Ein schöner Mann
Sechs schöne Wochen
Das Wunder
Ein guter Rat
Ratten an Deck
Geburtstag mal fünf
Eine ruhige Überfahrt
Geschäftemacher
Ein gutes Ende?
Zum Paradies
Drückt die Daumen
Es war einmal … So beginnen die Märchen. Die Geschichte, die ich euch erzählen will, beginnt auch mit »Es war einmal …« Sie ist aber trotzdem kein Märchen, sie ist wirklich geschehen.
Warum ich die Geschichte dann wie ein Märchen beginne? Weil sie, obwohl sie erst vor gar nicht allzu langer Zeit wirklich passierte, eine märchenhafte Geschichte ist. Wenn ihr sie gelesen oder vorgelesen bekommen habt, werdet ihr mich verstehen.
Aber nun fangen wir an. Es war einmal …
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Etwas ungeheuer Großes

Es war einmal ein Mädchen, das hieß Silke und war sehr krank. Es hustete oft so sehr, dass die Eltern fürchteten, es könne ersticken. Und es wurde immer dünner.
Die Eltern gingen mit Silke zum Arzt. Der untersuchte sie gründlich, zapfte ihr Blut ab, röntgte sie und schickte sie erstmal wieder nach Hause.
Eine Woche später bestellte der Arzt Silke wieder zu sich und bat beide Eltern mitzukommen. Und dann sagte er Silkes Eltern, dass Silke nicht wieder gesund werden könne.
Er sagte das nicht so geradeheraus, er benötigte viele Worte, um Herrn und Frau Pitt die ganze Wahrheit mitzuteilen, aber Silkes Eltern verstanden sofort. Sie fassten sich bei den Händen und fragten: »Wie lange?«
»Zwei Jahre«, antwortete der Arzt, »länger nicht.« Und er sah in seine Unterlagen, als stünde doch noch etwas darin, was Mut machen könnte. Aber es stand nichts drin.
Herr und Frau Pitt nahmen ihre Tochter zwischen sich und gingen mit ihr nach Hause. Silke war neun Jahre alt und so blond wie ihre Mutter. Vor allem aber war sie neugierig. Sie hatte im Wartezimmer warten müssen und nicht gehört, was der Doktor gesagt hatte, deshalb versuchte sie nun herauszubekommen, was für eine Krankheit sie denn hatte. Aber die Eltern vertrösteten sie auf später. Es sei nicht so schlimm, sagten sie nur.
Die drei Pitts lebten in einem kleinen Haus am Rande einer großen Industriesiedlung. Der Vater arbeitete im nahe gelegenen Chemiewerk und die Mutter in einem Büro in der Stadt. Herr und Frau Pitt verdienten beide nicht sehr viel und mussten sich anstrengen, um die monatlichen Ratenzahlungen für das Haus bezahlen zu können. Das kleine Haus hatten sie sich gebaut, damit Silke ein eigenes Zimmer und einen Garten zum Spielen hatte.
Was Silke den ganzen Tag machte, wenn die Eltern nicht zu Hause waren? Vormittags war sie in der Schule und nachmittags ging sie zu Oma Breuer.
Oma Breuer lebte im Nachbarhaus und war eigentlich gar keine richtige Oma, ihre Kinder wollten keine Kinder. Für Silke war das sehr angenehm, denn Oma Breuer glaubte wirklich schon, sie wäre Silkes Oma. Deshalb verwöhnte sie sie und Silke ließ sich das gefallen.
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An jenem Abend, als Silke mit den Eltern vom Arzt kam, saß Oma Breuer in ihrer Küche, sah aus dem Fenster und legte sich die Karten. Sie konnte das wunderbar. Bis in die fernste Zukunft verrieten ihr die Karten, ob der Geldbriefträger kommen würde oder die große Liebe über einen kleinen Weg ins neue Haus.
Aber was der Doktor gesagt hatte, das hatten ihr die Karten nicht verraten. Deshalb fragte sie.
Der Vater streichelte Silke die Schultern und sagte, es wäre bald wieder alles in Ordnung. Und die Mutter kündigte an, dass sie nachher einmal kurz vorbeikommen würde, um Oma Breuer alles haargenau zu erzählen.
Oma Breuer sah ärgerlich zu den hohen Schornsteinen hinüber, auf denen ununterbrochen die Flammen tanzten, und schloss ihr Fenster.
Beim Abendessen brachte die Mutter es fertig, Silke anzulächeln. Und der Vater log ihr vor, dass der Arzt gesagt hätte, es würde ihr bald besser gehen, sie müsste nur immer schön die Medikamente nehmen, die er ihr verschrieben hatte.
Als Silke dann im Bett lag, standen der Vater und die Mutter davor und sahen sie an. Silke streckte ihnen die Zunge heraus. Sie fand es blöd, im Bett zu liegen und von den Eltern angesehen zu werden, als ob man etwas Besonderes wäre.
»Wünsch dir was«, bat der Vater.
»Was soll ich mir denn wünschen?«, fragte Silke.
Ja, was sollte sie sich wünschen? Sie hatte ja alles: vom Fahrrad über den Kassettenrecorder bis hin zum eigenen, wunderschön eingerichteten Zimmer.
»Irgendwas ganz Großes«, riet die Mutter.
»Also gut: Rollschuhe«, gab Silke nach.
»Rollschuhe sind doch nichts Großes«, meinte der Vater. »Etwas viel Größeres«, er breitete die Arme aus, »Riesengroßes!«
Die Eltern meinten es ernst, das spürte Silke, trotzdem fragte sie: »Etwas ungeheuer Großes?«
»Ja«, riefen der Vater und die Mutter wie aus einem Mund.
Da richtete Silke sich im Bett auf und sagte: »Eine Reise in die Südsee.«
»Eine Reise in die Südsee?« Herr Pitt musste sich auf Silkes Bett setzen, so überrascht war er. »Mit dem Flugzeug?«
»Nein, mit dem Schiff. Mit einem Segelschiff.«
»Wie kommst du denn darauf?« Auch die Mutter setzte sich auf Silkes Bett. Auf die andere Seite.
»In unserem Schullesebuch ist ein Bild«, erklärte Silke, »darauf ist ein Segelschiff, das liegt vor einer Insel in der Südsee. Und darunter steht, mit einem Segelschiff kann man um die ganze Welt segeln und man braucht dazu nichts als Wind.«
Der Vater lächelte. »Na, weißt du! Da ist dir ja was eingefallen.«
»Ich möchte aber ferne Länder sehen.« Silke spürte, dass die Eltern sie sehr wichtig nahmen, seit sie mit dem Arzt gesprochen hatten, und das nutzte sie aus: »Ihr habt ja gesagt, ich soll mir was Großes wünschen, etwas ungeheuer Großes sogar.«
Der Vater sah die Mutter an und schwieg. Dann stand er auf und küsste Silke. »Wir sprechen morgen darüber. Jetzt musst du schlafen.«
Herr und Frau Pitt saßen in ihrem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer und sagten kein Wort. Sie waren eben von den Breuers heimgekehrt. Sie hatten Oma Breuer, ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter alles erzählt und gemeinsam beratschlagt, was zu machen sei, aber es war ihnen nichts Rechtes eingefallen.
Es wurde Mitternacht und es wurde Morgen, weder Herr noch Frau Pitt wagten es, sich ins Bett zu legen. Sie fürchteten die Einsamkeit und die Gedanken, die sie nicht schlafen lassen würden. Sie saßen da, hielten sich an den Händen und schwiegen, bis Herr Pitt seine Tasche mit den Frühstücksbroten nahm und sich schweren Herzens auf den Weg zur Arbeit machte.
Frau Pitt weckte Silke und bereitete das Frühstück vor.

Herr Pitt kehrt um

An dem Kiosk neben der Bushaltestelle kaufte sich Herr Pitt wie jeden Morgen seine Zeitung. Und während der Bus mit den Arbeitern und Angestellten des Werkes den blakenden Schornsteinen entgegenfuhr, las er in der Zeitung.
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Aber Herr Pitt las nicht richtig, er blätterte nur die Seiten um. Er war viel zu müde und zu traurig, um lesen zu können. Dann aber stutzte er. Da war ein Bild in der Zeitung, ein Bild von einem zweimastigen Segelboot. Und darunter stand: Die MARY TV nach ihrer glücklichen Heimkehr. Mr. und Mrs. O’Neal aus Manchester umsegelten mit ihr die Erdkugel.
Herr Pitt ließ die Zeitung sinken. Silkes Wunsch! Konnten sie ihn vielleicht doch erfüllen? Oder sollte Silke sterben, ohne in ihrem Leben mehr gesehen zu haben als die Industriesiedlung und die umliegenden Badeseen?
Die nächste Station. Herr Pitt stand auf, drängelte sich durch und stieg aus. Die Männer und Frauen im Bus sahen ihm nach. Das gab es nicht oft, dass einer ausstieg, bevor der Bus das Werktor erreicht hatte.
»Du bist noch da?« Herr Pitt stand in der Küche des kleinen Hauses und sah seine Frau an, die am verlassenen Frühstückstisch saß und ihn genauso überrascht anblickte. »Warum bist du nicht ins Büro gefahren?«
»Ich konnte nicht«, sagte Frau Pitt. »Ich kann nicht arbeiten, mit diesen Gedanken im Kopf.« Und dann rief sie: »Silke wird sterben. Ich aber schicke sie zur Schule, als ginge es ewig so weiter. Wofür lernt sie denn noch?«
Herr Pitt legte seine Tasche weg, setzte sich neben seine Frau und küsste sie. »Ich bin ja auch nicht ins Werk gefahren«, sagte er. »Das können wir doch nicht machen, die wenige Zeit, die Silke noch hat, so nutzlos verstreichen lassen.« Und dann zeigte er seiner Frau das Bild mit dem Segelboot.
Frau Pitt verstand sofort. »Aber so ein Boot kostet doch viel Geld«, wandte sie ein. »Wo willst du das hernehmen?«
Herr Pitt holte tief Luft und sagte: »Wir verkaufen das Haus, zahlen unsere Schulden ab und erfüllen Silke mit dem Geld, das übrig bleibt, ihren Wunsch.«
»Das Haus verkaufen?« Frau Pitt war überrascht. Aber dann umarmte sie ihren Mann. »Ja! Ja! Ja! Es ist natürlich nur ein Kinderwunsch, sie hat sicher ganz falsche Vorstellungen, aber es ist ihr Wunsch. Wenn wir ihn ihr nicht erfüllen, wird es ein unerfüllter Wunsch bleiben, bis …« Sie presste den Kopf an die Schulter ihres Mannes. »Es sollen die schönsten zwei Jahre werden, die ein Kind je erlebt hat.«
Noch am gleichen Tag gaben Silkes Eltern zwei Zeitungsanzeigen auf. Die erste lautete: Verkaufe Einfamilienhaus, die zweite: Kaufe gebrauchtes, seetüchtiges Segelboot.

Wie im Traum

Am Abend saßen die Eltern mit Silke am Abendbrottisch und beratschlagten. Silke saß ganz still dabei und hörte zu. Ein Segelboot wollten die Eltern kaufen, um mit ihr in die Südsee zu segeln? Und dafür wollten sie das Haus verkaufen, das Haus, für das sie so lange gespart und gearbeitet hatten? Es war wie im Traum.
»Natürlich muss ich das Segeln erst lernen«, sagte der Vater. »Es ist ja nicht so einfach, auf das Meer hinauszufahren.«
»Hast du denn keine Angst?«, fragte die Mutter Silke. »Wir sind dann ja oft tagelang unterwegs. Und um uns herum ist nur Wasser. Und manchmal stürmt es vielleicht.«
Silke hatte keine Angst. Für sie war der Gedanke, fremde Länder zu sehen und tage-, wochen-, monatelang mit den Eltern zusammen zu sein, das Schönste, was sie sich vorstellen konnte. Aber sie verstand es nicht. Wie oft hatten die Eltern ihr erklärt, dass eine Ferienfahrt unmöglich sei, weil die Raten für das Haus abgezahlt werden mussten. Und nun wollten sie das Haus verkaufen. Einfach so. Und nur, weil sie sich eine Reise in die Südsee gewünscht hatte. Was hatte der Arzt den Eltern nur gesagt, dass sie so verwandelt waren? »Und die Schule?«, fragte Silke. »Ich muss doch zur Schule.«
»Wir melden dich ab«, sagte die Mutter und dachte daran, dass der Arzt Silke sicher von der Schule freisteilen würde, wenn er von ihrem Plan erfuhr. »Du holst das Versäumte dann eben später nach.«
Silke nickte still. Und dann musste sie husten. Sie bekam einen richtigen Anfall und ließ sich von den Eltern zu Bett bringen.
In der Nacht träumte sie. Sie saß ganz allein in einem Segelboot und fuhr über das Meer. Und am Ufer standen die Eltern und winkten.
Es kamen viele Leute, um sich das Haus anzusehen. Die Mutter hatte Urlaub genommen und führte die Leute herum. Der Vater ging noch arbeiten, aber ab und zu nahm auch er Urlaub und sah sich die Segelboote an, die ihm angeboten wurden. Einmal brauchte er ein ganzes Wochenende dafür. Das Boot lag in einem kleinen Hafen bei Athen. Er musste deshalb extra nach Griechenland fliegen.
Als er zurückkam, war er begeistert. »Das ist es!«, rief er. »Das ist unser Boot.« Und dann kramte er ein Foto aus der Brieftasche und zeigte der Mutter und Silke das Boot.
Es war ein tolles Boot, zwölf Meter lang und schneeweiß. Nur die Segel waren nicht zu sehen, sie waren eingerollt. Der Vater war auf dem Boot Probe gefahren und war ganz stolz. »Es liegt im Wasser wie ein Schwan«, sagte er. »Und es ist in einem sehr guten Zustand.«
»Und was kostet es?«, fragte die Mutter.
»Vierzigtausend Mark.«
»Dann bleibt nicht mehr viel übrig, wenn wir das Haus verkauft und all unsere Schulden bezahlt haben«, rechnete die Mutter aus. Aber in ihren Worten lag kein Bedauern, es klang, als hätte sie eigentlich sagen wollen: Trotzdem!
Der Vater lernte segeln. Jedes Wochenende fuhr er nach Kiel in eine Segelschule. Und zu Hause las er Bücher über das Segeln in den verschiedenen Gewässern oder studierte Seekarten. Und je mehr er sich in seine Seekarten und Bücher vertiefte, desto begeisterter war er. »Das ist ja eine tolle Sache«, sagte er ein um das andere Mal. »Das hätte ich nicht gedacht.«
Wenn er nicht über seinen Büchern und Karten hockte, lernte der Vater Englisch. Zweimal in der Woche ging er zur Volkshochschule. »Wenn man auf See hinaus will, muss man Englisch können«, seufzte er, denn das Sprachenlernen fiel ihm nicht so leicht wie das Segeln.
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Die Mutter half dem Vater bei den Englisch-Aufgaben. Sie konnte Englisch, sie hatte im Büro oft englische Briefe schreiben und beantworten müssen. Außerdem hatte sie mit dem Vater vereinbart, dass er ungestört lernen könne. Sie nahm ihm alle Arbeiten ab, die sonst er erledigte, egal, ob es Haus- oder Gartenarbeiten oder Einkäufe waren. Und nebenbei verkaufte sie die Möbel. Es musste ja alles fort. Die schönsten Sachen aber verkaufte sie nicht, die schenkte sie Oma Breuer.
Die alte Frau konnte gar nicht glauben, dass Pitts wirklich auf das Meer hinaus wollten. Sie sagte immer wieder »Ogottogottogott!«, und wenn sie Silke sah, strich sie ihr übers Haar und fragte sie, ob sie sie denn wirklich ganz alleine zurücklassen wolle.
Silke hätte Oma Breuer gerne mitgenommen, aber die Eltern sagten, ein solches Abenteuer wäre nichts für eine alte Frau.
Herr Pitt musste sehr viel und sehr lange lernen und zum Schluss auch noch Prüfungen ablegen, bevor er die Urkunden erhielt, die ihm erlaubten, mit einem Boot aufs Meer hinauszufahren. Auch ein Seefunksprechzeugnis war darunter. Er lachte stolz: »Auf See darf man nichts tun, was man nicht wirklich kann.«
Danach liefen die Eltern zu den Botschaften der Länder, die sie anlaufen wollten, und ließen sich Stempel in die Pässe drücken. Und danach ging es zum Impfen. Auch Silke musste mit und sich impfen lassen, viele Male und gegen alle möglichen Krankheiten.
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Eines Tages aber war alles überstanden. Die letzten Möbel wurden abgeholt und die drei Pitts verabschiedeten sich von Oma Breuer.
Oma Breuer drückte Silke an sich. Silke wollte sagen, dass sie ja bald wiederkäme, aber sie sagte es nicht. Wo sollten sie denn hin, wenn sie wiederkamen? Das Haus war ja verkauft.
»Schick mir aus jedem Land eine Karte«, bat Oma Breuer. »Ich sammel sie und habe dann fast genauso viel gesehen wie du.«
Das versprach Silke.

Eine Prinzessin

Es war das erste Mal, dass Silke flog. Sie saß im Flugzeug, hielt sich mit der einen Hand bei der Mutter, mit der anderen beim Vater fest und war sehr aufgeregt. Es war aber nur der Start, der ihr Angst machte. Als sie in der Luft waren, über ihnen der blanke Himmel und unter ihnen die Wolken, da war es fast wie in einem Bus, so ruhig und sicher flog die Maschine. Nur dass es zu essen gab, war anders.
Die Landung in Athen bekam Silke gar nicht richtig mit. Sie hatte den Fensterplatz der Mutter übernommen und sah auf das blaue Meer und die vielen kleinen Inseln hinunter; sie sah Schiffe, große und kleine, die im Hafen lagen oder einem Hafen zustrebten, und versuchte das Segelboot zu entdecken, dessen Foto der Vater ihr gezeigt hatte.
Als sie durch die Stadt fuhren, wurde es Silke schlecht. Es war so heiß in dem Taxi, das die Eltern gemietet hatten. Und die Stadt war so voller Autos, die hupten und nicht vorwärtskamen, dass es furchtbar nach Benzin stank. Sie bekam einen Hustenanfall und es flimmerte vor ihren Augen.
Der Vater, der neben ihr saß, nahm sie in die Arme und wedelte ihr mit einer Zeitung Luft zu. Und die Mutter, die neben dem Chauffeur saß, tröstete sie: »Bald sind wir am Hafen. Dann gehen wir an Bord und du legst dich hin.«