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Christian Y. Schmidt

Zum ersten Mal tot

Achtzehn Premieren

FUEGO

»Uns alle zieht eine Garnitur von faden flachen Tagen wie von Glasperlen ins Grab, die nur zuweilen eine orientalische wie ein Knoten abteilt.«

Jean Paul, 1796

»Your life is just a carrier bag / Over-fill it and the straps will snap.«

Jarvis Cocker, 2009

»Life‘s a gas.«

Marc Bolan, 1971

Vorwort

Dieses Buch sollte eigentlich »So schön war’s bei der RAF« heißen. Ich dachte, das sei ein ausgezeichneter Titel. Dann fand ich in mühsamer Recherche heraus, dass es bei der Roten Armee Fraktion gar nicht so toll war, wie man gemeinhin denkt. Also heisst das Buch jetzt »Zum ersten Mal tot«. Auch ein guter Titel; Untote flüsterten ihn mir ein. Anders als er suggeriert, geht es im Buch aber nur vordergründig um Premieren. In erster Linie geht es um mich. Im Zuge meiner RAF-Recherchen habe ich nämlich auch festgestellt, dass es unglaublich viele Bücher über andere Leute gibt, über manche sogar mehrere. Über mich aber gibt es keines. Das ist um so bedauerlicher, als ich der Mensch bin, der mich am meisten interessiert. Zudem bin ich schon um einiges älter als dieses Jahrhundert, und habe Dinge erlebt, von denen junge Menschen heutzutage nur träumen können. Trotzdem hat bisher niemand über mich ein Buch geschrieben. Also muss ich auch das wohl selber tun. Das mag mancher für übertrieben egozentrisch halten. Aber besser, ich schreibe über mich, als über Vampire, Helium-3, Kinderkriegen, entlaufene Pferde oder anderes Zeug, von dem ich keine Ahnung habe. Ahnungslose Schriftsteller gibt es schon genug.

In zweiter Linie handelt das Buch wirklich von Premieren. Das heißt, es geht darum, wann ich etwas zum ersten Mal im Leben tat oder dachte. Das zu erkunden, so sagt die Erste-Mal-Forschung, ist interessant, weil es uns viel über eine Person verrät. Wer schon mit drei Jahren erstmals den Film »Hostel« sieht, der kriegt sicher später ein tolles Trauma. Wer aber erst mit dreißig seine erste Zigarette raucht, der wird kein guter Kettenraucher. Und sprechen wir erst auf dem Sterbebett unseren ersten chinesischen Satz, wird aus uns wahrscheinlich kein Chinesisch-Deutsch-Simultandolmetscher mehr.

So sind denn auch die hier von mir vorgelegten Forschungsergebnisse für den Leser äußerst lehrreich. Ich jedenfalls habe einiges gelernt, als ich dieses Buch nach dem Schreiben zum ersten Mal las. Es gab auch Überraschungen. Ich war zum Beispiel höchst erstaunt, dass bei rund der Hälfte meiner Ersten-Mal-Erfahrungen Alkohol und Drogen eine Rolle spielen. Das ist eine Seite, die ich an mir noch nicht kannte. Ich hatte eher das Bild eines strikten Abstinenzlers von mir, der sich hin und wieder ein Glas erlaubt. So kann man sich irren.

Dieses Buch ist allerdings keine Autobiographie. Schließlich gibt es nicht mein ganzes Leben wieder. Es fehlen die langen Phasen des Rumsitzens, Rumlaufens, Schlafens, Essens und Überhauptnichtstuns, die den größten Teil meines Lebens ausmachen. Es fehlen sogar sehr wichtige Erste-Male: Meine erste Begegnung mit dem Hähnchenkönig Friedrich Jahn zum Beispiel, oder wie ich Karl Eduard von Schnitzler (»Der schwarze Kanal«) Anfang 1990 die erste Kolumne im Satiremagazin Titanic verschaffte. Selbst meine Erstdurchquerung der Taklamakanwüste, die erste Reise zu den Polisario-Rebellen in die Westsahara und der Erstaufenthalt in Nordkorea ohne Visum sind kein Thema. Diese Premieren werden vielleicht einmal nachgeliefert, in »Zum ersten Mal tot – Band 2«; es sei denn, ich gebe vorher wirklich mein Besteck an der großen Besteckabgabestelle ab.

Extrem aufmerksame Leser werden wahrscheinlich feststellen, dass sich in manchen der achtzehn Kapitel die eine oder andere Begebenheit wiederholt. Warum das so ist, ist einfach zu erklären: Die hier versammelten kurzen Geschichten sind über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden, und die meisten waren ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung in einem Band gedacht. Bei der Bearbeitung wurden viele Dopplungen gestrichen. Die eine oder andere ließ sich trotzdem nicht vermeiden, wollte ich die jeweilige Geschichte nicht zerstören.

Auch die Chronologie des Buches scheint etwas durcheinander. Das nun liegt daran, dass die Reihenfolge der Geschichten von einem vierjährigen Kind festgelegt wurde, das dafür ein Eis bekam. Zudem wechseln Tempo, Farbe, Beleuchtung und Lautstärke öfter. Die Absicht war, auf diese Weise das Pendant zu einem Pop-Musik-Album zu schaffen. Vorbild war dabei die erste Platte der ultrafrühen Pink Floyd »The Piper At The Gates Of Dawn«, die zugleich die beste Platte aller Zeiten ist; da kann der Rolling Stone sie noch so oft auf einen schäbigen Platz 347 setzen. Ich bitte die Kritik herauszufinden, ob mir a) das Gegenstück gelungen ist und b) welche Geschichte »Interstellar Overdrive« sein könnte? Auf »The Piper At The Gates Of Dawn« sind allerdings nur elf Stücke. Dieses Buch verfügt dagegen über achtzehn prächtige Kapitel. Hier orientierte ich mich an den achtzehn Stufen der chinesischen Hölle, die die Hauptfigur des Buches durchwandern muss, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht. Außerdem hat auch »Ulysses« von James Joyce achtzehn Kapitel. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen.

Dem extrem aufmerksamen Leser wird wahrscheinlich auch die eine oder andere Geschichte bekannt vorkommen. Das liegt dann daran, dass er sie schon mal so ähnlich gelesen hat. Ältere Versionen einiger Geschichten sind zum Beispiel in den schönen Städtebüchern des Verbrecher Verlags erschienen. Manche standen in anderer Form im Feuilleton der Berliner Zeitung oder aber im Schlaumeierforum Wir höflichen Paparazzi. Sämtliche Texte wurden für dieses Buch komplett überarbeitet, erweitert, gekürzt, verschönert, aufgemotzt und angemalt. Etwa ein Drittel sind Erstveröffentlichungen.

Inspiriert wurde das Buch auch von einem Vorschlag Max Goldts, der lautet: »Um dem weitverbreiteten Mangel an Bereitschaft entgegenzutreten, das eigene Leben als einzigartiges Erlebnis aufzufassen, gibt es kostengünstige Alternativen zu Flucht in Rafting und Felsenkletterei: Man kann sich z.B. allabendlich hinsetzen und sich überlegen: Was habe ich heute zum ersten Mal gemacht?« Bereits vor zehn Jahren veranlasste dieses Zitat Heiko Arntz und Tex Rubinowitz zur Herausgabe einer Ausgabe des leider längst verblichenen Literaturmagazins Der Rabe. Dieser »Erste Mal Rabe« gilt heute als eines der grundlegenden Werke der Premierenforschung. In dem Kompendium bin auch ich mit einer Geschichte vertreten. Die aber ist nicht gelungen, weshalb sie auch in diesem Buch nicht vorkommt. Der Text »Der Kippenberger« des hoffnungsvollen Nachwuchsschriftstellers Joachim Lottmann im selben Band ist um Lichtjahre besser. Schon wegen ihm lohnt sich die Anschaffung des kleinen, antiquarischen Buchs auch heute noch.

Martin Kippenberger habe ich zwar auch irgendwann das erste Mal getroffen – und zwar 1991 oder 1992 in einer Toilette in Kassel –, doch tritt er in diesem Buch nicht auf. Statt dessen kommen vor: Joseph Beuys, Novalis, Verona F., Theodor Heuss, Marburg, Martin Walser, Gina W. und ein gewisser DJ Bim Bam. Ansonsten geht es um tödliche Krankheiten, die Bundeswehr, Star Trek, Epileptiker, prügelnde Polizisten, Neandertaler, LSD, Religion, die Stasi und den Maoismus. Auch der Teufel, die Stadt Bielefeld und die Hölle werden überraschend häufig erwähnt. Und es tauchen immer wieder Liliputaner auf. Es ist also die Frage, ob sich dieses Buch wirklich nur um mich dreht. Vielleicht handelt es ja auch von Ihnen?

Meine DDR

Zum ersten Mal drüben

(33 Jahre)

Wir hatten an der Autobahntankstelle Bad Hersfeld zwei Theologiestudenten mitgenommen, die auch nach Leipzig wollten. Sie wohnten da. Sie waren auf dem Rückweg aus Rumänien, aus der Stadt, die auf Ungarisch Temesvar heißt und auf Rumänisch Timisoara. Kurz vorher war da noch geschossen worden, und die ganzen Meldungen spukten sofort durch meinen Kopf: Massaker, Tausende von Toten, Securitate, Ceausescu-Regime. Wie so oft in unseren Zeitungen war vieles davon gelogen. Später stellte sich heraus, dass man längst verweste Leichen auf dem Friedhof ausgegraben und einfach zu den Toten dazugezählt hatte, die bei dem Aufstand wirklich umgekommen waren. Noch später stand ich mal in der Karpartenstadt Sibiu vor einem Mahnmal für die lokalen Revolutionsgefallenen. Da hatte jemand »Jim Morrison« dazugeschrieben. Einfach, weil der auch tot ist. Das aber war wirklich sehr viel später. Und lustig wenigstens.

Die Leipziger Theologiestudenten hatten keine Leichen gesehen. Sie waren aber die ersten Zonis, die ich kennen lernte. Also, die ersten, die auch wirklich in der Zone wohnten, nicht solche, die rübergemacht hatten in den Westen, und hier Alkoholiker wurden oder Drücker. Von denen kannte ich ein paar. Mir fiel sofort auf, dass sie neue, echte Lewis trugen. So wie ich. Uns hatte man immer erzählt, wie dreckig es denen in der Zone geht. Und die hier konnten sich dieselben Hosen leisten. Wir verstanden uns auch schnell ganz gut. Der eine bot uns an, in seiner Wohnung zu übernachten. Als wir ankamen, steckte das neue Neue Deutschland im Briefkasten. Der Theologe wunderte sich über das veränderte Layout und die neue Typographie: »Guck dir das an. Jetzt machen sie einen auf Süddeutsche, die Gauner.«

Abends gingen wir ohne die Theologiestudenten auf die Demo. Es war die letzte oder vorletzte Montagsdemo überhaupt. Ich hatte da schon seit Monaten hingewollt, weil ich mir mal eine Revolution angucken wollte. Aber bis Anfang 1990 brauchte man noch ein Visum für die DDR, und mit einem Visum wollte ich nicht zum Revoluzzen. Jetzt war Februar, und sie wollten nur noch einen Reisepass. Das war okay. Zig kleine Hitlers waren auch gekommen und bellten mit oder ohne Megaphon in die Dunkelheit hinein.

Eine Gruppe von fünfzig Leuten stach aus der Menge. Sie trugen alle schwarz-rot-goldene Fahnen, die in der Mitte einen auf dem Kopf stehenden Weihnachtsbaum zeigten. Die Fahnen hatte ein Rentner aus Hessen entworfen, der auch selbstverfasste und gereimte politische Pamphlete verteilte. Der Weihnachtsbaum war sein Vorschlag für das neue Nationalwappen des kommenden Gesamtdeutschlands, und jeder stilisierte Zweig symbolisierte irgendwas. Auf den gereimten Flugblättern hatte der Rentner auch versprochen, unter allen Weihnachtsbaumfahnenträgern ein paar West-Kühlschränke zu verlosen. Damit hatte er diese Gestalten um sich versammelt. Sonst überwog pures Schwarz-Rot-Gold.

Die Montags-Demo-Redner sprachen vom Balkon der Oper. Erst kam eine Frau, die sich mit Jammerton über das Design der Ostschuhe beschwerte: »Es steht immer noch der alte Krempel in den Regalen vom HO.« Ein von Helga Zepp-LaRouche bezahlter schwarzer Prediger aus den USA machte mit dröhnendem Bass Martin Luther King nach: »The tööm is now. I have a drööm.« Ein Mitglied des »Neuen Forums« wurde für seine Vollbartideen ausgebuht. Die Menge auf dem Platz sang das Deutschlandlied. Ein paar Leute bekamen was aufs Maul. Sie hatten es gewagt, auf selbst gemalten Schildern Bedenken gegen die Marktwirtschaft zu äußern.

Ich staunte. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele hässliche Menschen auf einem Haufen gesehen. Lauter Deix-Fressen, dazu ganz grau und bleich. Ich hatte mir Revolutionäre immer als schöne Menschen vorgestellt, aber das hier war eine Freakversammlung. Ich fotografierte alles und nahm die Sprechchöre auf Kassette auf. Das glaubt dir sonst keiner, dachte ich. Nachts spielte ich dem Theologiestudenten die Kassette vor. Er war ein Regimegegner der ersten Stunde, Neues-Forum-Sympathisant und alles, und vor der Rumänien-Reise war er selbst auf den ersten Montagsdemos mitmarschiert. Was er jetzt hörte, konnte er nicht fassen. Wir lauschten dem Band und lachten uns scheckig. Der Theologe begann zum ersten Mal zu zweifeln: »Was ist das für ein Gott, der so etwas Doofes zulässt?«

Am nächsten Morgen gingen wir in die Innenstadt. Die Fußgängerzone war verstopft mit eilig zusammengezimmerten Hütten und Verkaufständen. Aus allen Weltgegenden waren Händler zusammengeeilt, um den Leipzigern Sachen zu verkaufen, die sofort nach dem Kauf zu Dreck zerfielen.

Als Westler konnte ich das den Waren ansehen: »Ich bin Scheiße«, stand dick drauf. Die Zonis aber waren wie blind und kauften trotzdem. Sie schienen allesamt enorm viel Geld zu haben. Ich ging in die »Blechbüchse« – DDR-Kaufhäuser hatten immer solche Volksmundnamen – und kaufte NVA-Spielzeugsoldaten, DDR-Papierfähnchen, die letzten DDR-Eierbecher und interessant designte Haushaltswaren, für die man heute eine Schweinegeld verlangt. Vor einer Buchhandlung wühlte ich in einer Kiste voller Bücher und stopfte mir die Taschen voll. Die Bücher wurden weggeschmissen, weil was drin stand, was den Leuten nicht mehr passte.

Abends fuhren wir in Wohnzimmerkneipen, die es damals in der ganzen Stadt gab, in Gründerzeitvillen und in dunklen Mietshäusern aus dem letzten Jahrhundert. Die Straßen sahen so aus wie in Wien zur Zeit Arthur Schnitzlers, und das Kopfsteinpflaster wurde wirklich gebraucht. Das heißt, es war nicht bloß zur Dekoration da wie in den westdeutschen Fußgängerzonen, die die Nazis in den sechziger und siebziger Jahren angelegt hatten. Wir nahmen eine der unzähligen Straßenbahnen, die immer genau dahin ratterten, wo man hinwollte. Wir setzten uns in ein halblegales Restaurant, aßen große Portionen Schweinebraten mit dickem Speckrand, Soljanka, Setzei, Dampfkartoffeln und sauer eingelegten Kohl. Dann zogen wir von Kneipe zu Kneipe und tranken Schnaps und Bier. Das alles kostete praktisch überhaupt nichts. Auf dem Rückweg winkten wir ein Schwarztaxi ab. Das war das erste Mal, dass ich in einen Trabbi stieg. Ich fand es ein sehr bequemes Auto, besonders gut für Kopfsteinpflaster geeignet. Der Schwarztaxifahrer nannte beim Einsteigen keinen Preis. Nur zum Schluss sagte er: »Wie viel ihr gebt, liegt bei euch.« Wir sahen den Theologen fragend an. Der nickte. Wir zahlten sechs Mark und dachten: Da ist er, der Kommunismus.

In diesem Februar gab es in Leipzig Sonnenuntergänge, wie ich sie noch nie in unseren Breiten sah. Jeden Abend sank eine riesige Sonnenscheibe auf Dächer und Straßen und setzte die Stadt in Brand. Man sagte uns, das läge an der Luftverschmutzung. Wir fuhren raus, und guckten uns die Kohlekraftwerke an, die die Luftverschmutzung machten. Es war phantastisch. Vor einem Kraftwerk verschwand unser Golf in riesigen Abgasschwaden, die über die Straßen fegten. Manchmal rissen die Wolken für einen Augenblick auf. Dann konnte man weit hinten in der Steppe Mongolen auf kleinen zähen Ponys reiten sehen und jagen. Mongolen! Man musste nur genau hinsehen.

Auf dem Rückweg hielten wir immer wieder in Dörfern an. Wir bestaunten die großen Gärten. Die Wege waren noch mit Kies oder Sand bedeckt, der Wegesrand wurde markiert von alten, in den Boden gesteckten Flaschen oder kurz geschnittenen Buchsbaumhecken. Wir betasteten echte Fliederbüsche und Holundersträucher. Ab und zu glaubten wir den Duft von reifen Johannisbeeren zu riechen, obwohl doch Winter war. Wir stoppten ein paar hundert Meter vor dem Ortseingangsschild von Leipzig und versuchten uns einzuprägen, wie das Weichbild einer Stadt ohne Autohäuser aussieht, ohne Waschanlagen und Möbeldiscounter.

Diese Welt war wie ... wie der Schluss des Stücks »I want you (She’s so heavy)« auf »Abbey Road«, wo man beim Hören immer berauschter wird und denkt, das soll jetzt nie mehr aufhören, das hört jetzt auch nicht mehr auf, und in dem Moment, in dem man das wirklich glaubt, ist plötzlich Schluss. So plötzlich hörte auch die DDR auf. Erst wenn in späteren Generationen das Denken wieder einsetzt, wird man begreifen: Nie war die Welt größer, als die Mauer noch stand. Im Westen und im Osten. Und als die Mauer aufging, weitete sie sich noch einmal für ein paar Monate. Seitdem schrumpft sie wieder.

Der Vergleich stimmt natürlich nicht, wie ja eigentlich Vergleiche nie stimmen. Die DDR hörte gar nicht so abrupt auf. Sie wurde langsam ausblendet. Ich fuhr noch ein paar Mal nach Leipzig. Ich hatte da mit einem Mal ganz viele Freunde. Einer war der Zensor. Das war der Mann, der noch kurz zuvor die beiden Leipziger Kabarettbühnen zensiert hatte, im Auftrag der Partei. In seinem Haus feierten wir große Partys. Wir hörten alte Kinks-Platten und der Zensor zeigte uns Videos von Leuten, die er für gute Komiker hielt. Einer war Harald Schmidt. Von dem hatte ich vorher noch nie gehört. Deshalb glaubt irgendwas in meinem Halbbewusstsein bis heute, dass Schmidt aus Leipzig kommt. Oder aus der mongolischen Steppe.

Auf eine dieser Partys brachte ich dann einmal den Theologiestudenten mit. Ich dachte, den alten Regimegegner könnte interessieren, wie die Leute so sind, die ihn jahrelang unterdrückt hatten. Und wie sie feiern. Es interessierte ihn. Wir waren beide schwer beeindruckt von einem Mann, der bei dem Zensor auf dem Sofa saß. Er hatte einen extrem langen Hals und einen riesigen Adamsapfel, sah aus wie ein Storch ohne Schnabel, und konnte sehr gut Erich Honecker imitieren. »Deusche Demograasche Rebbebliieg«, kiekste der Storch, und wir lachten. Er war bei der Stasi gewesen, und zwar als OM, als Offizieller Mitarbeiter. Wir Westler wussten gar nicht, dass es so was gab. Wir glaubten ja, die ganze Stasi hätte nur aus IM bestanden. Der Storch wurde jetzt wegen seines alten Jobs von allen Leuten geschnitten. Ich aber mochte ihn sehr gern. Mein Plan allerdings, den Theologen, den Stasi-Mann und den Zensor zu versöhnen und so eine ganz neue gesellschaftliche Front zur Rettung der DDR zu eröffnen, ging nicht auf.

Immer wenn wir jetzt in Leipzig waren, gingen wir beim Zensor ein und aus. Im letzten DDR-Sommer saßen wir in seinem Garten, grillten und tranken. Die Zensor-Kinder waren noch ein letztes Mal im Pionierlager an der Ostsee. Wir lagen uns alle in den Armen und tauschten Bruderzungenküsse aus. Einer von uns, ein berühmter Dichter, schrie in dieser Nacht immer wieder: »Zensorfrau, ich will mit dir das Trikot tauschen. Zensorfrau, ich will deine Brüste sehen.« Am nächsten Nachmittag lagen wir am Strand einer der großen Tagebauseen. Wir waren nackt, so wie die anderen hunderttausend Badegäste. Fünfzigtausend nackte Frauenbrüste reckten sich der Sonne entgegen, auch die der Zensorfrau. Damals gab einem Leipzig alles, wonach man irgendwie verlangte.

Ich glaube, es war im Spätherbst, kurz nach der Einheit. Die Stadtmöblierung war jedenfalls schon im vollen Gang. Überall wurden jetzt die gleichen Straßenbahnhaltestellen aufgestellt, die gleichen Klos, Zäune, Reklameschilder. Uns hatte man beigebracht: Die Kommunisten machen alles gleich. Jetzt sahen wir, dass es der Kapitalismus machte. Wir saßen mit dem Zensor am Stammtisch im »Mixer-Keller«, der Kneipe der »Akademixer«-Kabarettisten. Der Zensor hatte jetzt einen Elektronik-Shop und verkaufte hauptsächlich Satellitenschüsseln. Selbstverständlich waren wir besoffen. »Bist du eigentlich noch in der Partei«, fragte ich laut über den runden Tisch. Der Zensor sah mich böse an. »Ich will wissen, ob du noch in der Partei bist«, schrie ich durch den Laden. »Ist das ein Problem?« »Pssst«, zischte der Zensor und starrte auf den Tisch. Später stellte er mich zur Rede. »Klar, bin ich noch. Braucht aber nicht jeder wissen. Glaubst du, ich habe es hier nicht schon schwer genug?«

Ich ging also lieber mit dem Storch und seinem Freund auf den Landesparteitag der Partei, die jetzt einen neuen Namen hatte. Ich war enttäuscht. Die Leute hier sahen genauso scheiße aus wie die Demonstranten auf meiner ersten Montagsdemo. Es gab auch keine guten Redner. Ich schrieb in mein Notizbuch: »Untergang der DDR. Schlecht aussehende Leute, die nicht reden können, stürzen schlecht aussehende Leute, die nicht reden können. Sinnlos.« Ich hatte gehofft, dass der Storch mit einer seiner großartigen Honeckerparodien auftreten würde. Er tat es nicht. Dafür redete André Brie mit bösem Lehrergesicht pragmatisches Zeug. Ich langweilte mich zu Tode. Ich ging nach draußen und kaufte mir im Foyer eine vier Meter lange DDR-Fahne aus Kunststoffgewebe für 20 Mark. Zu Hause legte ich sie sorgfältig zusammengefaltet in den Küchenschrank. Ich nahm mir vor, die Fahne aus dem Fenster zu hängen, wenn die DDR wiederkommen sollte. Die DDR, die ich 1990 in Leipzig kennen gelernt hatte.

Diese DDR kam nicht wieder, überhaupt keine DDR. Auch der Weihnachtsbaum kam nicht auf die deutsche Fahne. Er hätte eigentlich ganz gut gepasst. Der Rentner, der ihn erfunden hat, ist wahrscheinlich längst tot. Der Theologiestudent verlor seinen Glauben an Gott, zog nach Berlin und wurde Journalist. Ich verlor den Glauben an die Wiederkehr meiner DDR und zog auch nach Berlin. Der Zensor verlor den Glauben an die Zensur. Er blieb in Leipzig und rief eine Lachmesse ins Leben. Hier konnte sich von nun an jeder über alles lustig machen. Das aber war egal, weil ja sowieso keiner mehr an was glaubte.

Ich fuhr dann irgendwann noch mal nach Leipzig. An den Ausfallstraßen standen jetzt Autohäuser, Auto-Waschanlagen und Discount-Möbelhäuser. Ich stellte mich an den Stadtrand und versuchte mich zu erinnern, wie es früher ausgesehen hatte. Es ging nicht, das ganze Einprägen hatte nichts genutzt.