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Carsten Piper
Mord an der Müritz

Carsten Piper wurde 1964 in Meldorf an der Westküste Schleswig-Holsteins geboren. Er studierte Kulturpädagogik in Hildesheim und lebt heute in Ludwigsburg. »Mord an der Müritz« ist sein erster Roman der Hans-Conrad-Krimireihe, dem »Tod an der Trave« folgte.

Carsten Piper

Mord an der Müritz

Ein Hans-Conrad-Krimi

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1. Auflage 2002
2. Auflage 2006
3. Auflage 2011
4. Auflage 2014

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH,
Hillesheim
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Umschlagillustration: Ralf Kramp
Print-ISBN 978-3-934638-92-1
E-Book-ISBN 978-3-95441-250-1

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

1. Kapitel

Es war ein schöner Spätsommermorgen, aber es war klar, dass etwas nicht stimmte. Hans Conrad, seit gestern Urlauber, sonst Kripo Berlin, ging sofort, wenn auch etwas wankend, von seinem Wohnmobil zur Toilettenbaracke des Campingplatzes. Zum einen weil es ihn drängte, zum anderen wegen der kleinen Menschentraube im Eingang, die aufgrund ihrer Starre in gewisser Weise typisch aussah. Der Tote – dass er tot war, wusste Conrad schon, bevor er sich ganz durchgedrängt hatte – sah recht ordentlich aus, aber es war eindeutig Mord. Würgemale, mäßig ausgeprägt, sonst auf den ersten Blick nichts Besonderes, die grünlichen Augen schauten leer, das Gesicht war nur leicht verzerrt. Kein Blut, keine abgebrochenen Fingernägel, keine Haarbüschel. Er lag auf den Fliesen der Männerduschen, nackt, ein bisschen verdreht vielleicht, aber nicht sehr.

»Bitte nichts anfassen«, murmelte Conrad mechanisch, »Polizei.« Das Grüppchen in Shorts und Latschen stand fröstelnd, stumm und unbewegt da – Männer, Frauen und Kinder – und sah zu, wie Conrad – ebenfalls in Shorts und überdies ein wenig peinlich berührt – auf die Toilettenkabinen zusteuerte und in einer von ihnen verschwand.

Es dauerte fast fünfzehn Minuten, bis eine Streife eintraf. Ein junger Beamter und eine noch jüngere Kollegin, wie Conrad mit einem Blick aus seinem Wagen feststellte. Er hatte selbst zur Campingplatz-Verwaltung gehen müssen, da keiner der Umstehenden sich gerührt hatte.

»Passen Sie bitte auf, dass niemand etwas anfasst«, hatte er zu einem von ihnen gesagt, und der Kerl, ganz der Typ eines Aufpassers, hatte sogleich Haltung angenommen. »Sie sind hier jetzt für eine gewisse Zeit verantwortlich!«

Vom Telefon des kleinen Verwaltungsbüros des Campingplatzes aus hatte er, wiederum persönlich, die Polizei verständigt, da der freundliche Rentner, der laut Beschriftung seines Käppis als Info-Berater fungierte, mit der Nachricht, ein Ermordeter liege in der Herrendusche, nichts anzufangen gewusst hatte. Danach war Conrad zurück in sein Wohnmobil gegangen, um sich etwas passender anzuziehen und vor allem, um Kaffee zu kochen und irgendwie seine Kopfschmerzen loszuwerden. Sollte doch dieser Aufpasser-Typ die Leiche noch ein bisschen länger bewachen, sicherlich würde er es genießen. Es war noch früh, nicht mal sieben Uhr, strahlendes Wetter, aber kalt. Der See lag riesig und schön in vollem Licht. Boote schaukelten, Möwen segelten – mit stieren Augen sah Conrad das Idyll und war auf griesgrämige Weise froh, dass ihn die ziemlich verschmierte Kunststoff-Scheibe seiner primitiven Camping-Küche davon trennte.

Die beiden Uniformierten ließen sich von dem Alten aus der Verwaltung zur Duschbaracke führen und gingen durch die sich plötzlich widerstandslos öffnende, obgleich inzwischen stark angewachsene Menschenansammlung hinein. Conrad saß da, blickte auf den See und fühlte sich einigermaßen als Privatmann. Der Kaffee war nicht besonders gut geraten, aber er war heiß, und das brauchte Conrad jetzt. Er fröstelte nämlich auch von innen, aus dem Bauch. Ihm war nicht sehr wohl, er musste gestern Abend wohl ein bisschen getrunken haben. Aber da war noch etwas, das sich langsam in seinem Körper ausbreitete: es war sein Berufskribbeln. Bei Mord hatte er es immer. Es nützte nicht viel, sich zu sagen, dass er mit diesem Fall nichts zu tun habe, dass er nur ein gewöhnlicher Camper sei. Das Kribbeln war da. Conrad stand auf. Als er mit einiger Mühe bis zu den Duschen durchgekommen war, straffte der Aufpasser seinen Körper und schnarrte: »Alles unverändert! Na ja, bis auf …«

Nichts war unverändert. Conrad musste grinsen. Die beiden von der Verkehrspolizei hatten wohl versucht, die Leiche wiederzubeleben. Offenbar wollten sie noch immer nicht recht glauben, dass der Mann tot war, denn sie hatten ihn zuletzt in die stabile Seitenlage gebracht, wie man es bei Erste-Hilfe-Kursen lernt. Er war also noch biegsam, konstatierte Conrad. Jetzt nahm der Beamte gerade Personalien auf, wahllos, wie es schien, während die Kollegin noch immer irgendwie am Toten herummachte. Sie wirkten völlig konfus und überfordert.

»Guten Tag. Ich bin Kommissar Hans Conrad, Berliner Mordkommission. Ich habe vorhin Ihre Einsatz-Zentrale benachrichtigt«, sagte Conrad ziemlich laut zu der Polizistin, und fügte hinzu: »Sie sollten diesen Mann jetzt nicht mehr berühren. Er ist schon lange tot.«

In den Augen der jungen Frau stand pure Verwirrung.

»Wenn ich kann, möchte ich Ihnen gern behilflich sein«, fügte er hinzu. Auch der Polizist war jetzt aufmerksam geworden, in seinem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, doch auch er sagte nichts.

»Ich denke, Sie brauchen einen Kriminalbeamten Ihres Reviers, einen Fotografen, einen Arzt, die Spurensicherung und natürlich einen Wagen für den Transport. Am besten, Sie geben das mal durch.«

Es erfolgte keinerlei Reaktion.

»Mit dem Funkgerät.«

Keine Reaktion.

»In Ihrem Streifenwagen.«

»Ja, selbstverständlich, wird erledigt«, antwortete der Polizist schließlich, immer noch ein bisschen wie in Trance, blieb aber stehen und fragte dann: »Noch einen Kommissar?«

Conrad nickte. »Ich bin nicht berechtigt, hier zu ermitteln.«

»Aber wozu sind Sie dann überhaupt …«

»Zum Campen«, antwortete Conrad und bemühte sich, nicht schon wieder zu grinsen, »zum Campen, zum Schwimmen und zum Faulenzen.«

Was nun geschehen würde, war Folgendes: Einige Wagen würden vorfahren, die Baracke würde abgesperrt und gründlich unter die Lupe genommen werden. Der Arzt würde den Tod feststellen, die Leiche würde von allen Seiten fotografiert und schließlich zur Obduktion abtransportiert werden. Die Personalien sämtlicher Personen, die sich auf dem Campingplatz befanden, würden erfasst werden. Die Person, welche die Leiche entdeckt hatte, würde ermittelt und eingehend befragt werden. Im Gegensatz zu den anderen Campern war Conrad an derlei mehr als gewöhnt. Da er im Augenblick nicht gebraucht wurde, ging er zurück in seinen Wagen, um sich noch etwas auszuruhen.

2. Kapitel

Sie sind was?«, brüllte es aus dem Hörer.

»In mein Wohnmobil, ja. Kaffee …«, antwortete Conrad.

»Das ist ja wohl das Beknackteste, was Sie sich jemals geleistet haben, Conrad! Da liegt eine Leiche, Tötungsdelikt, jede Menge Spinner stehen drumherum und Sie gehen Kaffee trinken? Habe ich das richtig mitbekommen?«

Der Chef war sauer, kein Zweifel. Das war nicht weiter verwunderlich, der Chef war eigentlich immer sauer wegen irgendetwas. Was Conrad nicht verstand, war, dass in Berlin offenbar schon alles Mögliche über den Vorfall bekannt war, obwohl diese Sache die Berliner Kripo gar nichts anging. Und wieso wusste der Chef überhaupt, dass Conrad hier war?

»Herr Hauptkommissar Hauptmann«, sagte Conrad, und er wusste, dass diese Anrede seinen Chef noch mehr auf die Palme bringen würde, »ich befinde mich wahrscheinlich in Mecklenburg-Vorpommern, einem Bundesland mit eigener Landespolizei, und überdies im Urlaub. Ich habe die örtliche Polizei benachrichtigt und …«

»Was soll das denn nun wieder, Sie sind ›wahrscheinlich‹ in Mecklenburg! Geht’s Ihnen nicht gut? Und hören Sie mit diesem Formalquatsch auf, Conrad! Wie stehen wir denn nun da! Ein ausgewiesener Profi der Berliner Kripo macht es sich seelenruhig in seinem bescheuerten Wohndings bequem, während so ein paar Grünschnäbel den kompletten Tatort versauen und dann auch noch an dem Toten rumfingern. Glauben Sie vielleicht, das gibt eine gute Presse?«

Nein, das glaubte Conrad nicht. Die Presse war nämlich schon da. Alle Camper, die sich wichtig machen wollten, konnten das ausgiebig tun, die Zeitungs- und Radiofritzen hielten jedem ihre Mikrophone vors Gesicht und hatten offensichtlich ihren Spaß daran. Sie feixten, sie hatten eine Story. Der Typ, den Conrad zum Aufpasser bestimmt hatte, als er vorhin zum Telefon gegangen war, erzählte seine Geschichte gerade einem Fernsehteam. Sein ganzer Körper, obgleich klein, schien zu schreien: Seht her, ich bin jemand. Nein, die Presse würde bestimmt nicht besonders gut werden. Über die beiden »Grünschnäbel«, wie Hauptmann sich ausgedrückt hatte, würde ganz Deutschland lachen. Und er, Conrad, musste sich von diesem Wicht dort drüben anschwärzen lassen und alle Welt würde ihn hassen. Zynischer Wessi-Bulle lässt unerfahrene Ossi-Bullen ins Messer laufen, so in der Richtung.

»Also jetzt mal langsam. Ich konnte ja nun wirklich nicht ahnen, dass diese Streifenbeamten so einen Bockmist bauen würden«, verteidigte er sich und schämte sich innerlich dafür, weil er auf diese Weise nun ebenfalls auf den beiden herumhackte. »Außerdem«, fuhr er fort, »hatte ich einen Mann als Aufpasser am Tatort gelassen. Der hat versagt, keine Frage, aber erst, als die Streife eintraf. Bis dahin hat der seinen Job klasse gemacht, da bin ich ganz sicher.«

»Was soll das, wieso erzählen Sie mir jetzt so was?«, bellte es zurück.

»Weil alles gar nicht so schlimm ist. Die Leiche ist ein bisschen verrutscht und hat ein paar Fingerabdrücke von zwei Polizisten abgekriegt. Sonst hat sie niemand angefasst, dafür war eben dieser Aufpasser da. Also sollten die Ermittlungen nicht allzu sehr erschwert worden sein.«

»Wie schlimm die Sache ist, können Sie unsensibler Trampel überhaupt nicht begreifen.« Hauptmanns Pulver war verschossen, aber er schien Spaß an seiner Rage zu haben und verlegte sich deshalb darauf, Conrad zu beleidigen.

»Sie haben politischen Schaden angerichtet, Mann, politischen Schaden, und dann kommen Sie mir mit Fingerabdrücken. Sie werden immer ein verdammter Straßenbulle bleiben, das schwöre ich Ihnen. Was die Ermittlungen angeht, so liegt uns eine Bitte um Amtshilfe vor. Nicht, dass die Kollegen dort besonders scharf auf Sie wären. Was für ein Trottel Sie sind, hat sich bei denen nämlich schon herumgesprochen, was nicht zuletzt meinem persönlichen Engagement zu verdanken ist. Aber Sie waren nun einmal früher am Tatort, deshalb legt man Wert darauf sicherzustellen, dass Sie noch einige Zeit an diesem albernen See verbringen.«

Aha. Das war es also. Die Kripo von hier hatte sich bereits in Berlin seine Mitarbeit gesichert, während er unschuldig noch ein Weilchen geschlafen hatte. Die waren auf Zack, wie es schien.

»Als Zeuge, sozusagen?« Conrad lachte leise in sich hinein.

»Sozusagen. Versuchen Sie, sich ein bisschen nützlich zu machen, falls Sie dazu geistig in der Lage sein sollten. Schließlich haben die was bei Ihnen gut.«

»Ich werde sehen, wie viel Zeit meine sportlichen Aktivitäten mir lassen, um mich ein wenig umzusehen, Herr Hauptkommissar Hauptmann«, hüstelte Conrad belustigt.

»Tun Sie das! Und hören Sie sofort auf zu lachen! Ich erwarte in spätestens drei Tagen von Ihnen einen detaillierten Überblick über den Fall, schriftlich, und außerdem rufen Sie mich dann an. Das wär’s, Conrad.«

Ein Klicken, Hauptmann hatte aufgelegt.

Conrad gähnte. Einen Überblick. So was hätte er jetzt auch gern. Er sah auf die Uhr des Verwaltungsbüros, es war halb zehn. Um zwanzig nach neun hatte ihn der Rentner aus dem Schlaf geklopft, weil ein Anruf aus Berlin für ihn da sei. Er hatte immer noch viel zu wenig geschlafen, jedenfalls fühlte er sich so. Also konzentrierte er sich fürs Erste lediglich darauf, unbelästigt von dem Büro bis zu seinem Wohnmobil zu kommen. Glücklich angekommen, warf er durch die Fenster noch einen Blick nach draußen. Es wimmelte nur so von Leuten von der Presse, der Polizei und von sonstigen Wichtigtuern. Er konnte von seiner Position aus fast jeden Punkt des Areals sehen. Die Zelte und Wohnwagen, die grauen Baracken für Herren und Damen, den schäbigen Verwaltungsbau direkt an der Zufahrt, den Kiosk daneben, die Anlege- und Badestege, die Boote mit den dazugehörigen Schuppen, den kleinen Strand, den See. Begrenzt wurde der Campingplatz nur vom See und von Wald. Viele Fichten, Kiefern und auch Birken, wegen des Sandbodens. Schön, das. Conrad legte sich wieder schlafen.

3. Kapitel

Es kam ihm so vor, als hätte er nur gerade die Augen geschlossen, da wurde laut an die Scheibe geklopft.

»He, Herr Conrad, sind Sie da drin?«, rief jemand.

Während er sich aufrichtete, nahm Conrad undeutlich verschiedene Flaschen auf dem Tisch wahr, die meisten leer. Er rief zurück: »Ja, was ist denn?«

»Kriminalpolizei. Ich bin Kommissar Bode und würde gern mit Ihnen sprechen.«

»Kann man hier eigentlich niemals richtig schlafen? Na was soll’s, kommen Sie rein.«

Bode war groß, mindestens 1,90, sehr gut aussehend und wirkte ziemlich jung für einen Kommissar, fand Conrad.

»Sie haben es aber gemütlich hier«, sagte Bode, »darf ich?« Er setzte sich auf eine der eingebauten Sitzbänke, wobei er vorsichtig einen Stapel Kleider zur Seite schob. Dabei begutachtete er diskret Conrads mitgebrachte Bücher, die auf einer zusammengeknüllten Reisetasche am Boden lagen.

»Tja, finden Sie? Mir gefällt’s auch, also so zur Abwechslung«, sagte Conrad unsicher umherschauend. »Ich mache so etwas zum ersten Mal, also mit einem Wohnmobil und ganz allein. Sonst mieten wir immer Ferienhäuser in Schweden oder Frankreich. Ich habe sozusagen Urlaub von der Familie und weiß gar nicht mehr richtig, wie man das macht. Möchten Sie Kaffee? Ich kann aber für nichts garantieren.«

»Oh ja, sehr gern«, antwortete Bode. »Sie haben Kinder?« Einen kurzen Moment überlegte Conrad, ob er über derlei Privatangelegenheiten reden wolle, fand dann aber nichts dabei.

»Ja, zwei Mädchen und einen Jungen. Und Sie?«

»Nein, keine Kinder. Nicht einmal eine Freundin im Augenblick«, antwortete Bode, »bei mir sieht’s immer so aus, wie jetzt bei Ihnen.« Er beschrieb mit der Hand vage einen Bogen, der wohl das gesamte Innere des Wohnmobils bezeichnen sollte. Conrad war bisher noch gar nicht richtig klar geworden, wie unordentlich es bei ihm aussah. Er hatte gestern Nachmittag – einem Sonntag – in Berlin alles, was er für brauchbar gehalten hatte, relativ wohlsortiert in das erst am Freitag gebraucht gekaufte und angemeldete Gefährt geladen, hatte Jule und den Kindern von der Straße aus noch einmal zugewunken und war gut gelaunt zu seinem ersten Egotrip seit vielen Jahren gestartet. Gleich nach den ersten Kilometern außerhalb der Stadt, als er auf der B 96 über Oranienburg Richtung Neustrelitz zuckelte, hatten sie ihm gefehlt. Im Radio lief The Air That I Breathe von den Hollies, ein Klassiker, und von einer zärtlichen Anwandlung erfasst, hatte er schon ans Umkehren gedacht. Dann schob der Radiomensch Robbie Williams ein, Conrad schaltete ab und fuhr ernüchtert weiter. In Gransee runter von der Bundesstraße, kurzer Aufenthalt in Rheinsberg, Schloss, Prinz Heinrich, Tucholsky. Conrad war schon hier gewesen. Weiter ins immer unübersichtlicher werdende Seengebiet, schließlich nur noch winzige Straßen, einmal kreuzte noch eine größere, aber da hatte er längst jede Orientierung verloren. Im Auto war keine Karte und Conrad wollte auch keine, die Sache hatte angefangen, richtig Spaß zu machen. Irgendwann war er bei einem der unzähligen Schilder, die auf Campingplätze hinwiesen, in einen Waldweg eingebogen und auf den Platz gerumpelt, auf dem er jetzt war. Der See vor ihm war groß, vielleicht ein Teil der Müritz. Dann war es langsam dunkel geworden und nach einem kurzen Spaziergang am Seeufer entlang hatte Conrad sich im wundersamerweise am späten Sonntagabend geöffneten Kiosk mit Zeitschriften, Fastfood, mäßigem Wein und gutem Bier versorgt. Im weiteren Verlauf des Abends, den er aufs Angenehmste mit sehr wenig Fontane und dem Kicker verbracht hatte, musste er wohl gelegentlich etwas aus dem Gepäck gesucht und dieses schließlich nur oberflächlich verstaut haben – genau genommen lagen schlicht alle Sachen kreuz und quer herum. Kleidungsstücke bildeten große Knäuel, uralte Zeitungen, die Conrad extra mitgenommen hatte, weil er in ihnen irgendwann irgendetwas Interessantes nachlesen wollte – er wusste nur nicht mehr, was – bedeckten den Boden. Ebenso allerlei Küchenutensilien. Und dann überall die leeren Bierflaschen.

»Ich habe keinen Besuch erwartet. Hier ist Ihr Kaffee«, sagte er und fand sich souverän. Bode nahm den Kaffee, lehnte zu Conrads Befriedigung Milch ab, rührte reichlich Zucker hinein und nippte vorsichtig daran.

»Wow! Das ist ein Kaffee!«

Zuerst glaubte Conrad, sein Besucher habe dies sicher aus Höflichkeit gesagt, aber als er selbst von seinem Gebräu trank, schien es ihm doch, als habe er es ausnahmsweise einmal so hingekriegt, wie es sich nach seinem Geschmack gehörte: stark, rabenschwarz, etwas bitter, ziemlich ölig, sehr heiß, sehr süß. Kein Hausfrauencappuccino eben.

»Ganz schön was los da draußen.« Bode kam langsam zur Sache. »Wie’s aussieht, könnte ich vielleicht Ihre Hilfe benötigen.«

»Inwieweit? Ich meine, nur eine Aussage oder …«

»Das kommt darauf an. Wenn der Fall einfach zu klären ist, reicht sicherlich schon eine Aussage. Wenn nicht, können Sie uns möglicherweise auch anderweitig helfen. Und wenn es sich nur darum handelt, die anderen Camper im Auge zu behalten. Prinzipiell ist hier ja jeder verdächtig, mit Verlaub, Sie eingeschlossen.«

»Verstehe, natürlich«, antwortete Conrad, »leider bin ich ja erst seit gestern hier, habe also noch nicht viel gesehen, was für Sie von Interesse sein könnte – das heute früh mal ausgenommen. Ich nehme an, Sie haben vorhin meinen Vorgesetzten angerufen?«

Bode nickte. »Ja, ich wollte Sie nicht stören. Ich habe geklopft, aber Sie müssen wohl tief geschlafen haben. Da habe ich also erst mal Ihre Dienststelle kontaktiert und darum gebeten, Sie ein paar Tage hierbehalten zu dürfen. Ihr Vorgesetzter war so freundlich, mir Ihre Hilfe zuzusichern. Ich hoffe, es macht Ihnen nicht zu viele Unannehmlichkeiten …«

»Nein, gar nicht«, beeilte Conrad sich zu antworten, »ich wollte sowieso nicht so schnell weiterfahren, hatte mir eigentlich noch gar keine Gedanken gemacht darüber.«

Im Stillen versuchte er dahinterzukommen, wie Bode seine Dienststelle herausgefunden hatte. Ja, den zweien von der Streife hatte er Namen, Rang und Kommissariat genannt. Aber dass die in ihrem konfusen Zustand sich das gemerkt haben sollten … Nun, vielleicht hatte einer der Umstehenden geholfen.

»Tja, ich schätze, Sie möchten wissen, warum ich mich Ihres Mordfalles so stiefmütterlich angenommen habe, heute früh. Die Antwort ist ganz einfach: Mir war ein wenig übel. Eigentlich ist mir immer noch übel.«

»Das tut mir leid, Herr Conrad. Ich denke aber, einen Arzt werden Sie nicht benötigen, oder?« Kein Zweifel, Bode amüsierte sich über ihn.

»Nein, nur ein bisschen Schlaf. Aber da scheine ich heute wenig Glück zu haben«, antwortete Conrad etwas säuerlich.

»Übrigens: Sie haben sich nichts vorzuwerfen wegen der beiden Beamten von der Streife«, sagte Bode versöhnlich, »die hätten es wirklich besser wissen müssen. Sehr gravierend ist der Schaden polizeilich betrachtet ja auch gar nicht, schließlich können wir die Fingerabdrücke der beiden leicht aussondern. Und wie die Leiche zuvor dagelegen hat, konnten uns insgesamt sieben Augenzeugen im Großen und Ganzen übereinstimmend beschreiben. Und natürlich Sie. Sie können sich denken, dass Ihre professionell geschulten Beobachtungen für mich die interessantesten sind. Was für einen Eindruck hatten Sie?«

Conrad zog die Stirn in Falten und dachte nach. Bode war ihm nicht unsympathisch, dennoch lag es in der Natur der Sache, dass beide einander ein wenig belauerten. Jeder wollte vom anderen erfahren, was der wusste, hingegen ging man mit den eigenen Informationen geizig um – ein typisches Verhalten unter Polizisten, die gewohnt sind, Fälle eigenständig zu bearbeiten. Conrad hätte gern gewusst, wer der Tote war und was Bodes Leute bereits über ihn herausgefunden hatten.

Um Zeit zu gewinnen sagte er schließlich: »Sie wissen ja, dass ich leider nicht der Erste war, der heute früh in die Männertoilette ging. Ich nehme an, Sie haben die Person, die den Toten gefunden hat, inzwischen ermitteln können?« Bode nickte nur, ließ sich aber nicht das Wort aufdrängen.

»Wenn der Tote ein Camper war, war die Identifizierung ja nicht so problematisch, hoffe ich …« Es war aussichtslos, Bode sagte keinen Ton.

»Nun, dann muss ich eben selbst ermitteln. Also: Wer hat die Leiche gefunden?«, fuhr Conrad fort und fiel dabei in eine dozierende Tonart. »Wenn ich mich recht erinnere, waren sieben Personen bereits vor mir dort. Setzen wir voraus, dass sich keine weitere Person wieder entfernt hatte, bevor ich kam. Soweit ich mich entsinne, waren drei Frauen und ein Mädchen dabei – bleiben also nur die drei männlichen übrig, die in Frage kommen, da ja die weiblichen Personen kaum einfach so und ohne jeden Grund in den Herrentrakt der Sanitäranlage spaziert wären. Demnach scheint es angesichts der Tatsache, dass ich mich an zwei Jungen erinnern kann und an einen etwas wichtigtuerischen Herrn, der sich mir sicher sofort als der Entdecker des Toten zu erkennen gegeben hätte, einer der Jungen gewesen zu sein, lassen Sie mich raten – der blonde?«

»Nein, nein«, lachte Bode, »es war kein Kind, es handelt sich um einen Mann. Übrigens scheint Ihre Erinnerung Sie zu täuschen, es waren nicht drei Frauen, sondern nur zwei, und ebenso waren es zwei Männer. Und wenn Sie weiterhin versuchen, die Antwort auf meine Frage zu umschiffen, muss ich Sie in Beugehaft nehmen.«

Er gefiel Conrad.

»Sie sind ein harter Hund, Kollege«, lenkte er ein und versuchte, sich die Szenerie so genau wie möglich vor das innere Auge zurückzurufen. »Tja«, murmelte er nach einer Weile, »die Sache war eigentlich ziemlich unspektakulär. Der Tote sah nicht irgendwie entstellt aus, bis auf die Würgemale natürlich. Ein eher zufriedenes denn entsetztes oder verzerrtes Gesicht, würde ich sagen; keinerlei Spuren, die auf einen Kampf deuteten. Und von den Leuten drumherum sagte niemand ein Wort. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mir die Leiche nur oberflächlich angesehen habe. Jedenfalls schien der Mann noch nicht sehr lange tot zu sein, obwohl er schon ein bisschen bläulich aussah. Aber das ist ja kein Wunder, nackt auf den kalten Fliesen …«

»Die ersten Ergebnisse der Obduktion werden für morgen Nachmittag erwartet, der Arzt hat aber die Todeszeit schon mal auf so etwa zwei bis drei Uhr in der Nacht geschätzt. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«, fragte Bode.

»Zwischen zwei und drei Uhr … ist das normal oder ist das nicht normal?« In Conrads noch immer etwas mitgenommenem Schädel rumorte es.

»Bitte?« Bode war aufgestanden.

»Na ja, er war nass.«

»Nun, er lag unter der Dusche.«

»Ja, aber – wann genau wurde er denn gefunden?«

»Ziemlich genau um sechs Uhr zwanzig, wenn die Angabe des Zeugen stimmt. Sonst hat der Mann mir leider nichts Besonderes sagen können.«

»Also bloß einige Minuten, bevor ich dazukam. Angenommen, das Opfer hat um kurz vor drei Uhr geduscht – ist es dann um sechs Uhr zwanzig noch nass?«

Bode wiegte den Kopf. »Kommt drauf an. Die Nacht war ziemlich kalt – da kann so was dauern, schätze ich«, sagte er dann. »Außerdem konnte er die Dusche vielleicht nicht mehr abstellen, weil er plötzlich – tot war.«

»In diesem Falle stünden wir vor der Frage, wer sie dann abgestellt hat und wann?«

»Das alles müssen wir eben herausfinden. Ich werde mich heute Abend noch einmal bei Ihnen sehen lassen, Herr Conrad.« Bode wandte sich zur Tür.

»Sagen Sie mir wenigstens noch, wer der Tote ist!«

»Werner Struve, angeblich ein bekannter Filmheini, hatte ‘ne Professur in Babelsberg.«

»Bekannter Filmheini. Hm. Kenn ich nicht«, sagte Conrad zu sich selbst, denn Bode war gegangen.

4. Kapitel

Natürlich versuchten auch ein paar von den Reportern, Conrad zu einem Interview oder wenigstens zu einigen Statements zu überreden, aber er ließ keinen herein. Stattdessen sah er durch sein Fenster den Leuten von der Spurensicherung zu, die als einzige noch in und vor dem abgesperrten WC-Gebäude zu tun hatten. Der Tote war schon lange fort, der Arzt war kurz danach weggefahren und für die Medienleute gab es auch nicht mehr viel zu sehen. Langsam leerte sich der grasbewachsene Platz zwischen den Zelten und Wohnwagen, einige Urlauber badeten, einige ruderten trotz der schon hoch stehenden, prallen Sonne in die mittägliche Stille über dem See. Im scharfen Gegensatz zur Kühle am Morgen war es nun richtig heiß geworden. Schließlich verließ Conrad das Wohnmobil, um die nähere Umgebung zu erkunden. In der unmittelbaren Nähe des Campingplatzes störten einige Leute, die wegen des gesperrten WC ihre privaten Verrichtungen im Wald erledigten, sein ästhetisches Empfinden. Tiefer im Wald wurde es einsam und still, hier traf Conrad keine Menschenseele. Nach einiger Zeit kreuzte er den holprigen Waldweg, der die Zufahrt zum See bildete und hielt sich dann ungefähr in dessen Nähe, um sich nicht zu verlaufen. Das Zirpen verschiedener Vögel war alles, was er hören konnte – einmal, ziemlich entfernt, das rasche Klopfen eines Spechtes. Als er an einen schmalen Wasserlauf kam – es war wohl eher ein Kanal, als ein Fluss –, den er nicht trockenen Fußes überqueren konnte, wandte er sich wieder zum Waldweg und ging auf diesem zurück. Er fragte sich, wann er zum letzten Mal einem Specht bei der Arbeit zugehört hatte und ob seine Kinder wohl wüssten, wie sich das anhört. Der Gedanke an sie versetzte ihm einen kleinen Stich. Es war albern, aber er vermisste sie, obwohl er sie noch gestern gesehen hatte. Verärgert kickte er einen auf dem Boden liegenden Stein vor sich her, was bei ordentlichem Tritt ganz schön wehtat. Es hatte ihn Wochen gekostet, Jule klarzumachen, dass er vierzehn Tage Urlaub allein verbringen wolle. Dass es nichts mit ihr oder den Kindern zu tun habe. Dass er einfach ein bisschen Ruhe brauche. Dass es keine andere gäbe, das vor allem. Er hatte auch versprechen müssen, Jule einen ähnlichen Genuss zu ermöglichen, also seinerseits mit den Kindern zu Hause zu bleiben, während sie mit einer Freundin in den sonnigen Süden fliegen würde. Und nun war er keine vierundzwanzig Stunden fort, vermisste die Kinder und war überdies direkt in einen Mordfall gestolpert, wahrscheinlich den ersten seit Jahren in dieser Gegend.

Ein Wagen kam ihm entgegen, vom See her. Überladen, viele Gepäckstücke auf dem Dachträger balancierend, hoppelte ein Kombi an ihm vorbei, drinnen eine Familie, deren Ferien wohl zu Ende gingen. Ob der Mörder noch auf dem Campingplatz war? Ganz lässig seinen Urlaub ausklingen ließ? War es überhaupt einer der Urlauber gewesen? Conrad seufzte und beschleunigte seinen Schritt. Minuten später stand er vor dem Rentner im Büro der Verwaltung. Oder war es ein anderer? Er war nicht sicher, aber jedenfalls sah dieser auch nicht besonders helle aus.

»Sie haben das heute sicher schon einmal tun müssen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir eine Liste aller Gäste dieses Platzes zu erstellen, einschließlich derer, die heute abgereist sind oder abreisen werden. Alles mit Ankunftsdatum und voller Adresse. Wenn vorhanden, auch Kfz-Nummern, Berufsbezeichnungen und so weiter. Alles, was Sie haben. Außerdem brauche ich eine Liste der Personen, die zurzeit hier arbeiten, und sei es auch nur sporadisch, also im Kiosk, im Bootsverleih, hier in der Verwaltung, Reinigungspersonal und was es sonst noch gibt.« Conrad hatte erwartet, dass sein Gegenüber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sich bitter über sein Los beklagen würde. Stattdessen ließ der Mann sich den Dienstausweis vorlegen und tippte dann routiniert einige Befehle in die vor ihm liegende Tastatur. Nach weniger als zwei Minuten hielt Conrad einen mehrere Seiten umfassenden Ausdruck in der Hand.