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Für Elsa ist Kochen viel mehr als nur ihr Beruf oder die bloße Zubereitung einer Mahlzeit. Nur in der Küche gelingt es ihr, ihre Sorgen hinter sich zu lassen und sich ein anderes Leben zu erträumen. Außerdem hat Elsa sich ein Ziel gesetzt: Sie will nach Norden ans Meer. Und damit möglichst weit weg von der Familie in Süddeutschland, weg von der schmerzhaften Leerstelle, die der Tod ihres Vaters in ihr Leben gerissen hat.
Sensibel und berührend gelingt es Anne Köhler in ihrem Debütroman, von großen Gefühlen zu erzählen und sie in atmosphärisch einzigartigen Koch- und Küchenszenen aufgehen zu lassen. ›Ich bin gleich da‹ ist die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche nach sich selbst ihrer Familie wieder näherkommt – und vielleicht auch einer glücklichen Liebe.
 
Anne Köhler wurde 1978 in Gießen geboren und lebt in Berlin. Sie studierte Architektur und Kunstgeschichte in Berlin sowie Kulturwissenschaften, Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Seit 2006 arbeitet sie als freiberufliche Autorin und Texterin. Mit einem Auszug aus ›Ich bin gleich da‹ gehörte sie 2008 zu den Finalistinnen des 16. Open Mike. 2013 war sie Stadtschreiberin von Dresden.

ANNE KÖHLER

ICH BIN GLEICH DA

Roman

 

Für uns.

Mein Vater war Segler. Das sagte er jedenfalls. Von uns hat ihn nie jemand segeln gesehen. Als Kind habe ich es ein paarmal versucht. Ich habe Fachausdrücke gelernt. Er brauche einen Matrosen, habe ich gesagt. Er brauche einen Smutje oder wenigstens jemanden für den Ausguck oder zum Schrubben des Decks. Aber mein Vater fuhr immer allein zur See. Auf dem Meer lösen sich alle Sorgen auf, sagte er. Eine Woche im Jahr war dafür reserviert, dann fuhr er Richtung Norden, an die Küste, und wenn er zurückkam, war sein Blick weit in die Ferne gerichtet. Er brauche einen Maat, habe ich gesagt. Ich müsse zuerst das Wetter lesen lernen, alle Wolkengebilde und Formationen, sagte er, denn wer den Himmel nicht lesen kann, kann auch nicht zur See fahren. Ich lieh mir Bücher aus. Lernte Fachbegriffe. Wälzte Lexika und zeichnete Bilder voller Himmel und Wolken und beschriftete sie. Ich kannte Kumulus-, Zirrus- und Stratuswolken und ihre Bedeutung für die Wetteraussichten. In der Todesnacht meines Vaters war der Himmel sternenklar. Er war makellos.

Prolog

Zwischen Weiden und Kastanien schmiegen sich ein paar Häuser an das Ostufer des Sees, andere ziehen sich in losen Abständen den Weg hinauf bis zum Waldrand. Dort, in der Mitte eines von dichten Hecken eingefassten Wiesenrondells, steht unter einer Eiche das Wahrzeichen des Dorfes. Der große Felsklotz passt zum Wesen der Weidenheimer: grobschlächtig, witterungsbeständig, schnörkellos. Er markiert den Mittelpunkt des Landkreises. In einem Schaukasten zeigen Bilder den stolzen Ortsvorsteher von Weidenheim beim Anbringen der kupfernen Plakette mit den genauen Koordinaten. Seit der Aufstellung hat man Limberg, der kleinen Stadt auf der anderen Seeseite, endlich eine Attraktion entgegenzusetzen.

Jetzt dreht sich jedoch alles um das Maifeuer. Vor Tagen schon hat man auf einem Feld das Holz aufgeschichtet. Bis in die Morgenstunden wird es brennen. Wer dann noch dort ist, springt Hand in Hand mit seiner Liebsten über die Glut und hat ein Jahr lang Glück. Das ist eine Gewissheit. Ebenso gewiss ist, dass im Schutz der Nacht die Kobolde aus ihren Winkeln kriechen und ihr Unwesen treiben werden. Kaum jemand bleibt verschont.

Im letzten Jahr ist der Ortsvorsteher am Morgen nach der Walpurgisnacht siegessicher über seinen Hof geschritten und hat die unversehrten Vorhängeschlösser an den Scheunentoren begutachtet. Dann, als er den Blick hob, sah er die Unterhosen mit Leoparden-Print, die ihm seine Frau in der Hoffnung steigenden Temperaments geschenkt hatte, am höchsten Mast aufgeknüpft flattern und darunter an der Scheunenwand eine riesenhafte Kreide-Karikatur seiner selbst, entblößt vor der Dorfgemeinschaft stehend.

Jedes Jahr tragen die Weidenheimer also am letzten Apriltag Blumenkübel und -tröge in die Scheunen, ziehen die Mülltonnen hinterher, stellen Autos, Fahrräder und Geräte dort unter. Sie zurren die Strohballen fest, verbarrikadieren die Tore, überprüfen Riegel und Schlösser. Sie bringen die Frühlingsdekoration in die Häuser, schrauben die Türschilder ab, schließen alle Fenster. Sie machen sich schick. Die Verheirateten, die Singles, Jugendliche und Kinder. Die Nacht zum Ersten Mai ist für alle da. Sie kommen zum Feuer, auch die Menschen aus den umliegenden Dörfern, sogar ein paar Limberger.

Jost sieht, wie die anderen ihr Hab und Gut in Sicherheit bringen. Er selbst lässt an seinem Haus alles so, wie es ist. Wer die Kobolde herausfordert, wird erst recht zur Zielscheibe. Jost zieht eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover an. Er küsst seine Frau Ursel, die sich in einem luftigen Sommerkleid von ihm verabschiedet, um zur Generalprobe ihrer Tanzgruppe zu gehen. Sie wird heute am Maifeuer auftreten, um Mitternacht, wenn die Dorfjugend die Trommeln schlägt und die Menschen das Maisingen anstimmen.

Josts Sohn David und seine Freunde sind schon losgezogen. Elli, die Tochter, wartet auf Jost im Schuppen, ebenfalls in schwarz gekleidet. Sie sieht erwachsen aus. Vermutlich wird es ihre letzte gemeinsame Mission sein, denkt Jost.

Die Leute aus den umliegenden Dörfern unternehmen in der Walpurgisnacht gerne den Versuch, das Wahrzeichen Weidenheims umzustoßen oder mit Sprühfarben zu verunstalten. Jost will das verhindern und ihnen mit Elli auflauern.

Er hat Schwierigkeiten, Elli beherzt zu umarmen. Seiner Frau geht es nicht anders. Sie lieben ihre Tochter vorbehaltlos, und doch versteifen sie sich in ihren Armen, als ob sie Angst hätten, etwas an ihr zu zerbrechen. Seit ihrer Geburt ist das so. Viel zu früh war die Fruchtblase geplatzt, er und Ursel hatten sich noch nicht einmal für einen Namen entschieden. Klein, dünn und schrumpelig hat das namenlose Baby im Brutkasten ums Überleben gekämpft. Ursel wurde wegen einer Infektion von ihr abgeschirmt und auch Jost hat man nur bis zum Glaskasten an sie herangelassen. Diesen erzwungenen Abstand haben sie später nicht mehr aufholen können. Ihre Hände versuchen seither, das Defizit auszugleichen, legen sich auf Ellis Arm, streichen ihr über den Schopf, klopfen ihr auf die Schulter. Elli scheint es nichts auszumachen. Die ersten Wochen ihres Lebens hat sie hinter Glas verbracht, und manchmal hat Jost den Eindruck, als sei sie auch nach dem Verlassen des Brutkastens ein wenig von der Welt abgeschnitten geblieben. Er erinnert sich daran, wie anders die erste Zeit mit seinem Sohn David gewesen ist, wie Ursel ihn immer in einem Tuch um den eigenen Körper gebunden getragen hat, so dicht bei sich wie möglich.

Die fehlende körperliche Nähe zu Elli hat Jost immer versucht, mit besonderer Aufmerksamkeit auszugleichen. Er hat ihre Kinderwelt früh mit Geheimnissen angefüllt. Gleichzeitig mit dem Lesen und Schreiben hat sie das Morsealphabet gelernt. Es gibt den Punkt »dit«, den Strich »dah« und die Pause, die man auch als »Schweigen« bezeichnet. Bis heute benutzen Jost und Elli akustische Signale oder Morselampen. Bei gutem Wetter steht Elli abends am Fenster und er blinkt ihr vom Garten aus eine Gute Nacht herauf. Bei schlechtem Wetter klopft sie in ihrem Zimmer auf die Bodendielen. Unter ihr im Arbeitszimmer schlägt Jost die Antwort mit einer Taste auf dem Klavier an. Er spielt Wörter und ganze Sätze darauf, vom Morsen versteht er viel.

Während der Notdienst-Wochenenden seiner Zahnarztpraxis, wenn er in der Nähe des Telefons bleiben musste, hat Jost sich mit Elli durch die Filmgeschichte gearbeitet. Zuerst die Cartoons: Tom und Jerry, Tweety und Sylvester, Elmer Fudd und Bugs Bunny. In den letzten Jahren dann sind die Banditen, Gauner und Ganoven, Agenten und Spione an der Reihe gewesen. Chronologisch sind sie von Butch Cassidy und Sundance Kid über Johnny Hooker und Henry Gondorff bis hin zu James Bond und Dr. No vorgedrungen.

Seit einigen Monaten hat Ellis Enthusiasmus diesbezüglich deutlich nachgelassen. Als Jost ihr von der Mission für die Walpurgisnacht erzählt hat, ist ihm ihr Zögern nicht entgangen. Sie ist vierzehn und findet sich vermutlich zu alt, um mit ihrem Vater in der Dunkelheit im Gebüsch zu sitzen. Bald ist sie seinen Abenteuergeschichten entwachsen.

Jahre ist es her, dass sie ihn nach den aufgeklebten Silberstreifen auf den teureren Produkten im Supermarkt gefragt hat. Erschrocken hat sie schließlich wissen wollen, warum sie selbst keine Diebstahlsicherung habe. Er hat sie beruhigt. Sie sei versteckt unter der Haut, an der Neige des Halses, zwischen Ohr und Schlüsselbein, hat er gesagt und ihr die Hand dorthin gelegt, bis es warm wurde. Eine der seltenen zärtlichen Gesten zwischen ihnen.

Im Schutz der Dämmerung machen Vater und Tochter sich auf den Weg. Die Angreifer können nur vom Dorf oder vom Wald her auftauchen, deshalb trennen sich Jost und Elli. Er versteckt sich am Waldrand, Elli duckt sich hinter eine Hecke, an welcher der Weg ins Dorf vorbeiführt. Jeder hat eine kleine Morselampe bei sich, damit er dem anderen ein Zeichen geben kann, wenn er etwas Ungewöhnliches hört oder sieht. Bei einem »SOS« eilt der andere zu Hilfe, bei einem »?« blinkt er ein »OK« zurück als Signal, dass alles ruhig ist. Eine einzelne Laterne neben dem Wahrzeichen spendet spärliches Licht.

Die Dorfbewohner umringen das Feuer. Es sorgt für Wärme. Mehr noch das Bier und die Kurzen, die man im Zelt ausschenkt. Es ist eine geschäftige Nacht, in der es leicht ist, unterzutauchen. Musik bringt die Körper in Bewegung, der Alkohol das Blut in Wallung, kleine Grüppchen oder Paare ziehen sich in die Dunkelheit zurück. Es ist die Nacht der ersten Küsse, der Streiche, der kurzen Affären und Tändeleien, des Rauschs.

Es kribbelt in den Fingerspitzen. Josts Hand krampft sich um die Morselampe, er fällt. Die Welt stürzt auf ihn herab, dreht sich, jetzt liegt er auf ihrer Oberfläche. Der Waldboden pulsiert, ein Herzschlag, der eigentlich in seinem Brustkorb sein sollte. Der Schmerz ballt sich in der Brust und explodiert nach allen Seiten hin, weit über den Körper hinaus, versickert in der Erde. Jost versucht, nach seiner Tochter zu rufen, aber kein Ton verlässt seinen Mund, nichts an seinem Körper gehorcht ihm. Er drückt auf der Signallampe herum. Er macht sich keine Sorgen. Elli wird jeden Moment kommen. Er versucht, sich zu entspannen, und meint, mit jedem Ausatmen tiefer in den Boden zu sinken, der sich seltsam weich anfühlt. Müde lässt Jost sich immer tiefer ins Dunkel sinken.

Dass Elli für eine Weile nicht in ihrem Versteck war, wird ihr Vater gar nicht merken. Sie läuft zurück vom Feuer zum Wald, weicht Stimmen und Geräuschen aus, einem Liebespaar bei der Laterne, drei torkelnden Gestalten im Halbdunkel am Hang. Feuchtigkeit steigt vom Boden auf, es riecht nach Erde und dem See. Stimmen dringen unnatürlich laut an sie heran und fallen erst hinter ihr zurück, als sie sich dem Wahrzeichen wieder nähert. Ihre Signallampe liegt noch hinter der Hecke. Sie blinkt ein Fragezeichen:

. . — — . .

Keine Antwort.

Elli blickt zu der Baumgruppe, hinter der ihr Vater vorhin verschwunden ist, und setzt sich in Bewegung. Sie erreicht das Zentrum des Wiesenrondells. Der Mittelpunktfelsen steht unversehrt unter der Eiche. Elli wird langsamer, ihr eigener Atem klingt laut und fremd. Mit einem Mal legt sich ihr die Nacht schwer auf die Glieder. Goldader, Goldammer, Goldamsel, sagt sie im Kopf auf, so hat sie es zur Beruhigung von ihrem Vater gelernt, Goldangel, Goldapfel, Goldbach. Sie nähert sich den Bäumen, geht über die gemähte Rasenkante, die Wiese wächst wilder, Geäst mischt sich dazwischen und greift nach ihren Füßen. Zaghaft setzt sie Fuß vor Fuß, wie man im Sport die Mannschaften auswählt, Ferse an großen Zeh: tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top, tip, top. Dann sieht sie ihren Vater. Eine Hand liegt auf seiner Brust, der andere Arm ist nach oben abgewinkelt und umarmt einen Baumstamm. Elli beugt sich zu ihm hinunter, fasst ins feuchte Gras. Sie streicht ihm über die Hand und erschrickt. Sie legt ihm das Ohr an die Brust, kann aber keinen Herzschlag hören.

Jetzt rennt Elli. Sie rennt über die Wiese, das feuchte Gras, der Schmerz in der Lunge, in der Seite, den Füßen, am liebsten würde sie mit dem Rennen nie wieder aufhören, stoppt aber an dem Haus, das dem Mittelpunkt des Landkreises am nächsten liegt. Irgendwer öffnet, irgendetwas sagt Elli, die Welt bewegt sich in atemberaubender Geschwindigkeit, nur Elli steht still. Plötzlich sind viele Leute da: Polizisten, der Dorfarzt, ein Rettungswagen, Sanitäter, ein Notarzt mit seinem Wagen, Feuerwehrleute mit Scheinwerfern, eine Familie, die Elli nicht kennt, ihre Mutter und ihr Bruder David, eine weitere Familie, die Elli nicht kennt, alle stehen da oder laufen herum und machen Lärm in dem noch dunkel daliegenden Waldstück, ein regelrechtes Getöse, und Elli kann nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, zu ihrem Vater zu laufen und ihm die Ohren zuzuhalten. Äste brechen, Gestrüpp knistert, Leute reden, Köpfe werden geschüttelt, Sirenen ausgeschaltet, Auslöser klacken, Lichter blitzen, Davids Arm liegt um Ursels Schultern, nur ein paar Meter von Elli entfernt. Und Elli steht da und in ihren Ohren pfeift es, alle Geräusche schwellen an und vermischen sich, so muss es sein, wenn das Trommelfell platzt, vielleicht ist niemand taub, sondern Taube hören nur nichts mehr von außen, weil das Pfeifen in ihrem Innern so laut ist, dass man es nicht aushält und deshalb ganz mit dem Hören Schluss macht.

Und mit einem Mal sind alle wieder weg. Elli steht allein auf der Wiese unter dem Baum, dem berechneten Mittelpunkt des Landkreises, und in der Eiche zwitschert ein Vogel. Die Walpurgisnacht ist vorüber. Im Morgengrauen hängen in den Kronen der Bäume am See vierzehn Fahrräder an Seilen wie gestrandete Papierdrachen, die Vogelscheuche auf dem Feld am Ortseingang trägt das Pfarrersgewand, in sechzehn Häusern geht die Sonne nicht auf, weil die Scheiben mit schwarzen Planen zugeklebt wurden. Weidenheim ist um einen Einwohner ärmer.

Teil 1

Phantomschmerzen

Die Sonne tauchte hinter die Baumwipfel. Ein einzelner Strahl blitzte aus den spärlich stehenden Stämmen am Waldrand hervor, strich warm über Elsas Wange und glitt zwischen die Bäume zurück. Sie stieß Rauch durch die Nasenlöcher. Es war die letzte Gelegenheit für eine ungestörte Zigarette, bevor im Restaurant das Abendgeschäft begann. Gegen siebzehn Uhr, wenn die Vorbereitungen für den nächsten Schub in der Küche abgeschlossen waren, brachte sie den Müll in den Hinterhof. Sie hatte die Küchenhilfen Emra und Zahid nicht lange bitten müssen, diese Pflicht an sie abzutreten. Für eine Schachtel Zigaretten stellten die beiden keine Fragen.

Elsa genoss die stillen Minuten an der frischen Luft, zog sich hinter Glascontainer und Restmülltonne zurück, blickte zum Wald und rauchte. Heute gleich drei Zigaretten hintereinander, mit tiefen Zügen. Es war der 29. April. Immer wieder wurde ihr Blick zu der Stelle gezogen, wo sich zwischen Wald und Stadt die Felder aufspannten. Irgendwo dort würde morgen das Maifeuer entzündet werden – eine Tradition, der man auch hier im Norden Deutschlands nicht entkam. Hätte er nicht an einem anderen Tag sterben können?, dachte Elsa nicht zum ersten Mal, an irgendeinem Tag ohne Signalfeuer auf den Feldern? Schon die Osterfeuer ließen jedes Jahr die Erinnerung aufflackern, alte Gefühle. In diesen Tagen bis zum Maifeuer schlief Elsa kaum. Nach stundenlangem Herumwälzen übermannte sie mit viel Glück im Morgengrauen ein unruhiger Halbschlaf. Seit zwei Wochen dauerte dieser Zustand bereits an. Die Innenseite ihrer Lider brannte. Sie sah die Tabakschwaden in der Luft verwehen. Jetzt, wo das direkte Sonnenlicht verschwunden war, wurde es schlagartig kühl.

Hildesheim lag eingebettet in eine unaufgeregte Landschaft aus Heide und Mischwald. Mit rund hunderttausend Einwohnern bangte die Verwaltung ständig um den Status als Großstadt. Jeder gemeldete Bürger zählte. Die frisch Zugezogenen wurden mit einem Strauß Freikarten für kulturelle Events begrüßt: Theater, Kino, das Weinfest. Elsa hatte bis jetzt keine Gelegenheit gefunden, die Karten einzulösen. Sie arbeitete in der Spätschicht mit ungewissem Ende. Einzig die Frühschicht war zeitlich relativ verlässlich begrenzt und daher den Kollegen vorbehalten, die zu Hause Kinder zu versorgen hatten. Nur selten kam Elsa vor Mitternacht aus dem Restaurant heraus.

Vor drei Monaten war sie hier gestrandet, müde von der Routine ihrer alten Stelle. Kein Jahr hielt sie es mehr in demselben Restaurant aus, wechselte nach ein paar Monaten die Arbeit, die Stadt, die Menschen. Die Kriterien für den neuen Ort waren simpel: Es musste eine freie Stelle in einer Küche geben und die Stadt sollte weiter im Norden liegen als die letzte. Seit Elsa vor neun Jahren von zu Hause ausgezogen war, bewegte sie sich Schritt für Schritt der Küste entgegen. Auf dem Meer lösen sich alle Sorgen auf. Das Meer war ein gutes Ziel. Es war geduldig, es war ja schon lange da. Vermutlich würde es nicht so bald verschwinden, im Gegenteil, angeblich wurde es sogar größer, Gletscher schmolzen. Das Meer war ein konkretes Ziel, aber auch nicht zu konkret. Es war schwer zu sagen, wo genau Anfang und Ende waren, und wenn man eines von beiden sehen konnte, zum Beispiel den Anfang, war das Ende weit weg und umgekehrt.

Das Restaurant lag am Stadtrand auf einer Anhöhe. Dahinter begann der Wald, wild durchkreuzt von verrotteten Trimm-dich-Stationen und bunt markierten Wanderwegen, auf denen es am Wochenende von Ausflüglern nur so wimmelte. Jacken in unsäglichen Farben streuten sich zwischen die Stämme, leuchteten auf und verglühten. Die Spaziergänger folgten den empfohlenen Routen, von der kleinen Alibi-Runde bis hin zu den Strecken für, laut Tourismusbüro, »fortgeschrittene Wandervögel«. Es machte keinen Unterschied, am Ende hockten sie ausnahmslos in einer der Gaststätten und schlugen sich die Bäuche voll.

Um sich von den anderen abzuheben, lockte Elsas Lokal mit XXL-Angeboten. Im Prinzip unterschied es sich nicht von den Küchen, in denen sie zuvor gearbeitet hatte. Alles war ein bisschen größer. In den XXL-Mega-Tempel kamen die Gäste nicht nur zum Essen, sondern sie machten »einen Ausflug« und im Grunde hatten sie recht, es war kein Restaurant, sondern ein Monstrositätenkabinett. Die Gäste bestellten Fleischberge: 1,2-Kilo-Rumpsteaks, 2-Kilo-Schnitzel oder 5-Kilo-Burger, und versuchten, alles möglichst schnell hinunterzuschlingen. Was sie nicht schafften, nahmen sie mit. Zu den Riesenportionen wurde automatisch eine Rolle Alufolie an den Tisch gebracht. Sie mussten zu Hause mehrere Tage für die Reste brauchen. Schnitzel auf Toast zum Frühstück, überbackenes Schnitzel zum Mittag und kaltes Schnitzel als Happen zwischendurch, Schnitzelpralinen zum Nachmittagskaffee und zum Abendessen Schnitzel auf Brot. Elsa war zwar nicht groß, aber neben einem Monster-Burger kam sie sich winzig vor. Je mehr XXL-Gerichte bestellt wurden, umso kleiner wurde sie. Nach einer doppelten Schicht, mit Füßen aus Beton, schien es unmöglich, mit der Hand noch den Türgriff zu erreichen.

Mit dem Aufbau der Terrassen vor einigen Wochen hatten die Gastronomen in der Stadt die Frühlingssaison eröffnet. Seitdem saßen die Gäste bei jeder Temperatur draußen, solange das Tageslicht reichte. In bunte Decken gewickelt präsentierten sie weltmännisch ihre Sonnenbrillen. Die Kellnerinnen trugen Daunenwesten über den Blusen und jammerten, wenn sie ein paar Minuten in der Küchenhitze aushalten mussten.

Noch waren die Restaurants nicht vollständig ausgelastet. In den nächsten Tagen würde der Betrieb merklich zunehmen, am Feiertag und an dem sich daran direkt anschließenden Wochenende auf einen der Höhepunkte des Frühjahrs gelangen. Im XXL-Mega-Tempel war man bestens darauf vorbereitet. Zusatzschichten waren angesetzt, die Spätschicht war Stunden früher angerückt. Seit neun Uhr morgens werkelten alle verfügbaren Kräfte in der Küche. Haufenweise Steaks, Schaschlik-Spieße und Spareribs lagen in Marinade, Kartoffel- und Krautsalate zogen in großen Plastikwannen durch, der Grill war geputzt und aufgebaut, bereit für das große Angrillen am Ersten Mai. Morgen, am letzten Apriltag, erwartete man die ersten Feiertagslaunigen. Die Sonderkarte des XXL-Mega-Tempels für den »Tanz in den Mai« leuchtete neonfarben von den Flyern: ein XXL-Schnitzel Jäger-Art mit einem Literkrug Pils für »sagenhafte 9,99 Euro!«.

Elsa spuckte in ihr mitgebrachtes Küchenkrepp, um die Zigarette darin auszudrücken, und warf es in die Abfalltonne. An der Hintertür stieß sie mit Georg zusammen.

»Wo warst du denn so lange?«

»Ich habe den Müll rausgebracht.«

Zweifelnd wanderten Georgs Augen zu den Mülltonnen.

»Brauchst du irgendetwas?«, fragte er und schlang seine Arme um Elsa. Georg war kräftig gebaut, sein Bizeps zeichnete sich deutlich unter der Kochjacke ab. Die harte Arbeit in der Küche blieb nicht ohne Wirkung. Seine Haut hatte die typische Kochblässe, weil er den größten Teil des Tages in künstlichem Licht verbrachte. Georgs Sommersprossen, sein sandfarbenes Haar und die kaum sichtbaren Wimpern deuteten jedoch an, dass er auch in der Sonne eher rot statt braun werden würde. Haupthaar und Bart hatten dieselbe Länge, drei Viertel seines Kopfes waren mit einem kurzen, dicht wachsenden Flaum bedeckt. Er überragte Elsa um mehr als einen Kopf, ihr Gesicht wurde gegen seinen Brustkorb gedrückt. Sie versank im Küchenduft: Bratfett und darunter schwach der vertraute Körpergeruch.

Erst heute Morgen hatte Georg dasselbe gefragt, als Elsas Unruhe ihn aufgeweckt hatte. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sag das Maifeuer ab, hätte sie am liebsten gesagt, schaff den ganzen Ersten Mai ab, lösch die Feuer! »Es liegt bestimmt am Licht«, hatte sie stattdessen in der Frühe zu Georg gesagt, der davon ausging, dass die Helligkeit sie um den Schlaf brachte. Das Frühlingslicht sei aggressiver als das Winterlicht, hatte er verständnisvoll bemerkt. Georg hatte immer und für alles Verständnis. Elsa hatte ihm nicht widersprochen, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war. Es war die Dunkelheit, die ihr zu schaffen machte.

Elsas Aussehen weckte den Beschützerinstinkt. Nicht nur wegen ihrer geringen Körpergröße von gerade mal 1,58 Meter. Obwohl sie durchaus braun werden konnte, war ihre Haut hell, zu selten kam sie an die Sonne. Die Adern schimmerten an den Schläfen hindurch wie ein gemalter Flusslauf hinter Pauspapier. Das Haar, früher beinahe weiß, war etwas nachgedunkelt, aber immer noch hellblond. Ein Farbton, den die meisten Frauen nur durch Färben erreichten und der Elsa bereits als Kind zahlreiche wehmütige Blicke eingebracht hatte, wenn sich ihr Gegenüber seufzend daran erinnert hatte, auch einmal blonde Locken gehabt zu haben, als sei das gleichzusetzen mit einer glücklichen Kindheit.

Elsa war zäh, oft fast verbissen. Georg hielt sich an ihr fest, nicht umgekehrt. Ihr Körper behielt einen Rest Anspannung, trotz der Arme, die sie umschlossen, die nichts mehr wollten, als dass sie sich hineinsinken ließ. Aber es gelang ihr einfach nicht, und so war sie es, die diesen großen Mann hielt, neben dem sie wie ein Kind wirkte, als sei er derjenige, der etwas brauchte. Tröstend rubbelte sie ihm mit der Hand über den Rücken. Sie ahnte, was es war. Er brauchte, dass sie etwas brauchte.

»Ja«, antwortete sie deshalb und sah den erwartungsvollen Schimmer in seinen Augen, bereit, alles herbeizuschaffen, was Elsa helfen würde. »Ich brauche Arbeit«, sagte sie und schob sich entschlossen an Georg vorbei. Sie spürte seine Augen auf dem Rücken, sein Schweigen, das ihr folgte, in die Ohren kroch und aufquoll wie Ohropax, die Welt dumpf machte. Elsa tat ihre Schroffheit leid, aber es gab nichts, was Georg für sie tun konnte.

Sie trat die Tür zur Küche auf. Eilige Schritte, das Zischen von Bratgut in heißem Fett und das tieftonige Surren des Spülautomaten verdrängten die unangenehme Stille. Es war eng in der Hauptküche. In drei Strängen reihten sich Spülautomaten, Waschbecken, Arbeitstische aus Edelstahl, Fritteusen, Kipper und Kochfelder aneinander, Grill und Bräter standen im Zentrum. Vor der Schwingtür zum Gastraum lag der Pass: der Schnittpunkt zwischen Küche und Service, das Herzstück jedes Restaurants. Hier heftete das Service-Personal die neuen Bons an die Metallleiste über der Anrichte und holte die fertigen Teller ab, sobald die Kellnerklingel ertönte. Egal, ob man Hummer oder Riesenschnitzel servierte, wenn es am Pass nicht funktionierte, hielt sich ein Restaurant nicht lang über Wasser. Es war pure Logistik. Ein Ansager annoncierte laut eine Bestellung und jeder Koch reagierte an seinem Posten, in der Kalten Küche, am Grill, am Herd, an den Fritteusen und den Mikrowellen. Durch Kommandos und Tischnummern gab der Ansager den Takt vor und alle stimmten ein, brachten die unterschiedlichen Komponenten auf den Tellern, die auf der Anrichte bereit standen, zusammen, der Ansager schlug auf die Klingel und die Bestellung wurde abgeholt. War man eingespielt und hatte eine gewisse Geschwindigkeit erreicht, war es schwer, das Tempo wieder zu zügeln.

Elsa hatte kaum einen Schritt in die Küche getan, da rief es vom Pass: »Zieh die schnellen Schuhe an! Wir haben zwanzig Unreservierte!« Der Zuruf kam von Robert. Der Chef musste den Laden also für heute bereits verlassen haben. Elsa atmete auf. Ohne ihn ging es merklich lockerer zu. Wenn er da war, stapfte er mit geschwollener Brust durch die Küche und mischte sich in alles ein – der König des Urwalds.

Georg hinter ihr bekam keine Gelegenheit, an den Wortwechsel von draußen anzuknüpfen: »Hellwig, ran an den Grill, es geht los!« Während der Arbeit riefen sich die Köche beim Nachnamen. Der Chef bestand darauf, »Chef« genannt zu werden, sogar von seiner Frau, die im Service arbeitete. Sonst könnte noch jemand auf die Idee kommen, er sei etwas ganz anderes, »ein richtiges Arschloch zum Beispiel«, hatte Elsa einmal zu Georg gesagt, der aber nicht darauf eingegangen war, aus Dankbarkeit, vor zig Jahren hier seine Lehrstelle bekommen zu haben. Damals hatte das Lokal noch dem Vater des Chefs gehört, mit einem richtigen Namen über der Tür, ohne den kastenförmigen Anbau, der die Anzahl der Sitzplätze von 120 auf 400 aufgestockt hatte. Das Wort »Eventgastronomie« hatte es noch nicht gegeben und die exotischsten Gerichte auf der Karte hießen Toast Melba, Schnitzel Hawaii und Krabbencocktail.

Elsa wünschte, sie hätte etwas mehr von Emras und Zahids Gelassenheit im Blut. Wenn der Chef mit ihnen wegen irgendeiner Nichtigkeit schimpfte, lächelten die beiden und sagten etwas auf Urdu, das wie eine Geheimsprache funktionierte, weil es keiner sonst im Restaurant verstand. Elsa vermutete, dass sie hinter ihren weißblitzenden Zähnen kein gutes Haar am Chef ließen. Sie selbst konnte sich nur mit Mühe beherrschen, wenn jemand barsch von ihm zusammengefaltet wurde, und floh in den Kühlraum, als könnten die niederen Temperaturen das Gemüt kühlen. Wie der Spüli hieß, wusste Elsa nicht. Er hatte augenzwinkernd darauf bestanden, »Spüli« genannt zu werden. Nicht selten klang diese Anrede hier respektvoller als »Chef«.

Elsa war die einzige Frau in der Küche. Viele Küchenchefs fühlten sich unbehaglich, wenn Frauen mit im Team waren, und behandelten selbst die ausgelernten Köchinnen wie Küchenhilfen. In den letzten Jahren hatte Elsa trotz abgeschlossener Lehre bergeweise Kartoffeln, Zwiebeln und Spargel geschält, Artischocken, Feldsalat und Pfifferlinge geputzt und Garnelen entdarmt. Aufgaben, die eigentlich die Auszubildenden erledigten, so lange, bis es wehtat, bis sie jeden einzelnen Handgriff im Schlaf ausführen konnten. Hier im XXL-Mega-Tempel gab es relativ wenig Frischware, zu deren Vorbereitung man Elsa hätte verdonnern können. Dafür war sie als Einzige im Team während des À-la-Carte-Geschäfts noch nie der Grillstation zugeteilt worden. Dabei wusste sie so gut wie jeder andere Koch, was es hieß, vierzehn Stunden und mehr am Stück zu arbeiten; wie man trotz Schnittverletzung mit einem Plastikhandschuh weiterkochte; wie Brandblasen unter der Dauerhitze zu brennen und zu klopfen anfingen, weil keine Zeit zum Kühlen blieb; wie man jeglichen Schmerz im Körper verdrängte. Schon auf ihrem Lehrbuch hatte in großen Lettern »Der junge Koch« gestanden, und darunter sehr klein »Die junge Köchin«.

Vor drei Monaten, bei ihrem Vorstellungsgespräch, hatte der Chef zuerst nach ihrem Schulabschluss gefragt. »Hauptschule«, antwortete Elsa und fügte, einem Instinkt folgend, nicht hinzu, dass sie genau genommen das Gymnasium nach der neunten Klasse abgebrochen hatte. Später erzählte Georg, dass der Chef ungern Leute mit Abitur einstellte, wo er selbst nur einen Hauptschulabschluss hatte, er brauche hier keine »Studierten«.

Von der Idee, »ein Mädel« einzustellen, war der Chef ebenfalls nicht begeistert gewesen. Aber letztendlich lief es wie in den Restaurants zuvor. Elsa fragte nicht nach Arbeitszeiten oder Urlaubstagen, sondern versicherte, dass sie gern so viel wie möglich arbeitete, auch an Wochenenden und Feiertagen, eigentlich vor allem an Wochenenden und Feiertagen, an Ostern, dem Ersten Mai, Pfingsten, Weihnachten, Erntedank, ganz egal, und spätestens dann stellte man sie ein. Elsa brauchte keine Freizeit, sondern das Gegenteil. Jede Sekunde musste mit etwas gefüllt sein, die Gedanken beschäftigt und fokussiert.

Am Abend gerieten sie im XXL-Mega-Tempel ins Schwimmen. Die Bestellungen prasselten nur so über die Küche herein. Keine Rede von der Vorfeiertags-Flaute, die alle erwartet hatten. Sie mussten sogar die Vorräte anbrechen, die für die nächsten Tage bestimmt waren. Gastronomie war unberechenbar. Manchmal wusste man nicht, wo die Gäste blieben; an Tagen wie heute fragte man sich, wo sie plötzlich alle herkamen.

Elsa und die anderen sprangen zwischen den Stationen hin und her, schoben sich hektisch aneinander vorbei, Hände griffen übereinander hinweg, Dampf stieg auf, Geschirr und Besteck klirrten, Mikrowellen schickten ihr helles »Ping« in den Dunst. Elsa spürte, wie sich zwischen ihren Schulterblättern Schweiß sammelte, die Wirbelsäule hinabrann und dort, wo der Schürzenknoten die Kochjacke an ihre Haut drückte, im Stoff versickerte. Am intensivsten war die Hitze im Gesicht. Wenn sie heute Nacht aus dem Restaurant kam, würde sie leuchten und glühen wie ein Heizpilz. Sie schaffte es gerade noch, sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn zu wischen, bevor er aufs Essen fiel. Ein einzelner Tropfen entwischte und explodierte im heißen Fett der Fritteuse. Kleine Sprengsel brannten sich in die Haut an Elsas Unterarmen. Das Fett stieg mit der Hitze nach oben, jede Pore sog es auf, sie inhalierte es, es musste die Innenwände ihrer Luftröhre mit einem klebrigen gelben Film bedecken. Alles in der Küche war am Ende eines Arbeitstages mit einer Patina aus Fett überzogen. Auch man selbst.

Elsa füllte Teller um Teller und bekam leere Stapel zurück. Trotz der rutschfesten Sohlen fanden ihre Schuhe keinen sicheren Halt. Auf den geriffelten Bodenkacheln vermischten sich zunehmend Öl, Wasser und heruntergefallene Essensreste. »Vier Burger, ein Mal Calamari, Tisch vierzehn! Raus damit!« Sie angelte mit einer Zange die Tintenfischringe aus dem Fett und ließ sie auf einem Teller mit Küchenkrepp abtropfen. Bei der nächsten Drehung war der Teller verschwunden. Jemand schrie nach den Putenschnitzeln und zeitgleich wurde die nächste Bestellung annonciert: »Bon neu, Tisch siebzehn: drei Cheeseburger, vier Halbe, zwei Kroketten, drei Pommes, ein Pilz, …« Den Rest hörte Elsa nicht mehr. »Jawohl!«, rief sie laut zurück, gleichzeitig mit Grill und Kalter Küche.

»Jawohl« war das am häufigsten verwendete Wort in der Küche und hatte je nach Tonlage unterschiedliche Bedeutungen. Es konnte heißen: »Kein Problem, ich fange sofort an«, oder auch: »Dazu komme ich frühestens in zwei Stunden, siehst du eigentlich, was hier los ist?« Im Grunde war es die kürzeste und höflichste Form, um zu sagen: »Ich habe gehört, was du gesagt hast, ich tue mein Bestes, keiner ist schneller als ich, also hau ab und geh mir nicht auf die Nerven!«

Obwohl die Thermometer der zwei Fritteusen eine zu niedrige Temperatur anzeigten, schüttete Elsa Pommes und Kroketten in den ersten Metallkorb, machte zwei Schritte zur nächsten Kühlung und griff in einen Beutel mit gefrorenen, industriell vorpanierten Champignons, oder »Champions«, wenn man der Speisekarte Glauben schenkte, warf sie in den Korb der zweiten Fritteuse und versenkte die Behälter beidhändig im Fett. Nur langsam stiegen die ersten Blasen auf. Das Fett war nicht heiß genug. Die Panierung saugte sich damit voll, aber Elsa konnte nicht länger warten. Sie liebte diesen Zustand: wie das Gehirn vollauf damit beschäftigt war, die Bewegungsabläufe zu koordinieren; wie die einzelnen Bons gemeinsam der Reihe nach abgearbeitet wurden und anschließend ein neuer Countdown von vorn begann, eine Aneinanderreihung aus kurzen, gut überschaubaren Zeiträumen. Es gab keinen besseren Ort auf der Welt als eine Küche im Stress.

Die Lautstärke der Zurufe und die Schlagzahl der Schritte nahmen noch zu. »Zwei Holzfäller L, ein Jäger XXL, drei Monster, vier Pommes, zwei Kroketten!« – »Jawohl!«, rief Elsa laut, immer wieder, schlitterte zwischen Schubladen mit Gefriergut und Fritteusen hin und her, inmitten von Licht, Hitze und Gebrüll.

Plötzlich war es vorbei. Die Stimmlagen sanken, die Bewegungen verlangsamten sich, das Klappern des Geschirrs im Spülbereich nahm deutlich zu. Auf der anderen Seite der Küche sah Elsa, wie Emra eine Schüssel aus der Mikrowelle nahm und den Finger hineintauchte. Offenbar war die Sauce zu kalt, denn er leckte den Finger ab, stellte die Schüssel zurück in die Mikrowelle und drückte auf die Knöpfe. Wetten, dass er sich nicht die Hände wäscht, bevor er sie erneut in die Sauce oder eine Portion Reis steckt?, dachte Elsa. Sie schüttelte sich und wandte den Blick ab. Sie wollte lieber nicht wissen, ob sie richtig lag. Sie fischte die Pommes aus der Fritteuse und schwenkte sie in einer Schüssel mit Gewürzsalz. Zum ersten Mal seit Stunden steuerte sie bewusst ihre Hände. Am Pass verteilte sie die Pommes auf Silberschalen. Sie glich den letzten an der Metallleiste verbliebenen Bon mit den angerichteten Tellern ab, wartete, bis Emra die Sauce über zwei Schnitzel verteilt hatte, und schlug auf die Klingel. Zwei Kellnerinnen nahmen, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen oder Elsa eines Blickes zu würdigen, in einem Bogen die großen Tabletts auf und verschwanden durch die Schwingtür.

Elsa sah auf die Uhr. Es war schon nach elf. Die letzten vier Stunden waren verdampft. »Feierabend!«, rief sie, spießte den gerade erledigten Bon auf und schaltete den hellen Spot über dem Pass aus. Das Zeichen für die Kellnerinnen, keine Essens-Bestellungen mehr anzunehmen. Wenn jedoch eine größere Gruppe auftauchte, bei der sie guten Umsatz witterten, und das Küchenpersonal noch nicht komplett das Weite gesucht hatte, würden sie ungeniert mit einem neuen Bon in die Küche marschieren, selbst wenn alles bereits geputzt war. Kein Cent wurde verschenkt.

Nach dem endgültigen Schließen der Küche gehörte der XXL-Mega-Tempel den Kellnerinnen. Sie würden weiter Bier ausschenken, durch die Küche stolzieren und die Ordnung durcheinanderbringen, riesige Nacho-Berge im Ofen mit Käseimitat überbacken und das »Kochen« nennen, am Ende die letzten Gäste nach draußen kehren und das Trinkgeld nach eigenem Ermessen mit dem Küchenpersonal teilen.

Elsas Beine waren schwer, sicher ging es den anderen nicht besser. Seit über vierzehn Stunden arbeitete sie. Trotzdem fingen sie zügig mit dem Aufräumen an. Sie konnten nicht einfach stehen bleiben. Ihre Körper waren hellwach, frisch aufgezogene Uhrwerke, trotz der Erschöpfung, die in jeder Faser spürbar war und bis in die Köpfe hineinreichte. Es war nicht leicht, diese Gegensätze miteinander zu vereinbaren. An Schlaf war nach einer Spätschicht nicht zu denken, sie mussten sich zuerst abreagieren, den Energiepegel nach und nach herunterfahren. Elsa brauchte mindestens drei Stunden, bis ihr Körper einen Normalzustand erreicht hatte, bis sie überhaupt wieder merkte, ein Mensch zu sein. Jetzt rauschte ihr das Blut durch die Adern. Es drängte sie nach draußen.

Unbemerkt von den meisten Gästen füllten sich nach Mitternacht die Bars und Kneipen der Städte mit Küchenpersonal. Sauber getrennt durch die lange Theke gelang es Köchen und Kellnern sogar, freundlich zueinander zu sein. Während der gemeinsamen Arbeitszeit belächelten sie sich und demonstrierten gern, dass sie selbst den anspruchsvolleren und anstrengenderen Job hatten. Wenn die Köche ihre weißen Jacken auszogen, kam das dem Schwenken der Parlamentärflagge gleich. Nach dem Feierabend für die Küche waren die Kellner gut genug, um die Köche an der Bar mit Alkohol zu versorgen; noch das harmloseste Mittel, um sich zu betäuben.

Elsa hatte den Frauen-Umkleideraum im Souterrain für sich allein. Ein Duftgemisch aus schweißdurchtränkten Nylonstrumpfhosen, Deodorant, Staub und Frittierfett hing in der Luft, die Essenz rechtschaffener Müdigkeit. In ihren Wangen saß die Hitze, die Haut spannte und darunter glühte es. Trotzdem verzichtete sie auf die Dusche. Widerstrebend zog sie ihre Kochjacke aus. In »Zivil«, meist Jeans und schlichte einfarbige T-Shirts, fühlte sie sich verkleidet. Ihre Hände, die in der Küche so präzise funktionierten, wurden unsicher und linkisch.

Schon als Kind hatte Elsa ungern im Mittelpunkt gestanden, sondern es vorgezogen, vom Rand aus zuzusehen: beim Eislaufen auf dem zugefrorenen See, bei den Bundesjugendspielen, auf dem Schulhof. Während sie in schriftlichen Prüfungen gut abgeschnitten hatte, war ihre mündliche Mitarbeit dürftig gewesen. Nur im Sportunterricht, wenn die Mannschaften gewählt waren und man ihr eine Position zugeteilt hatte, war das Unbehagen geschwunden. Danach konnte man sich an die Spielregeln halten, überwacht von einem Schiedsrichter. Ähnlich wie hier. Jetzt war die Küchenmannschaft ihr Team, und außerhalb der Arbeitszeit flüchtete sie sich an Georgs Hand.

Wie immer nach der letzten Bestellung des Abends war ihr Kopf leer. Nirgends war man so sehr in der Gegenwart verhaftet wie in der Küche. Man hielt sich nicht mit Vergangenem auf. War etwas schiefgelaufen, musste der Fehler eben behoben werden. Das konnte unangenehm werden, vor allem, wenn der Chef in der Nähe war. Aber zum Arbeitsende war alles geputzt, der Stahl glänzte, und am nächsten Tag begann man von vorn.

Über dem Waschbecken reihten sich auf der Ablage unter dem Spiegel die Schminktäschchen der Kellnerinnen nebeneinander. Im Service des Restaurants arbeiteten ausschließlich Frauen, alle in denselben nicht ganz blickdichten weißen Blusen mit einem aufgestickten »XXL« auf der Brusttasche und weinroten, bodenlangen Schürzen mit der Aufschrift »Heute ein König« in Schoßhöhe. Die Trinkgelder waren gut. Elsa war nicht sicher, ob für potenzielle männliche Kellner jemals ein Dress entworfen worden war.

Sie hatte sich nie länger als nötig mit den Kellnerinnen unterhalten. Es fiel ihr schwer, sie auseinanderzuhalten mit ihren roten Lippen und bunt geschminkten Lidern. Ihre und Elsas Wege kreuzten sich nur am Pass, wo sie volle gegen leere Teller tauschten. Sechs Abende pro Woche verbrachte Elsa in der Küche. Flankiert von Emra, Zahid und Spüli stand sie mit Georg, Robert und Max hinter dem Herd. Nette Jungs aus der Stadt, die nie das Verlangen gehabt hatten, den Ort ihrer Kindheit zu verlassen, eingebunden in über die Jahre gewachsene Sozialstrukturen. Jetzt war auch Elsa ein Teil davon. Mit ihnen ging sie nach der Schicht aus, ihre Gesichter waren es, die sie tagtäglich sah, ihre Stimmen, die ihr vertraut waren, ihre Probleme und Sorgen, an denen sie Anteil nahm.

Draußen auf dem Gang hörte Elsa es aus der Männerumkleide poltern und lachen. Außer den Personalräumen gab es hier unten nur einen großen Raum mit Gefriertruhen und Vorratsregalen voller Konserven. Elsa konnte es nicht erwarten, in die kühle Nachtluft zu gelangen. Allein machte sie sich auf den Weg nach oben.

Auf der Ebene der Hauptküche lagen zwei Kühlhäuser. Ein kleines für Frischwaren und Milchprodukte, ein größeres für Fleisch. Als Georg Elsa an ihrem ersten Tag herumgeführt hatte, war es ihm sichtlich peinlich gewesen, dass an einer der Kühlhaustüren das Poster eines Pin-up-Girls prangte. Nach einem Blick auf das Busenwunder fragte Elsa trocken: »Fleisch?« Amüsiert beobachtete sie, wie Georg die Röte ins Gesicht stieg. Er wechselte hastig das Thema zu dem neuen James-Bond-Film, der diesen Herbst im Kino anlaufen würde. Doch das würde Elsa sicher nicht interessieren, winkte er sogleich entschuldigend ab.

Er hatte nicht damit gerechnet, auf eine Expertin zu treffen. Nicht zu glauben, dass noch nie ein Kampf in der Küche ausgetragen worden sei, die vielen Geräte lüden doch förmlich dazu ein, sagte Elsa prompt. Wieder einmal zeigte es sich, wie leicht man als Mädchen Jungs mit Jungsthemen beeindrucken konnte. In den James-Bond-Filmen habe ihm vor allem der russische Geheimdienst imponiert, erzählte Georg eifrig und fragte, ob Elsa gewusst habe, dass bei russischen Militärparaden trotz schlechtester Wetterprognosen noch nie auch nur ein einziger Tropfen Regen gefallen sei. Als Kind habe ihn das enorm beeindruckt, erzählte er, als habe man die Macht, dem Himmel Befehle zu erteilen.

Einen Tag später küssten sie sich zum ersten Mal. Nachdem sie den ersten Feierabend gemeinsam mit den anderen Kollegen in verschiedenen Bars zugebracht hatten, trafen sich am nächsten Tag in der Küche ihre Blicke ein paarmal und drifteten nur zögerlich wieder auseinander. Wie zufällig berührte Elsa Georgs Arm, Rücken oder Schulter im Vorbeigehen. Georg folgte ihr mit den Augen in den Kühlraum und ging schließlich hinterher. Statt sich in dem schmalen Raum an ihm vorbeizuschieben, blieb sie dicht vor ihm stehen und hob ihm das Gesicht entgegen. Sie schloss die Augen und an ihren Lippen wurde es warm. Sie ging zwei Schritte zurück und spürte das Regal in ihrem Rücken, Georgs Lippen verloren kein einziges Mal den Kontakt, Elsas Hand griff in Salat. Von innen wurde es wärmer oder von außen kälter, so genau war das in einem Kühlraum nicht zu sagen.

In der folgenden Nacht, als die Kollegen längst verschwunden waren, stand Elsa mit Georg noch lange an der Bar und trank Wodka, ohne den Alkohol zu schmecken. Sie gingen Hand in Hand zu Georg nach Hause. Sie schliefen miteinander, und später lag Elsa mit dem Kopf auf seiner Brust und hörte seinem regelmäßigen Herzschlag zu. Seitdem verbrachten sie nicht nur die Feierabende, sondern auch die Nächte miteinander, schliefen bis mittags durch, bis der Tag hell im Zimmer stand. Bei der Erinnerung an diese ersten Tage und Nächte lächelte Elsa. Sie mochte es, wenn alles unbekannt war und es kaum Routinen gab, sondern der Kopf ununterbrochen mit der Aufnahme neuer Eindrücke beschäftigt war.

Sie wusste nicht, ob es an ihr selbst oder an den Nächten und den Bars lag, an den langen Theken mit den hochprozentigen Pfützen, in denen sich das schummrige Licht spiegelte, oder an der vorgerückten Stunde, dass die Menschen ihr gern persönliche Dinge anvertrauten. Vielleicht lag es an Elsas Schweigen. Die meisten Leute redeten mehr als sie, ohne Pausen, in die man mit einer eigenen Geschichte hätte hineingrätschen können. Elsa beantwortete die meisten Fragen mit einer Gegenfrage. Sie hätte eine hervorragende Barkeeperin abgegeben. Nachts an der Theke suchten die Menschen einen Zuhörer, keinen Redner.

Georg hatte leise, nachdenkliche Töne in jener Nacht angeschlagen. Zuerst gab es die üblichen Fragen. In welcher Stadt und welchem Lokal Elsa vorher gearbeitet hatte, woher sie ursprünglich stammte, ob sie Geschwister hatte. »Einen Bruder«, sagte Elsa, »und du?« Die Zunge schwer vom Alkohol, antwortete Georg: »Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht.« Elsa hatte diesen Satz schon häufig gehört. Alle Einzelkinder wünschten sich Geschwister, und zwar solche, wie man sie aus Kinderbüchern und Filmen kannte. Aber in Wirklichkeit wurde man nicht gefragt, man bekam irgendwen vor die Nase gesetzt und mit dem musste man dann zurechtkommen. Das vergaßen die Einzelkinder beim Herbeiwünschen gern.

Georg erzählte weiter, dass vor allem seine Mutter noch ein Kind hatte haben wollen. Er sollte jemanden zum Spielen bekommen, einen Bruder, mit dem er sich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke verstecken und Geheimnisse teilen könnte, jemanden, auf den er achtgeben könnte. Seine Eltern hätten es immer wieder versucht, sagte Georg, und Elsa fand es befremdlich, dass es Eltern in dieser Form wohl erlaubt war, ihren eigenen Kindern von ihrem Sexleben zu berichten, als würde die funktionale Ebene des Akts die vergnügliche auslöschen. Nichts als Sex bedeutete es aber; wer versuchte, ein Kind zu machen, der schlief so oft wie möglich miteinander, zu allen Uhrzeiten und mehrmals hintereinander. Bei Georgs Eltern hieß es noch mehr, Arztbesuche und Gesundheitschecks, auch damals kannte die Medizin bereits Mittel und Wege. Doch die Ärzte fanden ganz anderes, winzige Tumore, die sich im Mutterleib verbissen hatten, und letztendlich entfernte man Georgs Mutter die Gebärmutter, und mit den Träumen von Taschenlampen und Geheimnissen unter der Bettdecke war es vorbei.

Er hatte das entschuldigend vorgebracht, als sei es eine Erklärung dafür, dass er trotz seiner achtundzwanzig Jahre noch zu Hause wohnte. Er habe seine Eltern nicht alleinlassen wollen, beteuerte er, als müsste er so lange bleiben, dass es für zwei Söhne reichte. Georg wusste, dass Elsa bereits mit fünfzehn von zu Hause ausgezogen war. Das Hotelrestaurant, in dem sie ihre Lehre absolviert hatte, sei zum Pendeln einfach zu weit von ihrem Elternhaus entfernt gewesen, hatte sie Georg erzählt, und was das eigentlich für ein komischer Begriff sei, Elternhaus. Sie hatte Georg bis heute nicht viel von sich erzählt. Er wusste nicht, dass ihr Vater nicht mehr lebte, er wusste nicht, dass sie die Schule freiwillig abgebrochen hatte, er wusste nicht, dass sie seit ihrem Auszug ihre Mutter und ihren Bruder nicht mehr gesehen hatte, und schon gar nichts wusste er von Elsas Sehnsucht nach dem Meer.

Mittlerweile kannte sie diesen Blick in die Ferne, den Georg beim Erzählen bekam, der ihn von Anfang an von seinen Kollegen Robert und Max unterschieden hatte. Wie man einem Auto hinterherschaute, in dem ein geliebter Mensch saß, der weit weg fuhr und lange dort bleiben würde. Ein Blick, der wehtat, wenn man ihn sah. Diese Miene setzte Georg zum Beispiel auf, wenn man ihm eine Illusion raubte. Elsa hatte das schon ein paarmal provoziert. »Die Landung auf dem Mond war nur eine Inszenierung«, hatte sie gesagt und Georg hatte jemand Liebes ins Auto steigen sehen. »Im Bermudadreieck sind gar nicht so viele Schiffe verschwunden, wie immer behauptet wird«, hatte Elsa gesagt und das Auto war losgefahren. »In Russland wird bei großen Paraden per Flugzeug eine chemische Substanz in den Himmel abgelassen, damit es nicht regnet«, hatte sie gesagt und das Auto war an der nächsten Kreuzung der Vorfahrt beraubt und von einem Laster überrollt worden.

In Wirklichkeit wusste Elsa nicht viel von Russland, dem Bermudadreieck oder vom Mond, es sei denn, es war in einem Spionagefilm vorgekommen. An keinem dieser Orte war sie je gewesen, und wen sie sich im Auto hätte vorstellen sollen, um denselben Blick wie Georg hinzubekommen, wusste sie auch nicht. Manchmal sagte sie etwas nur, damit er so schaute.

Sie stieß die Hintertür auf und trat ins Freie. Es schien ewig her zu sein, seit sie mit Georg an diesem Tag hier in der Tür gestanden hatte. Die Hoflampe erhellte ein Halbrund um die Hintertür, die Mülltonnen standen abseits im Dunkeln, dahinter türmte sich der Wald auf. Sie steckte sich eine Zigarette an. Plötzlich zersprang über ihr die Glühbirne: ein Britzeln, ein Funkenschlag, ein Knall und auf dem Hof wurde es finster. Die Schatten machten einen Satz auf Elsa zu. Sie wich zurück, zog hastig an ihrer Zigarette, der rote Glutpunkt leuchtete heller und zischte. Unter ihrer Hand die raue Hauswand. Einatmen, ausatmen. Der Wald kam näher. Sie drückte sich fester an die Wand, spürte Steinchen an ihren Fingern, am Hinterkopf. Sie schrumpfte um eine Kopflänge, war wieder Elli, stand ganz allein da.

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