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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Franziska Küenzlen / Anna Mühlherr / Heike Sahm

Themenorientierte
Literaturdidaktik:
Helden im Mittelalter

Vandenhoeck & Ruprecht

Franziska Küenzlen (Jahrgang 1970) studierte an der Universität Tübingen Latinistik, Germanistik und Romanistik. Die Promotion erfolgte 2003 mit der Arbeit „Verwandlungen eines Esels. Apuleius’ Metamorphoses im frühen 16. Jahrhundert“ (erschienen 2005). Von 2002 bis 2010 war sie wissenschaftliche Assistentin am Germanistischen Institut der Universität Münster, unterbrochen von einem Jahr als Feodor-Lynen-Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Universität Oxford in England. Von 2010 bis Juni 2011 absolvierte sie das Seiteneinsteiger-Programm des Landes Rheinland-Pfalz und ist seitdem Studienrätin für die Fächer Deutsch und Latein an der Integrierten Gesamtschule in Mutterstadt, seit August 2012 auch lehrbeauftragte Fachleiterin für das Fach Deutsch am Studienseminar Speyer.

Anna Mühlherr (Jahrgang 1960) studierte an der Universität Tübingen Germanistik, Philosophie und Anglistik. Nach dem Staatsexamen (1985) verbrachte sie ein Jahr als Lehrkraft am Bryn Mawr College (USA) und arbeitete anschließend als Wissenschaftliche Angestellte, seit 2003 als Akademische Rätin in der Mediävistischen Abteilung des Deutschen Seminars der Universität Tübingen. Provomiert wurde sie 1991 mit einer Arbeit zum frühneuhochdeutschen Prosaroman (Titel: ‚Melusine‘ und ‚Fortunatus‘. Verrätselter und verweigerter Sinn, publiziert 1993). Im Jahr 2003 erfolgte die Habilitation mit einer Schrift über die frühen mittelhochdeutschen Mariendichtungen bis zum Leich Walthers von der Vogelweide. Sie lehrt und forscht an der Universität Tübingen.

Heike Sahm (Jahrgang 1966) studierte an den Universitäten Kiel und Tübingen Deutsch und Geschichte. Nach dem Staatsexamen 1993 wurde sie Stipendiatin am Göttinger Graduiertenkolleg ‚Kirche und Gesellschaft im 15. und 16. Jahrhundert‘. Die Promotion erfolgte 1998 in Tübingen mit der Arbeit ‚Dürers kleinere Texte. Konventionen als Spielraum für Individualität‘ (publiziert 2002). Von 1997 bis 2007 war sie wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln, wo sie sich 2006 mit einer Arbeit zum altsächsischen ‚Heliand‘ habilitierte. Im Sommer 2007 ging sie mit einem Feodor-Lynen-Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt- Stiftung für ein Jahr an die Universität Cambridge, und im Folgejahr versah sie die Jacob Grimm-Gastprofessur in Göttingen. Auf vier Jahre als wissenschaftliche Angestellte an der Universität Siegen folgte im Herbst 2013 der Ruf an die Universität Göttingen, auf die Professur für Germanistische Mediävistik / Ältere deutsche Sprache und Literatur.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany.

Umschlagbild: Codex Manesse, Hartmann von Aue

Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm

UTB-Band-Nr. 4163

ISBN 978-3-8252-4163-6

Vorwort

Die Ergebnisse der PISA-Untersuchungen haben zu einem Umdenken in der Bildungspolitik geführt. Nach mehr als einem Jahrzehnt der Debatten entstanden verbindliche Bildungsstandards, und in der Didaktik rückte die Entwicklung von Kompetenzen in den Mittelpunkt. Komplementär zu dieser Kompetenzorientierung braucht es aber ein intensives Bemühen um Inhalte, um Denkfiguren kultureller Bildung, weil nur so auch in Zukunft ihre verlässliche Vermittlung an die Schule gewährleistet ist. Der vorliegende Band möchte Sorge tragen, dass die Stoffe und Formen der Literaturgeschichte, die Verflechtungen der deutschen Literatur mit der anderer vergangener und gegenwärtiger Kulturen auch unter den neuen Bedingungen den ihnen zukommenden zentralen Stellenwert behalten.

Er wendet sich an Studierende der Germanistik mit dem Studienziel Lehramt und an Lehrerinnen und Lehrer, darunter auch diejenigen, die mit der Praxisausbildung betraut sind. Die von Berbeli Wanning (Universität Siegen) entwickelte themenorientierte Literaturdidaktik bietet dieser Zielgruppe die Möglichkeit, auf Inhalte des germanistischen Fachstudiums themenzentriert zuzugreifen, weil Fachwissen didaktisch strukturiert so aufbereitet wird, dass die Unterrichtspraxis daran unmittelbar anknüpfen kann. Gerade für die neuen, stärker auf die Praxis ausgerichteten BA/MA-Lehramtsstudiengänge fehlt bisher ein solches Angebot.

Der Band stellt sein Thema vor dem Hintergrund neuerer Forschung dar und zeigt die aus der Sicht einer kompetenten literaturdidaktischen Vermittlung passenden Anknüpfungspunkte an weiterführende Diskurse und Bildungsfragen auf. Er widmet sich den Helden in der mittelhochdeutschen Literatur und damit einem Thema von hoher Faszinationskraft für Kinder und Jugendliche. In der Beschäftigung mit den fernen Helden aus dem Mittelalter können die Schülerinnen und Schüler ‚fremde‘, vielleicht sogar ‚befremdliche‘ und ‚eigene‘ Elemente des Heldenbegriffs entdecken und darüber ein Bewusstsein für seine semantische Breite entwickeln. So kann zum Beispiel ein Held eine Gesellschaft retten und sie gleichzeitig gefährden.

Die beiden einleitenden Kapitel und das Glossar haben die Autorinnen gemeinsam geschrieben, die einzelnen Helden-Kapitel sind mit dem Namen der jeweiligen Autorin gekennzeichnet.

Wir danken dem Verlag, vor allem Frau Dr. Gießmann-Bindewald für ihr Engagement und ihre Geduld. Auch danken wir Julika Epp, Johanna-Thea Mohrmann, Karin Peschke und Anik Felicitas Reber für ihre Hilfe bei der Redaktion, Klaus Nippert, Ann-Kathrin Olbert, Diana Steegers und Justin Vollmann für ihre Anregungen und Hinweise.

Speyer

Tübingen

Göttingen

Franziska Küenzlen

Anna Mühlherr

Heike Sahm

Inhalt

1. Gegenstand – Zielrichtung – Verwendbarkeit

1.1 Themenschwerpunkt

1.2 Zielpublikum: An wen richtet sich dieser Band?

1.3 Hilfsmittel zur Arbeit mit mittelhochdeutschen Texten

1.4 Literatur

2. Alte und neue Konzeptionen

2.1 Die Faszinationskraft von Helden

2.2 Geschichte des Heldenbegriffs

2.3 Joseph Campbell „Der Heros in tausend Gestalten“

2.4 Die Heldenauswahl dieses Bandes

2.5 Helden auf Mittelhochdeutsch

2.6 Literatur

3. Sîfrit (Heike Sahm)

3.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt

3.2 Die Vorausdeutungen auf den Tod des Helden

3.2.1 Erzählervorausdeutungen

3.2.2 Warnungen durch Träume

3.3 Der Held und seine Hilfsmittel

3.4 Verrat und Ermordung

3.5 Kriemhilts Trauer

3.6 Der exorbitante Held

3.7 Literatur

4. Roland (Heike Sahm)

4.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt

4.2 Der Held und sein Schwert

4.3 Held und Kollektiv

4.4 Trauer und Zorn

4.5 Der Held als Heiliger?

4.6 Literatur

5. Willehalm (Anna Mühlherr)

5.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt

5.2 Zerdehnte Rachehandlung, Aneignung des Fremden

5.3 Rüstungsschmutz und blanke Nerven

5.4 Rennewart: Heroik und Komik

5.5 Mechanik der Aufhäufung von Leid und Reichweiten der Ethik

5.6 Literatur

6. Tristan (Anna Mühlherr)

6.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt

6.2 Schwieriger Beginn und brillante Performanz

6.3 Brutale Selbstbehauptung

6.4 Tristan als Heilsbringer

6.5 Todesnähe und virtuos erspieltes Leben

6.6 Fremdheit

6.7 Literatur

7. Herzog Ernst (Franziska Küenzlen)

7.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt

7.2 Begabung und Begünstigung – Neid und Rache

7.3 Begegnung mit dem Fremden I: Aggression und Selbstüberschätzung (Grippia)

7.4 Begegnung mit dem Fremden II: Kommunikation und Kooperation (Arimaspi)

7.5 Heimkehr: Auszeichnung und Re-Integration

7.6 Literatur

8. Iwein (Franziska Küenzlen)

8.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt

8.2 Hartmann von Aue: Iwein

8.3 Felicitas Hoppe: Iwein Löwenritter

8.3.1 Der Mann in Gestalt eines Ungeheuers

8.3.2 Ehre, was ist das?

8.4 Literatur

9. Glossar

1. Gegenstand – Zielrichtung – Verwendbarkeit

Die themenorientierte Literaturdidaktik verknüpft die in Curricula und Bildungsstandards kompetenzorientiert festgelegten und damit funktional ausgerichteten Ziele des Literaturunterrichts mit den Inhalten literarischer Werke. Ins Blickfeld rücken dabei insbesondere Themen und Motive, die in der europäisch-abendländischen Kultur zu verschiedenen Zeiten auf vielfältige Weise literarisch aktualisiert und bearbeitet worden sind. Damit werden für den Literaturunterricht wesentliche Grundlagen kultureller Bildung erschlossen, die zum interkulturellen Lernen befähigen.

1.1 Themenschwerpunkt

Der Band nimmt das Thema ‚Helden‘ in den Blick und konzentriert sich dabei aus zwei Gründen auf die mittelalterliche deutschsprachige Literatur:

Erstens sind mittelalterliche Helden kulturhistorisch gesehen Kristallisationsfiguren, deren Ausprägungen sich zu noch älteren Typen zurückverfolgen lassen und die auch das Grundinventar heutiger Heldenkonzeptionen bereithalten. Denn in dieser Zeit erfolgt, was die Helden angeht, eine intensive ‚Arbeit am Archaischen‘; es handelt sich um Reformulierungen sowie Umakzentuierungen, die noch die heutigen Vorstellungen entscheidend prägen. Wenn man wissen will, was Helden als Gestalten des Imaginären auch und gerade in der heutigen Zeit zu leisten vermögen, lohnt die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur in sehr hohem Maße. Es gibt keinen besseren Weg zur Schulung einer differenzierten und differenzierenden Wahrnehmung von Spielarten und Implikationen des Heldenstatus bestimmter Figuren. In langzeitlicher Perspektive zeichnen sich Verbindungen von mittelalterlichen Erzählungen zu moderner Literatur und zum modernen Kino sehr deutlich ab.

Zweitens spielt bei der Entscheidung gerade für mittelalterliche Helden die Faszination dieser Epoche eine Rolle, die gegenwärtig nicht nur auf Schüler und Schülerinnen, sondern auch auf weite Teile der Bevölkerung eine große Anziehungskraft ausübt. Dies lässt sich unter anderem an der Begeisterung für Fantasy-Literatur und PC-Spielwelten mit ‚mittelalterlichem‘ Setting oder an den hohen Teilnehmerzahlen bei Mittelalter-Festivals ablesen.1 Solche Art Anverwandlungen des Mittelalters in Form von re-enactment und histotainment können aber durchaus hinterfragt werden.2 Die Behandlung ‚echter‘ deutschsprachiger Literatur des Mittelalters im Schulunterricht wird damit zum einen bei vielen Schülerinnen und Schülern auf ein grundsätzliches Interesse stoßen, zum anderen bietet sie ihnen die Chance, in der Auseinandersetzung mit den Originalen zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen, die gängige Mittelalterklischees hinter sich lassen.

Unser Band macht daher Vorschläge, wie das Potenzial der ‚mittelalterlichen Helden‘ für den Schulunterricht genutzt werden kann. Dabei wollen wir keine voreilige Identifizierung mit Helden erzielen, sondern anhand von Texten, die zugleich uralt und aktuell, fremd und nah sind, ein Bewusstsein für die semantische Breite des Heldenbegriffs schaffen und das sich daraus ergebende Spannungsfeld didaktisch fruchtbar machen. Den einen Extrempol im Spektrum des Heldenbegriffs nimmt der außerordentliche, einzigartige, übermenschliche Heros ein. Seine grundsätzliche Andersartigkeit, sein unbekümmertes, bisweilen ungebremst aggressives und asoziales Verhalten machen ihn bei aller Bewunderung, die ihm entgegengebracht wird, gleichzeitig auch zum einsamen Außenseiter. Am anderen Ende des Spektrums steht der moderne, gezähmte und zum gesellschaftlichen Vorbild gewordene Held des Alltags. Er hat nichts Einzigartiges an sich, sondern ist gerade dadurch bestimmt, dass er ein Mensch ‚wie du und ich‘ ist und seinen Platz in der Gesellschaft einnimmt, im entscheidenden Moment aber das Richtige, d.h. das gesellschaftlich Wünschenswerte, tut.

Die Auseinandersetzung mit den von uns gewählten sechs Helden vor dem Hintergrund dieses breiten Spektrums des Heldenbegriffs ist ein didaktisch gewinnbringender Schwerpunkt, da zur Beschreibung des jeweiligen Helden und seiner Einordnung in das Spektrum auch die Bewertung seines Verhaltens tritt. Damit ist die Möglichkeit zu einer kontinuierlichen Anhebung des Aufgabenniveaus bis in den höchsten Anforderungsbereich gegeben. Dass es sich bei den Helden dieses Bandes um Figuren der mittelalterlichen Literatur handelt, macht einen reizvollen Kontrast zu den üblichen Schwerpunktsetzungen im Deutschunterricht aus, der ebenfalls im Sinne der Progression in einer Unterrichtsreihe didaktisch nutzbar gemacht werden kann: Der Perspektivwechsel, der bei der Lektüre literarischer Texte von den Lesern grundsätzlich geleistet werden muss, ist auch bei den von uns gewählten Texten über weite Strecken intuitiv möglich. Die Schülerinnen und Schüler bringen nämlich in der Regel Erfahrungen aus der Lektüre von Abenteuer- und Fantasy-Romanen mit, deren Erzählanlage und motivisches Inventar eine große Schnittmenge mit unseren Texten aufweisen. Erweitert man aber die Unterrichtsreihe um Informationen zum Literaturbetrieb im Mittelalter oder zum historischen Kontext der einzelnen Werke, gewinnt der mittelalterliche Text an Fremdheit. Das Fremdverstehen wird um seine kontextuelle Dimension verfeinert und erfordert auf diese Weise eine differenziertere Bewertung der erzählten Heldentaten in Absetzung von der eigenen, auf der Grundlage moderner Lebenszusammenhänge und individueller Erfahrungen gewonnenen Position.

1.2 Zielpublikum: An wen richtet sich dieser Band?

Literaturwissenschaftliche Fachliteratur liefert Sachanalysen, welche die Grundlage sinnvoller didaktischer Schwerpunktsetzungen sind, bietet aber in der Regel keine Reflexion hinsichtlich einer didaktischen Verwertbarkeit an Schule und Hochschule. Literaturdidaktische Fachliteratur nimmt die verschiedenen Probleme der Vermittlung von Literatur in den Blick, ist aber selten auf deren eigentliche Inhalte konzentriert. Fertige Unterrichtsentwürfe sind das Produkt einer von einer bestimmten Person unter bestimmten Umständen vorgenommenen didaktischen Reduktion und methodischen Umsetzung. Der Prozess, der zu diesem Ergebnis führt, ist aber meist nur ansatzweise oder verkürzt dokumentiert. Unterrichtshilfen dieses Typs sind daher für Berufsanfänger mit wenig Erfahrung in der systematischen Planung von Unterricht (Studierende, Referendare) wenig hilfreich und verführen zu einer unreflektierten Nachahmung sowie zur Übernahme nicht selbst angeeigneter Unterrichtsinhalte und nicht authentisch vertretener Unterrichtsstile. Themenorientierte Literaturdidaktik setzt bei dieser Situation an: Sie will aktuelle und literaturwissenschaftliche Themenschwerpunkte fachwissenschaftlich fundiert, aber mit einem spezifisch literaturdidaktischen Blick vorstellen, der auch Ausblicke auf eine konkrete Umsetzung im Unterricht einschließt. Die didaktische Feinjustierung und ein Großteil der methodischen Umsetzung können jedoch nur mit Blick auf eine konkrete Lerngruppe in ihrer spezifischen Situation vorgenommen werden und sind daher nicht primäres Anliegen. Angestrebt ist vielmehr, eine solide Basis für die weiterführenden didaktisch-methodischen Entscheidungen zu schaffen.

Daraus ergibt sich, dass der Band an der Schnittstelle von universitärer Literaturwissenschaft, universitärer Literaturdidaktik und der konkreten Umsetzung in der Schule angesiedelt ist. Er hat einen didaktischen Schwerpunkt; methodische Entscheidungen werden nachgeordnet behandelt. Unser Zielpublikum sind also Lernende und Lehrende an Universitäten, Studienseminaren und Schulen. Jede dieser Gruppen hat spezifische Bedürfnisse, auf die unser Band mit folgenden Angeboten reagiert:

Zu Beginn des Prozesses der didaktischen Reduktion steht die sachlich fundierte Auswahl eines Lerngegenstandes. Lehramtsstudierende der Germanistik erhalten in diesem Band eine Einführung in für den Einsatz in der Schule grundsätzlich geeignete epische Texte des Mittelalters, mit deren Hilfe sie ein passendes Werk für ihre zukünftigen konkreten Lerngruppen auswählen können. Der Vorteil gegenüber herkömmlichen Inhaltsangaben oder Einführungen ist die vergleichende Präsentation mehrerer Epen unter dem ‚Heldenblickwinkel‘: Zentrale Texte der mittelhochdeutschen Literatur werden nicht isoliert betrachtet, sondern mit einer ersten didaktischen Schwerpunktsetzung interpretiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Die einzelnen Kapitel stellen den Text ins Zentrum und bauen Hinweise auf den Stand der Forschungsdiskussion nur sparsam ein. In die bibliographischen Angaben haben wir aber – sofern vorhanden – jeweils eine Monographie neueren Datums aufgenommen, die entweder eine ausführliche Bibliographie enthält oder über deren Literaturverzeichnis schnell an die einschlägige Forschungsliteratur zu gelangen ist. Dank dieses einführenden Charakters kann der Band auch allgemein von Studierenden der Germanistik sinnvoll genutzt werden.

Innerhalb der Kapitel zu den einzelnen Helden setzt sich die Didaktisierung (Was wähle ich warum und wozu aus?) weiter fort, indem für den didaktischen Schwerpunkt ergiebige Szenen ausgewählt, zweisprachig präsentiert und durch Zusatzinformationen detailliert erschlossen werden. Die Übersetzungen der Originalzitate stammen von uns, um ein sicheres Verständnis im Zusammenhang mit unserem didaktischen Schwerpunkt zu gewährleisten. Dadurch ergibt sich eine durchgängige Problemorientierung (Darstellung des Helden, kritisches Hinterfragen seines Verhaltens), die bei der Umsetzung in eine Unterrichtsreihe an der Schule für die Schüler und Schülerinnen die Ziele sowohl der einzelnen Unterrichtsstunden als auch der gesamten Reihe transparent macht. An dieser Stelle ergeben sich auch Ausblicke für die methodische Umsetzung: Die Anordnung der ausgewählten Szenen in den Einzelkapiteln weist auf einen uns geeignet erscheinenden Aufbau der Unterrichtsreihe hin. Die Länge der zweisprachig präsentierten Textausschnitte und der dazugehörigen erschließenden Kommentierung lassen erkennen, ob dafür eine Einzelstunde oder eine Doppelstunde einzuplanen ist. Die Kapitelstruktur gibt also grundsätzlich Hinweise auf die Phasierung einer Unterrichtsreihe bzw. -stunde.

Eine konkrete didaktisch-methodische Umsetzung lässt sich auch in universitären Zusammenhängen realisieren: Ein Referat zu einem der von uns vorgestellten Texte kann in Form der Gestaltung einer Seminarsitzung mit Einstieg – Problematisierung – Erarbeitung – Auswertung/Sicherung – Vertiefung geplant und durchgeführt werden, wobei die didaktische Feinjustierung sowie die konkrete methodische Umsetzung mit Blick auf die Lerngruppe (Lehramtsstudierende der Germanistik) erfolgen sollte. Der Band eignet sich also auch für Seminare der universitären Literaturdidaktik, da auf seiner Grundlage sowohl die didaktische Erschließung einzelner Texte als auch vergleichende Aspekte und grundsätzliche unterrichtsplanerische Techniken in den Blick genommen werden können.

Die didaktischen Hilfestellungen, die der Band bietet, können auch von Referendarinnen und Referendaren sowie von Studierenden im Praktikum genutzt werden. Diese haben den Vorteil, ihre geplanten Stunden und Reihen an tatsächlichen schulischen Lerngruppen erproben zu können. Fachleiterinnen und Fachleiter können auf der Grundlage des Bandes das Repertoire der in den Fachseminarsitzungen zur Sprache kommenden Texte erweitern oder auch Ausbildungsaufgaben wie zum Beispiel eine Sequenzplanung stellen. Lehrerinnen und Lehrer können das vorgestellte Material nicht nur für die eigene Unterrichtsplanung, sondern darüber hinaus auch für fächerübergreifende Projekte vor allem mit dem Fach Geschichte nutzen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch auf der literaturdidaktischen Erschließung von für den Schulunterricht viel zu wenig genutzten Texten.

1.3 Hilfsmittel zur Arbeit mit mittelhochdeutschen Texten

Zwei Lexika erschließen zuverlässig die Epoche des Mittelalters, zum einen das Lexikon des Mittelalters für allgemeine Informationen aller Art, zum anderen das Verfasserlexikon, das die Autoren des deutschen Mittelalters mit Leben und Werk vorstellt. Einen lebendigen und gut zu lesenden Einblick in die Kultur um 1200 gibt Joachim Bumkes Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Eine knappe und zugleich sehr informationsreiche Literaturgeschichte, die ihren Gegenstand überdies sehr klar und verständlich darstellt, ist die Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick von Horst Brunner. Stellvertretend für die zahlreichen Einführungen seien genannt: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung (sprachgeschichtliche Einführung mit alphabetischem Begriffsglossar) von Hilkert Weddige und Germanistische Mediävistik. Eine Einführung (für Anfänger geschriebene, gut zu lesende allgemeine Einführung) von Thomas Bein.

Mittelhochdeutsche Wörterbücher sind online zugänglich über das Internet-Portal woerterbuchnetz.de. Zugang zu einer Fülle weiterer Informationen bietet auch das Portal mediaevum.de, das seit Jahren wissenschaftlich geführt und sorgfältig gepflegt wird. Als zweite nützliche Internetadresse, die speziell für den Einsatz mittelalterlicher Literatur im Deutschunterricht entwickelt wurde, ist die Website des Projekts mittelneu. Mittelhochdeutsche Texte im Deutschunterricht an der Universität Duisburg-Essen (http://www.uni-due.de/~hg0222/) zu nennen. Das Projekt ist zwar vorläufig abgeschlossen, die Website soll jedoch weitergeführt und aktuell gehalten werden. Bisher liegen dort Lehr- und Lernmaterialien schwerpunktmäßig zu den drei Bereichen Kleinepik, mittelalterliche Lyrik und Nibelungenlied vor (vgl. Miedema / Sieber 2013).

1.4 Literatur

Nachschlagewerke

Lexikon des Mittelalters. Bd. 1–9, München/Zürich 1980–98

Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 1–13, Berlin / New York 1978–2007

Zitierte Literatur

Bein, Thomas (2005): Germanistische Mediävistik. Eine Einführung. 2., überarb. und erw. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik 35) (zuerst 1998)

Brunner, Horst (2010): Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick. Erweiterte und bibliographisch ergänzte Neufassung. Stuttgart (zuerst 1997)

Bumke, Joachim (2005): Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 11. Aufl. München (zuerst 1986)

Karg, Ina (2012): Stellungnahme zur Frage ‚Soll die Mediävistik weiterhin (bzw. wieder stärker) eine Rolle im Lehramtsstudium spielen?‘ In: Germanistik und Lehrerbildung – Debatten und Positionen, hrsg. v. Mark-Georg Dehrmann / Jan Standke, 59/2. S. 161–163

Miedema, Nine / Sieber, Andrea (2013): Zurück zum Mittelalter. Neue Perspektiven für den Deutschunterricht. Frankfurt/M. [usw.] (Germanistik – Didaktik – Unterricht 10)

Weddige, Hilkert (2010): Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 8., durchgesehene Aufl. München (zuerst 1996)

1 Hingewiesen sei auf den Dokumentarfilm Wochenendkrieger (Regie: Andreas Geiger, Produktionsjahr: 2012), der das erstaunliche Phänomen aufgreift, wie und mit welcher Motivation sich Leute ganz unterschiedlicher Provenienz zusammenfinden, um Rollen in ‚mittelalterlichen‘ Szenarien zu spielen.

2 Vgl. auch das Plädoyer von Karg 2012: 162.

2. Alte und neue Konzeptionen

Die folgenden Abschnitte umreißen die semantische Bandbreite des Heldenbegriffs in seiner gegenwärtigen Bedeutung sowie in der Geschichte der Germanistik und in der Literaturwissenschaft, um vor diesem Hintergrund die Heldenauswahl dieses Bandes genauer zu begründen. Die anschließenden Kapitel zu den einzelnen Epen können grundsätzlich unabhängig voneinander gelesen werden. Ihr volles Potenzial entfalten sie allerdings in der vergleichenden Lektüre, weil die einzelne Heldenfigur in der Absetzung von den anderen Typen an Profil gewinnt; dies wird an zentralen Stellen durch entsprechende Querverweise hervorgehoben. So wird einerseits ersichtlich, welche Eigenschaften die dargestellten Helden teilen (Kraft, Führungsqualitäten, Zorn, Schuld) und andererseits, wie sie ihre Individualität gewinnen (Generationenkonflikt, Identitätsverlust, Selbstzerstörung).

2.1 Die Faszinationskraft von Helden

Helden sind faszinierend anders: außeralltäglich, außerordentlich, gar mit einzigartigen Fähigkeiten ausgestattet. Gleichzeitig können sie erstrebenswerte Grundhaltungen und Aktionsmacht verkörpern. Sie sind als die bewunderten Außergewöhnlichen zugleich auch Vorbilder – und das selbst dann, wenn sie jung sterben oder scheitern. Sie bieten also Identifikationsmöglichkeiten, ihre Aktionen sind aber von der Art, dass sie nicht in den Alltag zu übertragen sind. Das Heroische, das sich im Handeln realisiert, sprengt die lebensweltlich eingeübten Handlungsmuster. Helden entziehen sich, so lässt sich als erstes Vorverständnis festhalten, mindestens in einem Punkt, vielleicht auch in vielerlei Hinsichten, der Nachahmbarkeit.

In der globalisierten Gesellschaft ist die enorme Nachfrage nach dem Helden, der eine unnachahmliche Besonderheit vorzuweisen hat, in seiner Gegenbildlichkeit zur mannigfach-ausdifferenzierten Einbindung Einzelner in soziale Entitäten begründet: Der Held steht für sich. Das Verlangen nach solchen Helden findet seinen Ausdruck in dem sich unaufhörlich erweiternden Repertoire an Heldenfiguren: Die ‚alten‘ Helden werden fortlaufend durch ‚neue‘ ergänzt. Aus der Fantasy-Literatur, der Science-Fiction oder aus Comics stammen Helden wie Harry Potter, Luke Skywalker, Batman oder Monkey D. Ruffy. Zugleich zeugt die moderne Vergesellschaftung von Helden in jährlichen Neuaufnahmen in Halls of Fame des Sports oder der Musik vom aktuellen Bedürfnis, der Durchschnittlichkeit des Alltags durch Identifikation mit herausgehobenen Figuren zu entkommen, die man bewundern und denen man nacheifern kann. Dabei geht es gerade nicht nur um das Außergewöhnliche des Helden / der Heldin, sondern damit eng verbunden auch um das Bedürfnis, im imaginären Mitgehen mit dem Helden Besonderheit gegenüber anderen zu gewinnen, sei es im individuellen Genuss der besonderen Beziehung zur Heldenfigur oder im Bewusstsein kollektiver Fan-Kultur.

Gegenläufig zur Komplexitätssteigerung in modernen Gesellschaften ist seit dem 19. Jahrhundert eine Tendenz zur allmählichen Verengung des Heldenbegriffs zu beobachten, die auch die aktuellen Auseinandersetzungen um den Helden in den Feuilletons prägt. Helden werden in öffentlichen Diskursen in erster Linie unter dem Aspekt der Vorbildlichkeit gefasst, und dies spiegelt sich auch in Wortbildungen wie ‚Volksheld‘, ‚Helden des Alltags‘ oder ‚Heldenkollektiv‘. Diese Helden zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Erfolgswillen mit den Prinzipien eines gemeingesellschaftlich für gut befundenen Handelns in Einklang bringen. In Umfragen zum Grad der Hochschätzung von Berufsgruppen stehen Feuerwehrleute vor Pflegern, Ärzten oder auch Soldaten auf dem ersten Platz (vgl. die Umfrage in: Focus Nr. 9, 2002).

2.2 Geschichte des Heldenbegriffs

Dass Helden heute wieder in aller Munde sind, ist nicht selbstverständlich. Unsere Gesellschaft gilt als ‚postheroisch‘ (vgl. Münkler 2007), und schon Brecht legte seinem Galilei das Diktum in den Mund, dass diejenige Gesellschaft glücklich sei, die keinen Helden nötig habe. Nun sind die Helden, die wir heute feiern, in der Regel keine Heroen mit einzigartigem Status. Vielmehr scheint es ein Merkmal des (post-)modernen Helden zu sein, dass er im Kollektiv handelt. Das gilt für die Feuerwehrleute vom Ground Zero ebenso wie für die ‚Helden von Fukushima‘. Das Heldenkollektiv hat auch in die Literatur Eingang gefunden: Harry Potter oder der Hobbit Frodo handeln zusammen mit ‚Gefährten‘. Ferner ist unser Verständnis vom Helden durch das Merkmal der Zivilcourage bestimmt: Jemand handelt zum Wohl anderer und begibt sich dabei in Gefahr.

Dieses verhältnismäßig ‚junge‘ Grundverständnis vom Heldentum als ‚Bürgerpflicht zum Handeln‘, zum ‚Nicht-Wegschauen‘ zeigt vor allem eines an: Die Demokratisierung des Heldentums. Theoretisch kann heute jeder von uns ein Held oder eine Heldin sein bzw. werden. Dieser Heldenbegriff wird durch eine ganze Reihe von Vereinen und Institutionen propagiert, die ‚normalen‘ Bürgern eben dies: die Pflicht zur Tat, zur Widerständigkeit, zum Eigensinn beibringen wollen. Solche Initiativen sind etwa der im Jahr 2000 gegründete Verein ‚Gesicht zeigen. Für ein weltoffenes Deutschland e.V.‘, das für Schulen 2009 entwickelte ‚Projekt Zivilcourage‘ oder das von der AG ‚Frieden‘ in Trier seit 2010 betriebene Kursangebot ‚Yes, you can‘. Der amerikanische Psychologe Philip G. Zimbardo verfolgt im Rahmen seines 2010 begründeten ‚Heroic Imagination Projects‘ ähnliche Ziele: Auf Zivilcourage und Widerständigkeit könne die Demokratie nicht verzichten. Daher bietet Zimbardo auf seiner Homepage einen Internetkurs an, in dem jeder den everyday heroism erlernen, sich also Klick für Klick zum Helden ausbilden lassen kann.1

Dass diese Demokratisierung des Heldenbegriffs – jeder kann ein Held sein, wenn er eigene Interessen zum Wohl anderer in bestimmten Situationen zurückstellt – einer auf Einzigartigkeit und Außerordentlichkeit des Helden basierenden Substanz des Heldenbegriffs zuwiderläuft, ist klar: Führt man sie konsequent zu Ende, dann ist jede Mitbürgerin eine Heldin, die das ausgesperrte Nachbarskind für einige Stunden aufnimmt; jeder Mitbürger, der das verlorene Portemonnaie ins Fundbüro zurückbringt usw. Einer derartigen Omnipräsenz der Helden leisten die Medien in ihrem Neuigkeits- und Sensationshunger kräftig Vorschub. – Wir erinnern nur an die Werbung der Sportschau (ARD) zum Start der Bundesliga- Saison 2011: „Hier werden Helden gemacht!“

Diese im Alltag weit verbreitete Entheroisierung des Helden ist freilich kein Zufall, sondern man kann sie geradezu als Reaktion auf seine vorhergehende Bedeutung im 19./20. Jahrhundert lesen. Gerade in Deutschland hat man kein ungebrochenes Verhältnis zum Heldentum und ist deshalb bemüht, den Begriff mit sozialen Tugenden wie Zivilcourage und kollektivem Handeln zu besetzen. Als Beispiel für die Problematik des Begriffs führen wir ein Zitat aus einem am 15. Mai 2010 in der Bild am Sonntag erschienenen Interview an, in dem der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg eine Neubewertung des Heldenbegriffs forderte:

„Der Begriff des Heldentums ist durch den Missbrauch in der Nazi-Zeit erheblich belastet. Das erschwert einen rationalen Umgang. Wenn man ihn aber davon entkoppelt, stellt man schnell fest, dass der Umgang individuell ganz unterschiedlich ist. Meine Kinder benutzen den Begriff Held ganz zwanglos, bei anderen löst er sofort Nesselausschlag oder Entsetzen aus. Genauso unterschiedlich wird von jedem beantwortet, ob sich jemand tapfer, sehr tapfer oder wie ein Held verhalten hat. Grundsätzlich aber gilt, dass wir den Schritt hin zu einem rationalen Umgang mit dem Begriff Held oder Heldentum nur mit der gebotenen Sensibilität und im Bewusstsein der Geschichte tun können.“

(http://www.bild.de/politik/2010/interview/was-ist-fuer-sie-ein-held-12549608.bild.html, Zugriff am 03. 01.2014)

Die von zu Guttenberg geforderte Rationalisierung des Heldenbegriffs hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade nicht vorgenommen, als sie die ersten ‚Ehrenkreuze der Bundeswehr für Tapferkeit‘ im Sommer 2009 verlieh. Den Begriff des ‚Helden‘ sparte sie in ihrer Ansprache nämlich aus. „Die Soldaten bekamen die Tapferkeitsmedaille ausgehändigt, weil sie sich unter Lebensgefahr um verletzte Kameraden gekümmert hatten. Ihr Handeln entsprach damit dem, was auch im zivilen Kontext preiswürdig war: dem selbstlosen Einsatz für andere“ (Frevert 2011: 804). Bei der militärischen Verwendung des Heldenbegriffs tun wir uns also alles andere als leicht.

Dies aber hängt mit der Geschichte des Begriffs zusammen, die hier in aller Kürze vorgestellt werden soll. Denn ‚Held‘ ist zunächst einmal kein Terminus aus Gesellschaft und Politik, sondern ein Begriff aus der mittelalterlichen Literatur. Der Ausdruck ist in der Geschichte der deutschen Sprache erstmals in der frühmittelalterlichen Dichtung belegt, im altsächsischen Heliand (um 830) und im althochdeutschen Hildebrandslied (um 840), jeweils gebunden in Stabreimformeln: heliđos in hallu (‚die Helden in der (Fest)-Halle‘), heliđos ubar hringa (‚die Helden über die Ringe‘, also über ihre Kettenhemden). Wir haben es demnach mit einem Begriff der Dichtersprache zu tun, mit dem Krieger in Rüstung beim Kampf oder bei der anschließenden Feier in der Festhalle beschrieben werden. Mit diesen Belegen aus dem 9. Jahrhundert ist der Begriff ein Element der germanischen Heldendichtung und in ähnlichen Formeln in der altenglischen oder altnordischen Stabreimdichtung vertreten. Im 12. Jahrhundert scheint sich das Wortfeld für den Krieger in der Epik zu erweitern: Neben helt treten recke, wîgant oder degen als Bezeichnungen für den Krieger. Auffallend ist dabei, dass der Ausdruck ‚Held‘ in die moderne höfische Literatur um 1200, Romane auf der Grundlage keltischer oder antiker Stoffe, nicht übernommen wird. Im Parzival, im Iwein oder im Lancelot sind ‚Ritter‘ (rîter) die Protagonisten der Erzählung. Offensichtlich versucht man sich mit dem auch im Alltag und in der Rechtssprache üblichen Ausdruck ‚Ritter‘ von den älteren ‚Helden‘, diesen Kriegern aus der heroischen Vorzeit, abzusetzen. Ab dem 17. Jahrhundert findet der Begriff ‚Held‘ schließlich als „wertfreier Terminus für die literarische Hauptfigur“ Verwendung (Fuchs 1997: 12). Freilich ist diese neutrale Bezeichnung für den Protagonisten nur die eine Seite der geschichtlichen Entwicklung. Denn daneben behauptet sich seit dem 19. Jahrhundert erneut jene Vorstellung des alle Dimensionen sprengenden Einzelkämpfers, die schon der klassischen höfischen Dichtung um 1200 nicht mehr als zeitgemäß erschienen war.

Dieses erneute Anknüpfen an die überholte Bedeutung eines Kriegers aus der Vorzeit hängt unmittelbar mit der Situation im ehemaligen Kaiserreich Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen. Um dem politisch und kulturell als überlegen angesehenen Frankreich eine eigene nationale Identität entgegenzusetzen, erkundete das liberale deutsche Bürgertum seine kulturellen Anfänge. Dabei versuchte man auf der Suche nach den eigenen Wurzeln bewusst alles zu übergehen, was an Traditionen und Errungenschaften aus der Romania im Laufe der Jahrhunderte adaptiert worden war. Nördlich vom Limes sei der von äußeren Einflüssen kaum oder spät erreichte, ursprüngliche Kern der deutschen Kultur zu finden, ja Nordeuropa insgesamt schien in seinem Widerstand gegen das römische Imperium Elemente der eigenen Vorzeit bewahrt zu haben. Als Träger dieser Kultur und damit zugleich als Vorläufer der Deutschen wurden die Germanen bestimmt. Einer jener Forscher, die hier ihren Schwerpunkt setzten, war Jacob Grimm. Von der deutschen Philologie gern als einer ihrer Gründungsväter beansprucht, ging es Grimm selbst doch neben der Sprache immer auch um Recht und Religion der Germanen, eben um eine ‚germanische Kulturgeschichte‘. Dies spiegelt sich in seinen Werken, der Deutschen Grammatik, den Deutschen Rechtsaltertümern, der Deutschen Mythologie und der gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm herausgegebenen Sammlung der Deutschen Sagen (1816 und 1818). Dass Grimm mit der kulturgeschichtlichen Zielsetzung seiner Forschungen nicht allein stand, bezeugen die Titel fachwissenschaftlicher Periodika, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkamen, etwa die 1841 begründete Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur oder die erste Ausgabe des zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Reallexikons für Germanische Altertumskunde. Erkennbar wird diese durch eine Reihe von Philologen betriebene Suche nach den Anfängen der ‚eigenen‘, der ‚germanischen‘ Kultur auch in der Namengebung des Faches: Germanistik. Freilich boten die deutschen Texte für eine Kulturgeschichte der eigenen Vorzeit viel zu wenig Material, und so wurde auch die altnordische Götter- und Heldendichtung als Quelle herangezogen. Dies erklärt, warum die Begründung der Germanistik als Wissenschaft in Deutschland die Gründung des Faches Nordistik nach sich zog (Engster 1986).

Nur von diesem Punkt aus aber, von der Bedeutung der germanischen Heldendichtung für die Suche nach einer kulturellen Identität, die die fehlende nationale Einheit gewissermaßen ersetzen sollte, nur von dieser Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts her ist die weitere Geschichte des Heldenbegriffs erklärbar. Aus den Kriegern der Heldendichtung wurden unversehens Leitbilder für die Jugend. Diese Entwicklung kann hier nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden; einige wenige Beispiele sollen genügen: August Wilhelm Schlegel empfahl im Jahr 1812 das Nibelungenlied als „Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend“ (zit. nach: Heinzle / Waldschmidt 1991: 142). Gustav Roethe, 1859 geborener Mediävist, erklärte zur Relevanz der älteren Texte: „Von deutschen Heldenliedern her rauschen uns diese Töne herüber […]; es ist die Treue, die in Deutschland ebenso den größten Gedanken, dem Kaisertum, der Reformation zum Siege verholfen hat“ (Roethe 1927: 5). Andreas Heusler, 1865 geborener Mediävist, stellte seinem 1905 publizierten Urväterhort, einer mit Illustrationen versehenen Sammlung von Texten der germanischen Heldensage, folgende Ausführungen voran:

„Das Entscheidende ist die Heldengesinnung. Unsere Heroensage ist eine große Verherrlichung der altgermanischen Ehre. Diese heidnische Ehre befiehlt dem Manne, sich nichts bieten zu lassen, kein Recht preiszugeben, seinen Ruhm unvermindert ins Grab zu nehmen; in unbeugsamem Trotze in den Tod zu gehen, ein Lachen auf den Lippen; sie macht ihm zur obersten Pflicht die Rache für die eigene Kränkung und für den Tod des Angehörigen; sie gebietet dem Gefolgsmanne, mit freudigem Stolze für den Herrn zu sterben. […] Urväterhort mögen diese Sagen mit Recht heißen: den Alten haben sie ihr Kriegerleben verklärt; dem Nachkommen sind sie das Vermächtnis, woraus ihm die Stimme der Vorzeit vernehmlich entspringt.“ (Heusler / Koch 1905: 5)

Bei Heusler wird, wie bei Schlegel und Roethe, die Gegenwart auf eine ‚heroische‘ Tradition verpflichtet, aus der Werte wie Ehre, Treue und Todesbereitschaft abzuleiten seien. Die Textausgaben von Heldendichtungen und Heldensagen, die der Grimmschen im 19. Jahrhundert folgten, sind bislang noch nicht systematisch zusammengestellt und gedeutet.2 Reihentitel von Büchern mit Heldensagen wie Jugend- und Hausbibliothek oder Leitfaden für den ersten Geschichtsunterricht an höheren Mädchenschulen zeigen aber an, dass Heldensagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jenen von Schlegel geforderten festen Platz in der Jugenderziehung erlangt hatten.

Die in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der Fachwissenschaft betriebene Engführung der mittelalterlichen Literatur auf die Heldendichtung und den Heldenbegriff war von Anfang an ideologisch, „die Moderne [band] den Heldenbegriff fest in das Projekt der Nationsbildung ein“ (Frevert 2011: 804). Dieser ‚treue‘ und ‚todesbereite‘ Held wurde in dem Moment instrumentalisiert, als die kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts anstanden. Der ‚neue‘ Held in der Nachfolge der heldenepischen Krieger sollte nun der Soldat sein, der sich für die Nation opfert. Auch hier haben Germanisten argumentativ mitgeholfen. Wilhelm Scherer entwirft als Grundhaltung der Germanen bzw. Deutschen im Jahr 1871 Folgendes:

„Die Frage nach dem Lebensglück des Einzelnen tritt weit zurück. Der Soldat, der auf dem Schlachtfelde mit dem Tode kämpft, jubelt mit dem letzten Athemzug den siegenden Cameraden ein Hurrah zu.“ (zit. nach: Engster 1986: 46)

Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden Soldatenfriedhöfe als ‚Heldenhaine‘ bezeichnet, und wir alle kennen jene Gedenksteine, die in den einzelnen Gemeinden an die Gefallenen des Ersten und dann auch des Zweiten Weltkrieges erinnern: Sie sind regelmäßig überschrieben mit der Widmung: „Unseren Helden“. Mit dem Begriff der Helden werden hier alle gefasst, die für die Nation gefallen sind. Wenn wir also diesen Heldenbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts an eine Wertidee binden wollten, dann wäre dies die Idee, dass ein Held für die Nation handelt, sie verteidigt und dabei den Tod in Kauf nimmt.

Obwohl der Erste Weltkrieg zahllose Tote gefordert und zahllose Invaliden (vgl. Kienitz 2008) hervorgebracht hatte, konnten die Nationalsozialisten an diesen instrumentalisierten Heldenbegriff noch einmal anknüpfen. Schon ein Jahr nach der sogenannten Machtergreifung, also im Jahr 1934, bestimmte die NS-Regierung auf Anregung des Bundes für Kriegsgräberfürsorge, dass der Volkstrauertag, der an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges erinnern sollte, in Heldengedenktag umbenannt wurde. Dieses Verständnis spiegelt sich oftmals auch in Todesanzeigen oder in jenen Briefen, in denen die Wehrmacht den Angehörigen den Tod eines Familienmitglieds bekannt gab. Ein auf der Homepage des Deutschen Historischen Museums zugängliches Plakat (DHM 1987/260 http://www.dhm.de/ausstellungen/lebensstationen/2_167.htm, Zugriff am 03.01.2014) aus dem Jahr 1940 ruft zu Spenden für die Pflege der Kriegsgräber auf: „Ehret die Heldengräber“ heißt es in der Aufschrift. „Der scharfkantige Kopf eines Soldaten der Wehrmacht, der hinter Stahlhelmen und weißen Kreuzen sichtbar wird, gibt der Darstellung eine düstere, zugleich heroische Ausstrahlung.“ Der Einband des Buches Helden streiten, Götter ringen aus dem Jahr 1937 zeigt auf dem Titelblatt den Kopf eines Helden, freilich ist seine Darstellung deutlich an die Ikonographie des Soldaten angelehnt. Joseph Campbell bezeichnet solche nationalen Helden in seinem Schlusswort als „Heilige eines Antikultus“, die der Propaganda und Selbstverherrlichung von Partikularinteressen dienen (Campbell 2011: 372).

Zweifelsohne hängen unsere Vorbehalte gegenüber dem Heldenbegriff mit dieser Geschichte zusammen, an der sich aus germanistischer Sicht nichts beschönigen lässt. Das heißt nicht, dass die Fachwissenschaft die Voraussetzungen und die Leitbegriffe dieser (noch einmal: zum Teil von ihr selbst verantworteten) Reduktion ihrer Texte auf ein ‚nationales Narrativ‘ (zum Begriff vgl. Müller-Funk 2008) nicht längst einer grundlegenden Kritik unterzogen hätte. Vor allem Klaus von See ist der Ermahnung nicht müde geworden, dass sich die Helden der Vorzeit nur sehr bedingt für die Wertidee der Nation vereinnahmen lassen. Weder sind sie (etwa im Nibelungenlied) ‚treu‘, noch sind sie (als Goten oder Burgunden) mehrheitlich als ‚Vorfahren‘ der Deutschen zu betrachten, noch beugen sich die Protagonisten der Heldendichtung einem numinosen Schicksal. Beowulf, Siegfried oder Högni kämpfen im Gegenteil dagegen an (von See 1991).

2.3 Joseph Campbell „Der Heros in tausend Gestalten“

Wir fokussieren in unserem Band weder allein Helden der Heldendichtung, noch möchten wir den Begriff so weit verallgemeinert sehen, wie dies oftmals in der Textanalyse geschieht, nämlich als Bezeichnung für eine Hauptfigur. Vielmehr schließen wir mit unserem Heldenbegriff an Joseph Campbells berühmte Studie zum Heros in tausend Gestalten an. Campbell entwirft darin einen anthropologischen Heldentypus, für dessen Weg sich unabhängig von einzelnen Epochen oder Sprachen in Mythen, Märchen, Legenden oder Sagen eine ‚universale‘ Struktur nachzeichnen lässt: „Der Held verläßt die Welt des gemeinsamen Tages und sucht einen Bereich übernatürlicher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimniserfüllten Fahrt zurück“ (Campbell 2011: 42). Die Grundstruktur dieser Narrative vom Helden ist demnach die Reise, und die mythische Abenteuerfahrt des Helden folgt, in vergrößertem Maßstab, der Formel, wie die Abfolge der rites de passage sie vorstellt: „Trennung – Initiation – Rückkehr, einer Formel, die der einheitliche Kern des Monomythos genannt werden kann“ (Campbell 2011: 42).

Dieses grobe Erzählschema lässt sich durch die folgenden Stationen weiter ausdifferenzieren: Im Abschnitt des Aufbruchs begegnen wir zunächst der Schilderung der Alltagswelt, in der der spätere Held seinen Ort hat. Er erhält den Ruf des Abenteuers, dem er sich erst einmal verweigert, ehe er dann mit übernatürlicher Hilfe die erste Schwelle überschreitet. Im folgenden Abschnitt, der Initiation, hat der Held zunächst eine Folge von Prüfungen zu bestehen, zum Teil allein, zum Teil mit der Hilfe von Gefährten. Auf dem Höhepunkt dieser Herausforderungen wird der Held mit einer Gefahr konfrontiert, die er oftmals nur mit Hilfs- und Schutzmitteln überleben kann, welche er auf der Reise in eine Anderwelt erworben hat. Wenn er diese größte Gefahr gemeistert hat, bekommt der Held nicht selten ein großes Geschenk (Segen), das die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis eröffnen kann. Der Held trifft dann die Entscheidung, ob er in die gewöhnliche Welt zurückkehrt. Wenn dem Heros die Rückkehr gelingt, kann er die neue Gabe zum Wohle der Gemeinschaft nutzen.

Dieses Erzählschema ist universell, wenngleich verschiedene narrative Genres unterschiedlich eng daran gebunden sind. Kaum eine mythische Erzählung enthält alle skizzierten Stationen – manche enthalten viele, manche nur wenige; manche Mythen mögen sich nur mit einer der Stationen beschäftigen, andere die Stationen in einer geänderten Reihenfolge präsentieren.

Wir stellen vor dem Hintergrund dieses Verständnisses vom Helden sechs Erzählungen von mittelalterlichen Helden vor und diskutieren ihre ästhetischen, existenziellen und ethischen Prämissen. Diese Geschichten werden nicht erzählt, „um Probleme zu lösen, sondern um eine Problematik auszufalten und sie in ihrer ganzen Spannung zu Bewußtsein zu bringen. Und in dieser Offenheit vermag das Erzählen selbst zu einer genuinen Form von Erfahrung zu werden“ (Haug 1999: 16).

Die zum Teil von ideologischen Vereinnahmungen geprägte Rezeptionsgeschichte wird in den jeweiligen Kapiteln gegebenenfalls einleitend noch einmal aufgegriffen, die Lektüre im Unterricht aber kann sich auf die Beschäftigung mit einer diachronen Vielfalt von jeweils auf andere Weise schwierigen Helden richten. Deren Fremdheit mag zunächst einen gewissen Reiz ausmachen. Daneben aber ist nicht zu übersehen, dass auch mittelalterliche Heldengeschichten in spezifischer Weise Geschichten von dieser Welt sind. Die Einsamkeit oder gar Verhöhnung des Sterbenden, die ohnmächtige Klage der Opfer, das Mitleid oder die Wut des Helden – all das ist nicht nur eine Sache von Helden, sondern als grundlegendes Themenspektrum von Welt und Gesellschaft präsent.

2.4 Die Heldenauswahl dieses Bandes

In unserem Band stellen wir keine als makellose Vorbilder präsentierbaren Musterhelden vor. Vielmehr hat jeder der ausgewählten Helden seine spezifische Geschichte, die ihn grundsätzlich oder mindestens vorübergehend als wenig vorbildlich erscheinen lässt. Nicht immer nehmen solche Helden Rücksicht auf gesellschaftliche Werte, ganz im Gegenteil: Die Widerständigkeit der Helden kann ihre Integration in die Gesellschaft bisweilen scheitern lassen.