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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1964 unter dem Titel «L'Amérique au jour le jour» bei Éditions Gallimard, Paris.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2015

Copyright © 1988 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«L'Amérique au jour le jour» Copyright © 1964 by Éditions Gallimard, Paris

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Umschlaggestaltung Wolfgang Wiese

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ISBN Printausgabe 978-3-499-12206-4 (7. Auflage 2002)

ISBN E-Book 978-3-644-51201-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51201-6

Für Ellen und Richard Wright

Vorwort

Ich bin vier Monate in Amerika gewesen. Das ist wenig. Zudem reiste ich zu meinem Vergnügen und ohne jeden festgelegten Plan. In riesige Gebiete der Neuen Welt habe ich nicht den kleinsten Abstecher gemacht, so habe ich zum Beispiel dieses gewaltige Industrieland durchquert, ohne seine Fabriken zu besuchen, ohne die höchste Vollendung seiner Technik zu sehen, ohne mit der Arbeiterschaft Kontakt aufzunehmen. Ich bin auch nicht in jene hohen Schichten eingedrungen, in denen die Politik und die Wirtschaft der Vereinigten Staaten gemacht werden. Trotzdem erscheint es mir nicht unnütz – neben den großen Gemälden, die Kompetentere gemalt haben –, Tag für Tag aufzuzeichnen, wie sich Amerika einem Bewusstsein enthüllte: nämlich dem meinen.

Entfällt somit der anmaßende Versuch einer «Studie», so kann ich doch hier ein getreues Zeugnis ablegen. Und so wie jedes konkrete Experiment Subjekt und Objekt gleichermaßen in sich schließt, habe ich nicht versucht, meine eigene Person aus dieser Niederschrift auszuschalten; sie ist nur dann völlig aufrichtig, wenn ich jenen besonderen, individuellen Umständen Rechnung trage, unter denen sich eine jede Entdeckung vollzog. Aus diesem Grund habe ich die Form eines Tagebuchs gewählt; wenngleich rückschauend, so ist doch dieses Tagebuch – das aus Aufzeichnungen, Briefen und frischen Erinnerungen entstand – peinlichst genau. Ich habe in ihm die zeitliche Reihenfolge meines Erstaunens, meiner Bewunderung, meiner Entrüstung, meines Zögerns und meiner Irrtümer respektiert. Oft nehmen meine ersten Eindrücke erst im Verlauf meiner weiteren Reise deutlicher Gestalt an. Aber ich betone ausdrücklich, dass keine isolierte Stelle dieser Aufzeichnungen ein definitives Urteil darstellt; häufig bin ich übrigens zu keiner fest umrissenen Meinung gelangt – meine Meinung: Das ist der Zusammenklang all meiner schwankenden Ansichten, Zusätze und Richtigstellungen. Keine Auswahl wurde für die Niederschrift dieses Berichts getroffen: ich habe erzählt, was mir begegnete – nicht mehr und nicht weniger. Ich habe erzählt, was ich und wie ich es gesehen habe, und ich habe nicht versucht, mehr darüber zu sagen.

 

Simone de Beauvoir

25. Januar 1947

 

Gleich wird etwas passieren. Man kann in einem Leben die Minuten zählen, in denen etwas passiert. Strahlenbündel fegen über das Gelände, auf dem rote und grüne Lichter funkeln. Das ist ein Galaabend, ein Nachtfest: mein Fest. Etwas passiert. Die Propeller drehen sich schneller und schneller, die Motoren heulen auf – mein Herz kann ihnen nicht folgen. Auf einmal kleben die roten Leuchtbaken des Flugplatzes am Boden, in der Ferne zittern die Lichter von Paris, irdische Sterne, die aus dunkelblauer Tiefe aufsteigen.

Ja – es ist passiert. Ich fliege nach New York. Es ist wahr. Aus dem Lautsprecher tönte es: «Die Reisenden für New York …», und die Stimme klang so vertraut wie alle Lautsprecherstimmen auf den Bahnsteigen. Paris–Marseille, Paris–London, Paris–New York. Es ist nur eine Reise, ein Ortswechsel. Das jedenfalls sagte die Stimme, und das steht auch auf dem blasierten Gesicht des Stewards geschrieben; für ihn ist es berufsmäßig durchaus natürlich, dass ich nach New York fliege. Es gibt nur eine Welt, und New York ist eine Stadt in dieser Welt. Aber nein. Trotz aller Bücher, die ich gelesen habe, trotz aller Filme, Fotos und Berichte – in meiner Vergangenheit ist New York eine sagenhafte Stadt: und zwischen Wirklichkeit und Legende gibt es keine Verbindung. Gegenüber dem alten Europa, an der Schwelle eines von 160 Millionen Menschen bevölkerten Kontinents, gehört New York der Zukunft – wie also könnte ich mit geschlossenen Füßen über mein eigenes Leben hinwegspringen? Ich versuche es mit Vernunftgründen: New York ist wirklich und gegenwärtig – aber meine Erregung bleibt. Gewöhnlich bedeutet Reisen für mich, meinem Weltbild ein neues Objekt anzugliedern, und schon das Vorhaben ist fesselnd. Heute aber ist es ganz anders: Ich habe den Eindruck, aus meinem Leben herauszutreten. Sei es nun durch Zorn oder Hoffnung hindurch – etwas wird sich enthüllen: eine Welt, so übervoll, so reich und so überraschend, dass ich das ungewöhnliche Erlebnis haben werde, selbst eine andere zu werden.

Schon der ruhige Flug der Maschine ist ein Versprechen, schon bin ich mir entronnen. Unter einem befremdlichen Äther ist die Erde hinweggeglitten. Ich bin nicht mehr irgendwo – ich bin anderswo. Wie spät ist es? In welcher Jahreszeit leben wir? Auf den Azoren, im Schatten der großen Strohhüte, ist Sommer. Neufundland liegt unter Eis und Schnee. Es ist acht Uhr in Paris und zwei Uhr in New York. Zeit und Raum geraten durcheinander. Meine Träume sind weniger überspannt als die Riesenflügel, an die ich gefesselt bin und die unbeweglich zwischen Wolken und Sternen schweben.

Ich habe geschlafen. Ich öffne die Augen. Auf der dunklen Tiefe, die unter mir liegt, bricht plötzlich ein horizontales, feststehendes Feuerwerk los: Sterne, Netze, Kreise, bunte Lichtgarben. Wasser zittert zwischen leuchtenden Lichtbändern. Ein verrückt gewordenes Venedig, könnte man meinen. Vielleicht auch ein wunderbarer Sieg, der auf der Erde gefeiert wird … «Boston», sagt die Stewardess. Boston. Bei diesem puritanischen Klang denkt man an eine vernünftige steinerne Stadt, so aber – in Feuer und Gold auf dem dunklen Samt der Ebene – wirkt sie eher zerzaust. Boston. Amerika. Gierig schaue ich hinab. Ich kann noch nicht sagen: Ich bin in Amerika. Eine Minute würde genügen, mich auf seinem Boden zu zerschmettern – ich bin in einem Himmel, der zu keinem Kontinent gehört: im Himmel schlechthin. Unter mir ist es wieder Nacht geworden. Amerika schläft. Aber immer wieder blitzen in der Ferne die Feuer eines neuen Festes auf: eine Stadt, ein Dorf. Es scheint, dass in diesem Land Steine und Ziegel des Nachts sich in flammende Metallplättchen verwandeln: Jeder Marktflecken ist ein schimmernder Weihnachtsbaum.

Vom Himmel auf die Erde niedergehen, das ist ein kleiner Leidensweg. Die klare, schwerelose Luft verdickt sich zu einer Atmosphäre, die an der Erdrinde klebt und von Stößen durchschauert wird. Der prächtige freie Flug wird zu einer mühevollen Navigation. Meine Schläfen summen, die Ohren tun mir weh, mein Trommelfell ist in der Tat jene Membrane, wie sie in den Büchern beschrieben ist: es spannt, es vibriert, es schmerzt. Ich war nur noch Blick und Erwartung – jetzt aber habe ich einen Magen, der eine Tasche ist, einen Schädel, der ein Knochengehäuse, und ein Trommelfell, das eine Membrane ist – eine ganze Maschinerie aus einzelnen, schlecht zusammenpassenden Stücken. Ich habe die Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffne, sind alle Sterne des Himmels zur Erde herabgerollt. Das ist ein Glitzern von kostbaren Steinen und Karfunkeln, von Rubinfrüchten, Topasblumen, Diamantenschnüren. Nur in meiner Kindheit habe ich ein solches Blenden und ein so leidenschaftliches Begehren gekannt. Alle Schätze aus Tausendundeiner Nacht, von denen ich damals träumte und die ich niemals sah – hier sind sie. Alle Jahrmarktsbuden, in die ich nicht eintrat, die Karusselle, Magic City, Lunapark – hier sind sie. Und auch die Dekorationen des Châtelet, die Geburtstagskuchen, die Kristalllüster, die man des Nachts in musikerfüllten Salons entzündet – sie alle haben zu mir zurückgefunden. Jener Buchsbaumzweig, an dem Halsketten, Armreife und Trauben durchsichtiger, glacierter Bonbons hingen und den ich eines Palmsonntags so sehr begehrte – auch er ist da. An meinem Hals, an meinen Handgelenken werde ich diesen Zuckerschmuck tragen, sein Kristall wird zwischen meinen Zähnen krachen, sein glänzender Raureif wird in meinem Mund schmelzen, und auf der Zunge werde ich den Geschmack von schwarzen Johannisbeeren und Ananas verspüren. Die Maschine geht herunter, schwankt. An den Wind, den Nebel und die Schwere der Luft gebunden, lebt sie jetzt ein elementares, undurchsichtiges Leben – ist selbst ein Stück Natur geworden. Sie geht herunter. Die Perlschnüre werden zu Straßen, die kristallenen Blasen zu Kandelabern: Eine Stadt tut sich auf, und selbst die Worte der Kindheit sind zu armselig, um auszudrücken, was sie verspricht. Ein Fabrikschornstein schaukelt im Himmel. Ich unterscheide Häuser längs einer Allee und denke: Auf diesen Straßen wirst du gehen. Wieder schaukelt der Schornstein vorbei, wir fliegen im Kreis. Meine Nachbarin murmelt: «Der Motor klingt so eigenartig.» Wir drehen über einem Flügel ab, schnell denke ich: «Ich will nicht sterben. Nicht jetzt. Ich will nicht, dass diese Lichter verlöschen.» Der Schornstein ist verschwunden, die roten Leuchtbaken kommen näher, und ich fühle den Stoß der Räder, die die Rollbahn berühren. Wir warteten einfach, bis die Reihe an uns war: In jeder Minute landet ein Flugzeug auf dem Flugplatz La Guardia.

Die Elemente sind besiegt, die Entfernungen abgeschafft – aber New York ist verschwunden. Um die Stadt zu erreichen, muss man durch den schmalen Tunnel des irdischen Lebens hindurch. Papiere wandern von einer Hand in die andere, ein Arzt untersucht zerstreut unsere Zähne, als wären wir Pferde, die verkauft werden sollen. Man führt uns in einen überheizten Raum, wir warten. Mein Kopf ist schwer, ich ersticke. Man hatte es mir schon gesagt: «Es ist immer zu heiß in Amerika.» Diese grässliche Hitze, das ist also Amerika. Und dieser Orangensaft, den mir eine junge Frau mit einem Magazinlächeln und glänzenden Haaren reicht, auch das ist Amerika. Man muss es allmählich entdecken, es wird sich nicht wie ein dickes Bonbon schlucken lassen. Die Weihnachtsbäume und die Leuchtfontänen sind weit fort, ich werde das festliche Gesicht nicht wiedersehen – es leuchtet keinem, der mit seinem ganzen Menschengewicht auf der Erde lastet. Man ruft mich auf, ein Beamter prüft mein schönes Visum, das mit seinen roten Siegeln wie eine mittelalterliche Karte aussieht. «Sie kommen aus einem schönen Land», sagt er mit einer Kopfbewegung, «aber Sie kommen in ein noch schöneres.» Er verlangt 8 Dollar von mir. Dann prüfen Zollbeamte oberflächlich meinen Koffer, ich betrete eine große, runde Halle, wo verschlafene Leute dösen und sich langweilen. Ich bin frei, und jenseits der Tür wartet New York.

D.P. ist gekommen, mich abzuholen. Ich kenne sie nicht. Und schon sause ich an der Seite einer jungen Frau, die ich noch nie gesehen habe, durch eine Stadt, in der meine Augen noch nichts wahrnehmen können. Das Auto gleitet so geschmeidig dahin, die Fahrbahn unter den Rädern ist so glatt, dass der feste Boden ebenso unfühlbar erscheint wie die Luft. Wir folgen einem Fluss, überqueren eine Eisenbahnbrücke, als meine Nachbarin plötzlich sagt: «Dies ist der Broadway.» Und jetzt, wie mit einem Schlag, sehe ich. Ich sehe breite, hell erleuchtete Straßen, auf denen Hunderte und Aberhunderte von Wagen dahinfegen, anhalten und wieder anfahren mit einer Disziplin, von der man glauben möchte, sie sei vom Himmel her durch irgendeine magnetische Vorsehung gelenkt. Die regelmäßigen Straßenblöcke, die unbewegliche Starre der Kreuzungspunkte, die mit mathematischer Präzision abwechselnden roten und grünen Lichter, das alles flößt ein solches Gefühl von Ordnung und Frieden ein, dass die Stadt einen schweigenden Eindruck erweckt. Man hört tatsächlich keine Hupe und kein Geknatter, und ich verstehe, warum unsere amerikanischen Besucher über das Quietschen der Bremsen an unseren Straßenecken so erstaunt sind. Hier gleiten die Wagen über samtene Chausseen, von denen kleine Dampfwolken aufsteigen: ein stummer Film, könnte man denken. Die glänzenden Wagen scheinen aus einer Ausstellungshalle zu kommen, und der Erdboden erscheint mir so sauber wie die Steinfliesen in einer holländischen Küche: Das Licht hat all seinen Schmutz hinweggewaschen, ein übernatürliches Licht, das den Asphalt verwandelt und alles mit einer Strahlenkrone umgibt: die Blumen, die Seidenkleider, die Bonbons, die Nylonstrümpfe, die Handschuhe, Damentaschen, Schuhe, Pelze und Bänder, die in den Schaufenstern der Läden ausliegen. Ich kann mich gar nicht sattsehen. Nie werde ich dieses Schweigen, diesen Luxus, diesen Frieden wiederfinden. Nie werde ich rings um den Central Park diese Wälle aus schwarzer Lava, diese gigantischen Würfel aus Stein und Licht wiedersehen. Morgen wird New York eine Stadt sein – dieser Abend aber gehört der Zauberei. Wir fahren im Kreis herum, ohne eine Stelle zu finden, wo wir parken könnten: Das ist ein Ritus, dem ich mich mit der ganzen Neugierde einer Neubekehrten unterwerfe. Das dinner in dem mit roten und goldenen Palmen dekorierten Restaurant ist ein Weihemahl – Martini und Hummer haben etwas Geheiligtes an sich.

In einem Riesenhotel der 44. Straße und der 8. Avenue hat mir D.P. ein Zimmer reservieren lassen. Sie fragt, wie lange ich es behalten kann. «Solange sie will, wenn sie sich anständig benimmt», sagt der Geschäftsführer mit einem breiten Lächeln. Da habe ich, wie es scheint, Glück gehabt: Es ist nicht leicht, ein Zimmer zu finden. D.P. verlässt mich, aber ich fahre nicht in mein Zimmer hinauf. Ich gehe zu Fuß über den Broadway. Die Luft ist feucht und mild, ein südlicher Winter: Schließlich liegt ja New York auf dem gleichen Breitengrad wie Lissabon. Ich gehe. Broadway. Times Square, 42. Straße. In meinen Augen ist kein Erinnern, meine Schritte haben kein Ziel – von der Vergangenheit und von der Zukunft abgeschnitten; ein nacktes Dasein. Es ist so rein, so auf sich selbst gestellt, dass es an sich selbst zweifelt und dass auch die Umwelt in Frage gestellt ist. Ich sage: Das ist New York, aber so ganz glaube ich nicht daran. Kein Gleis, kein Kielwasser: Keine Spur meines Weges habe ich auf der Erdoberfläche hinterlassen; diese Stadt und Paris sind nicht wie zwei Elemente ein und desselben Systems miteinander verbunden – beide Städte leben zu verschiedenen Zeiten, sie existieren nicht zusammen, und ich habe nicht von der einen in die andere hinüberwechseln können. Ich bin nicht mehr in Paris, aber hier bin ich auch nicht: Meine Gegenwart ist eine geborgte Gegenwart. Auf diesen Gehsteigen ist kein Platz für mich, diese fremde Welt, in die ich überraschend gefallen bin, erwartete mich nicht, sie war voll ohne mich – sie ist ohne mich voll, es ist eine Welt, in der ich nicht bin: In meiner vollkommenen Abwesenheit begreife ich es. Diese Menschenmenge, die ich streife, ich gehöre ihr nicht an; ich fühle mich allen Blicken unsichtbar. Ich habe das Inkognito eines Phantoms. Wird es mir gelingen, wieder ein lebender Mensch zu werden?

26. Januar

 

Mitten in der Nacht, in meinen Schlaf hinein, sagt plötzlich eine Stimme ohne Worte: «Etwas ist mir passiert.» Ich schlafe noch und weiß nicht, ob nun ein großes Glück oder eine Katastrophe über mich gekommen ist. Etwas ist mir passiert. Vielleicht bin ich gestorben, wie das häufig in meinen Träumen vorkommt, vielleicht werde ich auf der anderen Seite des Todes erwachen. Ich öffne die Augen und habe Angst. Und es fällt mir ein: Das ist keineswegs das Jenseits – das ist New York.

Es war kein Trugbild. New York ist da, und alles ist wahr. Die Wahrheit leuchtet vom blauen Himmel herunter, lebt in der feuchten, milden Luft und ist triumphierender als der ungewisse Zauber der Nacht. Es ist neun Uhr morgens, es ist Sonntag, die Straßen sind leer. Hier und da noch ein paar Lichter auf den Neonreklamen. Kein Passant, kein Wagen, nichts unterbricht die gerade Fluchtlinie der 8. Avenue. Kuben, Prismen, Rechtecke, die Häuser sind abstrakte Körper und die Oberflächen abstrakte Schnittpunkte zweier Volumen; die Materialien sind ohne Dichtigkeit, ohne Verbindung: Es ist der Raum selbst, den man in eine Form gegossen hat. Ich bewege mich nicht, ich schaue. Ich bin da, und New York wird mir gehören. Wieder überkommt mich jene Freude, die ich vor fünfzehn Jahren kennenlernte. Ich trat aus dem Bahnhof heraus, und von der Höhe der monumentalen Treppe sah ich zu meinen Füßen alle Dächer von Marseille. Ein Jahr, zwei Jahre sollte ich allein in einer unbekannten Stadt verbringen. Ich bewegte mich nicht und schaute, dabei dachte ich: Diese fremde Stadt ist meine eigene Zukunft und wird einmal meine Vergangenheit gewesen sein. Zwischen diesen Häusern, die Jahre, jahrhundertelang ohne mich existiert haben, verlaufen Straßen für Tausende von Menschen, die nicht Ich waren, die nicht Ich sind. Und nun gehe ich hier, laufe den Broadway hinab, jawohl – Ich. Ich gehe auf den Straßen, die nicht für mich geschaffen wurden, auf denen mein Leben noch keine Spur hinterließ, in denen kein Duft der Vergangenheit weht. Niemand kümmert sich hier um meine Gegenwart, ich bin immer noch ein Phantom und gleite durch die Stadt, ohne etwas an ihr zu ändern. Und doch wird von nun ab mein Leben die Straßenflucht, die Häuserflucht tief in sich aufnehmen: New York wird mir gehören, und ich werde New York gehören.

Ich trinke einen Orangensaft an einer Theke, ich setze mich in die Bude eines Stiefelputzers, auf einen der drei erhöhten Sessel; allmählich werde ich wieder ein Mensch aus Fleisch und Blut, die Stadt wird mir vertrauter, die Oberflächen sind Fassaden und die festen Körper Häuser geworden. Auf dem Fahrdamm wirbelt der Wind Staub und alte Papierfetzen durcheinander. Hinter dem Washington Square hört die Welt der Mathematik auf. Keine starren Ecken mehr, die Straßen haben keine Zahlen mehr, sondern Namen, die Linien runden sich und laufen durcheinander. Ich verlaufe mich wie in einer europäischen Stadt. Die Häuser haben nur drei oder vier Etagen und dick aufgetragene Farben, schwankend zwischen Rot, Ockergelb und Schwarz. Wäsche hängt zum Trocknen an den Feuertreppen, die im Zickzack an den Mauern hochlaufen. Diese Wäsche mit ihrer Hoffnung auf Sonnenschein, die Stiefelputzer an den Straßenecken, die terrassenförmigen Dächer, das alles erinnert von fernher an eine südliche Stadt, während das müde Rot der Häuser eher an den Londoner Nebel denken lässt. Dieses Viertel hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen, das ich kenne – aber ich weiß, dass ich es lieben werde.

Die Landschaft wechselt. Ja, Landschaft muss man diese menschenleere Stadt nennen, in die der Himmel einbricht: Er steht über den Wolkenkratzern, er stiehlt sich in die geraden Straßen hinein, er ist zu weit, als dass die Stadt ihn hätte annektieren können, er überflutet sie – es ist ein Gebirgshimmel. Ich laufe zwischen hohen Steilufern auf der Talsohle eines Canyon, in den kein Sonnenstrahl dringt. Die Luft riecht salzig. Die Geschichte der Menschheit steht nicht eingeschrieben auf diesen buildings mit ihrem peinlichst auskalkulierten Gleichgewicht: Sie sind den vorgeschichtlichen Höhlen näher als die Häuser in Paris oder Rom. In Paris, in Rom ist die Geschichte bis in die Eingeweide der Erde eingedrungen; die Tiefe von Paris erstreckt sich bis zum Mittelpunkt der Erde. Die Battery von New York hat keine so tiefen Wurzeln getrieben. Unter den Abflusskanälen, Untergrundbahnen und Heizrohren ist der Felsen jungfräulich, vom Menschen unberührt. Zwischen Felsen und freiem Himmel gehören Wall Street, Broadway – im Schatten ihrer ungeheuren Bauten – heute Morgen der Natur an. Die kleine rote Kirche mit ihrem Friedhof und den flachen Grabsteinen wirkt mitten auf dem Broadway ebenso überraschend und rührend wie eine heilige Stätte an den wilden Ufern des Ozeans.

Die Sonne schien so schön, das Wasser des Hudson war so grün, dass ich das Schiff bestieg, das die Provinzler aus dem Mittelwesten zur Freiheitsstatue hinüberfährt. Aber ich steige nicht auf der kleinen Insel aus, die einem Fort ähnelt. Ich wollte nur die Battery sehen, so wie ich sie so oft im Kino gesehen habe. Und jetzt sehe ich sie. Von weitem erscheinen diese schlanken Türme zerbrechlich. Die aufwärtsstrebenden Gerüste sind so knapp und genau ausgewogen, dass sie wohl bei der geringsten Erschütterung wie Kartenhäuser zusammenbrechen würden. Wenn das Schiff näher kommt, werden die Steinschichten wieder massiver: Aber das Bild des Einsturzes lässt einen nicht wieder los. Welches Fressen für Bombenflugzeuge!

Auf den Straßen findet man Hunderte von Restaurants, aber sonntags sind sie alle geschlossen. Dasjenige, das ich entdecke, ist überfüllt. Ich esse hastig, von der Kellnerin zur Eile angetrieben. Kein Fleckchen, um sich auszuruhen. Die Natur ist gnädiger. New York wird in dieser Härte wieder menschlich. Pearl Street mit ihrer Hochbahn, Chatham Square, das Chinesenviertel, die Bowery. Ich werde langsam müde. Schlagworte schwirren mir durch den Kopf: «Stadt der Gegensätze.» Diese nach Gewürzen und Packpapier riechenden Gässchen zu Füßen tausendfenstriger Hausfassaden – das ist ein Gegensatz; auf Schritt und Tritt stoße ich auf Gegensätze, und alle sind sehr verschiedener Art. «Eine aufrecht stehende Stadt», «entfesselte Geometrie», «wahnsinnig gewordene Geometrie» – das alles sind in der Tat diese Wolkenkratzer, diese Fassaden, diese Avenuen: Ich sehe es mit eigenen Augen. Oft las ich auch «New York mit seinen Kathedralen». Ich hätte das Wort erfinden können; alle diese alten Klischees schienen banal. Und doch – in der ersten Entdeckerfreude kommen auch mir die Worte «Gegensätze» oder «Kathedralen» auf die Lippen, ich bin erstaunt, sie so abgenutzt zu empfinden, während doch die Wirklichkeit, die sie auszudrücken versuchen, unverändert bestehen bleibt. Manche drückten sich präziser aus: «In der Bowery schlafen die Betrunkenen sonntags auf dem Gehsteig.» Hier ist die Bowery – Betrunkene schlafen auf dem Gehsteig. Genau das wollten die Worte ausdrücken, ihre Exaktheit bringt mich durcheinander: Warum erscheinen diese Worte so leer, wo sie doch so wahr sind? Mit Worten werde ich New York nie erfassen. Ich denke auch nicht mehr daran, diese Stadt zu erfassen – ich löse mich in ihr auf, Worte, Bilder, Wissen, Erwartungen nützen mir gar nichts; festzustellen, dass sie wahr oder falsch sind, ist sinnlos. Keine Gegenüberstellung mit den Dingen, die da sind, ist möglich. Sie existieren auf eine andere Art: Sie sind da. Und ich schaue und schaue – erstaunt wie ein Blinder, der wieder sehen kann.

27. Januar

 

Wenn ich New York entziffern will, muss ich mich an New Yorker wenden. In meinem Büchlein stehen Namen, aber für mich steht kein Gesicht hinter ihnen. Ich muss auf englisch mit Leuten telefonieren, die mich nicht kennen und die ich nicht kenne. Ich gehe hinunter in die lobby des Hotels und bin eingeschüchtert, als hätte ich ein mündliches Examen zu bestehen. Diese lobby betäubt mich durch ihre Fremdheit – eine Fremdheit mit umgekehrtem Vorzeichen. Ich bin der Zulukaffer, den ein Fahrrad in Schrecken versetzt, bin die Bäuerin, die in der Pariser U-Bahn verloren ist. Ein Zeitungs- und Zigarrenladen, Western Union, Frisiersalon, writing room, wo Stenotypistinnen nach dem Diktat der Gäste schreiben – Club, Büro, Warteraum, Verkaufsgeschäft: alles in einem. Um mich herum ist der ganze Komfort des täglichen Lebens, aber ich weiß nichts mit ihm anzufangen, die kleinste Kleinigkeit wird zum Problem: Wie frankiere ich meine Briefe? Und wo sind sie einzuwerfen? Dieses Flügelschlagen neben dem Aufzug, diese hellen Blitze, ich hielt sie beinahe schon für Halluzinationen. Hinter einer Glasplatte fallen Briefe von der 25. Etage bis in die Tiefen des Kellergeschosses; das ist der Briefkasten. Bei dem Zeitungshändler steht ein Automat, der Briefmarken ausspuckt. Aber ich bringe das Kleingeld durcheinander. Ein Cent ist für mich gleichzeitig ein Sou und ein Centime, 5 Cent sind also 5 Centimes, aber gleichzeitig auch 5 Sous, also 25 Centimes. Zehn Minuten lang versuche ich vergeblich zu telefonieren: Alle Apparate werfen den Nickel aus, den ich hartnäckig immer wieder in den Schlitz stecke, der für Fünfundzwanzig-Cent-Stücke bestimmt ist. Niedergeschlagen bleibe ich in einer der Kabinen sitzen. Ich habe Lust, mein Vorhaben aufzugeben, ich verfluche diesen teuflischen Apparat. Aber schließlich kann ich mich ja nicht auf ewig einschließen. Ich bitte den Angestellten der Western Union, mir zu helfen, und diesmal bekomme ich Antwort. Am anderen Ende des Drahts vibriert die Stimme ohne Gesicht: Ich muss antworten. Man erwartet mich nicht, und ich habe nichts zu bieten. Ich sage nur: «Ich bin da.» Auch ich habe kein Gesicht, ich bin nur ein Name, den gemeinsame Freunde weitergegeben haben. Ich sage noch: «Ich möchte Sie gern sehen.» Das ist nicht einmal wahr, und sie wissen es. Ich will sie gar nicht sehen, denn ich kenne sie nicht. Und doch sind die Stimmen beinahe freundschaftlich und natürlich. Schon diese Natürlichkeit stärkt mich, als ob sie Freundschaft wäre. Aber nach drei Anrufen schließe ich mit glühheißen Wangen mein Büchlein.

Ich gehe in den Frisiersalon, und dort fühle ich mich schon etwas heimischer. Diese Salons gleichen sich in allen Städten, die ich kenne: Es ist der gleiche Geruch, es sind die gleichen metallischen Trockenhauben – die Kämme, Puderquasten und Spiegel sind völlig unpersönlich. Den Händen überlassen, die meinen Schädel massieren, bin ich schon kein Phantom mehr: Zwischen diesen Händen und mir besteht eine lebendige Verbindung – das ist wirklich mein eigenes, leibhaftiges Ich. Aber selbst dieser Augenblick ist nicht völlig alltäglich. So muss ich zum Beispiel dem jungen Mädchen, das mich frisiert, nicht die Haarnadeln, eine um die andere, reichen: Sie kleben an einem Magneten, den das Mädchen am Handgelenk trägt, und ein Magnet zieht sie auch wieder heraus, wenn die Haare wieder trocken sind. Dieses kleine Spiel entzückt mich.

Alles entzückt mich, sowohl die unvorhergesehenen als auch die vorgesehenen Visionen. Ich wusste nicht, dass in den eleganten Vierteln vor den Häusern grünliche Baldachine, jeweils mit einer dicken Nummer versehen, bis auf den Gehsteig hinausragen und auf diese Weise irgendeinen Empfang anzeigen. Ein Portier steht auf der Schwelle, sodass jedes Haus einem Hotel oder einer Bar ähnelt. Auch der Hauseingang ist von betressten Portiers bewacht und gleicht dem Empfangsraum eines Palast-Hotels. Den Fahrstuhl bedient ein Angestellter: nicht ganz leicht, heimliche Besucher zu empfangen. Andererseits sah ich im Kino oft Häuser ohne Portier, so wie in Frankreich in der Provinz. Man geht durch eine erste Glastür und stößt auf eine Reihe von Klingeln, eine für jeden Mieter; jeder hat auch seinen Briefkasten. Man klingelt, und jetzt öffnet sich eine zweite Glastür. Ich habe auch die breiten, flachen Klingelknöpfe wiedergefunden, die mir im Film aufgefallen waren, ebenso den dumpfen Klang, dumpfer als die französischen Klingeln. Was mich verwirrt, ist: dass diese Filmaufmachung, an die ich nie recht hatte glauben wollen, tatsächlich wahr ist.

So viele winzig kleine Überraschungen verleihen den ersten Tagen einen ganz besonderen Reiz. Nichts langweilt mich. Gewiss, dieses geschäftliche Mittagessen in einem Restaurant der 40. Straße ist absolut freudlos; mit seinen Teppichen, Spiegeln und Kronleuchtern gleicht dieses elegante Lokal einem Teesalon in einem Warenhaus, und selbstverständlich ist es überheizt. Aber mein Martini, mein Tomatensaft schmeckt nach Amerika: Auch dieses Essen hat immer noch etwas Weihevolles.

Aber auch für diesen Reiz muss man bezahlen, und die Fremdheit, jeden einzelnen Augenblick verwandelt, stellt mir Fallen. Es ist schönes Wetter und ich will am East River entlang spazieren gehen. Aber der drive, jener breite, erhöhte Fahrdamm längs des Flusses, ist nur für Autos reserviert. Ich versuche zu mogeln und gehe hart an der Mauer entlang. Aber es ist schwer, in Amerika zu mogeln; das Räderwerk greift präzis ineinander, es dient dem Menschen – vorausgesetzt, dass dieser sich gefügig einordnet. Auf dieser Art von Autorennbahn sausen die Wagen im Sechzig-Meilen-Tempo gefährlich dicht an mir vorbei. Am Ufer ist ein Platz für Fußgänger, die dort spazieren gehen, aber es scheint unmöglich, dorthin zu gelangen. Ich nehme einen Anlauf, erreiche die Linie, die die beiden entgegengesetzten Ströme trennt, dort aber muss ich lange stehen, aufgepflanzt wie ein Kandelaber, und abwarten, bis eine kleine Lücke mir gestattet, diesen Leidensweg zu vollenden. Eine Einfassung muss ich noch überspringen, ehe ich in Sicherheit bin. Unter meinem Wintermantel, der für diese Sonne zu schwer ist, bin ich erschöpfter als nach einer Bergbesteigung. Einige Augenblicke später werde ich gewahr, dass es Passagen für Fußgänger unter dem drive gibt und dass auch Brücken über ihn hinwegführen.

Der Fluss riecht nach Salz und Gewürzen. Menschen sitzen auf Bänken in der Sonne: Pennbrüder und Neger. Kinder auf Rollschuhen gleiten über den Asphalt, rennen gegeneinander an, schreien. Am Rand des drive werden billige Wohnhäuser gebaut. Diese gewaltigen, sich nach oben verjüngenden buildings sind hässlich. Aber weiter hinten sehe ich die hohen Türme der Stadt und jenseits des Flusses Brooklyn. Inmitten des Krachs der Rollschuhe setze ich mich auf eine Bank, ich sehe nach Brooklyn hinüber und fühle mich glücklich. Brooklyn existiert, auch Manhattan mit seinen Wolkenkratzern, und am Horizont das ganze Amerika. Ich selbst existiere nicht mehr. So ist es. Ich begreife, was ich hier gesucht habe: diese Fülle, die man nur in der Kindheit oder in der ersten Jugend kennt, wenn man sich selbst zugunsten anderer Dinge einmal völlig ausschalten kann. Gewiss, auch bei anderen Reisen habe ich diese Freude genossen, aber sie war flüchtig. In Griechenland, in Italien, Spanien und Afrika blieb Paris für mich das Herz der Welt, Paris war nie völlig aus mir gewichen, ich selbst war immer in meiner Haut geblieben.

Paris hat seine Hegemonie verloren. Ich bin nicht nur in einem fremden Land, ich bin in einer anderen Welt gelandet, in einer selbständigen, abgesonderten Welt; ich berühre diese Welt – sie ist da. Sie wird mir geschenkt werden. Nein, sie wird mir nicht geschenkt werden, sie existiert in einer so blendenden Augenscheinlichkeit, dass es mir nicht in den Sinn kommt, sie in meine Netze einzufangen – es wird eine Offenbarung sein, die ihre Vollendung jenseits der Grenzen meiner eigenen Existenz finden wird. Mit einem Schlag bin ich befreit von der Sorge um jenes monotone Unternehmen, das ich mein Leben nenne. Ich bin nur noch das bezauberte Bewusstsein, durch welches hindurch das souveräne Objekt sich entschleiern wird.

Ich bin lange gelaufen. Als ich an die Brücke kam, war die Sonne ganz rot, das Gitterwerk der metallischen Brücke stand gegen den flammenden Himmel. Durch das Eisennetz hindurch sah ich die hohen, viereckigen Türme der Battery; der horizontale Schwung der Brücke, der vertikale Höhenflug der Wolkenkratzer, welch ein Stelldichein! Und ein glorreiches Licht krönte diese kühne Vision.

Ich habe um 18 Uhr eine Verabredung im Plaza, 59. Straße. Ich steige zur Hochbahn hinauf, sie ist rührend wie ein Erinnern, kaum breiter als eine Schmalspurbahn in der Provinz; die Wände sind aus Holz, man könnte meinen: eine Haltestelle auf dem Land. Auch die Drehtür ist aus Holz, aber sie dreht sich automatisch – kein Angestellter: Man passiert sie mit Hilfe eines Nickels, jenes magischen Geldstücks, das die Telefonapparate in Bewegung setzt und auch die Türen jener stillen Klausen öffnet, die man hier schamhaft restrooms nennt. In Höhe der ersten Etage fahren wir über die Bowery dahin. Wir sausen an den Stationen vorbei – da ist schon die 14. Straße, dann die 35., die 42. – ich warte auf die 59., aber wir fliegen an ihr vorbei; 70., 80. Straße, wir halten gar nicht mehr. Unter uns sind alle Lichter entzündet, das ist wieder jenes nächtliche Fest, das ich aus Himmelshöhen sah: Kinos, Bars, drugstores, Karusselle. Ich fliege durch einen wunderbaren Lunapark, und selbst die kleine Hochbahn ist eine Jahrmarktsattraktion. Wird sie noch einmal halten? Wie groß ist doch New York …

Ich war in einen express gestiegen. An der nächsten Station steige ich aus und nehme einen local. Ich warte lange in der parfümierten, überheizten hall des Plaza; die Umgebung ist die gleiche wie in dem Restaurant heute Mittag: zu viel Spiegel, zu viel Teppiche, Behänge und Kronleuchter. Ich bin erstaunt, wie lange ich warten muss, und plötzlich bemerke ich, dass ich im Savoy Plaza bin: Mein Rendezvous ist gegenüber. Ermüdet, durcheinandergebracht und betäubt von so vielen Entdeckungen und Irrtümern, setze ich mich an die Bar des Plaza, zu meinem Glück hatte man auf mich gewartet. Der Martini bringt mich wieder zu mir. Der große, in schwarzer Eiche möblierte Saal ist überheizt, überfüllt. Ich sehe mir die Leute an. Überraschend sind die Frauen. Auf ihren gepflegten, in tadellose Wellen gelegten Haaren tragen sie wahre Blumenbeete und Vogelhäuser. Die meisten Mäntel sind aus Nerz, die umständlich drapierten Kleider sind mit glänzenden Pailletten übersät und mit schweren, wert- und phantasielosen Edelsteinen besetzt. Alle tragen weit ausgeschnittene Schuhe mit sehr hohen Absätzen. Ich schäme mich meiner Schweizer Schuhe mit Crêpesohlen, auf die ich so stolz war. Ich habe an diesem winterlichen Tag auf der Straße nicht eine einzige Frau mit flachen Absätzen gesehen; keine hatte den freien, sportlichen Gang, den ich bei den Amerikanerinnen erwartete. Alle tragen Seide, keine Wolle, alle tragen Federn, kleine Schleier, Blumen, Putz. Zu viel Schmuck, zu viele Spiegel und Behänge; zum Essen zu viele Soßen und zu viel Sirup, und überall zu viel Hitze. Auch der Überfluss ist eine Geißel.

Gestern habe ich mit Franzosen bei D.P. zu Abend gegessen. Heute Abend esse ich bei Franzosen. Und nach dem Essen nimmt mich B.C., Französin, in ein paar Bars mit. Wenn ich mit Franzosen zusammen bin, empfinde ich dieselbe Enttäuschung wie in meiner Kindheit in Gesellschaft meiner Eltern: Nichts war völlig wahr – zwischen den Dingen und mir stand eine Glaswand, die Vögel schienen im Käfig zu sitzen, die Fische schwammen im Aquarium, und die Schimpansen waren ausgestopft. Und ich wünschte doch so sehnlichst, die Welt in Freiheit zu sehen … Ich mach mir nichts aus Whisky, nur die Glasstäbchen, mit denen man ihn aufrührt, habe ich gern. Aber gefügig trinke ich bis 3 Uhr morgens Scotch, denn der Scotch ist einer der Schlüssel zum Herzen Amerikas. Und ich will dahin gelangen, die Glaswand zu zertrümmern.

28. Januar

 

Ich habe einen Vortrag vorzubereiten. Ich installiere mich an einem Schreibtisch des Schreibsalons. Man hört das Murmeln der Stimmen, die den Tippmädchen diktieren, und das Geklapper der Schreibmaschinen. Es ist friedlich und traurig, man könnte glauben, man sei im Bon Marché. Ich beschließe, mich in einer Bar niederzulassen, wie man sie rings um den Central Park findet. Ich liebe sie nicht besonders: Sie gehören zu den großen Hotels und atmen die gleiche weichliche und respektable Atmosphäre wie die hall mit ihren Luxusauslagen. Obwohl man Alkohol serviert, muss ich doch an die Teesalons für alte Damen denken: Hier hat der Whisky die ganze Unschuld eines Fruchtsafts – hier passiert nichts. Aber sie üben einen Zauber auf mich aus: Die Freunde, die ich so um ihre Amerika-Reisen beneidete, hatten mit dem ganzen Stolz der Eingeweihten von Sherry Netherland oder Café Arnold gesprochen. Ich folge ihren Spuren. Ich habe keine eigene Vergangenheit und pumpe mir die ihre. New York gehört ihnen noch, ich bin nur eine Neuangekommene, und es will schon viel besagen, dass ich mich in ihre Intimität einschleiche. Ich bin bescheiden wie eine, die man in letzter Minute eingeladen hat.

Es ist hier nicht Sitte, in einem Raum zu arbeiten, in dem man trinkt. Hier ist alles spezialisiert. In einem Raum, wo getrunken wird, muss man trinken. Sowie mein Glas leer ist, erscheint dienstbeflissen der Kellner. Trinke ich es nicht schnell genug aus, so umschleicht er mich mit einem leichten Vorwurf in den Zügen. Der Whisky schmeckt mir heute gar nicht so schlecht. Aber es erscheint mir doch vernünftiger, vor dem vierten Glas zu gehen.

Ich spreche vor einem französischen Publikum. Ich trinke einen Cocktail bei einer Französin, alle Gäste sind Franzosen mit Ausnahme von zwei Amerikanern, die Französisch sprechen. Und dabei bin ich hier keineswegs in einem kolonisierten Land, wo die Sitten den Umgang mit den Eingeborenen untersagen – im Gegenteil: Wir sind das, was man hier eine Kolonie nennt. Ich möchte da gerne raus und bin freudig erregt, als ich zu A.M. komme, der mich zum dinner eingeladen hat: Endlich komme ich in ein amerikanisches Haus! Aber abgesehen von Richard Wright, den ich von Paris her kenne und dem ich hier zu meiner Freude wieder begegne, sind alle Gäste Franzosen. Sogar Leute von der Botschaft sind da, und alles spricht in einem sehr offiziellen Ton französisch über Frankreich.

Alle diese Franzosen, die ich treffe, bemühen sich, mir Amerika auseinanderzusetzen, und ich muss mir ihre Erfahrungen zunutze machen. Fast alle vertreten einen extremen Standpunkt: Entweder hassen sie das Land und warten nur darauf, es verlassen zu können – oder aber sie beweihräuchern es mit jenem Übereifer, den unsere Kollaborateure Deutschland gegenüber an den Tag legten. Zur letzteren Gattung gehört der Universitätsprofessor R. Kaum dass er mir die Hand geschüttelt hat, muss ich ihm schon «versprechen», nichts über Amerika zu schreiben: Dies ist ein so hartes, so widerspruchsvolles Land, dass es einem auch nach zwanzig Jahren noch nicht gelingt, es voll zu verstehen – es ist beklagenswert, es obenhin zu kritisieren, wie es gewisse Franzosen tun –, Amerika ist zu riesig, als dass auch nur das Geringste, was man über das Land sagen könnte, der Wahrheit entspräche. Jedenfalls muss ich ihm «versprechen», nichts über die Farbigen zu schreiben – das ist ein schmerzliches und schwieriges Problem, über das man sich erst dann eine Meinung bilden kann, wenn man ein ungeheures Tatsachenmaterial zusammengetragen hat, und das erfordere mehr als die Dauer eines Menschenlebens. Und warum übrigens ist man in Frankreich so sehr auf die Negerfrage versessen? Ist nicht das geistige und künstlerische Schaffen der Weißen weit wertvoller? Selbst die Musik der modernen weißen Komponisten hat einen höheren Wert als der Jazz.

V. ist Antiamerikaner und erklärt mir voller Verachtung, dass seine Haltung die einzig mögliche für einen Franzosen ist, der in diesem Land lebt: Wenn er sich nicht fügsam unterordnen müsste, so würde er in einem Dauerzustand von Revolte und unerträglichem Hass leben. Keiner der europäischen Werte ist hier anerkannt; und V. anerkennt keinen einzigen der amerikanischen Werte. Die Atmosphäre des Alltags erscheint ihm nicht atembar, New York verabscheut er.

Die Haltung R.s ist mir durch ihre Unterwürfigkeit höchst zuwider, übrigens war er während des Kriegs Pétain-Anhänger: der geborene Kollaborateur. Andererseits weigere ich mich, zu glauben, dass es in diesem Land nichts Anziehendes geben sollte. New York hat mein Herz im Sturm genommen. Gewiss, in beiden Lagern sagt man mir: «New York ist nicht Amerika.» V. fällt mir auf die Nerven, wenn er erklärt: «Wenn Sie New York lieben, dann nur deshalb, weil es eine europäische Stadt ist, die sich an den Rand dieses Kontinents verirrt hat.» Dabei ist es allzu einleuchtend, dass New York nicht Europa ist. Aber noch mehr hüte ich mich vor P., einem anderen proamerikanischen Pétain-Anhänger, wenn er der «Fremden- und Judenstadt» New York die idyllischen Dörfer New Englands gegenüberstellt, wo Bauern leben, die hundertprozentige Amerikaner sind, und wo noch patriarchalische Sitten herrschen. So hat man uns allzu oft von dem «wahren Frankreich» gesprochen, das man dem korrupten Paris gegenüberstellte.

Noch habe ich nicht mitzureden, ich kann nur zuhören. Ich denke nur, dass Amerika eine Welt ist und dass man eine Welt so wenig akzeptieren oder zurückweisen kann, wie man die Welt akzeptieren oder zurückweisen kann. Es handelt sich darum, hier seine Freundschaften und seine Feindschaften zu wählen, hier seine Pläne und seine Revolten durchzufechten. Amerika – das ist ein Stück des Erdballs, hat eine Politik, eine Zivilisation, hat Klassen, Rassen, Sekten und Einzelmenschen; hier gibt es Diebe und Polizisten, Ingenieure und Künstler, Unzufriedene und Zufriedene, Ausbeuter und Ausgebeutete. Ich weiß sehr wohl, dass Liebe gegen Hass und Hass gegen Liebe stehen wird.

29. Januar

 

Ich bin wieder spät zu Bett gegangen. Aber irgendetwas ist in der Luft von New York, das den Schlaf überflüssig macht: Vielleicht schlägt das Herz hier schneller als anderswo. Herzkranke schlafen wenig, und viele New Yorker sterben am Herztod. Ich jedenfalls bin recht glücklich über diesen Zustand: Die Tage scheinen mir zu kurz.

Das erste Frühstück im drugstore an der Ecke ist ein Fest. Orangensaft, Toasts, Milchkaffee – das ist immer wieder ein Vergnügen. Auf meinem Drehsessel nehme ich einen Augenblick lang am amerikanischen Leben teil: Mein Alleinsein trennt mich nicht von meinen Nachbarn, die auch allein frühstücken; aber es ist mehr die Freude, zu ihnen zu gehören, die mich isoliert: Sie frühstücken nur, sie nehmen am Fest nicht teil.

In Wirklichkeit ist alles Fest für mich. Die drugstores zum Beispiel faszinieren mich: Jeder Vorwand ist mir recht, hineinzugehen. Sie sind für mich die ganze amerikanische Exotik. Ich hatte eine falsche Vorstellung von ihnen: Bald hatte ich die langweilige Vision einer Apotheke, und bald – wegen des Wortes soda-fountain – stellte ich mir einen Zauberspringbrunnen vor, aus dem ganze Fluten von ice-cream, rosa und weiß, quellen. In Wahrheit sind sie die Nachfahren der alten Basare der Kolonialstädte und Niederlassungen des Far West, wo die Pioniere vergangener Jahrhunderte Arzneien, Lebensmittel, Handwerkszeug und alles zum Leben Notwendige vorfanden. Sie sind gleichzeitig primitiv und modern, was ihnen jene spezifisch amerikanische Poesie verleiht. Alle Gegenstände haben eine gewisse Familienähnlichkeit: den gleichen billigen Glanz, die gleiche bescheidene Heiterkeit. Die Bücher mit den zellophanierten Einbänden, die Zahnpastatuben, die Bonbonschachteln – sie alle sind von der gleichen Farbe. Man hat den vagen Eindruck, dass die Lektüre nach Zucker schmecken und dass die Bonbons Geschichten erzählen werden. Ich kaufe Seifen, Hautcreme, Zahnbürsten. Die Hautcreme ist wirklich fetthaltig, und die Seifen schäumen wirklich: Diese Ehrlichkeit ist ein Luxus, den wir bereits vergessen hatten. Sowie man aber von dieser Norm abweicht, wird die Qualität der Erzeugnisse ungewisser. Gewiss, die Geschäfte der 5. Avenue tragen auch dem verwöhntesten Geschmack Rechnung, aber diese Pelze, diese Schneider von internationaler Eleganz sind ein Reservat der kapitalistischen Internationale. Was nun die demokratischen Läden betrifft, so erregen sie zunächst durch ihren Überfluss und ihre schillernde Verschiedenartigkeit unser Entzücken; die Herrenoberhemden sind schön, über die Schlipse kann man geteilter Meinung sein, die Handtaschen und Damenschuhe sind ausgesprochen hässlich, und aus dieser verschwenderischen Fülle von Kleidern, Blusen, Röcken und Mänteln hätte es eine Französin schwer, eine Auswahl zu treffen, ohne ihren guten Geschmack zu verletzen. Und sehr bald stellt man fest, dass unter der bunten Hülle alle Schokoladen den gleichen Erdnussgeschmack haben und dass alle bestsellers die gleiche Geschichte erzählen. Und warum gerade diese eine Zahnpasta wählen? Diese unnütze Überfülle hat einen Nachgeschmack von Mystifikation. Da gibt es tausend Möglichkeiten – und es bleibt doch immer die gleiche. Du hast eine tausendfache Auswahl – und eine ist so viel wert wie die andere. So kann der amerikanische Bürger von seiner Freiheit im Innern des ihm auferlegten Lebens Gebrauch machen, ohne darauf zu kommen, dass dieses Leben selbst nicht frei ist.

Ich allein bleibe vor den Auslagen stehen, dabei sind diejenigen, die Dalí entworfen oder inspiriert hatte, wirklich bemerkenswert: diese Handschuhe, die wie Vögel zwischen den Bäumen fliegen, diese Schuhe zwischen den Algen – selbst in Paris gibt es nur ein oder zwei Geschäfte mit Auslagen dieser Art. Wenn man Eintritt bezahlen müsste, um dieses Modeschauspiel zu bewundern, wäre kein Platz zu haben; aber das Schauspiel kostet nichts, und nicht einmal die Frauen, die vorübereilen, schauen in die Auslagen: Alles rennt mit Riesenschritten einem Ziel entgegen. Andere, etwas phantasielosere Auslagen erinnern an die weihnachtlichen Schaufensterdekorationen der großen Warenhäuser: Da sieht man den Broadway zu verschiedenen Zeitaltern, elegante Frauen im Kostüm von 1900 steigen unter einer altmodischen Straßenlaterne in eine Kalesche. Als wirkliche Touristin amüsiert mich das alles.

Den Nachmittag und den Abend verbringe ich mit alten Freunden, die 1940 nach New York geflüchtet sind, Rotspanier. Ich weiß, dass für viele Flüchtlinge Amerika nur ein Exil gewesen ist, das sie nicht geliebt haben. Auch diese hier lieben es nicht. Sie sagen: Das Leben in New York ist grausam für die Entwurzelten, Armen.

C.L. ist Maler und hat in Berlin, in Madrid und Paris – wie viele Künstler – in einer Art Halbelend gelebt. Aber in Europa hatte die Armut nichts Entehrendes; einem vermögenslosen Künstler stand das Bohème-Leben mit all seinen Möglichkeiten und Freundschaften offen: Borgte man ihm Geld, so erwies man ihm eine Gefälligkeit, wie sie unter Freunden durchaus natürlich ist.